János Darvas: Lesarten. Zu Ansgar Martins Interpretation meiner Publikationen über Judentum und Anthroposophie

8. November 2014 at 12:36 pm 3 Kommentare

Einleitung A.M. – In meinem Anhang über Judentum, Antisemitismus und Anthroposophie in der Edition von Hans Büchenbachers „Erinnerungen“ ging es auch darum, der langen Reihe antijüdischer Vorstellungen im anthroposophischen Milieu ihre Widerlager entgegenzustellen. Es gab seit Gründerzeiten Anthroposophen, die Elemente sog. „jüdischer Mystik“ in ihre anthroposophische Geistessuche einbanden, gelegentlich in ihnen „das Geistige und Geistigste der Anthroposophie“ selber sahen (Ernst Müller). In diesem Rahmen wies ich auch auf János Darvas hin, der die einseitigen christozentrischen Theologisierungen in der Anthroposophie problematisiert hat – mein Hinweis rief bei ihm allerdings lebhaften Widerspruch hervor, die tatsächlichen Motive seiner Spiritualität nicht ernstzunehmen. Ich freue mich, seine Einwände im Folgenden öffentlich zu machen:

Lesarten. Zu Ansgar Martins Interpretation meiner Publikationen über Judentum und Anthroposophie

von János Darvas

In dem von ihm herausgegebenen Buch über den Anthroposophen Hans Büchenbacher[1] hat sich Ansgar Martins zu meinen Versuchen geäußert, Aspekte des Verhältnisses von Judentum und Anthroposophie herauszuarbeiten. Er bezieht sich dabei insbesondere auf meinen Aufsatz „Spirituelle Praxis als Einigungsprozess. Zur Esoterik des Ich in der Anthroposophie und der Kabbala“[2]. Das ist erfreulich. Denn zu diesem Thema, sowie zu meinen kritischen Rückfragen, ob Anthroposophie und religiöser Pluralismus mit einander vereinbar seien, und wenn ja, dann wie, hat sich bisher inneranthroposophisch keine nachhaltige Debatte entwickelt[3]. Die Gründe für dieses Ausbleiben ließen sich aus Martins’ eigenen kritischen Analysen zur Anthroposophie und zu ihrer historischen Diskurstradition im Verlauf der Geschichte der anthroposophischen Bewegung erhellen. Ich habe meinerseits wiederholt auf die Ambivalenz hingewiesen, die zwischen dem von Steiner formulierten erkenntnisorientierten Programm einer „Wissenschaft vom Geist“ einerseits und der bekenntnisartigen, religionsbildenden Tendenz in „real existierenden“ anthroposophischen Zusammenhängen andererseits besteht. Anthroposophisches Sprechen hebt bei einem Teil der Anhängerschaft oft zu spekulativen Höhenflügen ab und bewegt sich im Fahrwasser theologisch-theosophischer Apologetik. Der Wissenschaftsanspruch wird dann unterlaufen, bleibt bloße petitio principii. Das als Forschungsaufgabe formulierte Ziel einer „anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft“ entzieht sich so dem Wissenschaftsprinzip der Falsifizierbarkeit. Ich begrüße es deshalb sehr, wenn diese und damit verbundene Fragen aufgegriffen werden, auch wenn es nicht im strikten Sinne „inneranthroposophisch“, sondern durch einen scharfsinnigen und belesenen Beobachter der Anthroposophie geschieht.

Ich kann aber nicht umhin, darauf hinzuweisen, dass auch der Beobachterrolle, die Ansgar Martins übernommen hat, eine Ambivalenz innewohnt. Der Standpunkt, von welchem her er blickt und urteilt, klammert das Moment der Empirie, die für ein mögliches übersinnliches Forschen ins Spiel käme, aus. Spirituelle Erfahrung ist für ihn – so seine Aussage im persönlichen schriftlichen Austausch – zwar etwas, was ernst genommen werden und respektiert werden sollte, sie ist aber seiner Ansicht nach nie ohne ihren kulturellen Kontext denkbar und nicht mit normativer intersubjektiver Gültigkeit vermittelbar. Eine wissenschaftliche Bearbeitung der Anthroposophie oder anderer spiritueller Lehren müsse sich eines methodischen Agnostizismus befleißigen. Die Dimension ontologisch fundierter, substanziell-übersinnlicher Daseinsformen, von denen solche Texte sprechen und die mit ihnen verbundenen übersinnlichen Erfahrungen werden ausgeklammert. Das ist ein faires Vorgehen, eine Geste der Selbstbescheidung akademischer Wissenschaft. Im Grunde will sie dem Gegenstand esoterischer Lehren gar nicht nachgehen, sondern versteht sich als kulturwissenschaftliche Erkundung von Einflüssen solcher Lehren im historischen Prozess. Nicht unproblematisch scheint mir allerdings, hier von empirischer Methode[4] zu sprechen. Kulturwissenschaften sind hermeneutische Wissenschaften. Sie basieren auf Spuren, Zeichen, Texten, mündlichen Überlieferungen, deren ursprünglicher Erfahrungsgehalt rekonstruiert werden muss. Es wäre zweckmäßig, den Empirie-Begriff auf unmittelbare Wahrnehmungen zu beschränken, seien sie nun sinnenfällig oder durch nicht-sinnliche, psychische oder pneumatische Erlebnisse gewonnen. Es gibt freilich noch ein anderes, gravierenderes Problem, das beachtet werden sollte: der vorgeblich methodische Agnostizismus entpuppt sich gelegentlich als verkappter weltanschaulicher Antignostizismus. Aber auch schon einem ehrlichen „wertneutralen“ methodischen Agnostizismus droht die Selbstbeschränkung zu Verengungen und Verflachungen zu entarten. Wenn bei Anthroposophen und anderen Spiritualisten durch eine Tendenz zum Elevationismus – gleichsam trunken nach ersehnten höheren Sinnerfüllungen – das Denken die Bodenhaftung zu verlieren droht, entsteht bei akademisch-wissenschaftlichen Interpreten spiritueller Lehren und Strömungen Reduktionismus dadurch, dass mögliche oder tatsächliche Erfahrungshorizonte, auf welche die untersuchten Schriften hinweisen, in einer all zu engen Weise ausgeblendet werden, die verzerrend wirkt. Ein zureichendes Verständnis der Texte ist dann unter Umständen gar nicht mehr möglich.

Dass Ansgar Martins den seinerzeit den von mir unter dem Pseudonym Samuel Ichmann publizierten Bericht über meine Erfahrungen als jüdischer Lehrer an Waldorfschulen[5] als „bemerkenswert“ charakterisiert, freut mich. Und dass er das Beiwort „tiefsinnig“ in Zusammenhang meiner Versuche gebraucht, Anthroposophie und Kabbala in Beziehung zu setzen, findet natürlich dankend Resonanz. Was aber, wenn der Kommentator den Inhalt dieser von ihm als tiefsinnig qualifizierten Darstellungen gründlich missverstanden hat? Was, wenn er sowohl die expliziten Thesen, die ich vertrete, und die ganze Tendenz meiner Ausführungen in ihr schieres Gegenteil verkehrt? Genau dieser Eindruck entsteht bei mir, wenn ich lese:

„Interessanterweise werden hier systematische Fragen, und kaum solche der „übersinnlichen“ Erkenntnisproduktion verhandelt (S. 381).

Der erste Teil des besagten Essays über Anthroposophie und Kabbala ist die Beschreibung von Erkenntnisvorgängen, die durch Steiner (aber auch von Hegel, Raymond Abellio, Henry Corbin und einer Reihe von philosophischen Phänomenologen) angeregt sind, aber von mir selbständig vollzogen und diskursiv gestaltet wurden. Er stellt Schritt für Schritt Beobachtungen dar, die an sinnenfälligen Wahrnehmungen und rationalen Denkgebärden gewonnen sind, um dann zu einem übenden Umgang des aktiven Vorstellungsbildens als konkreter Verschränkung von Anschauung und Begriff führen. Das Beobachten der Bewusstseinsvorgänge geht dabei unmittelbar in spirituelle Praxis über, so dass die Phänomenologie des Vorstellungsbildens zugleich als konkrete meditative Handlungsanweisung gelesen werden kann. Der zweite Teil des Aufsatzes ist das Herausarbeiten einer in Rabbi Joseph Gikatillas „Scha’are Orah“ – einem Klassiker kabbalistischen Schrifttums des hohen Mittelalters – enthaltenen, impliziten meditativen Gebetsschulung. Die hier exemplarisch herausgegriffenen Übungen bedürfen freilich – anders als die voraussetzungslose Bewusstseinsphänomenologie im ersten Teil – einer längeren Praxis jüdischen Gebets und Torastudiums. Zwischen beiden Wegen der Übung werden dynamisch-strukturelle Korrespondenzen sichtbar – trotz unterschiedlichen Vokabulars, unterschiedlicher historischer und kultureller Einbettung, ja sogar trotz des Unterschieds, der darin besteht, dass der eine Weg vom philosophischen Fragen, der andere von religiöser Devotion ausgeht. Diese Korrespondenzen betreffen seelische und geistige Vorgänge, nicht fixierte Lehrinhalte. Vergleiche von Doktrinen der Anthroposophie und der Kabbala werden an keiner Stelle angestellt. Dass ich solch statisches Vergleichen für zweitrangig und wenig aussagekräftig halte, habe ich in den methodischen Erläuterungen in meinem Aufsatz sogar explizit hervorgehoben. Martins hält aber auch nach Kenntnisnahme meiner Richtigstellungen an seiner Lesart fest. Sie ist sowohl meiner Intention, als auch, wie ich zu sehen glaube, dem Inhalt des Textes diametral entgegengesetzt:

„Es werden materiale Vergleiche zwischen kabbalistischen usw. usf. Topoi angestellt, statt die Frage nach der konkreten Herstellbarkeit spiritueller Evidenzen für Kabbala und Anthroposophie (usw.) zu bearbeiten.“

Spirituelle Evidenzen lassen sich zwar nicht herstellen – sie ergeben sich –, wohl aber kann meditatives Denkenden inneren Raum für Evidenzen freilegen. Und davon ist in meinem Text durchgehend die Rede, nicht bloß theoretisch sondern praktisch, nachvollziehbar und konkret.

Das zweite größere Missverständnis in der Art, wie Martins meine Texte interpretiert, sehe ich in folgendem Statement:

„Auch Darvas‘ positive Auseinandersetzung mit dem Judentum besteht in weiten Teilen darin, die Religion auf anthroposophisch kompatible Motive wie das „Ich“ und „den inneren Maschiach“ als „geistigen Christus“ hin zu untersuchen“

Dies bezieht sich unter anderem auf einen Essay von mir, der sich mit dem katholischen Religionsphilosophen, Esoteriker und Kenner der jüdischen Kabbala Franz Joseph Molitor beschäftigt[6]. Dort erscheint in der Tat der Ausdruck „innerer Maschiach“ und „geistiger Christus“ – allerdings als Molitor-Zitat. Ich habe diese Formulierungen sonst nirgends verwendet. Mein Hauptinteresse an Molitor liegt gar nicht in diesen christlich tingierten Formulierungen, sondern in seinem Widerspruch gegen die bis zum 2.Vatikanischen Konzil gängige christliche These, die weltgeschichtliche Rolle des Judentums sei seit dem Auftreten des Christentums auf einem toten Gleis. Diese Auffassung geistert auch heute noch im anthroposophischen Milieu herum, wobei deren Vertreter sich auf Aussagen Rudolf Steiners berufen können. Ich habe diese Auffassung nie geteilt, nicht nur weil ich selbst Jude bin, sondern weil sie den historisch-kulturellen Tatsache des Jahrtausende anhaltenden jüdischen Beitrags sowohl im christlichen Abendland als auch im islamischen Orient total widerspricht. Ich hätte mir gewünscht, dass Martins diesen Aspekt meiner gegenüber der konservativen Mainstream-Anthroposophie abweichenden Position stärker hervorgehoben und gewürdigt hätte.

Stattdessen gelingt ihm der bedauerliche – wahrscheinlich ungewollte – Fauxpas, aus meinen Texten herauszulesen, meine „positive Auseinandersetzung“ mit dem Judentum bestünde „in weiten Teilen“ daraus, die Religion „auf anthroposophisch kompatible Motive hin zu untersuchen“. Dazu ist Folgendes zu sagen:

Mein zentrales Forschungsinteresse kreist um Fragen der Religionserkenntnis. Gibt es stringente spirituelle Methoden, die das Erfahrungsprinzip in Denken und Beobachten mit den Erfahrungen, die durch religiöse Offenbarungen vermittelt werden, so in Zusammenhang bringen, dass dieser Zusammenhang selbst als Erfahrung einsichtig werden kann? In Hinblick auf Denken und Beobachten geben mir die verschiedenen phänomenologischen Ansätze der neueren Philosophie wichtige Anregungen. Die erkenntnistheoretischen Schriften Rudolf Steiners sowie die von ihm beschriebenen Übungspraktiken nehmen darin eine privilegierte Stelle ein. In Hinblick auf die Erschließung der verschiedenen heute lebenden Religionen stehen dagegen kaum ausreichend entwickelte phänomenologische Methodenansätze zur Verfügung, die über eine Beschreibung der religiösen Lehren, Riten und Kulturbeiträge der einzelnen Religionen auf der einen, über religiöse bzw. religionsphilosophische Interpretationen auf der anderen Seite hinausgehen. Ich bemühe mich, in diesen Fragen weiter zu kommen. Dazu scheint notwendig, einzelne Religionsformen in ihren seelischen und geistigen Qualitäten von innen her kennen zu lernen. Das ist in mehrerer Hinsicht ein schwieriges Unterfangen, nicht zuletzt auch deshalb, weil der Forschende direkt oder indirekt religiös spezifisch geprägt ist, beziehungsweise Affinitäten zu dieser oder jener religiösen Strömung in sich trägt. Will man einen empirischen Weg gehen, der an Erfahrungen anknüpft, ist es hilfreich, die eigenen Prägungen und/oder Affinitäten theoretisch und praktisch einerseits zu vertiefen und sie andererseits durch das Kennenlernen anderer Religionen und Religionspraktiken zu objektivieren. Neben dem Studium von Texten und dem Praktizieren von Religion ist der Kontakt zu Menschen, die selber authentisch in der eigenen wie in anderen Traditionen stehen, hilfreich.

„Kompatibilitätsfragen“ interessieren mich dabei im Grunde überhaupt nicht, auch nicht im Hinblick auf die sogenannte anthroposophische „Christologie“ (ein unglücklicher Ausdruck, weil damit eine Fachdisziplin theologischer Fakultäten bezeichnet wird). Was mich in diesem Bereich eher interessiert, ist der spirituelle und historische Zusammenhang mit und die geistesgeschichtliche Abhängigkeit der christosophischen Darstellungen Steiners von der Hohen Christologie des traditionellen Christentums besonders des mittelaterlichen Katholizismus und der Ostkirche. Es gehört übrigens meines Erachtens nach zu den großen Naivitäten bei Anthroposophen, die Theologumene der Kirche entweder nicht zu kennen, oder deren Rätsel und Probleme durch das Umfunktionieren von Vortragszyklen Rudolf Steiners zu einer Art Theologie als endgültig gelöst anzusehen. Ich verdanke allerdings den anthroposophischen Deutungen Rudolf Steiners dieser Theologumene wichtige Anstöße, mich dem Christentum erkennend zuzuwenden. Mein religionsphilosophischer Ansatz geht aber nicht von der teleologischen Voraussetzung aus, der Sinn der Religionen sei letztendlich vom Christentum her und auf das Christentum hin legitimiert.

Er besteht daraus, die verschiedenen traditionellen, heute noch lebenden Religionsformen jeweils für sich zu betrachten: als eigenständige, genuine Ausformungen im Feld des spirituell-religiösen Weltkulturerbes der Menschheit. Dass freilich ein historisch und theologisch eigentümliches Verhältnis etwa zwischen Judentum und Christentum besteht, ist klar. Konvergenzen (nicht „Kompatibilitäten“!) der Kabbala mit Motiven der traditionellen Christologie sind seit langem sowohl von jüdischen wie von christlichen Forschern bemerkt worden. Der jüdische Religionsphilosoph Elijah Benamozegh zum Beispiel hat am Ende des 19. Jahrhunderts den Versuch gewagt, die christliche Dogmatik von Motiven der Kabbala herzuleiten. Das ist bei allen Problemen, die erst im Mittelalter schriftlich dokumentierte Kabbala in die Zeit Jesu und der Kirchenväter zurück zu verlegen, ein spannendes Unterfangen[7]. Andere Interpreten vermuten umgekehrt, dass die Ausgestaltung und Veröffentlichung kabbalistischer Anschauungsformen eine Reaktion auf die Christologie und Inkarnationslehre der Kirche gewesen sei, die insbesondere im mittelalterlichen Spanien eine intensive Judenmission betrieb. Aber auch hier interessiert mich nicht in erster Linie, wer wen historisch beeinflusst hat, sondern dynamische Tiefenstrukturen. Was zumindest ahnungsweise zum Vorschein kommt– bei allen unüberbrückbaren Inkompatibilitäten der institutionalisierten, „exoterischen“ Religionslehren –ist etwas, was der Religionsphilosoph Abraham Joshua Heschel von jüdischer Seite her prägnant so ausgedrückt hat: „Theologie trennt uns. Tiefentheologie eint uns.“ Meine Fragestellungen und Forschungsintentionen gehen in Richtung einer solchen „Tiefentheologie“.

Was ich bei Martins obiger Formulierung als Fauxpas empfinde, bezieht sich auf den falschen Verdacht, der seinen Formulierungen zu Grunde zu liegen scheint, ich praktizierte etwas wie eine Anpassungsstrategie um jüdische Motive durch anthroposophische zu legitimieren. Offenbar will er auch in mir jemanden sehen, der letztendlich als anthroposophischer Apologet agiert. Seine anthroposophiekritischen Motivationen scheinen ihm den Blick auf das zu verdecken, was ich tatsächlich sage und tue. Weil er mich als Anthroposophen verortet, springen ihm offenbar bestimmte Begriffe oder Formulierungen in die Augen, auf die er dann zugreift. Meine Texte sind in zwar in anthroposophischen Zeitschriften, mein Buch „Gotteserfahrungen“ in einem anthroposophischen Verlag erschienen. Ich bin lebensweltlich und beruflich– aber nicht auschließlich – mit dem anthropsophischen Milieu verflochten. Martins’ Charakterisierung greift dennoch daneben. Vielleicht markiert die Konfrontation mit Martins Lesart – in der ich mich nicht wiedererkenne – einen Zeitpunkt für mich, neue Ausdrucksweisen zu suchen. Biografisch und existentiell verhält es sich, was mein Selbstverständnis anbelangt, auch hier gegenüber Ansgar Martins Lesart genau anders herum. Meine jüdische Prägung und Orientierung, vor allem an der Kabbala und dem Chassidismus, waren und sind mitbestimmend für die Art meiner Rezeption von Anthroposophie, nicht umgekehrt. Ich finde es schade, dass Ansgar Martins, statt noch genauer und einfühlender in tiefere Schichten meiner spirituellen Erkundungsversuche hineinzuhorchen, überschnell urteilend und durchaus nominalistisch mit festgelegten Typologien operiert. In den Kulturwissenschaften muss man individualisieren. Und so kommt denn die peinliche Behauptung zustande, die vielleicht ungewollt, aber doch so klingt, als ob des alten Juden János Darvas’ – Juden sind bekanntlich sensible Leute in Bezug auf ihr Judesein – positive Auseinandersetzung mit dem Judentum im Wesentlichen aus Kompatibiltäts- oder Anpassungsstrategien an „anthroposophisch korrekte“ Begrifflichkeiten bestünde! Mein junger Gesprächspartner wird mir erlauben müssen, ihm zu mehr Besonnenheit und Taktgefühl im Formulieren von Urteilen zu raten.

Nach diesen mehr persönlich gehaltenen Bemerkungen, zum Schluss noch eines der sachlichen Probleme, die in der Verständigung mit Martins aufgetreten sind. Es kreist um den Gebrauch des Terminus „Esoterik“. Ansgar Martins hält es für fraglich, ob „Esoterik“ auf die Kabbala angewendet werden kann. Da ich auf dem Gebiet der akademischen Kabbala-Forschung einigermaßen bewandert bin, wende ich ein, dass dieses Wort dort von fast allen Gelehrten und Interpreten gebraucht wird, vor allem in der Variante als Adjektiv. Martins meint aber, es könne nur auf neuere abendländische Lehren bezogen werden. In der Tat – so lese ich beim Altmeister der akademischen Esoterikforschung Antoine Faivre[8] – ist das Substantiv „Esoterik“ im deutschsprachigen Raum erst im 18.jahrhundert nachzuweisen, die entsprechenden französischen bzw. englischen Ausdrücke „ésotérisme“ und „esotericism“ werden erst im 19.Jahrhundert geläufig, um neueres hermetisches, theosophisches, okkultistisches Schrifttum im christlichen Abendland zu bezeichnen. Wir könnten uns zwar darauf einigen, bloß das Adjektiv „esoterisch“ zu gebrauchen, das immerhin schon in der Spätantike nachweisbar ist. Ich verzichte aber darauf. Solche Begriffsabgrenzungen sind sogar in der Esoterikforschung fluktuierend und keineswegs abschließend gesichert. Für mich selber spielt es ohnehin eine untergeordnete Rolle, weil mein Ansatz nicht in erster Linie historisch ist. Ich untersuche die spirituellen Wege und Gebärden der Religionen und ihrer esoterischen Aspekte vom Gegenwartsbewusstsein her auf ihre Transparenz, Konsistenz und Tragfähigkeit innerhalb eben dieses Bewusstsein. Aber selbst für die historisierende Beschäftigung mit Religion und Spiritualität sehe ich kein prinzipielles Hindernis, eine erst später auftauchende Gattungsbezeichnung rückwirkend auf frühere Lehren anzuwenden. Sonst müsste auch der Gebrauch des Begriffs „Gleichung“ für den schon in der Antike bekannten Pythagoräischen Lehrsatz – der zweifelsfrei eine Gleichung ist! – verworfen werden, weil der Gleichungsbegriff und eine theoretische Gleichungslehre erst viel später nachweisbar sind.

Ich darf diese Stellungnahme mit einem Dank an Ansgar Martins abschließen. Seinem freundlichen und fairen Angebot, meine Einwände in seinem Blog aufzunehmen und so in die Öffentlichkeit zu stellen, bin ich gerne nachgekommen.


[1] Hans Büchenbacher Erinnerungen 1933 – 1949: Zugleich eine Studie zur Geschichte der Anthroposophie im Nationalsozialismus. Mit Kommentaren und fünf Anhängen herausgegeben von Ansgar Martins, Frankfurt a. Main 2014.

[2] János Darvas:Spirituelle Praxis als Einigungsprozess. Zur Esoterik des Ich in der Anthroposophie und der Kabbala. In: Ralf Sonnen,berg (Hg.): Anthroposophie und Judentum. Perpektiven einer Beziehung Info3-Verlag/ Frankfurt am Main 2009.

[3] János Darvas:Anthroposophie und religiöser Pluralismus. Probleme und Perpektiven eines modernen Dialogs Info3 5 -7/2008. Wieder publiziert in: János Darvas:Gotteserfahrungen. Perpektiven der Einheit. Anthroposophie und der Dialog der Religionen. Mit einem Geleitwort von Johannes Kiersch. Frankfurt/Main o.J. Siehe auch: Vielschichtige Wahrheit. Interreligiöses Erkennen als geisteswissenschaftliche Initiative.   Die Drei 7/Juli 2011

[4] Wouter J.Hanegraaf: Esotericism and the Academy. Rejected Knowledge in Western Culture. Cambridge University Press 2012, S.357ff. Meine Kritik bezieht sich nur auf seinen Gebrauch der Bezeichnung „empirisch“. Hanegraaf bewegt sich innerhalb der selbstauferlegten Beschränkungen mit erstaunlicher Treffsicherheit. Es gelingt ihm, soweit ich sehen kann, durch umfassende Textkenntnis, durch umsichtige Lektüre und mit Einfühlungsvermögen die Gefahr eines verzerrenden Reduktionismus zu vermeiden.

[5] Samuel Ichmann (János Darvas): Was Gott ist – oder auch nicht. Aufzeichnungen eines jüdischen Waldorfllehrers. Info3 6/2000.

[6] János Darvas: Ein Abbild der Menschheit im Kleinen. Franz-Joseph Molitors Philosophie der Geschichte, Info3 12/2000.

[7] Elie Benamozegh: La Kabbale et l’origine des dogmes chrétiens. Paris 2010.

[8] Antoine Faivre: L’ésotérisme: « Que sais-je ? » n° 1031  PRESSES UNIVERSITAIRES DE FRANCE – PUF; Paris 2012)



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Ich bin Ansgar Martins, geb. 1991 und war bis Juni 2010 Schüler an der FWS Mainz. Inzwischen studiere ich Religionsphilosophie, Soziologie und Geschichte in Frankfurt a. M. Dieser Blog ( dessen "Leitbild" ganz oben rechts ) ist mein persönliches Projekt, um die oft einseitigen und selbstgerechten Pro- und Contra-Positionen in der Debatte um die Waldorfpädagogik und Anthroposophie kritisch zu kommentieren. Ich hoffe, das gelingt, und freue mich über Rückmeldungen jeder Art!

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