Die Mystik im Aufgang: Christian Clement liest Steiners esoterische Konversionsbiographie neu

8. September 2013 at 4:16 am 8 Kommentare

„Und da eine von Wahrnehmung getrennt existierende Materie ein bloßes Gedankending ist … – die Erscheinungen unserer Ebene die Schöpfungen des wahrnehmenden Ich sind – die Veränderungen seiner eigenen Subjektivität – [haben] alle die Zustände der Materie, welche die Vereinigung aller wahrgenommenen Gegenstände darstellen, bloss ein verhältnismäßiges und rein der Erscheinung angehöriges Dasein … Das Zusammenwirken von Subjekt und Objekt bewirkt den sinnlichen Gegenstand, oder die Erscheinung, wie die modernen Idealisten sagen würden … Dieses Ich muss, fortschreitend auf einem Bogen im Emporsteigen der Subjektivität, die Erfahrung einer jeden Ebene ausschöpfen.“
– Helena Blavatsky: Die Geheimlehre, Bd I, S. 350f.

Er ist da: Der erste Band einer Kritischen Ausgabe der Schriften Rudolf Steiners (SKA). Die Reihe startet mit Steiners 1901 bzw. 1902 veröffentlichten Büchern „Die Mystik im Aufgang des neuzeitlichen Geisteslebens…“ und „Das Christentum als mystische Thatsache…“ – Zeugnissen seines Schwellenübertritts vom anarchischen Philosophen zum esoterischen Ideologen. Ein guter Startpunkt also für eine Editionsreihe, die zumindest eins verspricht: die Entwicklung, Gehalte, Quellen und Kontexte von Steiners Schriften in wesentlichen Aspekten transparenter zu machen. Die Veröffentlichung ist im prominenten Frommann-Holzboog Verlag positioniert, es werden die verschiedenen Überarbeitungsschichten der beiden Bücher dargestellt, ein ausführlicher Kommentar führt hunderte von Zitat- und Quellennachweisen sowie Zusatzinformationen an. Der Mystikforscher Alois Maria Haas hat ein umfangreiches Vorwort geschrieben und liest Steiner im Kontext mystischer und esoterischer Neuansätze um 1900. Herausgeber Christian Clement macht in einer noch umfangreicheren Einleitung Steiners Denken als erkenntnisoptimistischen Monismus subjektivistischer Prägung kenntlich – und gelangt darüber zu einer teilweise neuen, aber an dieser Stelle in jeder Hinsicht fruchtbaren Deutung des berüchtigten Anthroposophiegründers.

Steiner und die Theosophie 1901: Die Vorträge zum „Christentum“

Einer der wichtigsten Funde dieses ersten erschienenen Bandes der „Kritischen Ausgabe“ ist ein bereits publizierter. Es handelt sich um die 24 Vorträge, die Steiners Buch „Das Christentum als mystische Thatsache“ zugrundeliegen (während die zur „Mystik im Aufgang…“ als verschollen gelten) und die von Steiner publizierte Fassung an Ausführlichkeit beträchtlich überbieten. Ironischerweise wurden sie nicht in der umfangreichen „GA“, der Gesamtausgabe des Rudolf-Steiner-Verlags herausgegeben, sondern in einer zweibändigen Ausgabe des Archiati-Verlags, der sich unter Berufung auf abgelaufene Copyrights und mit dem Anspruch hervortut, von den edierten GA-Bänden abweichende Vortragsmitschriften als ‚Steiner im Originalwortlaut‘ zu verkaufen. Clements „Kritische Ausgabe“ erweist sich damit lustigerweise auch als Synopse der bisherigen Steiner-Editionen. Übrigens hat David Marc Hoffmann, Leiter der Rudolf Steiner-Archivs, sich begeistert für Clements Projekt ausgesprochen und der Archiati-Verlag sich deshalb einmal mehr im Recht gesehen, vom Archiv Manuskripte Steiners anzufordern, weil die Archiati-Versionen ja auch bekanntlich viel einfacher zu lesen seien (Offener Brief).

Wie auch immer: Clement notiert in seiner Paraphrase der ursprünglichen Vorträge zum „Christentum als mystische Tatsache“, dass diese sich bereits wesentlich ‚theosophischer‘ ausnehmen als man aufgrund der Buchausgabe vermuten würde. Und das heißt: Viele Elemente von Steiners Esoterik, unter anderem auch die Überzeugung von Reinkarnation und Karma, standen offenbar bereits Ende 1901 für Steiner fest. Er kannte dabei offenbar auch bereits wichtige Positionen theosophischer Autoren zu diesem Themen. Andererseits waren auch seine philosophischen Ausgangspunkte noch wesentlich präsenter als in der gekürzten Buchfassung. Clement:

„…auf die Verbindung mystisch-religiöser Vorstellungen mit naturwissenschaftlichem und philosophischem Denken geht die Vortrags-Fassung viel intensiver ein und beschreibt in ausführlichen Exkursionen Parallelen zwischen naturwissenschaftlichen und esoterischen Vorstellungen. So finden sich etwa Ausführungen über Reinkarnation und Karma als aus modern-naturwissenschaftlichem Denken notwendig hervorgehende Vorstellungen … häufige Exkurse zu Goethe und Fichte, den geistigen Übervätern seiner philosophischen Phase… Auch Steiners frühe Vertrautheit mit theosophischen Konzepten, Begriffen und Autoren tritt in den Vorträgen deutlicher hervor als im Buch. Der Text zitiert Autoren wie Besant, Leadbeater, Sinnett und Hübbe-Schleiden, verwendet wie selbstverständlich theosophische Termini und bezieht sich immer wieder auf siebenstufige Modelle, sowohl was den Aufbau des Menschen angeht, wie auch im Hinblick auf kosmische und individuell-menschliche Entwicklungsvorgänge. Die Idee der Wiedergeburt ist allgegenwertig, während die Buchfassung eher verhalten davon handelt und statt von ‚Reinkarnationen‘ von ‚Seelenwandelung‘ spricht. Der Vortragende kennt also die Vorstellungswelt seiner theosophischen Zuhörer gut und spricht zu ihnen in ihrer eigenen Sprache, ja bezieht sich selbst in ihre Gemeinschaft ein…“ (S. LXVI)

Der im Wortsinn bio-graphische Wert dieser Feststellung ist groß. Anthroposophischen Historikern waren die Vortragsmanuskripte zwar teilweise bekannt, aber in ihrem theosophischen Gepräge und ihrer Relevanz als Vorstufe für die später erweiterten und umgebauten Reinkarnationskonzepte wurden sie wenig einbezogen. Steiners Mitgliedschaft in der Theosophischen Gesellschaft 1902 wird vor diesem Hintergrund um einiges transparenter (vgl. zum Kontext Robin Schmidt: Rudolf Steiner und die Anfänge der Theosophie, Dornach 2010).

Relativierung des Christentums

Schließlich relativiert Clement mit seinem Hinweis den christologischen Hintergrund der Vortragsreihe: „In der Buchfassung schrumpfen all diese umfangreichen Exkurse auf kurze eingestreute Bemerkungen zusammen und es wird weniger deutlich als in den Vorträgen, dass es hier um viel mehr als eine bloße Deutung des Christentums geht.“ (S. LXVI) Hierin weicht Clement deutlich von der anthroposophischen Rezeptionsgeschichte der Mystik-Schriften als in erster Linie „Christologischen“ ab – dies ist nur der erste von zwei historisch-philologisch gewichtigen Einwänden gegen eine Überschätzung des „Christen“ Steiner in seinen frühen theosophischen Jahren. Denn Clement sieht in Steiners Esoterik eher eine Illustration und Transformation seiner Philosopheme denn umgekehrt in den philosophischen Schriften schon Niederschläge der okkulten Christus-Deutungen. Dies wird auch im Kommentarteil deutlich:

„Steiner geht es letztlich nicht nur um eine Deutung der christlichen Vorstellungen, sondern um eine Erklärung des Prinzips aller religiösen und mythischen Vorstellungen, ja der menschlichen Vorstellungsbildung überhaupt. Angeregt hierzu wurde Steiner möglicherweise von Schellings religionsphilosophischen Schriften, die einen vergleichbaren Ansatz verfolgen und auf die Steiner sich mehrfach bezogen hat.“ (S. 296)

In der Tat bezeichnete Steiner, worauf Clement hinweist, Schellings Philosophie der Mythologie in der Vortragsfassung als „die bedeutendste Schrift, die wir heute lesen können“. Mir scheint mit Blick auf die unten auszuführende Projektionstheorie Fichte als Quelle naheliegender. In den späteren Auflagen von „Das Christentum“ habe Steiner die christliche Religion auf Kosten der ursprünglich wichtigeren Mysterienreligionen verselbstständigt und ausgebaut:

„Die Erstauflage stellt das Schicksal der Mysterienidee im institutionalisierten Christentum überwiegend negativ dar, nämlich als eine Geschichte des Verdrängens und Vergessens. Die Vorstellungen von der göttlichen Natur des Menschen und einem in ihm schlummernden Potenzial zur Vergottung seien zunehmend als ketzerisch gebrandtmarkt und durch Anschauungen ersetzt worden, in der die Kluft zwischen Gott und Mensch, zwischen Wissen und Glauben immer größer wurde. Die Neuauflage hingegen bewertet die Wirksamkeit des Christus-Impulses auch im bloßen Glauben deutlich positiver.“ (S. LXX)

Die heute bekannte anthroposophische Christologie habe erst in den folgenden Jahren ihre Ausprägung erfahren:

„Im Vortragswerk der Jahre 1903 bis 1906 entfaltete Steiner das umrissene christologische Konzept weiter, wobei er die in ‚Mystik‘ und ‚Christentum‘ oft noch durchscheinende philosophische Diktion ganz aufgab und die biblischen Vorstellungen nun vollständig  im Sinne esoterisch-theosophischer Anschauungen deutete.“ (S. LIV)

Clements Versuch, Steiners Deutung verschiedener Mystiker, konkret etwa Jakob Böhmes, kurzerhand zu dessen eigenen Erlebnis zu machen und daraus sein vielzitiertes persönliches „Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha“ zu erklären, greift m.E. zu kurz. (vgl. S. XLVII) Steiner sprach in dieser späten autobiographischen Schilderung eben nicht vom ‚Durchgegangen-Sein durch‘, sondern von einem ‚Gestanden-haben vor‘, also einem ihm externen Ereignis, einer visionären Schau jenes vermeintlich objektiv existenten ‚Mysteriums‘.

Exkurs: Methodisches und Quellenkritisches in der „Einleitung“

Die historisch-kritische Sichtung der beiden vorgelegten Steinerschriften bringt bald ans Tageslicht, dass aus diesen wenig über „die Mystik“ und umso mehr über Steiner zu lernen ist. Clements Kommentar in der Einleitung führt unter anderem aus,

„…dass Steiner in seiner Darstellung nicht sauber auseinandergehalten hat, wo er Gedanken anderer referiert, zitiert, paraphrasiert oder interpretiert, und wo er seine persönlichen Innenerfahrungen und Ansichten mitteilt. Weite Passagen, die sich wie Steiners eigene Gedankenentwicklung lesen, erweisen sich beim Quellenstudium als unausgewiesene Paraphrasen der von ihm benutzten Sekundärliteratur. Bisweilen finden sich gar wörtliche Zitate, die in keiner Weise als solche ausgezeichnet sind. Hinzu kommt, dass Steiner sich mit dem antiken Mysterien einem Bereich der Altertumswissenschaft zuwendet, zu dem es zu seiner Zeit kaum verlässliche Quellen gab und für deren Bearbeitung er das nötige philologische Rüstzeug nicht besaß … So kann es nicht überraschen … , dass seine Kenntnisse über diese Epochen und Autoren sowie sein Zitatenschatz aus einer relativ kleinen Sammlung einschlägiger Gesamtdarstellung stammten. Mehr als 50 Zitate hat er Otto Willmanns ‚Geschichte des Idealismus‘ entnommen und diese oft in derselben Reihenfolge in seiner Darstellung eingefügt.“ (S. XXXI)

Davon ist nichts unerwartet und alles ein Zeichen für die Notwendigkeit, Steiners Mystik-Bücher als Ausdruck seiner Überzeugungen zu lesen, statt als historische oder „geisteswissenschaftliche“ Erkundung der Mystiker, gar der antiken Mysterien. (vgl. S. XXXV) Und das tut Clement – bedauerlicherweise eher formal rekonstruierend denn problemorientiert-inhaltsbezogen. Dazu nur ein Beispiel: Clement stellt die nicht eben unbedeutende These auf, dass Steiners Esoterik bereits aus seinen Goethe-Schriften erkennbar gewesen und am Deutschen Idealismus „gedanklich gezeugt“ worden sei, allerdings (und darin liegt die Bedeutung) ohne dies wie übliche anthroposophisch-ahistorische Erbauungsliteratur nur retrospektivierend zu unterstellen. Bei Steiners Auseinandersetzung mit der Mystik werde man dann Zeuge der „eigentlichen Geburt“ dieser Esoterik, so Clement weiter. Dabei wird aber Steiner inhaltlich letztlich nicht ernst genommen oder auch nur am eigenen Erkenntnismaßstab kritisch gemessen: „Die im gegenwärtigen Diskurs kontrovers diskutierte Frage, ob Steiner dabei den Idealismus und die Mystik, ob er Eckart und Böhme, Goethe und Fichte ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ verstanden hat, ob er deren Impulse ‚weitergeführt‘ oder diese für seine Zwecke ‚instrumentalisiert‘ hat, ist für diesen Befund unserer Auffassung nach ohne Belang.“ (S. XLII) Die fehlende Auseinandersetzung mit Geltungs-Fragen versperrt Clement dabei aber auch die mit wichtigen Kontexten: Nämlich des aufgrund seiner Urteilsenthaltung blass bleibenden konkreten Erkenntnisinteresses Steiners an Fichte, Goethe oder diversen Theosophen, wie etwa dem in seinem Einfluss auf Steiner weithin unterschätzten Friedrich Eckstein.

Mit dem Kulturphilosophen Magnus Klaue könnte man hier entgegenhalten, dass der „pluralistische Wissenschaftsbetrieb“, „der alles diskutierbar macht und über nichts mehr urteilt, dem Aberglauben“ anheimfalle,  „unabhängig von jedem Wissenschaftsanspruch ebenfalls alles gelten“ zu lassen, „was ihm in den Kram passt“ und damit formal selbst esoterischer Urteilsbildung verfalle. (vgl. Klaue: Praktische Idealisten, in: Bahamas, 62/2011, S. 20) Diese Warnung trifft m.E. insofern auf Clements Darstellung zu, als sie auf dem (und auch auf Steiners) normativem Auge diplomatisch jedes Urteil zurückzuhalten versucht und dann trotzdem, aber eben methodisch unreflektiert, gelegentlich metaphysische „Treffer“ des Hellsehers aus dem Hut zaubert. Dazu wieder nur ein Beispiel: so wird aus formalen Ähnlichkeiten von Steiners (wie oben zitiert, äußerst dünnem) Sachwissen mit historischen Forschungsergebnissen auf eine materiale Übereinstimmung zwischen Steiners (als „These“ kaschierter) Unterstellung und der Altertumsforschung geschlossen: „Ironischerweise war es gerade die von Steiner bisweilen so desavouierte historisch-kritische Forschung mit ihren Methoden, welche seine These vom Mysterien-Ursürung des Christentums im akademischen Diskurs hoffähig machte.“ (S. XLVII)

Es ist unverhältnismäßig, das muss sofort hinzugefügt werden, solche in der Sache nicht das kleinste bisschen illegitimen, aber methodisch von Clement selbst ausgeschlossenen normativen Schnitzer in einer Rezension überhaupt zu erwähnen – nicht nur die Ausgabe als Ganze, sondern auch und gerade ihre Einleitung gehört vielmehr in fast jeder Hinsicht zum Besten, das zu diesem Thema jemals zu lesen war.

Gerade deshalb scheint es mir jedoch auch im Sinne der von Clement weitergeführten und angestoßenen Debatten sinnvoll zu sein, in dieser Besprechung vor allem die argumentativen und rekonstruierten Details anzuschauen. Ich erlaube mir, mich somit stärker auf seine Steiner-Deutung zu konzentrieren denn auf die Einzelfunde der quellenkritischen Ergebnisse, vor allem aus drei Gründen:

Erstens werden letztere Ergebnisse eher weniger durch ausführliche Analyse und Diskussion von Steiners Aussagen begründet sondern von Clement meistens überblicksartig paraphrasiert.

Zweitens wird auch die im weiteren Sinne historiographische Sekundärliteratur nur eingeschränkt herangezogen. Dies gilt bedauerlicherweise für den zum Thema Steiner und die Mystik eigentlich unvermeidlichen Gerhard Wehr, aber auch für den großen Steinerbiographen Christoph Lindenberg, der gleichwohl vielem zustimmen würde (vgl. etwa zum Thema Steiners „Egoismus in der Philosophie“ im Verhältnis zu „Die Mystik im Aufgang…“ Lindenberg: Rudolf Steiner: Eine Biographie, Stuttgart 1997, S. 315f.) Bedauerlicherweise kommen auch die philosophiegeschichtlichen Kontexte, die Hartmut Traub kürzlich benannt hat, nur in einer Fußnote mit dem Hinweis vor, dass dessen „Goethesche Weltanschauung“ mehr mit Fichte und Hegel als mit Goethe zu tun habe. Dies ist verständlich, da die Goethe-Schriften auch nur eingeschränkte Behandlung im Kontext derjenigen zur Mystik erfahren können. Aber Traubs Hinweise auf die Einflüsse von J.G. und I.H. Fichte auf Steiners Theosophie- und Mystikbegriff wären einer Erwähnung zumindest im Kommentar mehr als wert gewesen. Die einzigen längeren Ausnahmen sind Klaus von Stieglitz, Werner Thiede, Helmut Zander und Lorenzo Ravagli. Zander muss als durchaus hilfreicher, aber draufgängerischer Historiker herhalten, der „nicht an scharfer Kritik“ spare. (S. XLVII) Ravagli ist dem Herausgeber offenbar lieber, wobei Clement den Kontext beider Publikationen wiederum kaum umrissen hat. Hier wäre die von Ravagli als „Gegenmodell zum Macchiavellismus“ präsentierte „Diskursgeschichte“ ausnahmsweise an ihrem richtigen Platz. Ravaglis Buch ist eine durch ihre inhaltliche Engführung sehr eingeschränkte Konterpolemik auf den härentischen Versuch, Steiner überhaupt nur als Menschen zu sehen und der historisch-kritischen Textlektüre die Möglichkeit zu einem substanziellen Steinerverständnis abzusprechen (vgl. dazu kürzlich Katharina Brandt/Olav Hammer: Rudolf Steiner and Theosophy, in: Olav Hammer/Mikael Rothstein (Hg.): Handbook of the Theosophical Current, Leiden 2013, S. 131f.)

Drittens ist Clements Einleitung auch weniger auf eine Exegese der beiden Mystik-Schriften als auf deren Bedeutung innerhalb der intellektuellen Entwicklung Steiners fokussiert – und auch vor allem darin äußerst fruchtbar.

„Umstülpung“ der Philosophie zur Esoterik

Clement betont hier, wie dann weiter en passant im Kommentar zu den beiden publizierten Schriften, die monistische Kontinuität zwischen Steiners Früh- und Späterwerk. Er überzeugt dabei mit dem wohl ersten affirmativen Steinerzugang, dem auch Kritiker in systematischer Hinsicht etwas werden abgewinnen können. Clements Interpretation von Steiners Entwicklungsgang wird von ihm selbst so zusammengefasst:

„Steiners Geist-Begriff hat … eine ähnliche Metamorphose durchgemacht, wie sein Christus-Bild: Was in der philosophischen Diktion seiner frühen Darstellungen primär als im Menschen sich realisierendes immanentes Prinzip erschien, wurde später gewissermaßen von außen angeschaut bzw. als einem Äußeren immanent vorgestellt: Der logos ‚inkarniert‘ sich in Jesus, der Geist ‚manifestiert‘ sich in der Natur. Die Steinersche Esoterik kann als eine zum Zweck der Anschaulichkeit vorgenommene ideelle Umstülpung seiner Philosophie verstanden werden, in welcher dasjenige, was zuvor Inneres war, als Äußeres angeschaut wird, und umgekehrt. Dass in einem solchen Denken in Umstülpungen, worauf Kritiker immer wieder hingewiesen haben, notwendig konzeptionelle Widersprüche auftreten, lässt sich nicht von der Hand weisen. Aber diese stellen aus Steiners Sicht nicht unbedingt eine Schwäche seiner Argumentation dar.“ (S. LXIV)

Sieht man einmal davon ab, dass „aus Steiners Sicht“ „konzeptionelle Widersprüche“ nicht nur keine Schwäche darstellten, sondern überhaupt nicht existierten, ist diese „Umstülpungs“-These meilenweit entfernt von üblichen kritischen Hinweisen auf Steiners theosophische Kehre. Aber ebenso weit entfernt von den üblichen anthroposophischen Projektionen, nach denen der Schlüssel zur Deutung von Steiners philosophischem Werk in den „spirituellen“ Sphären der „höheren Welten“ zu suchen sei, die ihr Autor Jahre später behauptete. Clement liest Steiner immanent und beobachtet die zitierte „Umstülpung“ von der Epistemologie des „frühen“ zum externalisierten Wesenszoo des „späten“ Steiner, wobei sich die „Mystik im Aufgang“ als zentraler Umschlagpunkt zeigt. Eine solche Lesart ist übrigens keineswegs neu, sondern thesenhaft bereits von Autoren wie Christian Grauer oder Felix Hau formuliert worden. Zumindest Hau rief mit dieser allzu un-spiritualistischen Lesart überall hysterischen Widerspruch hervor – wobei den anthroposophischen Rackets genug Opportunismus zuzutrauen ist, um das zu vergessen und Clement ebenso hysterisch zu applaudieren, schon weil die SKA Popularisierung ihres Gurus verspricht. Info3-Chefredakteur Jens Heisterkamp hat übrigens als erster rezensiert und den bescherten historisch-kritischen Punktsieg des Rudolf Steiner, wie Info3 ihn seit längerem gern liest – d.h. die „Mystik als Umstülpung der Philosophie“ – gefeiert.

Clement verdeutlicht besagte Dynamik in Steiners Biographie jedoch solide. Während Alois Maria Haas im Vorwort schreibt: „Der ganze Vorgang im Leben Steiners um 1900 herum spricht für die Vermutung Zanders, dass sein ‚Weg in die Anthroposophie als eine Geschichte von ‚Brüchen, Diskontinuitäten und Neujustierungen‘ zu lesen sei“ (S. XXI) findet Clement als eine Art Meta-Kontinuität einen ontologischen Monismus, der das subjektive Erleben zum eigentlichen Grund der Welterfahrung und jedes metaphysischen Postulats macht – während eben dieses Erleben später die metaphysischen Schauungen Steiners garantieren sollte. Genau wie diejenige Haus stellt Clements Interpretation eine Phänomenologie des Steinerschen Geistes in Aussicht, die ihren Ausgangspunkt von einem allzu selten zitierten Brief des 19-jährigen Rudolf Steiner an seinen Freund Julius Köck nimmt. Steiner schrieb darin 1881:

 „Es war die Nacht vom 10. auf den 11. Januar, in der ich keinen Augenblick schlief. Ich hatte mich bis halb ein Uhr mitternachts mit einzelnen philosophischen Problemen beschäftigt, und da warf ich mich endlich auf mein Lager; mein Bestreben war voriges Jahr, zu erforschen, ob es denn wahr wäre, was Schelling sagt: «Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen.» Ich glaubte und glaube nun noch, jenes innerste Vermögen ganz klar an mir entdeckt zu haben – geahnt habe ich es ja schon längst-; die ganze idealistische Philosophie steht nun in einer wesentlich modifizierten Gestalt vor mir; was ist eine schlaflose Nacht gegen solch einen Fund!“ (GA 38, 13)

Steiners wechselhaftes Verhältnis zur Mystik

Der Rückzug aus dem Alltäglichen in das „geheime“ Vermögen, „unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen“ blieb ein reflexiver Ausgangspunkt für Steiners weitere Erkenntnistheorie und Naturphilosophie. Clement sieht in diesem Brief Steiners „ein klassisches Beispiel ‚mystischer‘ Erfahrung“. (S. XXXVIII) Dennoch habe Steiner diese „Erkenntniserlebnisse“ zunächst in Schelling, Fichte, Hegel und Goethe projiziert und in fast allen Briefen und Schriften vor 1900 den Terminus „mystisch“ vor allem negativ verwendet. In einem Brief an Eduard von Hartmann 1894 – also dem Jahr der Veröffentlichung seiner „Philosophie der Freiheit“ schrieb er jedoch:

„Die ganze Schwierigkeit scheint mir darin zu liegen, daß unser Leben ein individuelles, unsere Betrachtung als denkende eine ins Allgemeine gehende ist; beide Standpunkte scheinen mir aber im höheren Sinne wieder einer Vereinigung fähig zu sein, indem wir – zwar nicht in mystischer, wohl aber in logisch-ideeller Weise – das Individuelle des Bewußtseins abstreifen und erkennen, daß wir im Denken eigentlich gar nicht mehr Einzelne sind, sondern lediglich ein allgemeines Weltleben mitleben. Obwohl ich ein Feind aller Mystik bin, scheint mir hier der logische Kern der mystischen Lehren zu liegen.“ (GA 39, 227)

Clement zitiert diesen Brief nur kurz und einen weiteren, für Steiners Mystik-Verständnis zentralen, leider gar nicht. Ich meine eine Beichte aus dem Jahr 1891 aus Weimar an seine Wiener Freundin und vormalige Hausherrin Pauline Specht:

„Vorgestern nämlich war ich zum Diner beim Erbgroßherzog und gestern zum Souper bei der Großherzogin eingeladen. Es wird Sie vielleicht interessieren, wenn ich Ihnen mitteile, daß bei der Erbgroßherzogin recht flott über Yogi, Fakire und indische Philosophie gesprochen wurde. Sie können sich denken, daß ich da wieder recht gründlich untergetaucht bin in das mystische Element, in dem ich eine Zeitlang in Wien fast besorgniserregend geschwommen habe. Der Erbgroßherzog erklärte zwar, er halte «das alles für physiologisch unmöglich», da aber die Erbgroßherzogin sehr begeistert für die Sache ist, so kann es ja immerhin kommen, daß die Mystik hier noch ganz hoffähig wird. Da dies wohl das letzte Stadium vor ihrem Aussterben ist, so könnte man diese Erscheinung ja mit Freuden begrüßen.“ (ebd., 86)

Steiner bescheinigte sich hier selbst, „besorgniserregend“ im „mystischen Element“ „geschwommen“ zu haben und konstatierte „mit Freuden“ ein letztes Lebens-„Stadium“ der Mystik. Dass er selbst im Rückblick eine (historisch ebenfalls aufweisbare) Ambivalenz bei sich wahrnahm, sei hier nur festgehalten und weiter unten mit Blick auf sein theosophisches Intermezzo der 1880er diskutiert. Clement nimmt jedenfalls nur die anti-mystischen Äußerungen des frühen Steiner, vor allem der 1890er, wahr. Dies ist deshalb umso bemerkenswerter, als er gerade von diesen Kontinuitäten zu den Mystik-Schriften herstellen kann. Er verweist in der Folge pikanterweise auf Steiners Aufsatz „Der Egoismus in der Philosophie“ als erste große Vorstufe zu diesen Schriften. Darin waren u.a. Jakob Böhme und Descartes Thema: beider richtige Einsicht, so Steiner, sei die Wichtigkeit des menschlichen „Ich“ gewesen – doch Böhme habe dieses „Ich“ in „den Christengott“ und Descartes in die äußere Natur projiziert. Clement paraphrasiert diesen Aufsatz exzellent (ohne freilich zu erwähnen, dass Steiners Vorwurf bestenfalls völlige Unkenntnis der beiden geschmähten Denker zeigt). Er kommt zu der These, dass Steiner hier das Auseinanderdriften von „Mystik“ und „Naturwissenschaft“ beschrieb, das er dann zwei Jahre später in den Mystikschriften bzw. den Vorträgen, aus denen sie hervorgingen, einzuholen und zu schließen wünschte – mit dem Ich als subjektiver Bühne zur Erfahrung des Allgemeinen.In der Tat scheint dies Steiners „Mystik im Aufgang“ herzugeben, wenn es (in der sich kaum von der ersten unterscheidenden Fassung letzter Hand) heißt, der Mensch…

„…erschafft in sich eine geistige Welt. Mit dieser steht er der Natur einsam gegenüber. Er ist reicher geworden; aber der Reichtum ist eine Last, die er schwer trägt. Denn sie lastet zunächst auf ihm allein. Er muss aus eigener Kraft den Weg zurückfinden zur Natur … Seine Kraft kann leicht erlahmen. Statt die Eingliederung [in die Natur, AM] selbst zu vollziehen, wird er bei solchem Erlahmen seine Zuflucht zu einer von aussen kommenden Offenbarung nehmen, die ihn aus seiner Einsamkeit wieder erlöst, die das Wissen, das er als Last empfindet wieder zurückführt in den Urschoss des Daseins, in die Gottheit.“ (S. 69)

Diese „dialektische Konzeption“ (Clement) von Erfahrung des Innenlebens und objektiver Naturbeobachtung lässt sich in der Tat als inhaltlicher Nucleus betrachten, den Steiner von seinen Goethestudien in seiner Haeckel-Apologien und bis in die Theosophie durchhielt. Clement fasst zusammen:

„Die Natur des Wissens selbst, so Steiner, führe das menschliche Bewusstsein an die Schwelle zur Einsicht in den ich-haften Charakter allen Erkennens, und dieser Erfahrung seien die verschiedenen Spielarten von Mythologie, Philosophie, Kunst, Mystik oder eben von Naturwissenschaft entsprungen … indem nämlich der Mensch das Wissen von seinem eigenen innerseten Wesen als Wissen von einer Transzendenz aufgefasst habe … verschiedene, gesetzmäßig beschreibbare Metamorphosen des einen Ur-Vorgangs der Projektion des ‚Ich‘ in ein wie auch immer ausgestaltetes ‚Nicht-Ich‘.“ (XLIf.)

Religion und Projektion

Diese religionsphilosophische Projektionstheorie ist auch in der „Philosophie der Freiheit“ Thema, wofür Steiner eigens ein systematisch für den Rest seiner Argumentation völlig überflüssiges Konzept der „Person“ voranschickte. In der Buchfassung des „Christentums als mystische Thatsache“ ist dies mit der Erschaffung von Göttern durch den Menschen noch Thema (s.u.), verliert sich aber in den folgenden Jahren zusehends, während Steiner selbst eine übersinnliche Materialität etwa der Aura oder diverser feinstofflich-topographischer Verhältnisse bestimmter spiritueller Wesen und Sphären artikulierte und ausfeilte. In den Vorträgen zum „Christentum“ ist im 13. nach einer kritischen Diskussion von Feuerbachs Variante der Projektionsthese und Platons Ideenwelt folgende Psychologisierung und Esoterisierung in Steiners Idee zu finden:

„Es spürt fast jeder leicht, dass uns in unserer Ideenwelt etwas gegeben wird was über die Ideenwelt hinausgreift, wir könnten nicht einsehen, dass wir Individualitäten sind, wenn nicht ein Strahl in uns hineindränge, wenn wir nicht durch unseren Geist einsehen könnten, dass wir zum All gehören. Dieser Geist ist es, der hereinleuchtet. Das, was der Mensch als Individuellstes empfindet, das, von dem er sagen kann, dass es nur ihm angehört, das ist der Willensentschluss … Nicht nur der erkennende, der denkende, der den Pfad in der Anschauung suchende Mensch, sondern auch der tiefer Suchende lebt sich ein in das All … Nicht, dass dieses Urwesen mit dem Menschen nicht dieselbe Wesenheit hätte. Es ist, um mit Goethe zu sprechen, ein offenbares Geheimnis. Es ist immer und überall da und es kann von dem Menschen immer mehr und mehr erschaut und erkannt werden.“ (13. Vortrag, in: Das Christentum als mystische Tatsache. 24 Vorträge von Rudolf Steiner, Manuskript, S. 5f.)

Diese Philo von Alexandria zugeschriebene Position wird im folgenden eine psychologische Triade von Vater, Mutter und Kind als Spezifikum der „jüdischen Mystik“ zur Seite gestellt – und, man ahnt es schon, Steiner sieht in dieser ahistorischen, aber bei ihm mit dem jüdischen Kontext Philos gleichgesetzten Quelle auch den Ursprung seiner angeblichen Fehler, die zur „Unvernunft“ eines unerreichbaren Gottes geführt habe.

Clement unterschlägt nicht, dass dies noch nicht die „geistige Welt“ der Anthroposophie ist: In letzterer ist vielmehr das Ich Medium der Offenbarung jener Transzendenz, die der junge Steiner noch als Projektion des Ich wähnte und der späte aus persönlichem Umgang mit Christus, Luzifer, Erzengel Michael und ihren heiteren Freunden persönlich zu kennen behauptete. Zurecht aber sieht Clement in dieser Zuspitzung von Steiners subjektivistischem Monismus zum „Christentum als mystischer Tatsache“ eine „zweite methodische Grundlegung all dessen … was Steiner ab 1904 als Theosoph und ab 1913 als Anthroposoph ausgearbeitet hat.“ (S. XLII)

Mystik als „höhere Erkenntnis“ und die Dechiffrierung der religiösen Projektion

Weniger deutlich macht Clement, dass sich Steiners Mystik-Begriff 1901/2 im Gegensatz zum vorher pejorativen deutlich verändert hatte: Zwar blieb die subjektivistische Erklärung der mystischen Erfahrungen präsent und Steiner entfaltete in diesem Buch, dass das naturwissenschaftliche Evolutionsdenken das beste Erbe dieser Einsicht sei. Aber er schrieb im Oktober 1902 an einen Freund aus dem Giordano-Bruno-Bund, Wolfgang Kirchbach: „Ich brauchte, um das zu bezeichnen, was ich unter der «höheren Erkenntnis» verstehe, ein Wort und griff zu «Mystik».“ (GA 39, 420f.) Im selben Brief (S. 423) verwies Steiner auf den Brihadaranyaka-Upanishad. Sofern Steiner diesen tatsächlich gelesen und nicht erneut aus irgendeiner Sekundärliteratur gezogen hat, wäre ihm hier eine Ich-Philosophie begegnet, die seiner eigenen strukturell zutiefst verwandt war. Über die Erschaffung der Welt aus dem Âtman (als „Selbst“) heißt es darin zu Beginn (I, 4):

„Am Anfang war hier nur das Selbst; es war wie ein Mensch. Es blickte um sich und sah nichts anderes als sich selbst. ‚Das bin ich‘, was sein erstes Wort. Daher erhielt es den Namen ‚Ich‘ … Es fürchtete sich. Darum fürchtet sich einer, der allein ist. Es überlegte: ‚ Wenn es nichts anderes gibt als mich, vor wem fürchte ich mich denn da?‘ Da wich seine Furcht … Es empfand keine Freude. Darum empfindet ein Einsamer keine Freude. Es wünschte sich einen Zweiten. Es war so groß wie Mann und Frau bei der Umarmung. Es ließ sich in zwei Teile zerfallen. So entstanden Gatte und Gattin … Er nahte ihr. Darauf entstanden die Menschen … Sie wurde eine Kuh, er ein Stier … Sie wurde eine Ziege, er ein Bock, sie eine Schafmutter, er ein Widder … In dieser Weise erschuf es alles, was sich paart, bis hin zu den Ameisen … Dass es die höheren Götter schuf, ist eine Überschöpfung Brahmans. Weil es als Sterblicher die Unsterblichen schuf, darum ist es eine Überschöpfung. Wer so weiß, ist in dieser Überschöpfung enthalten … Das (Selbst) ist (in alles) bis in die Nagelspitzen eingegangen. Wie das Messer in der Scheide verborgen liegt … so nimmt man es nicht wahr, denn es ist zerteilt … All das sind nur Namen für seine Tätigkeiten.“

Dies weist nicht nur Analogien zu Fichtes Heraussetzung des Nicht-Ich aus dem Ich als „Thathandlung“ auf, sondern eben auch zu Steiners Christus-Bild um 1902, für das „die reale Christus-Einheitsgestalt nicht bloß fertiges atman, sondern lebendiges Tun, Karman, ist.“ (GA 39, 423) Clement liegt viel daran, die Eigenständigkeit Steiners gegenüber der Theosophie zu betonen. Dass ihm im theosophischen Rahmen aber auch Konzepte begegneten, die seine vor der Jahrhundertwende entwickelte Philosophie der subjektivistischen Immanenz bestärkten (siehe auch die eingangs zitierten Ausführungen Blavatskys). Eine der Brihadaranyaka-Schöpfungsgeschichte verwandte Tätigkeit der Erschaffung der „Unsterblichen“ als „Überschöpfung“ der Sterblichen beschrieb dann auch das „Christentum als mystische Tatsache“:

„Und so hielt es der Myste mit den Volksgöttern. Er leugnete sie nicht, er erklärte sie nicht für eitel; aber er wusste, dass vom Menschen sie geschaffen sind … Er will diese götterschaffende Kraft schauen … Denn nirgends – so stellte man sich vor [der kursive Text ist ein Zusatz Steiners zur späteren Neuauflage, mit der er sich offenbar von seiner eigenen konstruktivistische Auffassung von 1901/2 distanzierte] – ist er für den bloß sinnlichen Menschen zu finden. Wende deine Blicke hinaus auf die Dinge; du findest kein Göttliches. Strenge deinen Verstand an; du magst einsehen, nach welchen Gesetzen die Dinge entstehen und vergehen; aber auch dein Verstand weist dir kein Göttliches. Durchtränke deine Phantasie mit religiösem Gefühl; du kannst die Bilder von Wesen [1. Auflage nur: „dir Bilder“ statt „die Bilder von Wesen“, also weniger ontologisierend] schaffen, die du für Götter halten magst, doch dein Verstand zerpflückt sie dir, denn er weist dir nach, dass du sie selbst geschaffen und dazu den Stoff aus der Sinnenwelt entlehnt hast … Gott ist eben in der Welt verzaubert. Und du brauchst seine eigene Kraft, um ihn zu finden.“ (S. 131)

Die Selbstbeobachtung des Götterschaffens durch den Mysten sieht Clement als „ideelle Metamorphose“ der Selbstbeobachtung des Denkens in der „Philosophie der Freiheit“ (S. XLIX) Unkommentiert bleibt die Emanationsvorstellung des in der Welt verzauberten Gottes. Ein Bild von Gott, der sich pantheistisch in die Welt ausgegossen habe und im Denken des Menschen neu entstehe, ist eine der Lieblingsvorstellungen des frühen Goetheanisten Steiners gewesen, die in den 1890ern zunehmend verstummt war.

„Ich erschaffe eine Ideenwelt…“

Dies könnte bei Clement m.E. tiefer analysiert werden, wobei sicher in den Bänden der SKA zu den Goethe-Studien viele Klarstellungen zu erwarten sind. Der „Bruch“ bzw. die „Umstülpung“ in Steiners intellektueller Biographie liegt nicht nur um 1900, sondern hat ein Gegenstück in den 1890ern. Der Goethe-Editor war in den 1880ern noch von einer metaphysische Ebene überzeugt gewesen. In seiner Einleitung zur wegweisenden Edition der Naturwissenschaftlichen Schriften Goethes hieß es:

„Wer dem Denken seine über die Sinnesauffassung hinausgehende Wahrnehmungsfähigkeit zuerkennt, der muß ihm notgedrungen auch Objekte zuerkennen, die über die bloße sinnenfällige Wirklichkeit hinaus liegen. Die Objekte des Denkens sind aber die Ideen. Indem sich das Denken der Idee bemächtigt, verschmilzt es mit dem Urgrunde des Weltendaseins; das, was außen wirkt, tritt in den Geist des Menschen ein: er wird mit der objektiven Wirklichkeit auf ihrer höchsten Potenz eins. Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen. Das Denken hat den Ideen gegenüber dieselbe Bedeutung wie das Auge dem Lichte, das Ohr dem Ton gegenüber. Es ist Organ der Auffassung.“ (GA 1, 125f.)

Für den frühen Steiner hatte das Denken eine rezeptive Funktion, die ab der Mitte der 1890er zunehmend zu einer konstruktiven bzw. konstruierenden wurde. Der oben zitierte Mystik-Schwimmer Steiner war in der Wiener Zeit nicht nur mit Goethe, sondern auch mit Friedrich Eckstein bzw. über ihn mit Blavatskys Theosophie in Berührung gekommen und mit theosophischen Vorstellungen allermindestens rudimentär bekannt (vgl. Schmidt: Rudolf Steiner und die Anfänge der Theosophie, a.a.O, S. 83-106) Noch 1890 hatte Steiner seinem theosophischen Mentor Eckstein, dem er sich nicht anschloss, sehr wohl aber produktiv austauschte, geschrieben:

„Ich glaube, Goethe versteht nur der, welcher den Sinn dieser Worte versteht. Mir ist klar, daß Goethe mit seinem «Teilhaftigsein am Weitprozesse» unmittelbar die Selbstauflösung des Individuums und dessen Wiederfinden im Weltall meinte, die Vergottung des Menschen. Charakteristisch für ihn ist in dieser Hinsicht, daß er einmal offen sagte: Ich habe etwas zu hüten als mein Geheimnis, und wer mich von außen sieht, der hat nichts von mir gesehen … Dies alles sind mir fortlaufende Beweise dafür, daß Goethe ein Esoteriker in des Wortes bester Bedeutung war.“ (GA 39, 52/54)

Dies sind die kosmisch-pantheistischen Ausläufer einer von Steiner in seiner theosophischen Ära wieder warmgemachten Position. 1894, im oben ebenfalls zitierten Brief an Eduard von Hartmann, hat Steiners das behauptete trans-subjektive Element dann nur noch im Denken und vor allem in der Logik gesehen und seine Philosophie als eine „Philosophie der Immanenz“ bezeichnet (a.a.O.).  Das „Wiederfinden im Weltall“ war verschwunden. In „Welt und Lebensanschauungen des 19. Jahrhunderts“ hieß es 1900:

„Wenn ich mit meinen Gedanken die Dinge durchdringe, so füge ich also ein seinem Wesen nach in mir Erlebtes zu den Dingen hinzu. Das Wesen der Dinge kommt mir nicht aus ihnen, sondern ich füge es zu ihnen hinzu. Ich erschaffe eine Ideenwelt, die mir als das Wesen der Dinge gilt. Die Dinge erhalten durch mich ihr Wesen. Es ist also unmöglich, nach dem Wesen des Seins zu fragen. Im Erkennen der Ideen enthüllt sich mir gar nichts, was in den Dingen einen Bestand hat. Die Ideenwelt ist mein Erlebnis. Sie ist in keiner anderen Form vorhanden, als in der von mir erlebten.“ (S. 188)

Und wenig früher:

„Die Erziehung der verflossenen Jahrhunderte hat energisch daran gearbeitet, das Bewußtsein nicht aufkommen zu lassen, daß die Welt des Idealen ein Geschöpf des Menschen ist … Das ist nun anders geworden. Die Wirklichkeit hat sich in unserem Bewußtsein als Siegerin erwiesen. Das Ideale findet bei uns nur insofern Verständnis, als wir seine Wurzeln in dem Rein-Natürlichen finden können. Sind solche Wurzeln nicht nachzuweisen, dann erscheint das Ideale uns als Daseinslüge oder als Idol, die der Menschengeist erfindet, weil er den Hang hat, eine Befriedigung, die er im unmittelbaren Leben nicht finden kann, sich in der Sphäre des Illusorischen zu suchen.“ (GA 32, 254)

Auch hier hat eine „Umstülpung“ stattgefunden, die Steiner nach 1900 sukzessive wieder rückgängig zu machen begann, indem er seine eigene „geistige Welt“ erfand und erlebte. In den Vorträgen zum „Christentum als mystische Thatsache“ war, aus dem strukturalistischen Allgemeinen des ‚Ich‘ wiederum der menschliche „Logos“ als ein Erkenntnissubjekt geworden, das jenseits von ‚Ich‘ und ‚Natur‘ stand. Er umgriff beide, wie das Denken für den jüngeren Steiner:

„Der Logos fängt an zu reden, wenn die Natur in einer höheren Natur wiedergeboren wurde. Sie tritt dann auf als Selbsterkenntnis. Aber diese liefert nicht das Selbst des Menschen, sondern das Wesen, das allem zugrunde liegt … [und folglich den Menschen, der] sich mit den Dingen innig vereint hat … so dass dieses kleine Selbst sich zum allgemeinen Weltselbst erweitert.“ (1. Vortrag, in: Das Christentum , Manuskript, a.a.O., S. 12)

Helmut Zander spricht deswegen auch von einer spiritualistischen Rekonversion Steiners in den Mystik-Schriften zu den idealistischen Vorstellungen seiner Wiener Zeit (Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, S. 552). Es ist bedauerlicherweise der „frühe“ Steiner, der bei Clement zu kurz kommt, auch wenn sich sein Erkläungsansatz ohne jeden Abstrich auf diesen erweitern ließe. Objektiv existente Ideen und ein in die Welt ausgegossener Gott wurden kurz vor der Jahrhundertwende in das projizierende, „eine Ideenwelt“ selbst erschaffende Ich zusammengezogen. Um 1900 war Steiner die Natur kein Ausfluss Gottes mehr, sondern erst im „Christentum als mystische Thatsache“ kehrte Steiners alte Emanationsvorstellung gänzlich wieder. Das macht Clement indirekt deutlich, indem er die erste Auflage von „Die Mystik im Aufgang“ mit Steiners fast nur in diesem Punkt revidierter Neuauflage desselben Buchs an seinem Lebensende vergleicht. Nach seiner Darstellung lässt sich „eine deutliche Revision seines früheren Geist-Begriffs erkennen“:

„So heißt es etwa in der Erstauflage, dass man den Geist ’nicht in der Wurzel der Natur, sondern nur in ihrer Frucht‘ zu suchen habe, dass der ‚Geist ein Entwicklungsergebnis‘ und dass ‚ein thatsächlich existierender Geist nur im Menschen zu finden‘ sei (MA, 119). Damit klingt ein Motiv an, welches an verschiedenen Stellen der Schrift auftaucht und und sich auch anderweitig in Steiners Texten kurz vor der Jahrhundertwende nachweisen lässt … Diesen Aussagen entspricht auch der ganze Gestus des ‚Ausklangs‘ mit seinen Huldigungen an Haeckel und die zeitgenössische Entwicklungsbiologie. Die Neuauflage hingegen schlägt einen ganz anderen Ton an, wenn es dort nun heißt, dass es sehr wohl einen ‚Geist in der Natur‘ gebe, nur eben keinen ’sinnenfälligen‘ …“ (LXII)

Reinkarnation, Evolution, Esoterik

1890, um erneut auf den oben schon mehrfach umschrittenen Punkt in Steiners Biographie zurückzukommen, erschien außerdem ein Buch von Wilhelm Hübbe-Schleiden, der „grauen Eminenz der deutschen Adyar-Theosophie“ (Peter Bierl). Unter dem Titel „Das Dasein als Lust, Leid und Liebe“ versuchte der Autor, aus einem „individualistischen Monismus“ die Evolutionsvorstellung Ernst Haeckels abzuhandeln und die biologistische Vorstellung der Höherentwicklung mit derjenigen des spirituellen Subjekts zu verbinden, das an der Entwicklung via Reinkarnation partizipiere. Steiner, der ähnliches über zehn Jahre später selbst behaupten sollte, rezensierte ein Jahr später:

„Wer im Individuum den Allgeist, im Einzelwesen die Summe von Existenzen, die dasselbe zu durchlaufen hat, erkennen will, der muß vor allen andern Dingen begreifen, daß dies nur durch Vertiefung in sein Inneres geschehen kann, nicht durch eine äußerliche Betrachtungsweise. Wer seine eigene Individualität als Menschenwesen versteht, der findet alle niederen Daseinsformen in sich; er sieht sich als oberstes Glied einer weiten Stufenleiter; er weiß, wie alles andere lebt, wenn er es nachzuleben, wiederzuleben versteht. Ein höheres Leben vermag jedes niedere in sich aufzunehmen und in seiner Art wieder zu vergegenwärtigen. Darauf beruht die Möglichkeit des Verstehens der Welt durch den Menschen. Diesen Gedanken als eine in der Zeitenfolge vor sich gehende Verkörperung des Individuums in verschiedenen, immer vollkommeneren Formen vorzustellen ist bloß bildliche Darstellung. So meint es die Esoterik. Wer die Bilder für die Sache nimmt, weiß nichts von Esoterik.“ (GA 30, 511)

Steiner bejahte also die Höherentwicklung und die Manifestation der „niederen Daseinsformen“ im menschlichen Subjekt. Im Hintergrund steht hier Haeckels „biogenetisches Grundgesetz“, nach dem das Individuum vom Embryo zum erwachsenen Menschen noch einmal die gesamte stammesgeschichtliche Evolution wiederholt, die er im späteren Leben fortentwickeln soll. Dies sei ein bildlicher Zugang des „Verstehens der Welt“, keine in der historischen Zeit tatsächlich stattfindende „Verkörperung des Individuums in verschiedenen … Formen“, letztere vielmehr „bildliche Darstellung“. Der reinkarnationsgläubige Theosoph nehme als solcher „die Bilder für die Sache“ und missverstehe damit die „Lehren der Inder“, wisse „nichts von Esoterik“. Im oben zitierten Brief Steiners an Wolfgang Kirchbach von 1902 nahm er die gegenteilige Position ein: nun deutete er, wie Hübbe-Schleiden, Gespräche über die Reinkarnation in den Upanishaden als Belege für deren Kenntnis der Evolution: „Und das, wovon sie sprachen, war die Evolution, und das, was sie priesen, war die Evolution (Karman).“ (GA 39, 423)

Steiner sah in der Erkenntnis der Evolution und des Karmas eine Synthese von „Augustinismus und Haeckelianismus“ (ebd., vgl. Clement, S. XL). Dieser Hinweis von Ende 1902 ist bedeutend, weil er die Richtung zeigt, in die der schon immer evolutionsbegeisterte Steiner seinem subjektivistischen Monismus nun überführte. War vor allem bis in „Die Mystik im Aufgang“ das Ich der ‚eigentliche‘ Grund von Naturforschung und Mystik und waren letztere eher schlechte des ‚Icj‘ Projektionen nach außen – so rückte in den folgenden Jahren die Evolution an die hermeneutische Stelle des Ich. Letzteres verlor seine anthropologische Zentralstellung durch die analog zu und im Dienste der kosmischen Evolution stattfindende Reinkarnation. Schon „Das Christentum…“ wurde damit auch zur Quelle der Steinerschen Entwicklungs- und Rassentheorie (vgl. Martins: Rassismus und Geschichtsmetaphysik, S. 52f.). In der Vortragsfassung kannte Steiner, und das macht Clement deutlich, schon die theosophische Kulturgeschichte, die sich als genetische Kette der kollektiven Entwicklung von Indien über Persien und Ägypten nach Europa gewälzt habe:

„Von Apollonius [von Tyana] wird uns erzählt, dass er weite Reisen gemacht hat, auf denen er weniger seine eigene Weisheit zu bereichern suchte, die ihm ja zur Verfügung war, da er auf höherer Stufe der Reinkarnation stand, als die verschiedenen Religionen durch ein geistiges Band zu verbinden. Es wird ihm eine kosmopolitische Reformationstätigkeit zugeschrieben. Bei den Indern soll er gewesen sein, bei persischen Magiern und ägyptischen Priestern. Bei den indischen Weisen wurde er sogleich erkannt als eine vergöttlichte Persönlichkeit. Es wird uns auch erzählt, dass er die ägyptische Religion in ihren verschiedenen Formen kennengelernt hat, dass er aber den ägyptischen Priestern mehr hat sagen können als sie ihm. Er konnte ihnen mitteilen, dass sie ihre religiösen Vorstellungen von Indien haben müssen. Er hat ihnen in dem Indischen ihr Eigenes wiederzeigen können. So sehen wir, wie Apollonius bemüht ist, in den verschiedenen Religionen das Gemeinsame zu sehen und so erscheint er uns in dieser Zeit als der Träger eines wirklichen theosophischen Strebens. Er stellte sich geradezu die Aufgabe, in allen Religionen das Gemeinsame zu suchen. Daher erscheint uns seine Lehre, wenn wir uns in dieselbe vertiefen, als ein Extrakt aus allen damals bestehenden religiösen Lehren. Er hatte den Extrakt aus allen gesammelt.“ (Vortrag 20, in: Das Christentum, Manuskript, a.a.O., S. 2)

In der ersten Auflage des Buchs wurde die Evolution als Stufenprozess ebenfalls reinkarnatorisch gedeutet, wobei Steiner hier den Terminus „Seelenwandelung“ verwandte, den er in späteren Auflagen durch „Wiederverkörperung“ ersetzte. An prominenter Stelle erklärte Steiner, übrigens unter egalitärer Einreihung Jesu unter andere „Eingeweihte“, deren Geschäft er freilich mit einer neuen Evolutionsstufe aktualisiert und zu ihrem damaligen Höhepunkt geführt habe, Essäer und Therapeuten:

„Aus dem Vorhandensein solcher Sekten wird die Persönlichkeit Jesu völlig verständlich. Sie boten die Möglichkeit, dass in einem Menschen, in dem geistig-höchste Eigenschaften waren, diese ganz in Wirklichkeit umgesetzt werden konnten … Eine Buddhanatur ist dadurch von der eines gewöhnlichen Menschen verschieden, dass sie auf einer höheren Entwicklungsstufe des Seelenlebens steht. Sie übernimmt eine größere geistige Erbschaft, sie hat mehr  g e i s t i g e  Ahnen als eine andere … Der Glaube an die Seelenwandelung ist Voraussetzung einer solchen Lebensführung, wie sie bei Essäern und Therapeuten zu finden ist. Die höher entwickelte Seele wird auf eine höhere Stufe der herrschenden Hierarchie steigen.“ (S. 209)

Und, die ganze normative Schlagseite der „herrschenden Hierarchie“ entfaltend:

„Soll der vollkommene Geist ebensolche Voraussetzungen haben wie der unvollkommene? Soll Goethe die gleichen Bedingungen haben wie ein beliebiger Hottentotte? So wenig wie ein Fisch die gleichen Voraussetzungen hat wie ein Affe, so wenig hat der Goethesche Geist dieselben geistigen Vorbedingungen wie der des Wilden.  G e w o r d e n  ist der Geist wie der Leib. Der Dämon in Goethe hat mehr Vorfahren als der in dem Wilden. Man nehme die Lehre von der Seelenwandelung in diesem Sinne.“ (S. 138)

Die von Clement beschriebene Geste der „Umstülpung“ als Verhältnisbestimmung von Steinerscher Philosophie und Esoterik lässt sich somit in zweifacher Hinsicht produktiv weiterdenken: Eine monistische, an die Erfahrung des Subjekts rückgekoppelte Erklärung der Welt und des Menschen blieb die Kontinuität. Bereits um 1890 hat darin eine solche „Umstülpung“ stattgefunden. Zuvor hatte der Goetheanist Steiner den „Ideen“ einen objektiven und dem Denken einen im Verhältnis zu ihnen rezeptiven Status zugesprochen. In den späten 1890ern war dagegen das Ich Schöpfer der Ideenwelt, der kein außersinnliches Korrelat zugrundeliege. Steiner deutete Geist und Welt rein immanent, mithin a- und antitheistisch. In „Die Mystik im Aufgang“ reaktivierte Steiner eine pantheistische Sicht, sprach aber weiterhin von der konstruktiven Rolle des ‚Ich‘ in der sog. Erschaffung von Göttern. Dieser Faden versickerte in „Das Christentum als mystische Tatsache“ allmählich. Das ‚Ich‘ bleib zentraler Akteur, aber Movens und metaphysischer Kontext seiner Erfahrungen war ab 1902 immer mehr die unterstellte theosophische Kosmogonie und von Anfang an hierarchisch-elitär gedachte Evolution.

Die fulminante Eröffnung der „Kritischen Ausgabe“ lässt auf die Fortsetzungen gespannt sein. Das Editionsprojekt ist offenbar in kundigen Händen und man darf zweifellos auf weitere derart fruchtbare Interpretationsansätze gespannt sein.

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Ich bin Ansgar Martins, geb. 1991 und war bis Juni 2010 Schüler an der FWS Mainz. Inzwischen studiere ich Religionsphilosophie, Soziologie und Geschichte in Frankfurt a. M. Dieser Blog ( dessen "Leitbild" ganz oben rechts ) ist mein persönliches Projekt, um die oft einseitigen und selbstgerechten Pro- und Contra-Positionen in der Debatte um die Waldorfpädagogik und Anthroposophie kritisch zu kommentieren. Ich hoffe, das gelingt, und freue mich über Rückmeldungen jeder Art!

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