Neues Buch: „Rassismus und Geschichtsmetaphysik“
13. September 2012 at 10:01 pm
„Das Erstaunen darüber, dass die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ’noch‘ möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, dass die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.“
– Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (1940)
Was hielt Rudolf Steiner, Begründer der Anthroposophie, von Denkern wie dem Rassentheoretiker Arthur de Gobineau oder dem Antisemiten Heinrich von Treitschke? Wie vermittelte Steiner seine Position, „daß der Mensch noch nicht Vollmensch ist, wenn er sich als Angehöriger einer menschlichen Differenzierung fühlt, einer Nation, eines Volkes fühlt“ (GA 334, 292), mit seinem Ideologem von der „zukünftigen“, da „am Geist schaffenden“ „weißen Rasse“ (GA 349, 67)? Welcher gemeinsame Gedanke liegt sowohl Steiners Vorurteil von „der ganz passiven Negerseele“ als auch seiner Theologie der „zwei Jesusknaben“ zugrunde?
Demnächst erscheint das Buch „Rassismus und Geschichtsmetaphysik. Esoterischer Darwinismus und Freiheitsphilosophie bei Rudolf Steiner“. Darin versuche ich, die Verankerung und Systematik von Rassentheorien im Denken des Esoterikers darzustellen.
Die öffentliche Debatte um die Anthroposophie wird bekanntlich seit geraumer Zeit vom sog. ‚Rassismusvorwurf‘ gegen Steiner und seinen esoterischen Nachlass dominiert. Neben allerlei Schund hat die Diskussion darüber auch fundierte wissenschaftliche Untersuchungen hervorgebracht. Aber auch hier gibt es noch Leerstellen. So ist bisher Steiners Aneignung und Wiedergabe der theosophischen „Wurzelrassen“-Lehre um 1900 nur sporadisch erforscht. Vor allem aber fehlt eine chronologische und werkimmanente Nachzeichnung von Steiners über die Jahre schwankender Position zur „Rassenfrage“.
In eine solche ist Steiners Menschen- und Evolutionsbild vor seiner Konversion zur Esoterik einzubeziehen. Ferner zahlreiche seiner Aussagen, die bisher noch keinen Eingang in die anthroposophische wie kritische Diskussion gefunden haben, teilweise auch in seiner Gesamtausgabe (noch?) nicht veröffentlicht sind.
Überdies ergibt sich Steiners ‚Rassenkunde‘ weder ausschließlich aus dem breiteren historischen Kontext noch seinem Anspruch auf ‚höhere Einsicht‘: Auch die immanenten Konsistenzanforderungen seiner jeweils zeitaktuellen Ideenpolitik und Weltanschauungsproduktion sind von Bedeutung für die Konstruktion seiner konkreten rassistischen Modelle. Schließlich wird so der scheinbare Widerspruch zwischen Steiners rassistischen Ressentiments und seinem Anspruch auf Universalität und eine „Philosophie der Freiheit“ wenigstens ansatzweise erklärbar – so meine These, zu der ich im Buch einen ersten Anstoß liefern will.
Das Buch streift auch die Verwurzelung ‚rassischen‘ Denkens in der neuzeitlichen Esoterik, Steiners Gesellschaftsutopie der „Sozialen Dreigliederung“, die anthroposophische Rezeption von Steiners Rassentheorien nach seinem Tod und schließlich jüngere Versuche einer anthroposophischen Aufarbeitung. Zum letzten Punkt ist ausdrücklich hervorzuheben, dass das Buch auf Anregung von Jens Heisterkamp entstand und im Info3-Verlag erscheinen wird: Vielleicht endlich ein Zeichen dafür, dass auch auf anthroposophischer Seite die Bereitschaft wächst, die Verzahnung von Steiners Rassentheoremen mit seiner evolutionären Spiritualität zu realisieren und kritisch zu diskutieren.
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