„Sergej, du hast dich selbst gegeben“. Nachlese zum Aussterben der Theosophie und zu anthroposophischen Erinnerungen an Sergej Prokofieff
11. Oktober 2014 at 5:08 am 11 Kommentare
„Mein Prokofieff-Bild beruhte vollständig auf dem, was mir meine Großmutter zu ihm sagte. Er sei für sie der wichtigste Anthroposoph nach Rudolf Steiner und auch – das betonte sie sehr – ein Wunder. Denn er habe, ohne von Rudolf Steiner und der Anthroposophie in Kenntnis zu sein, isoliert in der UdSSR sitzend, eben die gleichen wahrhaft anthroposophischen Erkenntnisse gehabt. Prokofieff war für sie eine Art zeitgenössischer anthroposophischer Heiliger. Außerdem passte das gut in die Russland-Affinität, die sie, wie andere auch, pflegte.“
– Christoph Kühn, in: Endstation Dornach, Rinteln 2011, S. 307f.
Rückgang der Mitgliederzahlen
Die Entwicklung der Mitgliederzahlen der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland verläuft für letztere nicht unbedingt erfreulich. In der aktuellen Ausgabe der „Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland“, Beilage von „Anthroposophie Weltweit“ (August/September 2014), heißt es:
„Zunächst ist wahrzunehmen, dass der Rückgang unserer Mitgliederzahlen sich von Jahr zu Jahr verstetigt. Im vergangenen Jahr sind die Mitgliederlisten nach tiefgreifenden Klärungen der Mitgliedschaften in den Zweigen, Arbeitszentren und in der Landesgeschäftsstelle auf den neuesten Stand gebracht worden. Danach stellen wir fest, dass die Mitgliederzahl im Berichtsjahr von 14.740 um 1.008 auf 13.732 zurückgegangen ist, das sind fast 6,9 %.“ (Jahresrechnung 2013. Bericht des Schatzmeisters und des Geschäftsführers für das Jahr 2013, S. 9)
Die Mitgliederzahlen sinken seit 1989 stetig, es kommt offensichtlich kaum oder jedenfalls: zu wenig Nachwuchs. (vgl. Miriram Gebhardt: Rudolf Steiner, 15) Der anthroposophische Blogger Michael Eggert sieht darin eine „Quittung für das engstirnige und selbstbezogene Treiben“ der organisierten Anthroposophie: „Sieben Prozent Schwund in einem Jahr auf ohnehin schwachen Beinen mag der genaueren Zählung mit geschuldet sein, gleicht aber doch einem Offenbarungseid, der zumindest vor der Tür steht. Das Mutterschiff Anthroposophische Gesellschaft ist leck geschlagen, aber die an Bord scheinen ihre seltsam entrückte Party unbeeindruckt weiter zu zelebrieren.“ (Eggert: Die anthroposophische Gesellschaft als die FDP der Esoterikszene)
Eggert spricht von jenen traditionellen und betagten Anthroposophen, die Gegenstand von Klischees und doch in anthroposophischen Kreisen die Regel sind: Unbeirrten Lehnstuhl-Michaelsritteln, die jeden Mittwoch im örtlichen „Zweig“ Steiner lesen, zu Vorträgen populärer anthroposophischer Autoren in ihrer Umgebung fahren oder sie ggf. organisieren und liebevoll ihre die nächstgelegene Waldorfschule besuchenden Enkel und Urenkel versorgen. Mit dieser anthroposophischen (Kern-)Generation können deren jüngere Mitglieder zahlenmäßig bei Weitem nicht mithalten. In der Außenperspektive freilich ist dies mehr als die „Quittung“ für die selten überschnittene Selbstbespiegelung in anthroposophischen Kreisen. Die Anthroposophie als Form der Esoterik gleicht nach wie vor der Bewegung, der sie entstammt, von der sie sich stets manisch abgrenzte und deren Probleme sie ebendeshalb nie überwunden hat: Der theosophischen. (Eine Ausnahme bildet Robin Schmidt: Rudolf Steiner. Skizze seines Lebens, Dornach 2011) Auf sie scheint denn auch zuzukommen, was die englischsprachige Theosophie-Forschung über das schlichte Aussterben ihres Gegenstands berichtet. Die ältere Theosophie Nordamerikas zeigt vielleicht, was für die Anthroposophische Gesellschaft in nicht allzu langer Zeit zu erwarten sein dürfte:
„The infusion of counterculture youth and their ideas in the 1960s and 1970s undoubtly strengthend the movement for a time, but today it has lapsed into a relatively quiescent state, and few if any indications point to it experiencing dramatic resurgence in the future … The old days of big public meetings and, numerous lodges in major cities, massive output of periodical and other literature – these are gone … No doubt individuals will continue to network. But the shrinking membership of the three [Theosophical] societies appears to be an irreversible process. If the organizational forms of the movement are to play important roles in the spiritual developments of the twenty-first century, then at present those roles are not clear …“ (W. Michael Ashcraft: The Third Generation of Theosophy and Beyond, in: Olav Hammer/Mikael Rothenstein (Hg.): Handbook of the Theosophical Current, Leiden 2013, 86f.)
Kein Zweifel: Die Waldorfschulen boomen. Zugleich zeigen sie denselben Befund: Immer weniger und vor allem ältere Lehrer bekennen sich offenbar noch zur Anthroposophie (Vgl. „Die richtige Gesinnung“), auch wenn sich ebendiese Exemplare gern zu „Despoten“ der Schule aufzuschwingen scheinen, wie Valentin Hacken anmerkte. Längst aber haben nicht mehr die meisten Eingestellten – auch wegen des chronischen Mangels an Lehrkräften – eine Waldorflehrer-Ausbildung absolviert. Den anthroposophischen Tochterbewegungen mag in den kommenden Jahrzehnten eine immer weitergehende Transformation und Diffusion in das ungebrochen große, ja wachsende ökologisch-esoterische, alternativ-„bewusste“, progressistisch-„spirituelle“ Milieu usw. bevorstehen, das sich ja bereits gegenwärtig an Waldorfschulen tummelt. Noch freilich wird es dauern, bis sich massive Struktureinbrüche der Anthroposophischen Gesellschaft zeigen. Vielleicht gelingt auch auf irgendeinem Wege ein Umschwung. Auf ihrer Jahrungstagung Mitte Juni in Stuttgart hat die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland sich an „neuen Wegen“ versucht, bewusst jüngere Mitglieder in Vorbereitung, Ablauf und Vorstand zu integrieren. Anthroposophie solle „nahbar“ werden, man sah sich „im Licht am Ende eines langen Tunnels“, wie NNA berichtete.
Sergej Prokofieff: Ein anthroposophischer Star
In der anthroposophischen Szene wird schon länger um die Beantwortung der Frage gekämpft, wie es mit der anthroposophischen „Arbeit“ weitergehen soll. Hierzu kann ein Blick auf einen Autor helfen, den viele Anthroposophen als einen Fels in der Brandung einer krisengeschüttelten Anthroposophie- und überhaupt irgendwie allgemeinen Menschheits-Situation wahrnehmen. Der kürzliche Tod Sergej Prokofieffs, eines unter Anthroposophen eben auch der scheidenden Generation über alles geliebten Okkultisten, Buchautoren und Vortragsredners ruft in der Szene die Frage nach der künftigen Bedeutung seines esoterischen Erbes wach. Prokofieff, bis vor Kurzem Mitglied des Vorstands der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, ist einer derjenigen Anthroposophen, an denen sich ein Liberaler wie der oben zitierte Michael Eggert regelmäßig kritisch bis empört abarbeitet. Wer die abnehmenden Mitgliederzahlen als „Quittung“ versteht, zweifelt auch nicht, welche Stars der anthroposophischen Szene die Verantwortung dafür haben müssen: Jüngst machte Egert sich über Prokofieffs „Seeligsprechung“ in den Landesnachrichten der Schweizer Anthroposophischen Gesellschaft lustig.
„Das Wesentliche ist offenbar die Emotion, dass wir (wer immer sich dazu rechnen mag) mit dem „Strom“ und dem „Ziel“ verbunden seien- ein Versprechen, eine Aussicht, vielleicht auch eine Anmaßung. Aufgrund dieser Vagheit und der pompösen Selbstzuschreibung bleibt es für den Betrachter doch sehr fraglich, ob Prokofieff denn nun tatsächlich einer war, dem das «Verbinden von Intelligenz mit Spiritualität» , wie behauptet, in vollendeter Weise gelungen sei.“ (Eggert: Sergej Prokofieffs Seeligsprechung)
Prokofieff war habitueller Anthroposoph par excellence, er hatte und verbreitete eine Mission. In seinen Schriften und Reden hatte er es nie nötig, sich auf irgendwelche Anthroposophie-externen Quellen zu stützen. Prokofieffs Wirkung auf seine Fans beschränkte sich ganz auf den okkulten Arkanbereich der Anthroposophischen In-Group und beruhte noch ganz auf seinem Charisma – von ihm gesetzte Thesen galten aus seiner eigenen auratisch-rhetorischen Kraft und brauchten keine weitere Herleitung. Prokofieffs Ideologieproduktion war dabei m.E. letztlich nicht produktiv oder erweiternd – sondern übersteigerte, kombinierte und potenzierte im Wesentlichen irgendwelche Aussagen Rudolf Steiners zu einer noch komplizierteren esoterischen Maschinerie. Dabei wurden Steiners vielfach anlassgebundene und mit dezidierten Problem- oder Fragestellungen verknüpften esoterische Vorträge aus ihren historischen und werkimmanenten Kontexten gelöst und zu universal anwendbaren und aneinandersetzbaren Modulen. Eine ähnliche Steiner-Exegese scheint auch viele „Zweigabende“ zu dominieren, was wohl seinen Teil zur Affinität des älteren anthroposophischen Kernpublikums zum Prokofieff beitrug. Ein anderer Grund war die Verpflichtung auf eine anthroposophisch durch-gestaltete Lebenswelt, für die etwa das Internet eine Falle des Erzdämonen Ahriman darstellen kann. Prokofieff hat auch den Wissenschaftler Helmut Zander als Werkzeug Ahrimans bezeichnet. (zit. bei NWA: Gefährliche Wissenschaften) Ein Interview mit der dem anthroposophischen Mileu verhafteten alternativen Nachrichtenagentur „NNA“ sagte Prokofieff vor Jahren wohl aufgrund seiner habitualisierten Internetabstinenz ab, wie es in einem Nachruf dieser Agentur angedeutet wird.
Diese Steinerdeutung sorgte dafür, dass Prokofieff in den öffentlichen Debatten um die Anthroposophie selten eingriff und in der Außenwahrnehmung fast keine Rolle spielte. Lediglich Peter Bierl bemerkte mit Blick auf Prokofieffs Erzählungen „über die Besonderheiten der diversen europäischen Volksgeister und den ganz besonderen deutschen Voksgeist“ hämisch: „Prokofieffs Werk sei jedem empfohlen, der sich aus erster Hand davon überzeugen möchte, was für eine wirre Phantasiewelt Anthroposophie ist.“ (Bierl: Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister, Hamburg 2005, S. 256, vgl. Prokofieff: Die geistigen Aufgaben Mittel- und Osteuropas, Dornach 1993) Zuletzt ist Prokofieff mit einem Hieb gegen seine charismatische Konkurrentin Judith von Halle, die durch Christus-Visionen und Stigmata von sich reden machte, aufgetreten. Dies war Prokofieffs letzte offiziöse Handlung, kurz zuvor hatte er seine Mitgliedschaft im Vorstand der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ ruhig gelegt und sich aus Krankheitsgründen zurück gezogen.
Trauergäste
Darüber und über Prokofieffs Thesen und Werdegang habe ich im Artikel „Sinn und Sinnlichkeit“ mehr geschrieben. Hier soll es um das „Phänomen“ Prokofieff gehen. Repräsentativ ist dafür die eingangs zitierte Erinnerung von Christoph Kühn aus „Endstation Dornach“. An Ort und Stelle beschrieb auch Christian Grauer Prokofieff als „den Lieblingsanthroposophen meiner alten Tante.“ Die habe immer gesagt: „Das ist so ein bescheidener Mensch! Und doch kann er so tief in die geistige Welt blicken, er muss sein Wissen schon von irgendwoher mitgebracht haben.“ Als vor Jahren Prokofieffs Wiederwahl in den Vorstand der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ anstand, sollen aneblich Fans ganze Busse organisiert haben, um wiederwahlwillige Mitglieder zur Dornacher Abstimmung zu bringen. Weitere meinungsbildende Anthroposophen wie Peter Selg beziehen sich wohlwollend auf ihn.
Am 26. Juli 2014 nun ist Prokofieff nach dreijähriger Krankheit verstorben. Von der Trauerfeier, die übrigens wohl altersmäßig sehr heterogen besucht war, berichtete NNA:
„Viele der Trauergäste konnten im großen Saal der Schreinerei am Goetheanum keinen Platz mehr finden, in Warteschlangen vor den geöffneten Saaltüren stehend, erlebten sie die Feierlichkeit. Vor einer Saaltür war ein großes Foto des Verstorbenen aufgestellt. Er selbst hatte gebeten, von Blumen- und Kranzspenden abzusehen und stattdessen für die Anthroposophische Gesellschaft in seiner Heimat Russland zu spenden. In Anwesenheit eines internationalen und auch von den Generationen her sehr gemischten Publikums zelebrierte Pfarrer Rolf Herzog aus Basel das Bestattungsritual der Christengemeinschaft. Auch manche Angehörige von Prokofieffs weitverzweigter Familie waren nach Dornach gekommen, um dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen ebenso wie die Vorstandsmitglieder der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft. Prokofieff hatte dem Vorstand bis 2013 angehört, zuletzt als emeritiertes Mitglied. Innerhalb des Aussegnungsrituals der Christengemeinschaft gab Pfarrer Herzog einen kurzen Lebensrückblick. Der mit Prokofieff befreundete Arzt und Autor Peter Selg, der bis zuletzt mit ihm in Verbindung gestanden hatte, würdigte die Verdienste des Verstorbenen als Redner und Schriftsteller im Dienste der Anthroposophischen Gesellschaft. Ausführlich schilderte Selg wesentliche Lebensstationen und Wendepunkte seines verstorbenen Freundes.“
Es ist aufschlussreich, wie Prokofieffs jetzt unter Anthroposophen gedacht wird. Man hat in der Tat das Gefühl, die „Seligsprechung“ eines in die Geistige Welt zurückgekehrten anthroposophischen Apostels mitzuerleben. Der NNA-Nachruf bemühte sich vor allem, Temperament und Auftreten des Staranthroposophen aus seinen jugendlichen künstlerischen Ambitionen zu erklären. Nicht weniges spricht dafür.
In den von Eggert kritisierten „Mitteilungen“ der Schweizer Anthroposophen drehte sich eine Ausgabe komplett um ihn (IX, 2014). Nach dem Abdruck eines Prokofieff-Vortrags über den Erzengel Michael schreibt Peter Selg über „Sergej O. Prokofieff und das Michael-Mysterium“ (S. 7-10), anschließend erzählt Clara Steinemann eine „Erinnerung an Sergej O. Prokofieff und seine ‚Winterarbeit‘ am Goetheanum“ (S. 10-11), gefolgt von Marc Desaules‘ „Rencontre avec Sergej Prokofieff“ ( S. 11-12). Darauf wiederum folgt Thomas O’Keefe mit dem Titel „Sergej Prokofieff verband beispielhaft Intelligenz und Spiritualität in seinem Herzen“ (S. 12), bevor Günther von Negelein noch „Gedanken am Sarg von Sergej Prokofieff“ mitteilt. Der Meister wird, ähnlich wie Steiner, fast, aber dann doch nicht unnahbar hoch gestellt. Und, wie im anthroposophischen Vehältnis zum Anthroposophie-Gründer, wird das eigene Verhältnis zu dieser riesigen spirituellen Figur als menschlich-allzumenschliches Versagen vor seinen erhabenen Intentionen dargestellt.
Figurationen eines Helfers der Menschheitsentwicklung
Prokofieff repräsentierte nicht nur, er inkarnierte für seine Anhänger das Wesen der Anthroposophie. Dazu Günther von Negeleins „Gedanken am Sarg“:
„Ich betrachte seinen Mund, dessen Lippen den Eindruck vermitteln, als ob sie sich gleich wieder öffnen würden, warum dürfen sie es nicht mehr? Welches Opfer ist hier gebracht worden? Unter wie viel Unverständnis und Widerständen hatte er zu leiden? Und trotzdem diese hohe, von Sorgenfalten unberührte Stirn. Was für ein Reichtum an Gedanken sind hinter ihr gespiegelt worden! Die in dem Verstorbenen gelebte Geisteswissenschaft wird der geistigen Welt erweisen, was auf Erden gedacht werden kann. Möge er trotz der im neuen Prospekt seiner Werke ausgedrückten Enttäuschung über das Nicht-verstanden-worden-Sein bezüglich seiner Intentionen uns beistehen, dass wir unsere Aufgaben auf geisteswissenschaflicher Ebene in der rechten Weise erkennen.“ (S. 13)
Eine ganze Ausgabe des anthroposophischen Zentralblatts „Das Goetheanum“ (35/2014) ist Prokofieff ebenfalls gewidmet worden. Deren Titelblatt zitierte den sakralen Verstorbenen trotzdem widersprüchlicherweise mit den Worten: „Keine Bilder, keine Lobeshymne. Ein Jahrhundert lang. Möge Schweigen mich umgeben.“
Ganz ähnlich wiederum geschehen anthroposophische Erinnerungen an die Person Steiners – jede noch so dogmatische Abhandlung weiß Steiners „Keine Dogmen!“ zu zitieren und gutzuheißen. Noch zwei Ausgaben später empörten sich allerdings Leserbriefe über die in der Tat performativ widersprüchliche Wahl des Titelspruchs. Tomás Bonek etwa glaubt, die „Goetheanum“-Redaktion sei hier unfreiwillig vom „Bösen“ beeinflusst worden, schließlich dürfe man über Prokofieff niemals schweigen, ja: es zu tun, wäre menschheitlich gefährlich.
„Da es in diesen Strophen auch um ein ‚hundertjähriges Schweigen‘ geht, ist die Sache noch bedenklicher und ernster. Die Worte sind aus dem Zusammenhang der lyrischen Jugenddichtung Sergej Prokofieffs gerissen, die er vor mehr als 40 Jahren in einem völlig anderen Kontext geschrieben hat – sie wurden gewissermaßen durch die Verwendung zu einer testamentarischen Willensäußerung erhoben. Wenn es so wäre, dann würden selbst die Gebete und Sprüche, die für Sergej Prokofieff weltweit gesprochen werden, infrage gestellt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es seinem aktuellen Willen und der Situation entspricht. Sergej Prokofieff erhoffte sich auch für die Zukunft eine positive und fruchtbare Wirksamkeit seiner Werke, die mit seinem Namen und seiner Individualität verbunden sind und bleiben.“ (Das Goetheanum, 37/14. September 2014, S. 12)
Auf derselben Seite steht ein Gedicht über Prokofieff aus der Feder von Irene Johanson, die Prokofieff schon kannte, als er noch in Russland „wirkte“ und die sogar mit ihm gesprochen habe („Von daher fühle ich mich sehr mit ihm verbunden“). In den Zeilen heißt es u.a.:
„Sergej, du hast dich selbst gegeben,
Zu zeugen für des Geistes Leben.
Als Russland noch vom Geist verlassen,
Hast du geebnet ihm die Straßen,
…
In viele Sprachen zog er ein;
Um jedem Volk ein Licht zu sein.
…
Wer dich gekannt hat, darf vertrauen
Und Geist im Erdenleben schauen.“
Auch in die oben zitierten Schweizer Mitteilungen wurde ein Gedicht von Ruth Dubach mit dem Titel „Für Sergej Prokofieff“ aufgenommen (S. 7). Darin liest man, der Verstorbene sei schon längst über die Schwelle, weite sich geistig, sei auf dem Weg zum „Strahlenkreis der Götter und der Geistgefährten in der auserwählten Stunde“. In dieser Apotheose wird Prokofieffs höheres Wesen jedoch zugleich als weltzugewandt vorgestellt (sein „Herz“ wende sich mit „Feuerkraft“ „erdenwärts“). Er ist offensichtlich ein geistiger, den Göttern naher Menschheitshelfer. Zum Unheil unserer „kranken Welt“ schaue der große Geist mit seinem „Flammenblick“: „Je grösser Deiner Menschenbrüder Not, je mehr das ferne Götterziel bedroht, nur umso mächtiger Dein Helferwille loht.“ Man beachte einmal mehr die Sinnlichkeit dieser Beschreibungen: sakraler Leib (von Nägelein), tiefe Berührung durch persönliche Begegnung (Johanson), eine wiederholt als feurig-flammenhaft beschriebene Geisteskraft, die von ihm ausstrahle (Dubach).
Weisheit vom Menschen
Es wäre unangemessen, diese Seligsprechung ironisch abzutun. Sie folgt einer internen Logik, die aus Steiners Zeiten herrührt, vor allem aber viel über den religiösen Kern der Anthroposophie und seine rituellen Auswirkungen mitteilt. Tore Ahlbeck schreibt über das anthroposophische Steinerbild der Gründergeneration: „they regarded him as a human being, not as a devine or semi-devine being.“ (vgl. Ahlbäck Rudolf Steiner as a Religious Authority, in: Western Esotericism, hg. v. Tore Ahlbäck, Donner Institute for Research in Religious and Cultural History, 2008, S. 14) Das klingt nach einer simplen Feststellung, lenkt aber den Blick auf das Wichtigste: Steiner wie Prokofieff galten oder gelten als hoch entwickelte menschliche Individuen, denen Wertschätzung eben darum zu zollen ist, weil sie sich als Menschen auf das Göttliche hin vollendeten und die aufgrund der so erworbenen geistigen Kraft auch nach ihrem Tod auf die Welt einwirken. Fest steht dabei: Prokofieff arbeitet im Dienste der weit umfassenderen Entelechie und Signifkanz Rudolf Steiners, der er aber mustergültig gerecht wurde.
Höchst wahrscheinlich stammt der überwiegende Anteil der Prokofieff-Anhänger tatsächlich aus dem überalterten Mainstream der anthroposophischen Szene. „Schuld“ an der Überalterung trifft ihn freilich nicht, vielmehr ist sein Erfolg Ausdruck der spirituell-autoritativen Wünsche einer bestimmten anthroposophischen Generation. Es bleibt abzuwarten und beobachtenswert, welche weiteren Transformationen der aufgestiegene Geisteslehrer im anthroposophischen Diskurs durchlaufen wird.
Mehr auf diesem Blog:
Sinn und Sinnlichkeit: Sergej Prokofieff, Judith von Halle und das „Volkstümlich-Mondhafte“
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1.
Andreas Lichte | 12. Oktober 2014 um 2:52 pm
„Den anthroposophischen Tochterbewegungen mag in den kommenden Jahrzehnten eine immer weitergehende Transformation und Diffusion in das ungebrochen große, ja wachsende ökologisch-esoterische, alternativ-“bewusste”, progressistisch-“spirituelle” Milieu usw. bevorstehen, das sich ja bereits gegenwärtig an Waldorfschulen tummelt.“
meinen Sie den „bürgerlich-anthroposophischen Komplex“, wie ich ihn hier angedeutet habe:
http://ratgebernewsblog2.wordpress.com/2010/10/26/rudolf-steiner-doppelausstellung-ein-lugen-kosmos/#comment-5414
und folgende Kommentare …
2.
Rainer Herzog | 17. Oktober 2014 um 7:21 am
Als inzwischen langjähriger Ex-Anthro kann man schon so etwas wie eine gewisse Schadenfreude im lesen (besser:überfliegen) von diesem und ähnlichen Artikeln empfinden; durchaus vergnüglich, der fortschreitenden Demontage der anthrop. Bewegung zuschauen zu dürfen.
Allerdings frage ich mich mehr und mehr nach der Motivation des Autoren: Warum das Ganze? Warum so dermaßen viel Zeit in die Kritik einer spirituellen Bewegung investieren, mit der man innerlich anscheinend nicht mehr allzu viel verbunden ist?
3.
Andreas Lichte | 17. Oktober 2014 um 6:53 pm
@ Rainer Herzog
können Sie bitte erläutern, was – für Sie – an der Anthroposophie eine „spirituelle Bewegung“ ist? Bzw. überhaupt „spirituell“?
–
Hartmut Zinser, „Rudolf Steiners ‘Geheim- und Geisteswissenschaft’ als moderne Esoterik
Vortragsmanuskript. Tagung: Anthroposophie – kritische Reflexionen.
(…)
4. Zum Schluß: Zwei kritische Bemerkungen zu Steiners Konzept von Geist und Sinn
R. Steiner artikulierte einen Einspruch und Protest gegen das mechanisch-materialistische Weltbild des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jh.s, in welchem der Mensch wie eine Maschine auf Funktionieren ohne Sinn und Verstand reduziert wird. Auf diesem Protest basieren auch viele der lebensreformerischen Anstöße und Projekte Steiners. Da er aber den Geist als Welt hinter der sinnlichen Welt konzipiert und diesen auf der gleichen Ebene wie die materiellen Gegenstände ansiedelt, macht er den Geist selber zu einem Gegenstand und Ding neben, bzw. hinter den Dingen. (Dabei wird Geist zugleich in Geister aufgelöst.) Wenn Geist als Ding, als einzelnes Seiendes, wenn auch hinter dem Sein angesehen und in der Hinterwelt gesucht wird, wird er erneut aus unserer Welt beseitigt. Der Protest widerspricht sich selber und wiederholt das, wogegen er Einspruch erhoben hatte. Kein Geist ist da und es bleibt R. Steiner nur, das Suchen nach dem Geist als Geist auszugeben.
(…)“
Quelle: https://www2.hu-berlin.de/gkgeschlecht/downloads/veranstalt/2006/Zinser%20Vortrag%20HU%20210706.pdf
4.
Rainer Herzog | 18. Oktober 2014 um 11:36 am
Ach, hallo Herr Lichte, hier sieht/liest man sich also wieder…:-)
Nein, da gibt es nicht viel zu erläutern, „spirituelle Bewegung“ war von mir nur im ganz allgemeinen Sinne gemeint (eine Bewegung, deren Anhänger sich für „geistige“, esoterische Inhalte interessieren, die allerlei Meditationen ausüben, etc) – wie es ja auch z.B. eine Abteilung „Anthroposophie“ in unserer Hamburger Eso-Buchhandlung gleichberechtigt neben den Abteilungen Advaita, Wünsch-es-dir-aber-richtig und Buddhismus gibt.
Das obige Zitat von H.Zinser beschreibt sicherlich einen kritischen Aspekt der Anthroposophie und des mit ihm verbundenen anthrop. Schulungsweges („Geist…zu einem Gegenstand und Ding“ machen), wird aber auch von vielen Anthros (z.B. von Ihrem alten Kollegen und Geistesbruder M.Eggert) seit langem hinterfragt.
5.
Andreas Lichte | 19. Oktober 2014 um 8:33 am
… das obige Zitat von Hartmut Zinser beschreibt nicht „einen kritischen Aspekt“ der Anthroposophie, sondern den Grundfehler der Anthroposophie:
Steiner macht aus „Geist“ „Materie“ –
es gibt nichts, was „materialistischer“ wäre, als die Anthroposophie …
6.
Rainer Herzog | 19. Oktober 2014 um 11:41 am
„Steiner macht aus “Geist” “Materie”
Ist ja grundsätzlich nichts schlimmes, haben die Alchimisten auch gemacht.
7.
Andreas Lichte | 19. Oktober 2014 um 5:05 pm
… ich fass noch mal ganz kurz für Herrn Ex-Anthroposoph „Rainer Herzog“ und für die Damen und Herren Noch-Anthroposophen „…“ zusammen:
die Anthroposophie ist NICHT „spirituell“, weil sie den Geist aus der Welt schafft
(was Herr Herzog mit seinen „nicht so schlimmen Alchimisten“ meint, kann er gern jemand anders erklären, das ist mir zu „…“)
8. Anthroposophische Reformation. Dogmen der liberalen Anthroposophie | Waldorfblog | 12. Januar 2015 um 2:59 pm
[…] und schwindende Mitgliederzahlen der “Anthroposophischen Gesellschaft” (vgl. “Sergej, du hast dich selbst gegeben”) sprechen aber nicht dafür, dass die Steinersche Ideologie sich damit endgültig verflüchtigt. […]
9. Anthroposophische Reformation II, oder: Bis zur Unkenntlichkeit… und noch viel weiter | Waldorfblog | 16. Februar 2016 um 2:33 am
[…] Weiterentwicklungen der Anthroposophie an, die parallel zum Verfall ihrer alten Institutionen (vgl. Sergej, du hast dich selbst gegeben) in immer transparente und durchlässigere Formen schlüpft und dabei, zäh wie alle Ideologie, in […]
10.
Kali | 23. Mai 2016 um 11:58 am
Ich persönlich schätze Sergej Prokofieffs Bücher sehr, es ist mir immer ein Vergnügen sie zu lesen. Der war auch kein Zufälliger in der Anthroposophie, wenn man weiß, was für eine bedeutende Rolle er in einer früheren Inkarnation gespielt hat. Derjenige, dessen Vorträge ich übersetze und in meinem Blog erzengelmichaelblog.wordpress.com einstelle, hat schon öfter gesagt, dass Prokofieff ihn aus der geistigen Welt unterstützt. Auch soll Prokofieff seine Fehler begriffen haben, gemeint ist die Sache mit Judith von Halle.
11. „Hat was von Beuys“: Anthroposophie, AfD und die degenerierten Astralleiber der Asiaten | Waldorfblog | 6. Juni 2016 um 3:22 pm
[…] Anthroposophie nimmt ab. Während die Anthroposophische Gesellschaft schrumpft (vgl. Sergej, du hast dich selbst gegeben) und die Praxisfelder zögerlich ins weitere esoterische Milieu zu diffundieren beginnen (vgl. […]