Rudolf Steiner und Baruch de Spinoza Spinoza. Ein Diskussionsbeitrag

23. Oktober 2012 at 9:50 pm 4 Kommentare

von Hartmut Traub

2011 hat der Philosoph Hartmut Traub mit seinem Buch „Philosophie und Anthroposophie. Die philosophische Weltanschauung Rudolf Steiners. Grundlegung und Kritik“ (Stuttgart), die akademische Diskussion um die philosophischen Werke des späteren Okkultisten Steiner auf eine neue Grundlage gestellt. Inzwischen sind von anthroposophischer Seite erste ausführliche Kritiken an Teilen von Traubs Studie erschienen. Sie betreffen Steiners streitbare Spinoza-Rezeption in seiner „Philosophie der Freiheit“. Traubs folgende Antwort nimmt zu den Kritiken Stellung und dokumentiert die aktuelle Debatte. Den Text gibt es hier auch als PDF: Hartmut Traub – Steiner und Spinoza. Ein Diskussionsbeitrag

Warum Spinoza?

Unter den Titeln „Eine Gedankenskizze zum Verhältnis Rudolf Steiners zu Spinoza“ und  „Rudolf Steiner und Baruch de Spinoza“ haben Michael Muschalle und Merijn Fagard auf der Web-Site der „Studien zur Anthroposophie“ zwei Beiträge veröffentlicht, die sich ausführlich mit einem kurzen Kapitel meines Buches Philosophie und Anthroposophie (im Folgenden PuA) auseinandersetzen. Neben manch berechtigter und manch unberechtigter Kritik findet sich insbesondere im Beitrag von Fagard auch viel Zustimmung zu den Ergebnissen meiner Analyse zur  problematischen Spinoza-Rezeption Rudolf Steiners (vgl. Fagard, 24ff./ 29f./ 35-39). Es freut mich, dass die anthroposophische Steinerforschung so engagiert und differenziert auf meine Arbeit reagiert und entnehme den Reaktionen eine sachbezogene Diskussions- und Auseinandersetzungsbereitschaft, die ich sehr begrüße.

Dass sich die Autoren auf die wenigen Seiten meines Buches fokussieren, auf denen ich die Steiner-Spinoza-Kontroverse abhandele (S. 258f./268-272), mag angesichts des Umfangs der Untersuchung zu den Grundlagen von Steiners philosophischer Weltanschauung überraschen. Wären nicht J. G. Fichte oder Kant, Hartmann oder I. H. Fichte oder Steiner und das Christentum wichtigere Ansatzpunkte für eine Auseinandersetzung? Das mag sein. Aber wenn man von der Freiheitsthematik – dem Herzstück der Philosophie der Freiheit – ausgeht, dann ist es sinnvoll, ja vielleicht zwingend, den dort von Steiner zum Vater aller modernen Freiheitsgegner stilisierten Spinoza und vor allem meine Kritik an Steiners Umgang mit ihm in den Blick zu nehmen.

Im Folgenden möchte ich zu zwei Themen von Fagards und Muschalles Kritik Stellung nehmen. Der erste Punkt betrifft die Quellenkritik Fagards an der von mir verwendeten Übersetzung des Spinoza-Briefes, auf den Steiner seine Kritik an Spinoza stützt. Dieser Punkt enthält einen formalen, philologischen und einen materialen, philosophischen Aspekt. Bei der Erörterung beider Aspekte werde ich mich ausschließlich auf den Kontext beschränken, innerhalb dessen die Philosophie der Freiheit Spinoza und seinen Brief von Oktober/November 1674 behandelt.

Der zweite Punkt befasst sich mit einigen inhaltlichen Konsequenzen, die die beiden Autoren aus meiner Kritik an Steiners Spinozadeutung ableiten bzw. die sie damit verbinden. Hier wird es vor allem um die meines Erachtens – sowohl für Spinoza als auch für Steiner – problematische Polarisierung und Etikettierung „Spinoza ist Determinist. Und Steiner nicht.“ (Fagard, 26) sowie um den „Scheinwiderspruch“ zwischen Notwendigkeit und Freiheit gehen. Ich habe bei der Lektüre von Muschalle und Fagard den Eindruck gewonnen, dass diese Thematik, insbesondere die Behauptung des Schwarz-Weiß-Kontrastes von Determinismus (Spinoza) und Freiheit (Steiner), die eigentliche Botschaft ihrer Texte ist. Ich halte diese Unterscheidung auch für wichtig. Ich bin jedoch überzeugt,  dass sie in dieser Eindeutigkeit weder für Spinoza noch für Steiner aufrecht zu erhalten und für die philosophische Interpretation beider Denker unproduktiv ist. Einer differenzierenden philosophischen Auseinandersetzung erweist eine solche Polarisierung keinen guten Dienst.

Schließlich bleiben mir noch einige offene Fragen an die Autoren, die ihre Steinerdeutung betreffen.

Merijn Fagards gründlicher philologischer Recherche spreche ich meine aufrichtige Anerkennung aus

Im ersten Teil seiner Auseinandersetzung mit meinem Steiner-Spinoza Kapitel (PuA, 257–259 und 268–272) befasst sich Fagard mit den Textgrundlagen, die Steiner und ich bei unserer Interpretation von Spinozas Freiheitsverständnis verwenden.

Meine Kritik wirft Steiner einerseits vor, er habe Spinozas Brief nur – „mit Auslassungen, ohne diese kenntlich zu machen“ – zitiert (PuA, 271), und andererseits habe er seine „Spinoza-Adaption“ genau an der Stelle abgebrochen, an der Spinoza den bedeutsamen Sachverhalt aufklärt, dass seine Schilderung der „Freiheits-Illusion“ als Irrtum eines eingeborenen menschlichen Vorurteils und nicht als seine eigene Konzeption der Freiheit zu verstehen ist. Diesen Umgang mit dem Text habe ich weiter dahingehend kritisiert, dass Steiner seinen Lesern in der Philosophie der Freiheit (GA 4, 18) die Differenz zwischen Spinozas Kritik am Vorurteil des illusionären Freiheitsbewusstseins und seiner Distanzierung davon vorenthält und ihnen stattdessen suggeriert, Spinoza vertrete selbst dieses Freiheitsverständnis, um von ihm ausgehend jeden Begriff von Freiheit als illusionär zu verabschieden.

Fagard hat nun nachgewiesen, dass meine Kritik an Steiners Spinozarezeption schon alleine deshalb problematisch ist, weil Steiner und ich zwei unterschiedliche Übersetzungen des in lateinischer Sprache verfassten Spinoza-Briefes verwenden. Steiner zitiert den Brief in der Philosophie der Freiheit nach der im Wortlaut gleichen Übersetzung von J. H. Kirchmann aus den Jahren 1871/1882, während ich die Übersetzung von C. Gebhardt verwende, die erstmals 1914 erschienen ist. Mit bewundernswerter Akribie ist es Fagard gelungen zu belegen, dass mein erster Vorwurf, Steiner habe Textpassagen des Briefes ausgespart, falsch ist. Die in meiner Übersetzung enthaltene und von Gebhardt übersetzte Stelle ist in der Übersetzung, die Steiner vorlag, nachweislich nicht zu finden. Das heißt, der in der Philosophie der Freiheit (S. 17f.) von Steiner zitierte Spinoza-Text ist wortgetreu aus der Kirchmann-Übersetzung wiedergegeben. Damit ist meine Behauptung, Steiner habe den Brieftext „mit Auslassungen, ohne sie kenntlich zu machen“ (PuA, 271), zitiert, als haltlos erwiesen. Ich nehme diese Behauptung zurück.

Auch hinsichtlich meines zweiten Vorwurfs, den ich Steiner im Hinblick auf seinen Umgang mit dem Spinoza-Brief gemacht habe, dass er exakt an der Stelle sein Zitat enden lässt, an der im Folgenden eine sachlich wichtige Erklärung von Spinoza zum vorher Behandelten anschließt (PuA, ebd.), hat Fagard eine bedeutsame Entdeckung gemacht. Denn auch diese Stelle des Briefes zeigt erhebliche Abweichungen in der von mir und der von Steiner verwendeten Übersetzung. Während Gebhardt sich darauf beschränkt, den Originaltext mit „Hiermit habe ich, wenn ich nicht irre, meine Meinung über die eingebildete menschliche Freiheit genugsam auseinandergesetzt“ übersetzt, zeigt die offensichtlich textgetreuere Übersetzung Kirchmanns, dass Spinoza an dieser Stelle noch mehr dargelegt zu haben glaubt. In der Steiner vorliegenden Übersetzung heißt es: „Damit habe ich, glaube ich, meine Ansicht über die freie und erzwungene Notwendigkeit und über die eingebildete Freiheit dargelegt […].“ (Fagard, 49). Aus dieser sachlich weiter ausgreifenden Zusammenfassung Spinozas ergeben sich, so Fagard und Muschalle, noch andere Konsequenzen für Steiners Verwendung des Briefes als die von mir vorgebrachten und kritisierten. Auch dieser philologischen Kritik stimme ich vorbehaltlos zu.

Für seine gründliche Recherche spreche ich Merijn Fagard an dieser Stelle ausdrücklich meine aufrichtige Anerkennung aus. Alle Achtung! Auch stimme ich seiner Kritik zu, dass mir mit Rücksicht auf meine wissenschaftlichen Standards die Nachlässigkeit, den Steiner vorliegenden Text nicht hinreichend zur Kenntnis genommen zu haben, eigentlich nicht hätte unterlaufen dürfen.

Während ich im Hinblick auf die erste Kritik Fagards mein Monitum gegenüber Steiner bedingungslos zurücknehme, liegen die Dinge im zweiten Fall allerdings anders. Ja, wenn man es genau nimmt, verschärft sich unter Berücksichtigung des Kirchmann-Textes meine  Kritik an Steiners interpretatorischem Umgang mit dem Brief Spinozas. Hier ist am Kern der Sache nichts zurückzunehmen. Aus den unterschiedlichen Übersetzungen lässt sich in diesem Punkt keine „außerordentliche Fehleinschätzung Rudolf Steiners“ meinerseits konstruieren. (Fagard, 2). Im Gegenteil. Die ausführlichere und zutreffendere Übersetzung Kirchmanns unterstreicht Steiners höchst selektiven Interpretationsansatz des Textes. Damit komme ich zum zweiten Punkt.

… wenn man es genau nimmt, verschärft sich unter Berücksichtigung des Kirchmann-Textes meine Kritik an Steiners interpretatorischem Umgang mit dem Brief Spinozas

Zu diesem Punkt lautet meine Kritik an Steiner: Obwohl Spinoza unmissverständlich klar macht, dass das, was er im fünften Absatz seines Briefes (GA 4, S. 18, Zeile vier ff. / von Steiner kursiv gesetzt) erörtert, die Vorstellung der eingebildeten menschlichen Freiheit und nicht sein Begriff der Freiheit sei, versucht Steiner über Spinozas Kritik an der eingebildeten Freiheit ihn zu einem, ja dem modernen Freiheitsgegner schlechthin zu stilisieren. Zurecht weisen Fagard und Muschalle darauf hin, dass Steiner den zu Beginn des Briefes eingeführten Freiheits- und Unfreiheitsbegriff Spinozas „Ich nenne nämlich eine Sache frei, die aus der bloßen Notwendigkeit ihrer Natur besteht und handelt, und gezwungen nenne ich die, welche von etwas Anderem zum Dasein und Wirken in genauer und fester Weise bestimmt wird“ (GA 4, 17) zur Kenntnis genommen haben muss, sonst hätte er ihn nicht zitiert. Allerdings – und darauf weist meines Erachtens der von Steiner kursiv gestellte Text des Spinoza-Briefes hin – scheint ihm weniger an Spinozas Definition der Freiheit und Unfreiheit als vielmehr am illusionären Begriff der menschlichen Freiheit, der in diesem Abschnitt von Spinoza als Bewusstseins des Begehrens, ohne Kenntnis der Bestimmungsursachen, charakterisiert wird, gelegen zu sein. Denn darauf hebt Steiner in seiner Kritik an Spinoza im Folgenden ja explizit ab. Der Mensch hat nicht nur ein Bewusstsein von seinen Handlungen [Spinoza spricht von Begehren], sondern er kann auch ein Bewusstsein von den Ursachen, die sein Handeln leiten, haben (GA 4, 19). Aus diesem Konzept „Wissen und Erkennen der Ursachen des Handelns“ entwickelt Steiner dann im Folgenden seine Idee der geistigen menschlichen Freiheit, um die es zentral in diesem Abschnitt und auch in den folgenden Kapiteln geht.

Um zu belegen, dass Spinoza den von Steiner eingeführten Freiheitsbegriff nicht nur kennt, sondern ihn auch als den seinen vertritt, habe ich ein längeres Zitat aus Spinozas Ethik in das Kapitel „Spinoza lesen! Steiner verstehen“ (PuA, 270) eingefügt. Dieses Zitat belegt das Gegenteil von dem, was Steiner über Spinoza behauptet. Auch darin kann ich keine „außerordentliche Fehleinschätzung Rudolf Steiners“ (Fagard, 2) erkennen. Insbesondere deshalb nicht, weil Merijn Fagard meiner Kritik, dass Steiner Spinoza fälschlicherweise unterstellt, er habe keinen durch „Wissen um die Gründe des Handelns“ bestimmten Begriff der Freiheit, ausdrücklich zustimmt (Fagard, 35f.).

Steiners problematische Kompilation wird durch Fagards Hinweis, dass die Steiner vorliegende Übersetzung da, wo die von mir verwendete lückenhaft ist, explizit den Unterschied zwischen der freien und erzwungenen Notwendigkeit thematisiert, noch prekärer. Denn, obwohl Spinoza im Anschluss an das von Steiner verwendete Zitat noch einmal an sein sozusagen vierdimensionales Freiheitsverständnis erinnert, nämlich dass zur Bestimmung des Freiheitsbegriffs zwischen (a) der Bestimmung der Freiheit überhaupt, (b) ihrer Anwendung auf Gott, (c) der Bestimmung ihres Gegenteils und (d) der Bestimmung der Scheinfreiheit unterschieden werden muss, reduziert Steiner seine Spinoza-Kontroverse maßgeblich auf (c und d), den Begriff der Unfreiheit  und den der Scheinfreiheit.

Auf Spinozas Begriff der „freien Notwendigkeit“ (a und b), der im Kontext von Steiners Spinoza-Interpretation, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle spielt, kommen wir an anderer Stelle noch zurück.

… Hier wird weniger diskutiert, als vielmehr im Szenario von Angriff und Gegenangriff Krieg um die Idee der menschlichen Freiheit geführt…

Nimmt man den Brief – wie Fagard vorschlägt – als Ganzes in den Blick, und ich gehe davon aus, dass Steiner das auch getan hat, dann müssten einem auch noch zwei weitere freiheitsrelevante Aspekte auffallen, die geeignet sind, Steiners verengte Spinozarezeption zu verunsichern. Denn im selben Absatz, in dem Spinoza seine bisherigen Ausführungen zusammenfasst, führt er unter Rückgriff auf Punkt (a) mit Blick auf die aufgeworfene Frage nach der Willensfreiheit des Menschen aus:

„Wenn er [der Freund des Adressaten] mit Descartes Denjenigen frei nennt, der von keiner äußern Ursache gezwungen wird und wenn er unter den Gezwungenen Den versteht, der wider seinen Willen handelt, so gebe ich zu, dass wir in dieser Hinsicht freien Willen haben. Wenn er aber unter gezwungen den versteht, welcher, wenn auch nicht gegen seinen Willen, doch nothwendig handelt (wie ich oben ausgeführt), so bestreite ich, dass wir in irgend einem Falle frei seien“ (Fagard, 47)

Wie immer diese Passage im Kontext des Briefes oder der Freiheitslehre des Spinoza zu verstehen ist – wir kommen darauf noch zurück –, so ist hinreichend deutlich, dass Spinoza auch im Hinblick auf die menschliche Freiheit ein differenzierteres Urteil hat, als Steiner seine Leser glauben machen möchte.

Und ein Letztes. Der Schluss des Briefes behandelt das Problem oder den Widerspruch zwischen Verantwortung und „Schicksalsnothwendigkeit/Vorsehung“. Spinoza bittet hier den Adressaten, seinen Freund zu fragen, „wie er die menschliche Tugend, die aus freiem Willensentschluss hervorgeht, mit Gottes Vorherbestimmung vereinige“ (Fagard, 50). Und jetzt gibt Spinoza eine sehr bemerkenswerte Antwort, die da lautet:

„Wenn er [der Freund] mit Descartes einnimmt [annimmt], dass er dies nicht vermöge, so sucht er ja den Spiess, der ihn schon durchbohrt hat, gegen mich zu schwingen; aber vergeblich, denn wenn Sie meine Absicht aufmerksam prüfen wollten, würden Sie sehen dass [bei mir] Alles übereinstimmt u.s.w.“ (Fagard 51)

Was heißt das anderes als: Auch wenn für den Freund des Adressaten die Vermittlung von göttlicher Vorsehung und freiem Willensentschluss nicht vereinbar zu sein scheint, so bedeutet das für Spinoza nicht, dass eine solche Vereinbarung überhaupt nicht möglich sei. Vielmehr erhebt er hier den Anspruch, diese Vermittlung geleistet zu haben. Genau das gelte es zu prüfen, bevor man ihn als Freiheitsgegner und Fatalisten respektive Deterministen aburteilt.

Ich habe den Eindruck, dass Steiner vieles von dem, was ich an seiner Spinozarezeption kritisiere, gewusst hat, ja – und da hat Michael Muschalle sicher recht (Muschalle, 4) –, dass ihm aus seiner Arbeit an Goethe auch ganz andere Facetten einer Spinozadeutung bekannt waren. Hinzuweisen sei vor allem auf das zu seiner Zeit wohl ausgewogenste Urteil zu Spinoza, das Friedrich Heinrich Jacobi, insbesondere auch im Hinblick auf die Freiheitslehre Spinozas und weniger im Hinblick auf dessen Pantheismus und vermeintlichen Atheismus, auf den sich die philosophiegeschichtliche Hauptrichtung (Schelling/Fichte/Hegel) konzentrierte, vertreten hat. Steiner hat die 1819 erschienenen Schriften des Goethefreundes Jacobi über Spinoza gekannt. (Vgl. GA 1, 76 ff.; Friedrich Roth und Heinrich Köppen (Hrsg.): F. H. Jacobi’s Werke. Vierter Band. Erste Abteilung, Leipzig 1819)

Dass Steiner in der Philosophie der Freiheit trotz dieses Wissens ein so undifferenziertes Bild von Spinoza zeichnet, ist schon bemerkenswert. Was ihn dazu veranlasst hat, lässt sich ein Stück weit der Dramaturgie des Kapitels I entnehmen.

Der Anfang von Kapitel I „Das bewusste menschliche Handeln“ ist dramaturgisch so aufgebaut, dass das Thema Freiheit zum einen auf den Menschen und auf dessen geistige Freiheit fokussiert wird. An einer Differenzierung des Freiheitsbegriffs, die Freiheit überhaupt, persönliche, politische, moralische, sittliche, transzendentale, metaphysische oder absolute Freiheit, in ihrer jeweiligen Bedeutung oder Geltung erörtert, ist Steiner hier nicht gelegen. Zum anderen wird die philosophiegeschichtliche Diskussion zu diesem Thema als kontradiktorischer Kampf zwischen „warmen Anhängern“ und „hartnäckigen Gegnern“ der Freiheitsidee inszeniert. Zugespitzt formuliert wird hier weniger diskutiert, als vielmehr im Szenario von Angriff (GA 4, 16) und Gegenangriff Krieg um die Idee der menschlichen Freiheit geführt.

Didaktisch mag ein solcher Aufzug klarer Fronten sinnvoll sein – vergleiche hierzu die Bedeutung der Polemik in Steiners Philosophie (PuA, 27f.) –, für eine angemessene Erörterung und Würdigung der an dieser Auseinandersetzung beteiligten Positionen ist das aber auf die Dauer unbefriedigend.

Sieht man nun – im Wissen um den im Folgenden eingeführten Brief des „Freiheitsgegners“ Spinoza –  einmal genauer auf dieses Eingangsszenario, dann ist leicht zu erkennen, dass die zentralen Begriffe des Briefes, in seiner Steinerschen Lesart, bereits eingeführt sind, nämlich die „Illusion“ und „Wahnidee der Freiheit“ einerseits und die „naturgesetzliche eherne Notwendigkeit“ und  „Gesetzmäßigkeit der Natur“ (GA 4, 15) andererseits. Was noch fehlt, ist die inhaltliche Füllung der Spinozistischen „Wahnidee der Freiheit“ mit dem „bloßen Bewusstsein“ des Strebens und Handelns, das heißt der Punkt, an dem Steiner im Besonderen seine Fundamentalkritik an Spinoza aufhängt und von dem aus er seine eigene Konzeption der Freiheit „Das Wissen von den Gründen/Ursachen des Handelns“ entwickelt (GA 4, 18ff.).

Es ist also eher die didaktische Schwarz-Weiß-Inszenierung des Kapitels und weniger das nicht vorhandene differenzierte Wissen um die Komplexität der Philosophie Spinozas, die Steiner dazu veranlasst haben könnte, seinen Lesern eine derart zugespitzte Spinoza-Deutung anzubieten. Das macht die Angelegenheit von ihrer Intention her verständlich. Das ändert jedoch nichts am Problem von Steiners unangemessener sachlicher Verkürzung des Freiheitsbegriffs Spinozas. Ich kann in dieser Analyse, die im Wesentlichen den Ausführungen meines Buches folgt, weder „bloß oberflächliches Lesen“ der Texte (Fagard, 19) noch eine Fehleinschätzung Steiners (ebd., 2) erkennen.

Ich komme nun zum zweiten Punkt meiner Stellungnahme zu Fagards und Muschalles Kritik an meiner Analyse zu Steiner und Spinoza.

„Spinoza ist Determinist. Und Steiner nicht“!?

In diesem Punkt möchte ich auf einige Dinge aufmerksam machen, die es meines Erachtens zu bedenken gilt, bevor man philosophische Positionen mit abfertigenden Ismen versieht. Solche Kategorisierungen sind zwar gelegentlich hilfreich, um die grundsätzliche Tendenz einer Theorie oder eines Denkansatzes zu charakterisieren. Bei komplexen philosophischen Systemen ist aber Vorsicht geboten. Insbesondere dann, wenn Etikettierungen zugleich mit Werturteilen verbunden werden.

Spinoza ist nun ein Philosoph, dessen Biographie und Werk in besonderem Maße mit diffamierenden Etikettierungen versehen wurden. Zum Rabbiner bestimmt, kritisierte ihn die jüdische Gemeinde Amsterdams wegen seiner weitergehenden philosophischen Interessen insbesondere an der Philosophie Descartes. Als alles Drohen, Bekehren und Bestechen nichts half, belegte man den hoffnungsvollen Nachwuchsrabbiner mit dem „Großen Bann“ und verfluchte ihn. Seinem Werk ging es kaum besser. Spinozas Philosophie ist der Bezugspunkt schärfster Auseinandersetzungen um Pantheismus, Atheismus, Fatalismus und Determinismus. Angesichts des mächtigen Einflusses der Kirchen auf Politik und Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert kam der Verdacht, Spinozist zu sein, ebenfalls einem Bannstrahl mit Rufmordcharakter gleich.

Wer sich kurz, aber einfühlsam, mit Spinozas Leben beschäftigen möchte, dem sei der lesenswerte Vortrag Kuno Fischers Baruch Spinoza’s Leben und Charakter (Heidelberg 1946),  vom 11. Januar 1865, empfohlen.

Michael Muschalle und Merijn Fagard sind sich darüber einig, dass Spinozas Philosophie „durch und durch deterministisch“ (Fagard, 32) sei und dass der Freiheitsphilosoph Steiner gute Gründe gehabt habe, ihn deswegen zu kritisieren, ja ihn zum Erzvater aller modernen Freiheitsgegner auszurufen.

Bevor ich auf die Gründe eingehe, mit denen die beiden Autoren versuchen, ihr Urteil über Spinoza zu stützen, möchte ich auf eine bemerkenswerte vierstufige Klimax hinweisen, die eine Unsicherheit bei Fagard erkennen lässt, seinen – nicht Steiners! – Determinismusvorwurf gegenüber Spinoza klar und bestimmt zu artikulieren. Und ich kann ihm nur beipflichten und ihn ermutigen, dieser Unsicherheit weiter nachzugehen. In der Fußnote 30 heißt es (erste Stufe): „Steiner sagt nicht explizit, Spinoza sei Determinist“. Auf der Seite 18 heißt es (zweite Stufe): „Spinoza ist in den Augen Steiners ein Determinist“.  Wenn Steiner nicht ausdrücklich sagt, dass Spinoza Determinist sei, woher können wir dann sicher wissen, dass Spinoza  es in seinen Augen doch war? Auf der Seite 26 und 32 sowie in der Fußnote 32 und an einigen anderen Stellen heißt es dann (dritte Stufe): „Spinoza ist Determinist“. Jetzt ist es definitiv. Aber nach wessen Urteil? Nach Steiners Urteil? Nach unserer Vermutung über Steiners Wahrnehmung? Oder nach unserem eigenen Dafürhalten? Und schließlich heißt es auf der Seite 28 (vierte Stufe): „Spinoza [bekennt] sich zum Determinismus.“ Was Spinozas Determinismus sei, worin der Unterschied zwischen Fatalismus und Determinismus besteht, in welchem Sinn und Umfang welche Partien seiner Philosophie deterministisch genannt werden können und welche nicht, das sind seit dreihundertfünfzig Jahren umstrittene Fragen der Spinozaforschung, die sich auf die Schnelle nicht eindeutig beantworten lassen.

Was sich aber beantworten lässt, das ist die Frage nach dem Kernargument, mit dem Muschalle und Fagard ihre Interpretation des vermeintlichen „Determinismus des Spinoza“ zu begründen versuchen und mit dem sie zugleich glauben, Steiner gegenüber Spinoza scharf abgrenzen zu können.

Notwendigkeit aus Freiheit – wo ist das Problem?

Das „Sesam öffne dich“ zu Spinozas Determinismus ist nach Fagard und Muschalle der Begriff der Notwendigkeit. Steiner hatte zu Beginn von Kapitel I der Philosophie der Freiheit den Antagonismus Freiheit versus naturgesetzliche eherne Notwendigkeit vorgegeben. Und damit scheint klar, ein Philosoph, der den Begriff der Notwendigkeit in der Spitze seines Systems etabliert – wie Spinoza – muss ein Freiheitsgegner sein. Und da nach gängigem Verständnis ein System der Notwendigkeit auch Determinismus genannt werden kann, ist Spinoza Determinist.

Bevor ich mich in dieser Sache den Texten von Fagard und Muschalle zuwende, sei eine kurze begriffsanalytische Bemerkung gestattet. Ich halte es für problematisch, die Begriffe Freiheit und Notwendigkeit auf derselben kategorialen Ebene miteinander in ein antagonistisches Verhältnis zu setzen.

Die modale Kategorie der Notwendigkeit bestimmt zunächst das „Wie“ des Entstehens, Vergehens und der Veränderung von Ereignissen und Sachverhalten. Ihr Gegenspieler ist nicht so sehr die Freiheit als vielmehr die Zufälligkeit, das Ungefähre.

Freiheit dagegen thematisiert eine Bedingung – also den Grund –, aus dem heraus sich (Handlungs-)Entscheidungen vollziehen. Das heißt, Freiheit ist eine eher  moralphilosophische und weniger eine erkenntnistheoretische Kategorie. Strenggenommen ist Freiheit keine erkenntnistheoretische oder logische Kategorie des Verstandes, sondern eine Vernunftidee.

Setzt man nun Freiheit und Notwendigkeit dennoch in einen Zusammenhang, dann bedeutet das, dass der Vollzug einer Handlung, also das „Wie“ ihres Geschehens, mehr oder weniger gesetz- oder regelmäßig, das heißt notwendig oder zufällig, sein kann. Ob dieser Vollzug nun einem freien Entschluss oder einem Zwang folgt, ist eine andere Frage. Der Gegenspieler der Freiheit ist hier also weniger die Notwendigkeit als vielmehr der Zwang.

Des Weiteren hat Notwendigkeit auch eine logische Bedeutung in Begründungszusammenhängen von Urteilen. Zum Beispiel, wenn man sagt: „X ist die notwendige Bedingung/Voraussetzung für Y“.

Was folgt daraus? Es folgt daraus, dass man sehr sinnvoll zum Beispiel über die notwendigen Folgen der Freiheitsvoraussetzung sprechen kann. Etwa darüber, dass es durch diese Voraussetzung notwendig wird, Entscheidungen zu treffen. Es folgt daraus auch, dass man von Freiheit als notwendiger Voraussetzung für die Begründung einer Verantwortungsethik sprechen kann usw. Es lohnt sich, über dieses kategoriale Beziehungsgeflecht deswegen nachzudenken, weil Steiner – und zwar an einer prominenten Stelle seiner Spinozakritik – von einer solchen modalen Verknüpfung von Freiheit und Zwang (Notwendigkeit?) spricht, aus der heraus unterschiedliche Handlungstypen motiviert sein können. Wobei der eine Zwang als Modus der Fremdbestimmung und der andere Zwang als Modus der Selbstbestimmung zu verstehen ist. Aber dazu später.

Was ist zu tun? Ich begrüße es sehr, dass sich Fagard entschlossen hat, diesen Gegenstand zum Thema eines Buches zu machen. Das können wir an dieser Stelle nicht. Was aber machbar ist, das ist den Sinn des Notwendigkeitsverständnisses bei Spinoza kurz zu skizzieren und ihn in seinem Wesenszusammenhang mit dem Begriff der Freiheit überhaupt und dem der menschlichen Freiheit im Besonderen zu charakterisieren. Wesenszusammenhang bedeutet dabei etwas gänzlich anderes als der von Fagard entwickelte „Kombinations- oder Kompatibilitätszusammenhang“, den er Spinozas Begriff der freien Notwendigkeit unterstellt (Fagard, 25). In dieser Darstellung wird auch Steiners Einengung des Notwendigkeitsbegriffs auf naturgesetzliche oder mathematische Notwendigkeit deutlich, den er – nicht nur in der Philosophie der Freiheit – ansetzt. Fagard hat zu Recht darauf verwiesen, und Muschalle weicht diese Feststellung zu Unrecht auf (Muschalle, 2), dass Steiner die Zuspitzung auf naturgesetzliche Notwendigkeit wichtig gewesen sein muss. Denn in der zweiten Auflage zur Philosophie der Freiheit fügt er der „ehernen Notwendigkeit“ das Adjektiv „naturgesetzlich“ bei, dem im Folgenden die „Gesetzmäßigkeit der Natur“ oder das der Freiheit entgegengesetzte „Wirken in der Natur“ entsprechen (GA 4, 15). Es wäre in diesem Zusammenhang zu klären – das aber führt zu weit –, welches Verständnis von Naturgesetzlichkeit hier gemeint ist. Spinozas natura naturans oder die Beziehungen der Phänomene als natura naturata oder überhaupt weniger Spinoza als vielmehr moderne mathematisch-empirische Naturwissenschaft?

… freie Bestimmung seiner selbst als lebendiges Agere, als natura naturans, nennt Spinoza „freie Notwendigkeit“. Sie ist kein Kompositum, wie Fagard annimmt …

Ich werde mich bei der nun folgenden Explikation des Notwendigkeitsbegriffs vor allem auf den Brief beziehen, den Steiner als Dokument für seinen Beweis der Freiheitsgegnerschaft Spinozas verwendet hat.

Spinozas Definition der Freiheit und Unfreiheit (Zwang) lautet an der angegebenen Stelle des Briefes aus dem Jahre 1674 im Zusammenhang:

„Ich wende mich also zu der Definition der Freiheit, die er [der Freund des Adressaten] als die meinige ausgiebt, obgleich ich nicht weiss, woher er sie genommen hat. Ich nenne nämlich die Sache frei, die aus blosser Nothwendigkeit ihrer Natur besteht und handelt und gezwungen nenne ich die, welche von etwas Anderem zum Dasein und Wirken in genauer und fester Weise bestimmt wird. So besteht z.B. Gott obgleich nothwendig, doch frei, weil er nur aus der Nothwendigkeit seiner Natur allein besteht. Ebenso erkennt Gott sich selbst und alles Andere frei, weil es aus der Nothwendigkeit seiner Natur allein folgt, dass er Alles erkennt. Sie sehen also, dass ich die Freiheit nicht in ein freies Beschliessen, sondern in die freie Nothwendigkeit setze“ (Fagard, 48).

Freiheit bedeutet demnach ein Sein/Existieren und Handeln, das ausschließlich durch die Wesensgesetze der eigenen Natur bestimmt wird. Notwendig heißt diese Selbstbestimmung, weil sie nicht zufällig, sondern aus der Natur der Sache selbst folgt oder in der Natur der Sache selbst liegt. Diese von Spinoza angesetzte Notwendigkeit ist ihrer Natur und ihrem Ursprung nach

„[…] weder eine mechanische, noch eine mathematische, keine logische oder psychologische auch keine metaphysische im damaligen Wortsinn. Sie ist nichts als die nach einwohnenden Wesensgesetzen wirkende, unendliche und einzige Seinswirklichkeit […].“ (Stanislaus von Dunin-Borkowski: Spinoza nach dreihundert Jahren, in: Texte zur Geschichte des Spinozismus,  hrsg. von Norbert Altwickler, Darmstadt 1971, 64)

Die höchste, absolute und unendlich freie, allein aus ihrer Natur bestimmte, „Seinswirklichkeit“ ist nach Spinoza die Substanz Gottes. Ihre „Seinswirklichkeit“ ist die allschöpferische natura naturans, das agere Dei. „In der Tat, ist die Allmacht von Deus für Spinoza nur die absolute Notwendigkeit des Agere selbst.“ (Wolfgang Cramer, Spinozas Philosophie des Absoluten, Frankfurt a. M., 1966, 67) Die aus der eigenen Natur begründete, das heißt freie Bestimmung seiner selbst als lebendiges Agere, als natura naturans, nennt Spinoza im Brief an Schuller nun „freie Notwendigkeit“. Sie ist kein Kompositum, wie Fagard (Fagard, S.25) annimmt, sondern freie, unbedingte Bestimmung einer Sache aus sich selbst und durch sich selbst nach den Gesetzen der eigenen Natur. Und diese Natur-Notwendigkeit ist im Falle Gottes und auch des Menschen, wie noch zu zeigen sein wird,  kein blindes Fatum, sondern freie Selbst- und Welt-Erkenntnis. „Gott erkennt sich selbst und alles andere frei, weil es aus der Nothwendigkeit seiner Natur allein [unbedingt] folgt, dass er alles erkennt.“ (Fagard, 48).

„Ich [Spinoza] bin fern, alle Freyheit zu läugnen, und weiß daß der Mensch seinen Theil davon bekommen hat“

Was nun den Menschen betrifft, so ist dieser keine unbedingte freie Ursache seiner selbst. Er ist Geschöpf. Und darin hat Fagard recht, dass der Mensch nicht unbedingt freie Ursache seiner selbst, sondern mit vielerlei Bedingungszusammenhängen, physischen, biologischen, kulturellen, sozialen usw. verknüpft ist und durch diese bestimmt wird. Allerdings besagt das nicht, wie das Beispiel des Steins suggeriert, dass er ausschließlich durch äußere Anstöße und deren Transformationen (Affekte) bestimmt wird. Nach Spinoza ist der Mensch nicht, wie Fagard behauptet, absolut unfrei (Fagard, 20).  Denn als denkendes Wesen – was er seiner Natur nach auch ist, und darauf kommt es an, – hat er die Möglichkeit (Freiheit), sich vom Zwang äußerlicher und innerer Bestimmungsgründe (Affekte) zu distanzieren und über den Weg eines mehrstufigen Erkenntnisprozesses denkend, das heißt aktiv, zu einer selbstbestimmten Lebensform zu gelangen, die in der intuitiven Erkenntnis der Welt dreierlei realisiert: wahre Seins- und Selbsterkenntnis, Tugend – denn an der rechten Erkenntnis richtet sich auch das Handeln in der Welt sowie das Streben, sich in dieser Lebensform zu erhalten, aus – und schließlich Glückseligkeit, die insbesondere von der „Liebe geistiger Art“ – wie Steiner das später nennen wird –, dem amor Dei intellectualis, getragen und durchzogen wird.

In dieser Sicht der Dinge erschließen sich im Brief Spinozas zwei etwas unklare Stellen, die mit dem Problem Freiheit und Notwendigkeit im Hinblick auf den Menschen zusammenhängen. Nämlich die bereits erwähnte Stelle im Absatz 6, an der Spinoza sagt, dass „wir in manchen Dingen keineswegs gezwungen werden und in dieser Hinsicht freien Willen haben“ (Fagard, 49). Nach dem Gesagten besteht der freie Wille insbesondere darin, der „Vorsehung“, das heißt der Bestimmung unserer Natur zur Freiheit – zum Denken und Erkennen – , aktiv zu folgen und darin unsere Not, das heißt den Zwang der Affekte, zu unserem eigenen Heil zu wenden. Was Not-Wendigkeit ja auch bedeutet. Schließlich ist Spinozas Ethik auch eine Glückseligkeitslehre oder „Anweisung zum seligen Leben“.

Die zweite, auch bereits erwähnte Stelle, die sich mit dieser Auslegung gut verstehen lässt, ist der Schluss des Briefes, den Fagard meines Erachtens irrtümlich zum Beleg von Spinozas Determinismus anführt (Fagard 26f.). Spinoza behauptet dort, dass in seinem Denken der von Descartes ungelöste Widerspruch zwischen freiem Willensentschluss und menschlicher Tugend einerseits und göttlicher Vorsehung andererseits sehr wohl in Übereinstimmung stehen, und zwar ohne dass eines der Glieder in dem anderen auf- oder untergeht. „Wenn Sie meine Absicht aber aufmerksam prüfen wollten, würden Sie sehen, dass [bei mir] Alles übereinstimmt u.s.w.“ (Fagard, 51).

Es gibt, so kann man unsere Überlegungen vorläufig zusammenfassen, gute Gründe, um von einer eindeutigen Polarisierung, die Spinoza zu einem Freiheitsgegner stilisiert, abzurücken und dessen Philosophie der Freiheit zu würdigen, ohne dabei die Unterschiede  zwischen ihm und Steiner – etwa den einer ausgearbeiteten Philosophie des Ich – zu verwischen.

Auf eine bedeutsame Stimme in dieser Debatte, die Steiner auch gekannt und zitiert hat, nämlich die bereits erwähnte Schrift Jacobis Über die Lehre des Spinoza, möchte ich hier noch aufmerksam machen. Sie ist aus zwei Gründen besonders interessant. Erstens, weil Jacobi als radikaler Kritiker Spinozas gilt, und zweitens, weil er, neben Christian Wolff, als einer der anerkannt besten Spinozakenner seiner Zeit galt. Seinem Brief an Moses Mendelssohn vom 5. September 1784 fügt er eine Beilage hinzu (die Kopie eines Briefes an den niederländischen Philosophen Hemsterhuis), in der er Spinozas Philosophie in der Form eines Dialogs entfaltet. In diesem Dialog lässt Jacobi Spinoza sagen:

„Ich [Spinoza] bin fern, alle Freyheit zu läugnen, und weiß daß der Mensch seinen Theil davon bekommen hat. Aber diese Freyheit besteht nicht in einem erträumten Vermögen wollen zu können, weil das Wollen nur in einem wirklich vorhandenen bestimmten Willen da seyn kann. […] Die Freyheit des Menschen ist das Wesen des Menschen selbst, daß ist, der Grad seines wirklichen Vermögens oder der Kraft, mit welcher er das ist, was er ist. In so fern er allein nach Gesetzten seines Wesens handelt, handelt er mit vollkommener Freyheit. Gott, welcher nur aus dem Grunde handelt und handeln kann, aus dem er ist, und der nur durch sich selbst ist, besitzt demnach die absolute Freyheit. Dies ist meine wahre Meinung über diesen Gegenstand.“ (Friedrich Roth und Heinrich Köppen (Hrsg.), Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke, Vierter Band. Erste Abteilung, a.a.O., 150)

Ich habe meine Zweifel daran, und diese zu erklären, war der Grund der vorherigen Erörterungen, dass sich aus den beiden Endpunkten der Philosophie Spinozas: dem absolut freien Grund seiner selbst (Gott) und dem freien Entschluss zur Wesensbestimmung seiner selbst als denkender Mensch, das starre Netz einer ehernen Notwendigkeit knüpfen lässt, über dem das unumstößliche Urteil „Spinoza ist Determinist“ prangt. Den Nachweis dazu allein über den Begriff der Notwendigkeit zu versuchen, wird, wenn es überhaupt geht,  woran ich starke Zweifel habe, schwerlich gelingen.

Leben in Gott ist nach Steiner „ein Dasein, das sich eingegliedert und durchdrungen weiß von der ‚absoluten Wirklichkeit‘, die sich ihm durch das intuitiv-denkende Erfassen der Ideenwelt erschließt“

Ebenso, wie ich Zweifel daran habe, Spinoza in Bausch und Bogen über den Notwendigkeitsbegriff zum Deterministen zu erklären, habe ich Probleme damit, die Grundlegung der Philosophie der Freiheit allein dem Konzept des ethischen Individualismus zu überlassen. Hier bin ich nun in der komfortablen Lage, dass ich die Aspekte des Steinerschen Denkens, die die Einbindung des Individuellen in das „allgemeine Welterleben“ thematisieren, nicht explizit ausbreiten muss, sondern auf die einschlägigen Kapitel meines Buches verweisen kann. Die systematische Grundspannung, um die es hier geht, möchte ich dennoch kurz ansprechen und einige Hinweise darauf geben, wo Steiners Universalismus Züge einer Einbettung und Verknüpfung des Individuellen mit dem hen kai pan aufweist, die der Philosophie  Spinozas nicht unähnlich sind.

Selbstverständlich – und das ist ja eine meiner Thesen zur Genese des Freiheitsbegriffs bei Steiner – ist insbesondere in der ersten Auflage der Philosophie der Freiheit der individualistische Freiheitsbegriff unübersehbar dominant. Ein Freiheitsbegriff, der große Affinität zu Max Stirners Freiheitsanarchismus aufweist (vgl. PuA. u.a. 216ff., 243–  256).

Gleichermaßen offensichtlich sind aber in Steiners Philosophie auch die Elemente eines theoretischen und ethischen Universalismus. Insbesondere seine Intuitionslehre vertritt einen Ideenrealismus, dessen Geltungsanspruch gerade dadurch verifiziert wird, dass sich die individuelle Freiheit gegenüber dem Selbstleben der ideellen Welt zurücknehmen muss,  damit sich die übersinnliche Ideenwelt im Individuum und seinen Handlungsvollzügen „darleben“ und „ausleben“, das heißt Wirklichkeit werden kann. Diese Grundstruktur lässt sich sowohl im experimentellen Entdeckungsschema erkenntnistheoretischer Begriffe und Ideen in Steiners objektivem Idealismus (PuA, 67ff.) als auch in der „Transformationstheorie“ sittlicher Ideen im Kontext seines ethischen Individualismus, zum Beispiel am Beziehungsgeflecht zwischen sittlichen Ideen, moralischer Intuition und moralischer Phantasie sowie der Bestimmung des Handelns, nachweisen. (Mit diesen Zusammenhängen befassen sich die Kapitel 6–8 und auch die Kapitel 11–14 des IV. Teils meines Buches.).

Über die Erkenntnistheorie und Ethik hinaus ist es vor allem das religionsphilosophisch-theologische Schlusskapitel der Philosophie der Freiheit, von dem aus interessante Bezüge zur Spinoza-Steiner-Kontroverse herzustellen sind. In Steiners Konzeption der „letzten Fragen“ lassen sich nicht nur „die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Philosophie der Freiheit, sondern auch ihr moralphilosophischer und ethischer Standpunkt, inklusive der darin enthaltenen Ansätze zu einer Konzeption ‚geistiger Gefühle‘“ in einem „Leben in Gott“ zusammenführen. Steiner skizziert hier, wie „eine Einkehr des intuitiven Denkens, samt seinen Ideen, in die Ordnung der ‚absoluten Wirklichkeit‘, die alles individuelle Denken und Sein ‚umfasst‘ und ‚durchdringt‘“, zu denken und zu erleben ist (PuA, 867). „Leben in Gott“ ist nach Steiner „ein Dasein, das sich eingegliedert und durchdrungen weiß von der ‚absoluten Wirklichkeit‘, die sich ihm durch das intuitiv-denkende Erfassen der Ideenwelt erschließt“ (ebd.). Dass die Ordnung der ‚absoluten Wirklichkeit‘ kein Chaos, sondern ein lebendiger, nach Gesetzen organisierter und  systematischer Strukturzusammenhang ist, dem nicht nur ideelles, sondern auch affektives („Liebe geistiger Art“) und schöpferisches Sein immanent ist, muss nicht ausdrücklich betont werden. Hier ist Steiner sehr nahe an Spinozas absoluter Freiheits- und Glückseligkeitslehre aus dem V. Teil seiner Ethik. Und die Interpretation der Steinerschen Termini der „Eingliederung“ und „Durchdringung“ des Daseins in die, bzw. von der „absoluten Wirklichkeit“ wäre durchaus geeignet, über die Modalität dieser Zusammenhänge, das heißt über ihre Notwendigkeit oder Zufälligkeit, weiter nachzudenken. Auch Steiners Reinkarnationslehre, ein Spezialfall „schicksalhafter Verknüpfung“, gälte es hier zu bedenken.

Wie nahe sich Steiner und Spinoza gerade in ihrer Kosmologie und deren Bedeutung für Erkennen und Handeln stehen, kann der Hinweis auf ihre Konzeption von „Gut und Böse“ veranschaulichen. Im Unterschied zu Nietzsche, bei dem der freie Geist sich selbst sein Gut und Böse gibt und zwar unter Berücksichtigung der vom Christentum verfemten Instinkte und Triebe, gilt für Spinoza und Steiner, dass Moralität grundlegend etwa mit der „rechten Art“ zu tun hat, wie die individualisierte sittliche Intuition, an der sich das Handeln des „freien Geistes“ ausrichtet und die er liebt, „im Weltzusammenhang drinnensteht“ (PuA, 664 ff.). Oder, um es in der Terminologie Spinozas zu sagen, es kommt darauf an, dass die intuitive Erkenntnis das Handeln aus dem Zusammenhang mit der ewigen, schöpferischen Ordnung der natura naturans orientiert und begreift und dadurch adäquate Erkenntnis und adäquates Handeln möglich macht. Ein derart begründetes Handeln oder Streben ist nach Spinoza ethisch gut. Oder, wie Steiner sich ausdrückt:

„[Eine Handlung] wird ‚gut‘, wenn meine in Liebe getauchte Intuition in der rechten Art in dem intuitiv zu erlebenden Weltzusammenhang drinnensteht; ‚böse‘, wenn das nicht der Fall ist.“ (GA 4, 162).

Es ist in beiden Fällen der „Weltzusammenhang“, aus dem Sittlichkeit und Ethik begründet werden. Und für beide Denker gilt überdies – auch das im Unterschied zu Nietzsche –, dass die aus der physischen Natur des Menschen stammenden Neigungen, Triebe und Instinkte keine geeigneten Kandidaten für die Begründung von Moral und Ethik sind.

Hierin sind Steiner und Spinoza in der Sache nicht wirklich auseinander. Die Kategorie der Notwendigkeit ist somit kein hinreichender Grund dafür, Spinoza einen Deterministen und Steiner einen Philosophen der Freiheit zu nennen.

Mit zwei kleinen Bemerkungen zum Thema Freiheit und Notwendigkeit möchte ich diesen Diskussionsbeitrag beschließen. Die eine bezieht sich noch einmal auf die in meinem Buch analysierte Passage aus Kapitel I der Philosophie der Freiheit. Die andere thematisiert die Kritik von Fagard, dass Spinoza und Steiner unterschiedliche Begriffe der Freiheit verwenden und ein Vergleich deshalb schwer möglich sei (Fagard, 19).

Steiners Kritik an Spinoza läuft auf den Vorwurf hinaus, mit Bewusstsein begleitete Handlungen oder Bestrebungen nicht hinreichend differenziert zu haben (GA 4, 19).

„Aber ist es berechtigt, Handlungen dieser Art [die unter unwiderstehlichem Zwang stehen] in einen Topf zu werfen mit solchen, bei denen sich der Mensch nicht nur seines Handelns bewußt ist, sondern auch der Gründe, die ihn veranlassen?“ (Ebd.)

Aus dieser Unterscheidung entwickelt Steiner bekanntlich den Ansatz zu seiner Freiheitskonzeption „wissen, warum ich etwas tue“ (ebd.). Wir haben oben auf das Problem der kontradiktorischen Dichotomie von Freiheit und Notwendigkeit hingewiesen und auf die Sinnhaftigkeit aufmerksam gemacht, in modalen Beziehungen etwa davon zu sprechen, dass „Freiheit notwendige Voraussetzung von X sein könne“ oder „X die notwendige Folge der Voraussetzung der Freiheit sei“. Der Versuch, Freiheit und Notwendigkeit als kontradiktorische Gegensätze aufzubauen und darauf den Unterschied zwischen einem deterministischen oder freiheitlichen System zu begründen, hat seine Tücken. Interessant ist nun zu sehen, dass Steiner im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Spinoza die Idee eines Konsequenzialismus anspricht, bei dem es um das Moment der Nötigung (des Zwanges) im Hinblick auf ein „bloß bewusstes“ bzw. ein „aus Einsicht in die Gründe“ vollzogenes Handeln geht. Steiner fragt mit Richtung auf Spinozas Beispiele und dessen „mangelndes Unterscheidungsvermögen“, „ob denn ein Beweggrund meines Handelns, den ich erkenne und durchschaue, für mich im gleichen Sinne einen Zwang bedeutet, wie der organische Prozeß, der das Kind veranlasst, nach Milch zu schreien.“ (Ebd., 20. Hervorhebung H.T.) Interessant ist es, zunächst darauf zu achten, dass Steiner in beiden Fällen von Zwang spricht. Allerdings möchte Steiner zwischen beiden Zwängen eine spezifische Differenz berücksichtigt wissen. Im ersten Fall haben wir es mit einer Nötigung zu tun, die durch Einsicht in den Wirkungszusammenhang erfolgt bzw. von seinem Durchblick begleitet wird. Im zweiten Fall folgt die Handlung der Notwendigkeit eines physischen Zwangs, ohne dass hier ein interner Erkenntnisakt vorliegt. Insofern hat Steiner Recht, wenn er sagt, dass beide Handlungen durch eine unterschiedliche Nötigung motiviert werden, und dass dieser Unterschied im Hinblick auf die Frage nach der menschlichen Freiheit von elementarer Bedeutung ist. Hatte aber Spinoza nicht ebenfalls, und zwar in derselben Hinsicht, diese beiden Handlungstypen mit der Unterscheidung freie und gezwungene Notwendigkeit zutreffend charakterisiert?

Muschalles Versuch, von dieser Stelle aus – in der Sache, nicht im Urteil – einen fundamentalen Unterschied zwischen Steiner und Spinoza zu konstruieren, überzeugt mich nicht. Es gehe Steiner an dieser Stelle darum, so Muschalle, „ob einsehbare Vernunftgründe unseres Handelns einen ähnlich determinierenden Zwang auf uns ausüben wie andere, uns unbewusste Ursachen des Handelns“. Bei Spinoza, so Muschalle weiter, geschieht letztlich alles, „das (geistige und physische) Handeln aus einsehbaren Gründen und das Handeln aus dunklen organischen Bedürfnissen […] mit Notwendigkeit“ (vgl. Muschalle, 13).

Zunächst ist festzuhalten, dass von „Determinismus bei Steiner nicht die Rede “ ist (vgl. Fagard, Fn 30). Wohl aber spricht Steiner von Zwang und zwar im einen wie im anderen Fall. Die Frage ist, ob von Zwang oder Nötigung in beiden Fällen im selben Sinne gesprochen werden kann. Natürlich nicht. Das haben wir soeben gezeigt. Im ersten Fall handelt es sich um eine Nötigung zur Handlung aus Freiheit (freie Notwendigkeit) im anderen Fall um eine fremdbestimmte (bewusste oder unbewusste) Nötigung. Das heißt: Eine Nötigung zu Handeln oder zu Wollen kann aus unterschiedlichen, nämlich freien oder gezwungen, Beweggründen erfolgen; und: Ein freier Beweggrund ist einer, der mit Einsicht, Durchblick, Wissen und Erkenntnis zusammenhängt. Hierin sind Steiner und Spinoza in der Sache nicht wirklich auseinander. Die Kategorie der Notwendigkeit ist somit kein hinreichender Grund dafür, Spinoza einen Deterministen und Steiner einen Philosophen der Freiheit zu nennen.

Auch im Hinblick auf die größeren Zusammenhänge, in denen Erkenntnis, Handeln und Glückseligkeit (die „Erhöhung des Daseinswerts“) mit dem Weltganzen und dessen gesetzmäßiger Erscheinung und Verwirklichung stehen, lassen sich – wie gezeigt –  bemerkenswerte Parallelen zwischen Steiner und Spinoza ziehen. Damit sollen selbstverständlich die merklichen Unterschiede zwischen beiden, etwa der im Hinblick auf eine explizite Ich-Lehre, nicht völlig eingeebnet werden.

Über die Kritik an der „Schwarz-Weiß-Schablone“: Determinismus einerseits und Freiheit andererseits, gibt es jedoch, wie ich glaube gezeigt zu haben, hinreichend Anlass nachzudenken.

… wenn es darum geht, Wahrheit und Wirklichkeit der Freiheit umfassend zu verstehen.

In dieser Hinsicht scheint mir auch der Hinweis Fagards keine tragfähige Lösung zu bieten, bei Steiner und Spinoza zwischen zwei verschiedenen Freiheitsbegriffen zu unterscheiden (Fagard, 34). Ich bin mir zwar nicht sicher, ob Fagard  den Freiheits-Begriff im strikten Sinne der Philosophie Steiners verwendet oder hier eigentlich eher an unterschiedliche Vorstellungen von Freiheit bei Steiner und Spinoza denkt. Letzteres scheint eher der Fall zu sein. Denn es wechseln in unsystematischer Folge: das „Wort“, das „Idiom“, der „Begriff“ Freiheit. Die Tendenz geht allerdings zum Begriff der Freiheit. Sollte der gemeint sein, dann ist von Steiner selbst her einzuwenden, dass es in striktem Sinne keine zwei Begriffe von Freiheit geben kann. Ebenso wenig wie es zwei Begriffe des Löwen oder des Dreiecks gibt. Begriffe können nur vollständig oder weniger vollständig, einfacher oder komplexer (Ideen) sein. Das bedeutet für unser Problem „Spinoza oder Steiner“, dass nicht gezeigt werden kann, dass Spinozas Freiheitsbegriff in Wahrheit ein Determinismus und Steiners gesetzmäßige Ordnung des Weltganzen ein System der Freiheit ist. Es muss im Sinne des Ideenbegriffs Steiners vielmehr gezeigt werden, um welchen Anteil, Ausschnitt oder Wesenszug der Freiheitsidee es sich im einzelnen bei Steiner und Spinoza handelt,  wenn es darum geht, Wahrheit und Wirklichkeit der Freiheit umfassend zu verstehen. Absicht des zweiten Teils meines Diskussionsbeitrags war es, darauf hinzuweisen, dass zu diesem Zweck weniger eine rigorose Abgrenzung zwischen dem Freiheitsverteidiger Steiner und dem Freiheitsgegner Spinoza als vielmehr eine differenzierende und abwägende Betrachtung geeignet ist.

Ich fasse zusammen:

  1. Die philologische Kritik Fagards an der von mir verwendeten Übersetzung des Spinoza-Briefes ist berechtigt. Mein erster Vorwurf, Steiner habe den Text, ohne dies kenntlich zu machen, gekürzt, ist haltlos. Ich nehme ihn zurück.
  2. Die interpretatorischen Konsequenzen aus meinem zweiten Vorwurf, Steiner habe die von Spinoza selbst gegebene Deutung seines Briefes seinen Lesern vorenthalten und dadurch ein einseitiges, ja unzutreffendes Freiheitsverständnis Spinozas gefördert, werden durch die philologische Arbeit Fagards und seine Zustimmung zu wesentlichen Kritikpunkten meiner Analyse bestätigt, ja sogar noch verschärft.
  3. Über den Begriff der Notwendigkeit allein lässt sich keine hinreichend scharfe Trennung zwischen Determinismus und Freiheit begründen. Freie Notwendigkeit ist bei Spinoza kein begriffliches Kompositum und notwendige Folgerungen sind sowohl aus freien wie aus unfreien Voraussetzungen möglich.
  4. Unter Berücksichtigung der Komplexität beider Denkansätze und Weltanschauungen kann eine eindeutige Polarisierung: Spinoza ist Determinist und Steiner Philosoph der Freiheit philosophisch nicht überzeugen.

In der Hoffnung auf die Fortführung einer sachbezogenen Auseinandersetzung möchte ich mich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich bei Merijn Fagard für die fruchtbare philologische Arbeit am Kapitel meines Buches und für den Anstoß zu diesem Diskussionsbeitrag bedanken.

_________________________________________________________________________

Bild: privat

Dr. Hartmut Traub ist Studiendirektor am Seminar für schulpraktische Lehrerbildung in Essen und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft. Promotion über Fichtes Populärphilosophie und Herausgeber u.a. des Briefwechsels zwischen Schelling und Fichte, der Fichte-Studien und der Fichte-Studien Supplementa. Lehraufträge in Philosophie und Philosophie-Didaktik an der Mercator Universität Duisburg, der Universität Duisburg/Essen und der Alanus-Hochschule Alfter.

Zu Hartmut Traub und dem philosophischen Frühwerk Rudolf Steiners auf diesem Blog:

Philosophie und Anthroposophie – zu Hartmut Traubs Steiner-Exegese

Die „Optik des Geistes“ und der Geist des Okkulten. Ein Gespräch mit Hartmut Traub

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Hallo allerseits,
Ich bin Ansgar Martins, geb. 1991 und war bis Juni 2010 Schüler an der FWS Mainz. Inzwischen studiere ich Religionsphilosophie, Soziologie und Geschichte in Frankfurt a. M. Dieser Blog ( dessen "Leitbild" ganz oben rechts ) ist mein persönliches Projekt, um die oft einseitigen und selbstgerechten Pro- und Contra-Positionen in der Debatte um die Waldorfpädagogik und Anthroposophie kritisch zu kommentieren. Ich hoffe, das gelingt, und freue mich über Rückmeldungen jeder Art!

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