Erste Geschichte der anthroposophischen Heilpädagogik erschienen
9. September 2014 at 2:14 pm 3 Kommentare
„Derartige spezielle Fördermaßnahmen für lernschwache Kinder entsprachen ganz dem damaligen Geist der Zeit: So hatte der ‚Deutsche Lehrerverein‘ 1919 in seinem Schulprogramm die „besondere Förderung behinderter Schüler, auch der Schwachbefähigten, grundsätzlich anerkannt“ und ausdrücklich eine adäquate Unterrichtsversorgung gerade dieser Kinder gefordert … Ganz im Sinne solcher allgemeinpädagogischer Intentionen, die in den Anfangsjahren der Weimarer Republik auch im öffentlichen Schulwesen eine echte Aufbruchstimmung widerspiegeln, konnten in Stuttgart Rudolf Steiner und das junge Lehrerkollegium der ersten Waldorfschule unbürokratisch daran gehen, für die schwachen Schüler eine sonderpädagogische Förderung eigener Prägung einzurichten.“
– Volker Frielingsdorf, Rüdiger Grimm, Brigitte Kaldenberg: Geschichte der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie. Entwicklungslinien und Aufgabenfelder 1920-1980, Verlag am Goetheanum/Athena Verlag, Dornach 2013, S. 60f.
Neben und in der Waldorfschul-Pädagogik hat die Anthroposophie Rudolf Steiners auch eine „Heilpädagogik“ für sog. „Seelenpflege-bedürftige Kinder“ hervorgebracht. Diese lebt heute in über 700 Schulen sowie betreuten Wohn- bzw. Dorfgemeinschaften – deren bekanntester Zweig dürfte die (von ins englische Exil geflüchteten jüdischen Anhängern Steiners unter Karl König gegründete) „Camphill-Bewegung“ sein. 2013 ist die erste systematische Geschichte der anthroposophischen Heilpädagogik erschienen. Ein quellengesättigter, aufschlussreicher Band, der sich aber nie länger bei problematischen Facetten aufhält. Die folgende Rezension erschien zuerst in Info3 (September 2014).
Die anthroposophische Pädagogik für „seelenpflege-bedürftige“ Kinder findet oft weniger Beachtung als die Waldorfschulen. Dem nimmt sich jetzt eine im Verlag am Goetheanum erschienene „Geschichte der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie“ an. Von einer liebevollen Rekonstruktion der Pionierzeit in den 20er Jahren entwickelt sich das Buch zu der systematischen Nachzeichnung einer globalen Erfolgsgeschichte. Man erfährt nicht nur, wann und wie die anthroposophische Heilpädagogik sich in verschiedenen Ländern etablierte, sondern erhält etwa gleichzeitig einen chronologischen Überblick zu Publikationen oder konzeptionellen und organisatorischen Herausforderungen der verschiedenen Jahrzehnte.
Während die Gründung der ersten Waldorfschule in Stuttgart 1919 unter Steiners direkter inhaltlicher Leitung erfolgte, entwickelte sich die Heilpädagogik aus drei Wurzeln: Seit 1920 existierte eine „Hilfsklasse“ an der ersten Waldorfschule, ab 1923 nahm das „Klinisch-Therapeutische Institut“ in Arlesheim auch physisch und psychisch behinderte Kinder auf, 1924 schließlich eröffnete das „Heil- und Erziehungsinstitut Lauenstein“ bei Jena. Erst im Zusammenhang damit hielt Steiner seinen „Heilpädagogischen Kurs“, der damit im Nachvollzug eine bereits existente Praxis einholte. Steiner selbst hatte für seinen taubstummen Bruder Gustav als Jugendlicher Gebärdensprache gelernt. Umso interessanter, wie stark seine Anweisungen im „Heilpädagogischen Kurs“ Fall- und Einzelbesprechungen waren – und dass unter den Zuhörern bereits praktizierende Heilpädagogen saßen.
Im Buch wird deshalb betont, die anthroposophische Pädagogik für „Seelenpflege-Bedürftige“ sei keine „creatio ex nihilo“ gewesen, sie weise „zeitbedingte Elemente“ auf und habe eindeutig „Verläufer und Anreger“ gehabt. Die Autoren arbeiten heraus, dass die führenden Akteure des Instituts „Lauenstein“ (auch Hauptinitiatoren von Steiners Kurs) zuvor am Jugendsanatorium „Sophienhöhe“ in Jena gearbeitet hatten. Dessen Gründer war der Reformpädagoge Johannes Trüper (1855-1921). Seine Tochter Änne heiratete später den prägenden anthroposophischen Heilpädagogen Franz Löffler – beide hatten sich auf der „Sophienhöhe“ kennengelernt und verbanden die Impulse beider Einrichtungen. Die anthroposophische Heilpädagogik sollte sich auch nach Steiners Tod zunächst wesentlich auf die durchaus eigenständigen Pioniergestalten stützen.
In der Nazizeit waren ihre Schützlinge durch die Euthanasie des totalitären Regimes bedroht. Entschlossen versuchten die heilpädagogisch-anthroposophischen Einrichtungen, von denen drei bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs geöffnet bleiben konnten, die Kinder zu beschützen. Dabei setzten die anthroposophischen Heilpädagogen auf Heimlichkeit und profitierten vom steten Machtkampf in Nazielite und -behörden, der einen konsequenten Umgang mit anthroposophischen Einrichtungen stets erschwerte. Löffler hatte überdies gute Kontakte zur NSDAP – die drei Autoren stufen diesen Umstand als Anpassungsstrategie ein. Sie erwähnen aber nicht, dass Löffler auch vor 1933 mit völkischen Ideen in Kontakt gekommen war und explizit sympathisierte.
Überhaupt wird kritische Literatur im Buch nicht angesprochen, umso größer ist leider die Selbstlobhudelei. Dem sachlichen Wert tut das keinen Abbruch: Das Buch ist nicht nur ein Meilenstein zur Geschichte der Heilpädagogik, sondern setzt auch Maßstäbe für die Erforschung anderer anthroposophischer Praxisfelder.
Mehr auf diesem Blog:
„…und sich an die Regeln halten“. Bericht aus einem Waldorf-Internat
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1.
Christoph Betz | 9. September 2014 um 3:01 pm
Moin Ansgar, Du wolltest Dich doch nochmal gemeldet haben, inwiefern der Begriff der Seelenpflege in der GA Rudolf Steiners zu finden ist. Grüsse aus dem Süden Christoph Betz
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2.
A.M. | 9. September 2014 um 3:21 pm
Dazu hatte ich mich doch schon gemeldet. M.W. kommt der Begriff aus einer Sekundärquelle, nämlich Albrecht Strohschein, der in einem Memoirenband von Steiner-Schülern berichtet:
„So meinten wir unter anderem, man müsse einen Prospekt herausbringen und dachten, wir könnten die vorhandene Heimbezeichnung unseres Vorgängers auf dem Lauenstein einfach übernehmen; es war ein Arzt, der ein ‚Heim für pathologische und epileptische Kinder‘ hatte gründen wollen. – ‚Nein‘, entgegnete Dr. Steiner, ‚es muß schon aus dem Titel ersichtlich sein, was dort geschieht.‘ Ich schaute ihn fragend an, worauf er antwortete: ‚Heil- und Erziehungsinstitut für Seelenpflege-bedürftige Kinder‘ … Und er fügte hinzu: ‚Wir müssen einen Namen wählen, der die Kinder nicht gleich abstempelt.‘ Nun erst ging mir langsam auf, dass Seelenpflege etwas war, was zu jeder Erziehung gehörte und was jeder Mensch zu treiben in die Lage kam; es war also nichts, was unsere Kinder abtrennte von anderen. Und damit hatten die künftigen Stätten unserer Heilpädagogik ihren Namen erhalten“
(Strohschein: Die Entstehung der anthroposophischen Heilpädagogik, in: Wir erlebten Rudolf Steiner. Erinnerungen seiner Schüler [1967], Stuttgart 1980, S. 216f.)
3. “Seelenpflege-bedürftige” und “minderwertige” Kinder | waldorfblog | 19. September 2014 um 4:03 pm
[…] und Sozialtherapie” erschienen – ein durchaus erfreuliches und vor allem lehrreiches Buch, das ich hier besprochen habe. Einen Kommentar zu meiner Rezension schrieb Christoph Betz, der die Seite […]