Mehr Autorität! Gerhard Vilmar und der „Konsens der Unzufriedenheit“
7. Dezember 2012 at 3:05 pm 2 Kommentare
„Man soll sich davor hüten, die alten Zeiten als Erziehungsvorbild zu idealisieren. Es ist eine reine Phantasie, dass das 19. und das frühe 20. Jahrhundert die Blütezeit einer guten Erziehung gewesen sind und ihre Ideale lediglich durch die Nationalsozialisten missbraucht wurden. Die Erziehungskultur des deutschen Kaiserreiches und der Weimarer Republik war autoritär. Zwar gab es auch liberale Erziehungsformen im Großbürgertum und interessante Erziehungsexperimente in der Reformpädagogik. Aber gerade letzteres zeigt die hohe Ambivalenz dieser vermeintlich progressiven Erziehung: Einerseits gab es sehr kreative Momente in der Reformpädagogik, andererseits war sie auf die Akzeptanz von Führern ausgerichtet.“
– Micha Brumlik, FR, 27.07.2007
Bücher und Aufsätze in Richtung „Meine Erfahrungen an der Waldorfschule“ bilden ein ganz eigenes Genre in der (anti-)anthroposophischen Literatur. Der Bogen spannt sich von begeisterten Berichten über wohlwollend-kritische und besorgte Erinnerungen bis zu schockierenden Leidensgeschichten – und für alle davon gibt es ein leselustiges Publikum.
Gerhard Vilmar – Mediziner, Psychoanalytiker, „Coach“ und Dozent für „Beziehungskompetenz im Lehrerberuf“ in Innsbruck – hat dieses Genre kürzlich um einen eigenwilligen, aber lesenswerten Band erweitert. Er war Vater an einer Waldorfschule und hat seine Gedanken dazu in einem schmalen Buch bei Books on Demand publiziert: „Waldorfsalat. Zur Psychologie der Waldorfschulen“ (Norderstedt 2012). Über die eigene Waldorf-Erfahrung führt Vilmar auch in das Thema seines Buches ein:
„Jede Waldorfschule ist ein Kosmos für sich. Vergleiche sind nur sehr eingeschränkt möglich … Die persönliche Erfahrung als Waldorfvater, in verschiedenen Gremien einer Waldorfschule, insbesondere im Elternrat und Vertrauenskreis, die Beratungs- und therapeutische Tätigkeit für Lehrer, Eltern und Schüler sowie die kontinuierliche Arbeit mit ausgebrannten und mit den strukturellen Defiziten hadernden Waldorflehrern zeigen ein ziemlich übereinstimmendes Bild: ein Konsens der Unzufriedenheit mit einem nicht sonderlich geglückten organisatorischen System.“ (ebd., 5)
Es gebe auch Ausnahmen und Schulen mit „Offenheit, Neugier, Experimentierfreundigkeit“, Waldorfschulen, „in denen, ganz wie Rudolf Steiner es forderte, Reformen nicht zu Dogmen erstarrt sind.“ (ebd.) Wo Steiner das gefordert haben soll, ist mir unbekannt. Dass er so etwas gefordert hat, scheint mir plausibel – seine in der Tat inflationäre Aussage, die Anthroposophie kenne keine Dogmen, ist heute schließlich auch Schild und Schwert anthroposophischer Dogmatiker.
Zu Steiner hat Vilmar anscheinend kein eindeutiges Verhältnis: Fast immer, wenn die Rede auf ihn kommt, beginnt er, über Psychoanalyse zu schreiben, „von deren Anfängen Rudolf Steiner schon früh etwas mitbekam. Er war nämlich ab 1884 Hauslehrer in der Familie Ladislaus Specht und konnte immer wieder an Gesprächen teilhaben, die Pauline Specht mit Josef Breuer führte, Mitbegründer der Psychoanalyse und Freund von Sigmund Freud.“ (S. 8). Das trifft zu (vgl. GA 28, 211ff.), ist aber schlicht kein Argument, um Steiners Beitrag zu den strukturellen und manifesten Problemen des Waldorf-Systems außen vor zu lassen. Wo Vilmar es dennoch versucht, verfällt seine Bestandsaufnahme bekannten Klischees, etwa dem von Steiners beschränkter, bildungs- und geldarmer „Herkunftsfamilie“ (S. 32). Ein Mythos, den Steiner selbst in die Welt gesetzt hat und mit dem spätestens seine kritischen Biographen 2011 aufgeräumt haben – tatsächlich waren die Steiners Teil des ländlichen Kleinbürgertums. (vgl. Der Besuch der toten Tante) Dennoch ist Vilmars Fazit interessant, dass man „die depressiv-zwanghafte Atmosphäre der von ihm initiierten Institutionen … aus organisationspsychologischer Sicht als Niederschlag der Persönlichkeit Rudolf Steiners“ verstehen könne (Vilmar, 32).
„Kinder erwarten Grenzen!“
Tatsächlich würden Vilmar und Steiner sich wohl in pädagogischer Hinsicht gut verstehen. „Kinder brauchen Grenzen?“, fragt Ersterer rhetorisch – und man ahnt die Antwort: „Zu kurz gedacht! Kinder erwarten Grenzen! Wenn Kinder kein konturiertes Gegenüber finden, werden sie sich mit der Ausbildung ihrer Identität schwer tun. Voraussetzung ist, dass Eltern und Lehrer von der freundschaftlichen Kumpelebene zu einer autoritativen Haltung finden.“ (Vilmar, 9). Niemand wird den Zusammenhang zwischen Identität und Zwang bestreiten – aber warum ihn idealisieren? Während Steiner den Menschen erst im Alter von 14 Jahren für fähig hielt, „sich über die Dinge, die er vorher gelernt hat, ein eigenes Urteil zu bilden“ (GA 34, 342), ist dies für Vilmar „ab einem Alter von ca. 13 Jahren sinnvoll.“ (Vilmar, 9) An Waldorfschulen erlebte er anscheinend – man möchte sagen: glücklicherweise – das Gegenteil. Und deshalb kritisiert er die „ständig aktive Schulgemeinschaft“, in der die Grenzen von Schülern, Eltern und Lehrern „schnell“ verwischen, fordert dagegen „Abgrenzung“, denn „Beziehungsgestaltung über die Schule und mit der Schule kann zur Sucht werden“ (S. 30).
Aber Vilmar kennt auch ein Gegenmittel zum Grauen der „Beziehungsgestaltung“, eben die „autoritative Haltung“: „Einfühlung und Verständnis bilden eine wichtige Basis für ein gutes Miteinander. Doch wer dabei versäumt, klare Strukturen zu schaffen, eindeutige Regeln aufzuzeigen und auf deren Einhaltung zu achten, gibt den Kindern keinen ausreichenden Halt.“ (S. 10). Vilmar gehört – wie viele Fachkollegen aus den Reihen der Psychologen und ‚Coachs‘ – anscheinend zum alle paar Jahre auftauchenden Meinungstrend, der verkündet, man brauche ‚wieder‘ mehr ‚Halt‘ und ‚Durchsetzungskraft‘ seitens der Lehrer und Eltern. Denn früher war alles besser: „Damals“ waren „die Strukturen klarer, die Schüler anders und Rudolf Steiner die zur Verfügung stehende Autorität.“ (S. 16) Die Historikerin Miriam Gebhardt hat sich in ihrer Habil-Schrift mit der erstaunlich langen Geschichte solcher Vorstellungen befasst und bilanziert:
„Wer heute wieder lauthals fordert, Fachleute sollten sich in die Familienerziehung einmischen und möglichst verbindlich die richtigen Regeln zur Ernährung und Erziehung unters Volk bringen (‚Elternführerschein‘), wer meint, Kinder müssten wieder Disziplin und Gehorsam lernen, wer ständig von ‚Grenzen‘ spricht, die Eltern wieder ziehen müssen, der muss sich gefallen lassen, dass man ihn zu dem Wort ‚wieder‘ befragt; dass man an die Vergangenheit erinnert – an all die Ratgeberpäpste und -päpstinnen, die dazu beigetragen haben, dass den deutschen Eltern angst und bange wurde vor ihren ‚kindlichen Tyrannen‘.“ (Miriam Gebhardt: Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert, München 2009, 241)
Bekanntlich hat sich die Vorstellung vom Lehrer als „geliebter Autorität“ auch in der Waldorftheorie stark niedergeschlagen. Steiner fand, „dass einer in der Schule befehlen muss. Also: einem jeden eine Art Handlung für jeden Tag zuweisen, die sie dann jeden Tag, unter Umständen das ganze Schuljahr hindurch, vollbringen – das ist etwas, was auf die Willensbildung sehr stark wirkt.“ (GA 293, 74)
Aber hier schuf die selektive Steiner-Rezeption immerhin Gegengewichte. So plädierte der prominente Waldorflehrer Hans Müller-Wiedemann für „ernsthafte partnerschaftliche Bemühungen der Eltern. Wir müssen den Mut wiedergewinnen, auf den Wandlungswillen unserer Kinder zu vertrauen…“ (Müller-Wiedemann: Mitte der Kindheit, Stuttgart 1973, 279) Müller-Wiedemann wandte sich gegen pädagogischen Aktionismus und eben auch dagegen, dass Erzieherinnen und Erzieher ‚autoritativ‘ sein müssten: „Die großen Dinge, die das Herz bewegen, brauchen Zeit und meistens auch Schweigen … Dort sucht eure Autorität. Niemand hat sie. Sie wandelt durch die Seele“ – und so komme sie schließlich auch den Kindern zugute. (ebd., 282) Wie auch immer man Müller-Wiedemanns Jargon bewertet: Solche Weigerungen von Waldorfpädagogen, sich mit Steiners esoterischen Erziehungsratschlägen ernsthaft zu befassen und sie der eigenen Meinung nach umzubiegen, dürften nicht unwesentlich zu der Atmosphäre beitragen, die viele ehemalige Waldorfschüler an ihrer Schule so schätzten.
„Große Gefühle gehören in die Oper!“
Die Schwachstellen dieser Wohlfühlstimmung liegen freilich in einer kollektivistischen, post-demokratischen Selbstverortung, die die demokratische ‚Mehrheitsdiktatur‘ durch Konsensentscheidungen und ‚einmütige‘ Concordia ersetzen will.
„So richtig wohl fühlt sich die Herde nur, wenn alle Schafe beisammen sind. Als Ideal scheint die Vorstellung eines ins Universelle gehobenen geselligen Beisammenseins zu wirken. Eines imaginären Allzuständigkeitsgremiums, in dem sich Lehrer, Eltern und Schüler aller Waldorfschulen rund um die Uhr und den Erdball durch alle anstehenden Fragen bis zum letztgültigen Konsens hindurchquälen. Wo anders als im größten Rund ließe Stagnation sich besser zelebrieren! … Wie wollen wir es mit dem Schneeballwurfverbot auf dem Pausenhof halten? Und wie mit Schülern, die in den Pausen unerlaubt das Schulgelände verlassen? Prekäre Fragen allemal, die eines mit Sicherheit auslösen: endlose Debatten. Und verzweifelte Versuche, in der ‚Nachspielzeit‘ doch noch zu einer ‚Last-Minute-Entscheidung‘ vorzudringen. Was so, als Beschluss getarnt, irgendwann und -wie von der Runde abgenickt wird, ist am Folgetag bereits nurmehr Schnee von gestern.“ (Rüdiger Iwan: Die neue Waldorfschule, Reinbek 2007, 115f.)
Diese Beobachtung sucht man bei Waldorfkritikern in der Regel vergebens – zu attraktiv ist der autoritäre Steiner, um sich dessen chaotische Rezeption anzuschauen. Vilmar beobachtet dagegen immerhin dieselbe von Iwan (zurecht) verrissene postmoderne Kollektiv-Kultur. Er scheint sie allerdings noch unterschreiten zu wollen – und plädiert auch auf organisatorischer Ebene für Zucht, Ordnung und „Leistungsverantwortung“:
„Verlässt man jedoch die Ebene arbeitsbezogener Interaktion, und sucht sein Heil im emotionalen Miteinander, werden die Konfliktfelder nicht vermindert sondern verstärkt. Doch große Gefühle gehören in die Oper! … Wenn heute in manchen Waldorfschulen ausgeschlossen ist, dass einige wenige Personen aus dem Kreis des Kollegiums Leistungsverantwortung übernehmen und damit auch riskieren, sich (vorübergehend) unbeliebt zu machen, dann kann aus falscher Gleichheit höchstens Mittelmäßigkeit erwachsen. Dann wird zwar alles angesprochen, aber nicht zielführend gehandelt, weil zu viele mitreden und dadurch zu wenig in Strukturen, Prozessen und Verantwortlichkeiten gedacht und gehandelt werden kann. Außerdem ist es sehr fraglich, ob ein (von der Größe her) mittelständisches Unternehmen in der heutigen Zeit überhaupt noch von Laien geführt werden kann.“ (Vilmar, 16)
Vilmars Plädoyer für Ordnung und Hierarchien ist so haarsträubend wie seine Analyse der Schulrealität an Waldorfschulen treffend ist. Der größte Teil seines Büchleins widmet sich der Selbstausbeutung von Waldorflehrern, mangelnder Kommunikation, resultierenden sozialen Klimakatastrophen. Erschwert würden sie noch durch eine falsch verstandene Freiheitsideologie, die unter anderem dazu führe, „dass in der unkommentierten Selbstvergessenheit die persönlichen Verzerrungen und neurotischen Anteile der einzelnen Lehrer ungebremst in der Klassenführung und Unterrichtsgestaltung durchschlagen können.“ (S. 37) Gleiches gelte für Waldorfeltern:
„Manche Eltern wollen ihre Position im Vorstand [des Schulvereins – AM], dem Personalkreis [zuständig für die Neueinstellung von Lehrern – AM] oder anderen Gremien dazu nutzen, um einen direkten Einfluss auf die Personalsituation, die Finanzen und andere wichtige Themen zu nehmen. Einige Eltern haben, das darf man dabei nicht vergessen, häufig sehr gute und weitreichende Kompetenzen in unterschiedlichen Bereichen, bewähren sich täglich in der Führung eine Unternehmens … wieder andere dulden und leiden, schleichen eher subdepressiv umher – die Belohnung fürs Bravsein!“ (S. 41f.)
Das sind Zustände, die wahrscheinlich jeder Waldorfschüler kennt und die in der kritischen Literatur so gut wie nicht auftauchen. Wer, der eine Waldorfschule besucht oder mit ihr zu tun hat, hätte nicht dutzende von Anekdoten bei der Hand, wenn von giftigen „Parkplatzgesprächen“ oder spätabendlichen Krisentelefonaten die Rede ist? Wer hat nicht von Elternabenden gehört, an denen „sich Lehrer und Eltern … erbitterte Auseinandersetzungen mit wechselseitigen Schuldzuschreibungen“ (S. 27) liefern?
Für die Rolle der Schüler im „Waldorfsalat“ scheint Vilmar allerdings nicht besonders viel übrig zu haben. Nicht nur, dass es ihm inhaltlich vor allem um (zurecht) fordernde Eltern und überforderte Lehrer geht. Waldorfschüler scheinen sich Vilmar zufolge vor allem in „Lücken hinein [zu] begeben und diese fortlaufend [zu] vergrößern.“ (S. 36). Zur Lösung der Probleme hat Vilmar außer den Phrasen, „dass jede Schule Führung, Management und Steuerung braucht“ (S. 39) aber scheinbar nicht viel zu sagen. Bei der Bestandsaufnahme will er sich auch nicht zu lang aufhalten, denn es gelte, „vom Problembewusstsein zum Lösungsbewusstsein zu kommen.“ (S. 47) Was davon zu halten ist, zeigt Vilmars Buch. Dessen Stärke und Witz liegt nämlich gerade in der problemorientierten Bestandsaufnahme.
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