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Kontroverse Erlebnisse im Waldorfbürgertum: Zur Verfertigung postfaktischer „Wahrheiten“
Ein Gast-Beitrag von bobby*
(mit einem Nachtrag vom 3.3.2017)
In einen Kommentar zum Beitrag „Waldorfschule Filstal – Schüler-Projekttage mit Ken Jebsen abgesagt„ von F. Rothacker am 9. November 2016 führt dieser aus:
„… Schade, dass hier Daniele Ganser und Ken Jebsen in einem Atemzug genannt werden. Zwischen den beiden Herren herrscht doch ein großer Unterschied!…
… Ganser ist in keinster Weise ein Verschwörungstheoretiker sondern in seinen Analysen einfach sehr kritisch – und nicht im „Mainstream“…Schade, dass der Bund der Freien Waldorfschulen hier selber auch nicht differenziert! …“
Der Kommentator hat nur teilweise Recht.
So wird Ken Jebsens primitive und pöbelhafte Art sofort augenfällig, wenn er seine kruden Botschaften ventiliert. So schreibt dieser schon während seiner Moderatoren-Tätigkeit beim Sender RBB an einer seiner Zuhörer:
„…ich weis wer den holocaust als PR erfunden hat. der neffefreuds. bernays. in seinem buchpropaganda schrieb er wie man solche kampagnen durchführt. goebbels hat das gelesen und umgesetzt. ich weis wer die rassendatten im NS reich möglich gemacht hat. IBM mit hollerithmachinen. ich weis wer wärend des gesamten kriegesdeutschland mit bombersprit versorgt hat.standartoil also rockefeller.…“
(Rechtschreibfehler im Original. Im vollen Wortlaut und Zusammenhang)
Trotzdem begeistern sich scharenweise Waldorfbündler für die widerwärtigen Agitationen des „Friedensaktivisten“, Verschwörungstheoretikers und ehemaligen Waldorfschülers Jebsen, der die Bürger versucht aufzuklären über die wahren Machenschaften der Eliten.
In Gegensatz zum „kultiviert“ auftretenden Daniele Ganser der, auf den ersten Blick, scheinbar Kompetenz und Zuverlässigkeit verbreitet. Entgegen der Vermutung des Kommentators ist „Friedensforscher“ Ganser, auch er war Waldorfschüler, aber weitaus gefährlicher, noch bösartiger und verlogener als Ken Jebsen. Doch dazu später mehr.
Zunächst zum Bund der Freien Waldorfschulen. Es stellt sich dabei in diesem Zusammenhang zunächst die Frage:
Könnte es sein, dass die mehr als auffälligen Verschwörungsgedanken von Personen wie Ganser und Jebsen auch entscheidend mitgeprägt worden sind von einer stark weltanschaulichen ausgerichtete Pädagogik in ihrer Schulzeit, sozusagen als Spätfolge einer Art von „Waldorfschädigung“?
Ein unmittelbarer, kausaler Zusammenhang zwischen Schulbildung und späterer Werdegang eines Menschen sollte gewiss immer skeptisch und unter großen Vorbehalten gesehen werden. Zumindest die Notwendigkeit einer solchen Fragestellung dürfte sich aber ergeben wenn man sich das Verhalten von Vertreter dieser Schulbewegung in der heutigen Auseinandersetzung um rechtsextreme Tendenzen vor Augen führt. „Da wird man wohl noch fragen dürfen!“
Beispiel: Die Waldorfbewegung und die Mosmann-Kontroverse
Henning Kullak-Ublick, Vorstand und Presseverantwortlicher des Bundes der Freien Waldorfschulen, hatte sich ursprünglich mit erfreulich deutlichen Worten mehrfach von extremistischen Tendenzen an Waldorfschulen distanziert. So auch am 10.07.2015 in einem Rundbrief an die Kollegien der Waldorf- und Rudolf-Steiner-Schulen wo er unmissverständlich auf die Gefahr für Waldorfschulen hinweist die von Neurechten, Reichsideologen und Verschwörungstheoretiker wie Ken Jebsen ausgeht. Das Ergebnis war eine beispiellose Welle der Empörung anthroposophischen Wutbürgertums.
Kullak-Ublick schreibt dazu in einem Antwortschreiben an Heinz Mosmann, Geschichtslehrer an der Freien Waldorfschule Heilbronn in einem „offenen Brief“ vom 01.11.2015:
„…Ich habe mich in meiner Antwort bemüht, aus der Vielzahl von Zuschriften, die ich bekommen habe, einige wesentliche Aspekte herauszuziehen. Trotzdem möchte ich nicht verschweigen, dass eine für mich bestürzend große Zahl von Zuschriften auf einem Niveau geschrieben wurden, das meine Besorgnis eher noch hat steigen lassen. Ich weiß jetzt nicht nur, dass ich der „Teufel aus dem Dreikönigsspiel“ bin, dazu „vollkommen Ich-los“ und eigentlich gar nicht Ken Jebsen gemeint habe, sondern in Wirklichkeit Rudolf Steiner verraten wollte. Über die persönliche Betroffenheit hinaus machen mich aber vor allem die Zuschriften nachdenklich, die jede diskursive Debatte hinter sich zurückgelassen haben. Die Heftigkeit, mit der hier „zurückgeschossen“ wurde, hatte nicht selten sektiererische Züge. Da in den Monaten, seit ich den Brief geschrieben habe, kein Tag vergangen ist, an dem ich mich nicht damit befassen musste, werde ich von weiteren Erklärungsversuchen absehen…“
In diesem Briefwechsel werden von Herrn Mosmann, beispielsweise beim Thema Verschwörung, mal wieder die Rollen und Tatsachen bis zur Unkenntlichkeit verdreht und verstellt. Das ist so üblich und symptomatisch bei Verschwörungstheoretikern. Und dazu ganz im Sinne von Daniele Ganser und Ken Jebsen. Mosmann beschwert sich lautstark gegen den „unreflektierten und diskriminierenden Gebrauchs des Ausdrucks „Verschwörungstheoretiker““. Er sieht diejenigen die sich um „konstruktive und lebensfähige Sozialideen“ bemühen als Opfer einer „echten“ Verschwörung der sogenannten „bestehenden politischen Strukturen“. Gegen die Aufklärung zu suchen täte wahrlich not, so Geschichtslehrer (!) Mosmann. Gegen die „öffentlich manipulierte Meinung“, gegen die „gleichgeschaltete Presse“. Er wirft Herr Kullak-Ublick symptomatisch fehlendes Verständnis für den Sozialimpuls Rudolf Steiners vor aus Rücksicht auf offizielle Stellen und die öffentliche Meinung.
Im Vorspann zum selben Schreiben schwächt Kullak-Ublick die Vorwürfe gegenüber Ken Jebsen (seine Nähe zu rechten oder „reichsbürgerlichen“ Ideologien) nach einem persönlichen Gespräch mit ihm entscheidend ab und entschuldigt sich. Dabei ist zu erwähnen, dass der „Friedensaktivist“ Ken Jebsen überhaupt nicht friedfertig ist, wenn es um Gerichtsklagen gegen ihm missfällige Personen geht. Es wäre aber bösartig zu vermuten, dass dieses bei der Gemütswandlung von Kullak-Ublick evtl. einen Einfluss gehabt haben könnte.
Des Weiteren versucht er den Inhalt seines ursprünglichen Rundbriefes zu entschärfen, wo es nur geht. Es ist schon peinlich zu sehen, wie sehr er seine Meinung bis zur Unkenntlichkeit und bis zur Selbstverleugnung verbiegt. Nur Weniges wird ganz zaghaft versucht aufrecht zu erhalten. Der Waldorf-Mob hat seine Wirkung nicht verpasst.
Es muss leider festgestellt werden, dass von seinem ursprünglichen, erfreulich deutlichen Worten, wie im Inhalt des Rundbriefes, nur erschreckend wenig übrig geblieben ist. Jedenfalls dürfte Kullak-Ublick es in Zukunft schwer haben das Verhältnis der Bund der Waldorfschulen zum rechtsextremen Gedankengut glaubwürdig zu definieren.
So wurde der Bund der Freien Waldorfschulen mehr oder weniger einen Maulkorb verpasst. Das wird so geteilt, natürlich blütenreich verdeckt formuliert:
„…Die Auseinandersetzung…ist eine Chance, das Bewusstsein für zeitgemäße Meinungsbildungsprozesse und das Selbstverwaltungsideal der Freien Waldorfschulen zu schärfen… möge er Fruchtbares für die Entwicklung der Waldorfschulbewegung bringen…“
Es macht traurig folgern zu müssen, dass in der Schulbewegung bestürzend wenig Bereitschaft vorhanden ist, eigene abwegige Einsichten auch nur annähernd zu überprüfen oder gar ansatzweise in Frage zu stellen.
Ganz offen gesagt: Ich würde heute meine Kinder nicht einer Waldorfschule anvertrauen können, wo ein Lehrer wie Herr Mosmann Geschichte unterrichtet, wo Demagogen wie Ken Jebsen und Daniele Ganser agieren dürfen und wo mindestens von Teilen einer Schulgemeinschaft, Eltern und Lehrern, extremes Gedankengut offen und fanatisch umarmt wird. Vom Waldorf-Wutbürgertum möchte ich meine Kinder fernhalten.
Daniele Ganser, Verschwörung und Querfront
Herr Ganser muss als Verschwörungstheoretiker reinsten Wassers gesehen werden, der sich nicht scheut, in einer scheinbar sauberen, quasi-wissenschaftlichen Verpackung alles was krumm ist gerade zu biegen und vice versa. Er zeigt sich als Meister der Täuschung und Manipulation und versteht es bestens in geschickter Weise ein anti-westliches Weltbild voller Ressentiments mit dazu passenden Verschwörungstheorien als wissenschaftlich fundiert zu verkaufen. Ganz im Sinne Putinnaher Querfront-Netzwerke, die mittlerweile in unsere Gesellschaft ganz offen agieren. Womit sich Ganser heute aber, genau so offen, dazu immer häufiger und neuerdings auch ganz ungeniert, verbündet. In der Tat „sehr kritisch“ im anti-amerikanischen und anti-westlichen Sinne, vor allem aber auch offensichtlich wahrheitswidrig und natürlich weit, weit abseits vom sogenannten „verlogenen Mainstream“.
Nebenbei: Der mittlerweile äußerst populär-populistische Begriff „Mainstream“ beinhaltet eine sehr wirklichkeitsfremde Verallgemeinerung und Gleichschaltung der herkömmlichen Medien, die flächendeckend dämonisiert und tabuisiert werden sollen. Wie eine Neuauflage der sogenannten „Lügenpresse“ aus vergangenen Zeiten. Personen, die Verschwörungsgedanken verhaftet sind und sich dazu häufig in mehr oder weniger extremistische Kreise bewegen, definieren ihre radikalen Meinungen grundsätzlich als abweichend vom Mainstream. Als Gütezeichen. Diese Methode bedienen sich auch extreme Organisationen wie AfD, Pegida, NPD, Identitären, Reichsbürgerbewegung und vergleichbaren die heute ihr Unwesen in der Öffentlichkeit treiben und endgültig in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind.
Leider ganz besonders auch in anthroposophischen Kreisen die sich von Herrn Ganser in ihrer Weltsicht geradezu bestätigt zu fühlen scheinen. Da passt manches wie maßgeschneidert zusammen zu den eigenen esoterischen Sichtweisen und Geschichtsschreibungen. Wo angeblich okkulte angloamerikanische Bruderschaften des Westens unter Führerschaft obskurer Hintermänner ihr Unwesen treiben und die Weltgeschicke zu bestimmen versuchen. Häufig in mehr oder weniger verdeckter Anlehnung an antisemitischen Verschwörungsthesen.
Es wäre aber eigentlich eine viel zu große Ehre, Gansers Ideen als ernsthafte Verschwörungstheorien zu bezeichnen. Theorien sollten wenigstens den Anspruch haben, unterbaut zu sein. Gansers Denken stellt sich dagegen zusammenaus einer Ansammlung von Spekulationen. Sie bilden eine durchaus gekonnt vorgetragene und publikumswirksame Mischung aus offensichtlichen Wahrheiten, Halblügen und Lügen. Seine Visionen leiden dazu chronisch und zwanghaft unter dem zweifelhaften Anspruch bisheriges, anerkanntes Wissen ständig in Frage stellen zu müssen. Dabei ist es aber vor allem Gansers Verschwörungsdenken, das schon nach einer etwas genaueren Überprüfung in sich zusammen fällt. Wie die WTC Türmen am 9/11. Da bleibt nichts übrig als Rauch und gähnende Leere. Und die Glaubensgemeinschaft fällt voll darauf rein.
Die Begriffe Verschwörungsphantasien oder Verschwörungsmythen wären deshalb bei Ganser angebracht und sollten in Zusammenhang zu ihm verwendet werden. Mehr dazu in den unbedingt lesenswerten und exzellenten Ausführungen von Irma Kreiten, die in einer sehr umfangreichen und gründlichen Analyse Gansers Wirken und seine Verbindung zur Querfront in allen Einzelheiten auseinandernimmt. In zusammengefaster Form auch hier.
Auch Ganser bestreitet mit empörter Vehemenz, Verschwörungstheoretiker zu sein. Auch hier muss festgestellt werden: Es ist das typische Verhalten von einem Verschwörungsphantasten, der passend zu seiner eigenen Vorstellungswelt den Vorwurf der Verschwörung abstreitet und an die bösartige und bedrohliche Außenwelt zurückspielt. Er macht der Außenwelt damit genau das zum Vorwurf, was er selbst unentwegt tut: Verschwörungsvorstellungen in die Welt zu setzen. Und lenkt so von der eigenen Verlogenheit ab.
Damit liegt Ganser ganz im Trend seiner Gesinnungsgenossen wie Ken Jebsen und sonstigen obskuren Ideologen die im Umkreis des Kopp-Verlages und des Compact-Magazins Jürgen Elsässers aktiv sind: Je hemmungsloser gelogen wird, desto grösser, radikaler und fanatischer ist die Anhängerschaft der Belogenen. Wenn die Lüge genügend oft und intensiv genug betrieben wird, verschwindet im Bewusstsein der Menschen immer mehr die Fähigkeit zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. „Alles ist nur relativ. Es wird eh nur gelogen…“ heißt es. Die Begriffe „Political Correctness“ und „Gutmenschen“ werden zum Schimpfwort einer perversen und Putin-verfallenen Leitkultur neuer Generationen von Wutbürger. Es schließt sich der Kreis des populistischen Wahnsinns. Die Schatten der Vergangenheit werden lebendig.
Neuerdings ganz eminent auch in den USA, wo Donald Trump unter vergleichbaren Voraussetzungen und mit vergleichbaren Methoden gerade zum Präsidenten gewählt worden ist. Mit unabsehbaren und, wie es sich immer mehr zeigt, dramatischen Folgen. Hinter diesem Machtwechsel darf man durchaus führende Hand des russischen Geheimdienstes annehmen. Die Sicherheitsdienste CIA, FBI und NSA sind sich mittlerweile einig, dass der russischen Geheimdienst, sogar Wladimir Putin persönlich, von Moskau aus die entscheidenden Cyberangriffe steuerte – mit der Absicht, den Wahlausgang zum Vorteil von Donald Trump zu beeinflussen. Neuerdings wurde außerdem ein USA-Elektrizitätswerk ebenfalls von Seiten der russischen FSB erfolgreich gehackt. Dadurch könnte im Ernstfall sogar jederzeit die lebenswichtige Stromversorgung des Landes außer Betrieb gesetzt werden. In Kontrast dazu einen Twitter-süchtigen Neu-Präsidenten, damit beschäftigt über dieses Medium Nettigkeiten zu Putin auszutauschen, statt dessen sich aber chronisch verweigert die Realität zu stellen und bis vor wenigen Tagen nicht einmal bereit war sich über die Ernst der entstandenen Sicherheitslage seinen Sicherheitsdiensten auch nur anzuhören.
Die ungeheuerliche Frage die weltweit für das Jahr 2017 gestellt werden muss: Welches Land ist das nächste Opfer russischer Einflussnahme?
Die Propagandawelle russischer Machart läuft bereits lautstark auf Hochtouren in den zahlreichen Medien der Putintreuen Netzwerke. Daniele Gansers Beitrag dazu ist offenkundig und wird frenetisch bejubelt. Zu seiner Entlarvung reicht eigentlich schon ein Blick ins Inhaltsverzeichnis der neuerdings von ihm veröffentlichten anti-amerikanische Hetzschrift „Illegale Kriege“. Da soll dem Leser offenbart werden, wer angeblich der große Kriegstreiber auf dieser Welt ist: Das Imperium Amerika… Aber ja, natürlich!
Es braucht nur ein wenig geschichtliches Grundwissen, einen Blick auf die Weltkarte und ein Mitverfolgen der Tagesaktualität (aber bitte nur die „Mainstream“ Medien!) um festzustellen wer gegenwärtig und in der Vergangenheit der neueren Geschichte nach Ablauf des Zweiten Weltkrieges, der wirkliche Imperial-Macht und Kriegstreiber ohnegleichen war und ist. Nur als Beispiel in der Aktualität sollten die massiven und menschenverachtenden Kriegsverbrechen des Kreml-Diktators in Syrien genannt werden. Zum Ausbau der russischen Machtposition weltweitund zur Destabilisierung und Auflösung der Bündnisse des verhassten Westens. Im Hintergrund steht dabei die Wahnvision eines von Russland gesteuerten Eurasien!
Genau diese Voraussetzungen der Allgemeinbildung fehlen offenbar weitgehend bei so manchen Vertreter des heutigen „homo anthroposophicus“. Sie werden dadurch zu unwissenden „Opfern“ und naiven Anhängern moderner Propaganda. Oder ist es tatsächlich eine ideologische Verblendung postfaktischer Art, heute ohnehin weit verbreitet, in einer unheiliger Allianz mit der altbewährten Arroganz und stramme Überheblichkeit der eigenen, von Verschwörungsmythen „durchgeistigten“ Weltanschauung? Wahrscheinlich trifft beides zu. Unwissenheit, Naivität verbunden mit einer Portion geistig verblendeter Überheblichkeit.
Auch die Kontroverse um den Geschichtslehrer Heinz Mosmann sollte gerade auch in diesem Zusammenhang gesehen werden! Verbunden mit ihrer Auswirkung auf Generationen von Waldorfschülern, die eine verzerrte Darstellung von Geschichte und Gesellschaft für ihren Lebensweg vermittelt bekommen!
Eine brandgefährliche Mischung braut sich da zusammen im postfaktischen Zeitalter des 21. Jahrhunderts. Fakten, Tatsachen, Argumente, alles was beiträgt zur Aufklärung, werden verdreht und verdrängt von dumpfen Gefühlen und teilweise offensichtliche Lügen von Heilsversprechungen neuer Verführer.
Nachtrag I: Das (Un)Wort des Jahres 2016 ist „Postfaktisch“
Die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) hat das am 9. Dezember 2016 bekannt gegeben. Die Jury, zusammengesetzt aus dem Hauptvorstand der Gesellschaft sowie den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, wählte aus rund 2000 Belegen zehn Wörter und Wendungen:
„…die den öffentlichen Diskurs des Jahres wesentlich geprägt und das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben sprachlich in besonderer Weise begleitet haben. Nicht die Häufigkeit eines Ausdrucks, sondern seine Signifikanz bzw. Popularität stehen bei der Wahl im Vordergrund: Auf diese Weise stellen die Wörter eine sprachliche Jahreschronik dar, sind dabei jedoch mit keinerlei Wertung oder Empfehlung verbunden. Das Kunstwort postfaktisch, eine Lehnübertragung des amerikanisch-englischen »post-truth«, verweist darauf, dass es in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen heute zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geht. Immer größere Bevölkerungsschichten sind in ihrem Widerwillen gegen »die da oben« bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen bereitwillig zu akzeptieren. Nicht der Anspruch auf Wahrheit, sondern das Aussprechen der »gefühlten Wahrheit« (»feel true«) führt im »postfaktischen Zeitalter« zum Erfolg…“
Da haben uns anscheinend die Schatten der dunklen Hintermänner der angloamerikanischen Bruderschaften auch noch das postfaktische Zeitalter mit einem Trump(f) als „bad joker“ verpasst.
Daniele Ganser lässt grüßen!
Nachtrag II (3.3.2017)
Eklat in einer Arena – Entzauberte Verschwörungswelt eines Friedensforschers
Eine Dokumentation mit Kommentaren von bobby
Zu Daniele Ganser und Verschwörungen gab es in den letzten Tagen mehrere Medienartikel und 2 sehenswerten und vielsagende Sendungen im öffentlichen Schweizer Fernsehen.
Zur Information: Die Sendungen „Arena“ und „Einstein“ gehören zum Besten was die SFR zu bieten hat, mit entsprechenden Höchst-Einschaltquoten. Da ging es ums Ganze für Ganser vor einem Millionenpublikum.
Die Weblinks befinden sich weiter unten:
Watson, 25.02.2017:
„Nicht die Wahrheit“: Jonas Projer stellt Verschwörungstheoretiker Ganser bloß & Die Sendung dazu im Schweizer Fernsehen „Arena“: „Trumps Krieg“
Der Eklat um Daniele Ganser
Freitag, 24. Februar 2017, 22:25 Uhr
Dauer: 70:01 Minuten, mit Untertitel
„…Wie glaubwürdig sind die Medien? Trumps Kriegserklärung an die Pressevertreter war Anlass genug für die „Arena“, die Gretchenfrage zu stellen. Im Zentrum stand dann aber nicht der Zustand der Medien, sondern die Glaubwürdigkeit des umstrittenen Historikers Daniele Ganser.
Daniele Ganser wird sich gewünscht haben, niemals in diese „Arena“ gekommen zu sein. 20 Minuten alt war die Sendung, und der erste Pulverdampf nach dem Schlagabtausch zwischen den beiden Selbstdarstellern Claudio Zanetti (Nationalrat SVP und Twitter-Agitator) und Roger Schawinski (Radiopionier und Narzissmus-Experte) verzog sich langsam, als Moderator Jonas Projer den Historiker Daniele Ganser eiskalt erwischte: „Herr Ganser sagt nicht die Wahrheit…“
Ganser verstrickt sich hoffnungslos in Widersprüche, die der Historiker nicht auflösen konnte – und die ihm zum Verhängnis wurden. Widersprüche bezüglich seines persönlichen Mailverkehrs und seine Twitter- Äußerungen zu der Sendung „Einstein“ (Siehe unten) wo seine Forschung zum Einsturz des WTC7 als Verschwörungstheorie abgetan wurde. Immer wieder plädiert „der studierter Historiker, selbsternannter Friedensforscher, fremdbetitelte Verschwörungstheoretiker und Maniker dafür, unvoreingenommene Untersuchungen zum Einsturz des WTC 7 durchzuführen, mit einer Hartnäckigkeit, die an einen Getriebenen erinnert“.
Ab 9:40-25:00
Es ist schon erschütternd zu sehen wie Ganser entlarvt wird. Mehr als peinlich für ihn ist seine Unfähigkeit mit kritischen Fragen umzugehen, die ihm ganz offensichtlich missfallen. Damit wird er von Seiten der Community anthroposophischer und sonstiger Adepten normalerweise nicht konfrontiert. Da verliert er teilweise sogar die Fassung und kann seine intolerante Gesinnung nicht verbergen. Er zeigt in der Diskussion eine kleinliche, eine rechthaberische Getriebenheit mit fast schon pubertären Zügen. Es fehlt ihm dabei jegliche Spur wissenschaftlicher Souveränität.
Ab 38:00, 40:45, 47:30, 60:00
Es kommt nur noch zu gelegentlichen, kürzeren Äußerungen von einer jetzt sichtlich gezeichneten Daniele Ganser.
Anfang der Sendung:
Daniele Ganser, umstrittener Publizist, wird vorgestellt:
„…Ich bin froh, dass ich mit meiner Community unverfälscht kommunizieren kann…“
Nach der Sendung:
„…Es gehe nicht an, ihn als umstrittenen Historiker und Verschwörungstheoretiker zu bezeichnen…“, erklärte Ganser. „…Er überlege sich entsprechende Schritte…“
Weiter wollte sich Ganser nicht äußern: „…Der Skiurlaub stünde vor der Tür…“
Teilnehmer der Sendung :
Moderation: Jonas Projer
Zwei Gäste, die Medien produzieren:
Roger Schawinski, Journalist und Medienpionier, Narzissmus-Experte
Karin Müller, Chefredakteurin Telebasel
Zwei Gäste, die den Medien misstrauen:
Claudio Zanetti, Nationalrat SVP (AfD-naher, teilw. populistischer Schweizer Volkspartei) und Twitter-Agitator
Daniele Ganser, Publizist („Friedensforscher“ und „Verschwörungstheoretiker“)
Zwei Gäste, die Medien beaufsichtigen:
Markus Spillmann, Präsident Stiftungsrat Schweizer Presserat (Ex-NZZ-Chefredakteur )
Vincent Augustin, Präsident Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI)
Schweizer Fernsehen „Einstein“
„Die Anatomie von Verschwörungstheorien„
Donnerstag, 26. Januar 2017, 21:00 Uhr
Dauer: 40:43 Minuten, mit Untertitel
Zur Sendung:
„…Einst waren sie eine Randerscheinung, doch heute sind Verschwörungstheorien mitten in der Gesellschaft und Politik angekommen. „Einstein“ zeigt, wie sie funktionieren, warum sie so attraktiv sind und welche Rolle das Internet bei der Verbreitung spielt. Wir blicken in die Geschichte der Verschwörungstheorien und spannen den Bogen zur Gegenwart. Mit einer Sendung über die Entstehung und die Macht von Verschwörungstheorien…“
Im Zentrum der Sendung Michael Butter, Professor für Amerikanistik an der Universität in Tübingen und Experte für Verschwörungstheorien.
Ab 7:50
Ganz ausführlich der Hauptbeitrag zu Daniele Ganser:
Der Schweizer Historiker Daniele Ganser ist eine große Nummer, wenn es um die Kritik an der offiziellen Erklärung der Terroranschläge vom 11. September geht. Ganser ist populär, seine Vorträge sind ausverkauft, Hunderttausende folgen ihm auf Youtube. Was sind seine Argumente, wie wurde er zum 9/11-Kritiker und ist er deswegen ein Verschwörungstheoretiker?
Ab 25:50
Das Prinzip der „Confirmationbias“ (Bestätigungsfehler)* im Internetzeitalter:
Die psychologische Bestätigungsfalle der Informations- und Kommunikationsfilterblasen im Internet.
Dabei die Neigung, Informationen so auszuwählen, zu ermitteln und zu interpretieren, dass diese die eigenen Erwartungen erfüllen. Durch die dauernde Wiederholung und die Vermeidung sonstiger Infoquellen, wird gar nicht bemerkt, wie sich dadurch die eigene Meinung korrumpiert im Sinne einer nicht-faktenorientierter, dumpfer, unkritischer und manipulativer „gefühlter Wahrheit“. Ob wahr oder falsch wird dabei ganz unerheblich in der postfaktischen Welt „alternativer Wahrheiten“. Die „alternativen Medien“ machen sich somit der menschlichen Skepsis, die Komplexität der Welt und die schnelle Vernetzung zunutze um Menschen zu verunsichern und im manipulativen Sinne zu beeinflussen.Meistens auf Kosten von anderen Menschen und Menschengruppen:
Ab 32:30
Bis heute ein Besteller und ein zentraler Baustein bösartigsten Verschwörungsdenkens sind die „Die Protokolle der Weisen von Zion“ und derdamit verbundenen Glauben an einer „jüdischen Weltverschwörung“ in Nationalsozialistischer Vergangenheit. Unbeeindruckt von den Verbrechen dieser Zeit gehören die Protokolle heute mittlerweileweltweit wieder zur Tagesordnungund dienen als Legitimation menschenverachtenden Denkens in völkischen und rechtsesoterischen Kreisen.
Quellen zum vorherigen, in Textreihenfolge:
Watson, 25.02.2017:
„Nicht die Wahrheit“: Jonas Projer stellt Verschwörungstheoretiker Ganser in Eklat-„Arena“ bloß
Die Sendung dazu im Schweizer Fernsehen „Arena“: „Trumps Krieg“
Der Eklat um Daniele Ganser
Freitag, 24. Februar 2017, 22:25 Uhr
http://www.srf.ch/sendungen/arena/trumps-krieg-2
Schweizer Fernsehen „Einstein“:
„Die Anatomie von Verschwörungstheorien“
Michael Butter & Daniele Ganser
Donnerstag, 26. Januar 2017, 21:00 Uhr
https://www.srf.ch/sendungen/einstein/die-anatomie-von-verschwoerungstheorien
FAZ, 23.02.2017:
„Kopp-Verlag – Auf dem Heimatplaneten für rechtsextreme Ufologen“
Zu Daniele Ganser
*
„Confirmation bias“ (Bestätigungsfehler):
https://de.wikipedia.org/wiki/Best%C3%A4tigungsfehler
http://www.decisions.ch/publikationen/confirmation_bias.html
Nach der Sendung:
Hintergründe zum Eklat Daniele Gansers in der „Arena“Sendung „Trumps Krieg„:
(von Freitag, 24. Februar 2017, 22:25 Uhr)
„Ziel ist es darzulegen, dass wir dringend und schon lange eine Debatte über das Imperium USA und die Kriegslügen in den Massenmedien brauchen“
So begründet Daniele Ganser auf Facebook seine eigene verschwörungstheoretische Agenda bei der Teilnahme an der Gesprächsrunde am 24. Februar 2017. Abweichend vom eigentlichen Thema der Sendung: Trumps Krieg – Die Auseinandersetzung um klassischen Medien („Mainstream Medien“) und Social Media in Amerika und in der Schweiz. Ganser nutzt das öffentliche Podium eines Millionenpublikums der SFR um sich als Wissenschaftler und als selbsternannten „Friedensforscher“ mit seine „Forschungsresultate“ zu präsentieren („Dialog ist wichtig“) und stellt sich dadurch gezielt im Mittelpunkt der Sendung. Er sieht sich von der „Lückenpresse“ der SFR als Verschwörungstheoretiker unfair angegriffen und fühlt sich als Historiker diffamiert.
Hintergrund dabei ist die Sendung „Einstein“, gesendet am 26.01.2017, ebenfalls vom SRF. Thema dieser Sendung war „Die Anatomie von Verschwörungstheorien“. Durch seine Teilnahme will er, so Ganser wörtlich, die SRF „eine zweite Chance“ geben, obwohl „man vorher nie weiß, in welche Richtung sich die Debatte entwickeln wird und ob man als Wissenschaftler seine Forschungsresultate auch wirklich präsentieren kann“
Zur Sendung „Einstein“ vom 26.01.2017:
Schon im Vorfeld dieser Sendung gab es eine telefonische Korrespondenz zwischen Daniele Ganser und Peter Höllrigl, Redaktionsleiter von „Einstein“. Ganser dazu auf Facebook:
„Ich hatte Peter am Telefon vor der Sendung erklärt, dass „Verschwörungstheorie“ ein Kampfbegriff sei und nicht zu einer sachlichen Untersuchung von 9/11 beitrage, er müsse WTC 7 bringen in der Sendung. Das hat Peter dann auch gemacht.“
Direkt nach der Sendung vom 26.01.2017, 21:00-21:45 Uhr schreibt Ganser an Peter Höllrigl privat per E-Mail um 21:52 Uhr:
„Ich fand den Teil zu 9/11 und WTC7 fair und sachlich. Danke.
Der Mix mit „Klimalüge“ und Protokolle hingegen fand ich schlecht.“
Am nächsten Tag, am 27.01.2017, 13:14 Uhr, äußert sich Ganser allerdings in Widerspruch dazu öffentlich gegenüber seiner Community auf Twitter:
„Der Begriff <Verschwörungstheoretiker> ist ein Kampfbegriff. Er taugt nicht, um den Einsturz von WTC7 zu erklären. Er wird von jenen verwendet, die nicht wollen, dass 9/11 neu untersucht wird, trotz der vielen offenen Fragen.“
„Für das SRF ist kritische Forschung zu WTC7 = Verschwörungstheorie. Diffamierung statt Aufklärung. Schade! „
Er widerspricht damit seine Äußerung vom Vortag um 180 Grad und bezogen auf den Themen „9/11 und WTC7“, dessen Darstellung er ein Tag vorher als „fair und sachlich“ qualifiziert hat.
In der Sendung „Trumps Krieg“ kommst es deshalb zum Eklat. Gansers ventiliert wie immer seine verschwörungstheoretische „Forschungsdarstellungen“. Sie werden von Seiten des Moderators Jonas Projer unterbrochen und er wird mit seinen widersprüchlichen Äußerungen bezüglich der Sendung „Einstein“ konfrontiert. Projer stellt die wissenschaftliche Seriosität Gansers als solche in Frage. Gansers wutentbrannte und rechthaberische Reaktionen im weiteren Verlauf der Sendung wirken da nur peinlich und untergraben zunehmend seine Glaubwürdigkeit.
Daniele Ganser reitet unentwegt herum auf seinen Status „Wissenschaftler und Friedensforscher“. Sie schützt aber nicht vor verschwörungstheoretischen Verirrungen. Auch wenn Ganser anscheinend nicht willens und nicht fähig ist, das einzusehen.
Moderator Jonas Projer fasst zusammen im Interview am Tag nach der Sendung:
„…Sie (die Sendung) hat mich als Moderator an meine Grenzen gebracht – ich habe wohl noch nie eine so turbulente «Arena» erlebt…
…Wir wollten Leute involvieren, die sich sonst eher in ihren eigenen medialen Räumen bewegen – Leute mit Ansichten wie Daniele Ganser, die sich in erster Linie in Foren und über obskure Online-Kanäle informieren. Unser Thema war ja das Misstrauen gegenüber den klassischen Medien. Ich habe manchmal den Eindruck, dass sich da ein Graben durch unsere Gesellschaft zieht. Ein Graben zwischen jenen, welche Vertrauen haben in Medien, Wissenschaft, Politik – und jenen, welche dem sogenannten «System» misstrauen. Wir wollten, dass in dieser «Arena» jemand mit am Tisch saß, der für diese misstrauischen Leute spricht…
…Aber ich habe ein Grundvertrauen in die Wissenschaft, in unsere Demokratien und, ja, in die Medien. Sonst könnte ich ja diesen Job nicht machen. Wer hingegen mutmaßt, dass hinter 9/11 oder hinter dem Attentat auf «Charlie Hebdo» womöglich eine Verschwörung steckt, der hat dieses Grundvertrauen nicht. Das war in meinen Augen die zentrale Konfliktlinie, der entscheidende Graben der Sendung…
…Wir sollten mehr Inhalte konsumieren, in denen wir mit anderen Ansichten konfrontiert werden, und weniger im eigenen Saft der personalisierten Facebook-Timeline schmoren. Klar, das ist angenehm, da ist man zu Hause, da fühlt man sich wohl. Da teilen sogenannte Freunde Inhalte mit einem, die die eigene Weltanschauung bestätigen. Aber daraus sollten wir ausbrechen…
…Wenn wir das nicht machen, wenn wir uns nur noch in unseren Communities informieren und die klassischen Medien verkümmern lassen, dann hat die Demokratie ein Problem, davon bin ich überzeugt…“
Quellen der Hintergründe, chronologisch:
Daniele Ganser auf Twitter
27.01.2017
https://twitter.com/DanieleGanser/status/824953776280854528
Dr. Daniele Ganser auf Facebook
23.02.2017
Trumps Krieg – Arena (SRF)
24.02.2017
http://www.srf.ch/sendungen/arena/trumps-krieg-2
Stellungnahme zur Sendung – Arena (SRF)
24.02.2017
Jonas Projer auf Facebook
24.02.2017
https://twitter.com/jonasprojer/status/835255914965913600
Dr. Daniele Ganser auf Facebook
25.02.2017
https://www.facebook.com/DanieleGanser/posts/1354077571320387
Jonas Projer im Interview (Watson)
26.02.2017
Rezensionen zur Sendung, chronologisch:
(Kommentar von Daniele Ganser zu den Rezensionen:
Für mich ist es nach dem unfairen Angriff in der SRF Arena spannend zu sehen, welche Medien mich verteidigen und welche nachtreten. Die Verteidigung läuft vor allem in den Sozialen Netzwerken, dafür bin ich sehr dankbar. Und auf unabhängigen Blogs wie Propagandaschau (!!!) oder Friedensblick.)
2017.02.25 Dr. Daniele Ganser enthüllt unsauberes Zitieren der Fernsehsendung -Arena- (Friedensblick)
2017.02.25 TV-Kritik – «Arena» kurz vor dem Abbruch (Persoenlich.com)
http://www.persoenlich.com/tvkritik/arena-kurz-vor-dem-abbruch
2017.02.26 Arena – Konfuse Diskussion über eine E-Mail (Persoenlich.com)
http://www.persoenlich.com/medien/konfuse-diskussion-uber-eine-e-mail
2017.02.26 Attacke auf Daniele Ganser – SRF beherrscht die miesen Tricks der Propaganda (Propagandaschau)
2017.02.27 SRF Arena – Verschwörungs-Theoretiker gegen Lückenpresse (Kleinreport)
http://www.kleinreport.ch/news/srf-arena-verschworungstheoretiker-gegen-luckenpresse-86525/
2017.02.27 Verschwörungspraxis, live am Schweizer Fernsehen (Christoph-Pfluger)
http://www.christoph-pfluger.ch/2017/02/27/verschwoerungspraxis-live-am-schweizer-fernsehen/
Weblinks:
Weblink 01″Waldorfschule Filstal“:
https://waldorfblog.wordpress.com/2015/07/10/jebsen-goeppingen
Weblink02 „Ken Jebsen“:
https://correctiv.org/recherchen/neue-rechte/artikel/2016/12/30/medien-kenfm-ken-jebsen/
Weblink 03 „Im vollen Wortlaut und Zusammenhang“:
http://www.achgut.com/artikel/ich_weis_wer_den_holocaust_als_pr_erfunden_hat/
Weblink 04 „In diesem Briefwechsel“:
http://www.dreigliederung.de/kontroversen/2015-freies-geistesleben-und-verschwoerungstheorien
Weblink 05 „Lügenpresse“:
Weblink 06″Irma Kreiten“:
http://sochi2014-nachgefragt.blogspot.de/2014/11/daniele-ganser-und-sein-umfeld-iii.html
Weblink 07″In zusammengefaster Form auch hier“:
http://sochi2014-nachgefragt.blogspot.de/2014/12/rainer-rothfu-goes-querfront-tubinger.html
Weblink 08 „Sicherheitsdienste“:
https://www.dni.gov/files/documents/ICA_2017_01.pdf
Weblink 09″Inhaltsverzeichnis“:
http://d-nb.info/1098438604/04
Weblink 10″Postfaktischen“:
http://gfds.de/wort-des-jahres-2016/#postfaktisch
Weblink 11″Wort des Jahres 2016 ist: Postfaktisch“:
http://gfds.de/wort-des-jahres-2016/
Weblink 12″post-truth“:
https://en.oxforddictionaries.com/word-of-the-year/word-of-the-year-2016
Weblink 13″feel true“:
Weblink 14″Trump(f)“:
Christmas Cold Open: Alec Baldwin & John Goodman (SNL 17.12.2016)
https://www.youtube.com/watch?v=bzPHzmOQYek
Weblink 15″bad joker“:
https://i.ytimg.com/vi/ZWr2V_0GrzY/maxresdefault.jpg
(https://www.youtube.com/watch?v=ZWr2V_0GrzY)
*Name der „Redaktion“ bekannt.
„Erbitterte Schuldzuweisungen“: Die soziale Unterseite des Rassismus-Problems
„Erfreue dich dessen, was dir gewährt ist; entbehre gern, was dir nicht beschert ist! Dann kann Ahriman nicht an uns heran … das gibt die rechte Stimmung für den Esoteriker.“
– Rudolf Steiner, GA 266c, 177
Im letzten Artikel ging es um jüngere anthroposophische Sympathien für AfD und Co und die Kohärenz, mit der sich solche Positionen von den rassistischen und nationalistischen Phantasien Rudolf Steiners herleiten. Wie üblich gab es einige Reaktionen und selbstverständlich kreisten sie beinahe ausschließlich um meine Person, meine Motivation und die Gemeinheit, mich über diesen Zusammenhang auch nur zu äußern. Obwohl es inzwischen wirklich langweilig klingt, die uralte Gewissheit mitzuteilen: Bis heute wird die Verbindung von Anthroposophie und menschenfeindlichen Vorstellungen am liebsten denen zum Vorwurf gemacht, die sie aussprechen. Wie könne man nur sowas sagen? Das ist nicht verwunderlich (sofern die Anthroposophie als ultimative und unüberbietbar gute Position gesetzt ist), weist aber einmal mehr darauf hin, dass die eigentlichen Abstrusitäten dieses Milieus im Sozialen stattfinden. Rassismus, Nationalismus und Verschwörungswahn hin oder her. (vgl. Dass er Individualität und Freiheit fördert) Das letzte Urteil über die Steiner-Bewegung, ihren Erfolg und ihr Identifikationspotenzial wird sozialpsychologisch zu fällen sein, dieses wird die politischen Feindbilder der Anthroposophie jedoch einbeziehen müssen.
„Kritik ist ein schwieriges Feld im Waldorfbereich. Sie muss konstruktiv sein, Kritik um der Erkenntnis willen, um Missstände zu markieren, das gilt als wenig hilfreich, da es nicht unmittelbar Anleitungen für eine andere Praxis gibt. Wer also kritisiert, setzt sich dem Verdacht aus, nicht der gemeinsamen Sache dienen zu wollen und ungeheuer schnell greift die Unterscheidung in innen und außen, Freund und Feind, für uns und dagegen.“ (Valentin Hacken)
Die narzisstische Kränkung durch die Diagnose rechter Potenziale führt dementsprechend bloß dazu, die Diagnose abzuspalten und bequem mit dem Etikett „dagegen“ zu versehen. Diese Einordnung jeder beliebigen Aussage nach einem feindsematischen Schema hat ihr Gegenstück in der anthroposophischen Ideenpolitik: Geisteswissenschaft vs Materialismus, Erzengel Michael vs Ahriman, Mitteleuropa vs Angloamerika. Die „gemeinsame Sache“ ist der Volksorganismus, ihr Manichäismus die Urgeste des Antisemitismus (wobei Steiner eben nicht die Juden, sondern die englischsprachige Welt als das ganz Andere der eigenen Herrschaftsphantasien konzipierte, welche er bloß im imaginierten Feindbild zum Ausdruck brachte). Genau diesem bipolaren Reflex- und Reaktionsschema verdankt sich auch die Subsumierung von Anthroposophieforschern wie Christian Clement und Helmut Zander unter konspirationsideologische Geschichtspunkte. (vgl. Willy, Thomas und der Wolf im Schafspelz) Solche Schuldabwehr, die immer bloß 0 oder 1, immer bloß Angriffe oder aber konstruktive Beiträge zur eigenen Sippschaft zu registrieren in der Lage ist, ist zumindest so weit funktional, dass man sich die Fähigkeit zur politischen Reflexion abschneidet und eben beispielsweise bequem über diesen blöden Blog diskutiert statt über neurechte Anthroposophen und das Fortleben allzu alt-rechter Anthroposophie in der Gegenwart.
Im Sozialleben der anthroposophischen Institutionen sind natürlich komplexere Verdrängungs- und Projektionsmechanismen nötig, um mit den realen Problemen umzugehen, an Waldorfschulen zum Beispiel: Einerseits arbeiten fast alle professionellen Akteure aufgrund der Prämisse, dass man es mit der besten aller möglichen Schulen zu tun und sich im Zweifelsfall nicht genug in „die Menschenkunde“ Steiners vertieft habe, was die nüchterne Feststellung der tatsächlichen Lage erschwert. Der Schulspsychologe und Waldorf-Vater Gerhard Vilmar berichtete von einem Szenario, dass beinahe jeder Waldorf-Insider kennt, wie „sich Lehrer und Eltern … erbitterte Auseinandersetzungen mit wechselseitigen Schuldzuschreibungen“ liefern. Heiner Ullrichs jüngste Waldorf-Einführung erklärt die vorprogrammierten Konflikte als solche zwischen hochgradig „bildungsorientierten“ Eltern und dem gänzlich anders ausgerichteten anthroposophischen Habitus der Lehrkräfte. Hinzukommen dürften allerdings die üblichen Lagerbildungen, Machtkämpfe und ein gewisser Hang zur Selbstausbeutung mit den entsprechenden nervlichen Folgen, der für die ältere Waldorflehrergeneration geradezu sprichwörtlich ist.
Passend dazu hatte ich am 9. Juni 2016 das Vergnügen, in Minden einen Kurzvortrag zu Rudolf Steiners Rassenlehre zu halten. An der Mindener Waldorfschule wurde im letzten Jahr ein rechter Waldorflehrer vor die Tür gesetzt – aber erst, als der Waldorf-Dachverband („Bund der Freien Waldorfschulen“) drohte, die Schule andernfalls auszuschließen. Seine Kinder besuchen, wie mir erzählt wurde, die Schule wohl noch immer, was kein Argument für Sippenhaft sein soll, sondern anschaulich machen, wie akut die Konflikte und Konfliktlinien vor Ort weiterbestehen. Seit einem Jahr ist die Schule mit einer örtlichen Beratung gegen Rechtsextremismus im Gespräch, welche die gestrige Veranstaltung organisiert hatte. Nach zwei Vortrags-„Inputs“ standen zwei Vertreter der einschlägigen Waldorf-Landesarbeitsgemeinschaft vor einem schäumenden Saal von farbenfroh gekleideten Waldorfeltern Rede und Antwort und waren um Antworten teilweise durchaus verlegen.
Im Vergleich zu früheren Veranstaltungen konnte ich einmal mehr feststellen (vgl. Die Scheidung der Geister), dass sich die Rhetorik einiger (eben zumindest der anwesenden) Anthroposophen und Waldorf-Vertreter verschoben und transformiert hat. Früher hätte man nach dem ausführlichen Vorlesen auch noch der widerlichsten Steiner-Stelle diskutieren müssen, ob das nicht „aus dem Kontext gerissen“ sei oder sich diversen der erwähnten Feindbestimmungen ausgesetzt gesehen. Die in Minden kommunizierte Haltung war defensiv, man gestand, hier müsse „noch gearbeitet“ werden, ja man sei natürlich schon längst am arbeiten, verwies etwa auf die „Stuttgarter Erklärung“ und die „Reichsbürger“-Broschüre, interne Arbeitsgruppen seien gebildet worden, usw. Dieser status quo sagt zwar noch gar nichts, wie zahlreiche der Anwesenden mit Recht monierten, die sich konkretere Aussagen und Schritte wünschten. Diskutiert wurde sehr kontrovers, durch welche Strukturen man sich wenigstens rechte Lehrer vom Leib halten könne, ob Gesinnungstests für Lehrer überhaupt geboten oder nicht selbst Ausweis jenes Konformismus seien, den die Völkischen sich ja am sehnlichsten wünschen.
Doch überlagert wurde der Abend vom Schulklima: Eine ehemalige Schülerin meldete sich und erzählte mit scharfer Stimme, sie habe vorab auf den Hintergrund des Neonazi-Lehrers aufmerksam gemacht. Doch das Vertrauen der Kollegen war offenbar stärker. Eine Mutter meldete sich an anderer Stelle – laut eigener Aussage „mit geschwollenem Kamm“ – und erzählte, das sei doch alles Teil größerer Probleme: Eine Lehrkraft habe ihr als Alleinerziehender die Fähigkeit abgesprochen, ein Kind wirklich vollwertig erziehen zu können. Eine weit nicht auf einen rechten Lehrer reduzierbare Unzufriedenheit brach sich Bahn, und wieder die wechselseitigen Schuldzuweiseungen. Im Nachgang erzählte mir ein Elternpaar, das jüngste Kind hätten sie eben auf ein Gymnasium statt bei der Waldorfschule angemeldet. Hier wird deutlich, dass die Form der waldorfinternen Diskussionen das größte Problem darstellt, größer jedenfalls als der philologische Befund zu Steiners Rassebegriff. Die Formen der anthroposophischen Gemeinschaftsbildung und ihre Tücken werden dadurch jedoch nicht politisch progressiver. Ein Diskutant aus dem Publikum sprach gar von sich aus an, dass die ideologischen Probleme sich nicht auf Steiners Rassenlehren beschränken lassen: „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“, die Rhetorik des „ganzen Menschen“ und das organizistisch-romantische Denken sind starke und bislang recht zuverlässige Verbindungen von Anthroposophie und völkischen Sehnsüchten. Das alles sind Fragen, mit denen ein Klärungsprozess anheben müsste – die gestrige Veranstaltung jedoch war als Abschluss eines solchen Prozesses vorgesehen, wurde jedenfalls anfangs als solche vorgestellt, so dass man nicht so naiv sein sollte, anzunehmen, hier würden sich irgendwann Lösungen für die angerissenen Probleme ergeben. Wie auch – sie würden die Waldorfpädagogik sprengen: Sich kritisch mit dem ganzheitlich-organischen Ansatz zu befassen und die regressiven Implikationen zu realisieren, zu denen er (wie unfreiwillig auch immer) hintreibt, hätte die konzeptionelle Selbstzerstörung der Waldorfschulen zur Folge. Es sei denn, deren esoterische Subjektivität erlangte die Fähigkeit, die sie am meisten verabscheut: Die Widersprüche und deren Hässlichkeit auszuhalten und kritisch ins Bewusstsein zu tragen, ohne die Illusion, dass man das angestrebte heile Ganze bereits vor sich habe.
Allerdings zeigt sich, dass sich die Waldorfszene entwickelt, dass an wunden Punkten die alte apologetische Rhetorik nicht mehr funktioniert und eine der unumgänglichen Vergangenheitsbewältigung an ihre Stelle tritt. Die hat noch ganz andere Probleme, welche die deutsche Gesamtgesellschaft wiederum seit Jahrzehnten beschäftigen, aber immerhin. Waldorf-immanent betrachtet scheint ein gewisser Fortschritt stattzufinden. Konsens ist er nicht. Nachdem Henning Kullak-Ublick, Pressesprecher der Waldorfschulen, die Schulen im Juli 2015 davor warnte, rechte Demagogen einzuladen (das war akut mehrfach vorgekommen, vgl. Ein kosmisches Komplott, Hinter dem Mond hervor), erhob sich ein Sturm der Empörung – freilich nicht über rechte Demagogen, sondern Kullak-Ublick. Der berichtete kurz darauf von einem Treffen mit dem Verschwörungspabst Ken Jebsen, den er als engagiert, aber ein bisschen fanatisch erlebt haben will. Das zeigt, vor welchem Konsens sich eine Verschwörungsideologie-kritische Position im Waldorfbereich rechtfertigen muss, also: woher hier der politische Wind weht. Aber. In Minden und an einigen anderen Orten sieht das anscheinend etwas anders aus. Wer kein Zyniker ist, muss den aufschreienden Stimmen in dieser Bewegung Glück wünschen. Vorläufig lässt sich an der anthroposophischen Vergangenheitsbewältigung aber höchstens eines lernen: dass, wer sich den Problemen der Geschichte am weitesten enthoben glaut, umso unbewusster zu ihrem Vollstrecker macht.
Nachtrag: Einen weiteren Bericht zur Veranstaltung in Minden schrieb Michael Mentzel („Themen der Zeit“), und zwar mit einer nach meiner Erfahrung ganz ungewöhnlichen Sachlichkeit. Dort gibt er ausführlich die Positionen der beiden Waldorfvertreter wieder und geht auch auf den Vortrag von Karl Banghard („Freilichtmuseum Oerlinghausen“) ein, der am selben Abend sehr anschauliches Material zum „Germanen“-Kult von Nazis und Neonazis präsentierte. Mentzels Bericht gibt allerdings dem Publikum und der eigentlichen Diskussion wenig Raum, während er sich u.a. ausführlich zu meinem Vortrag ausbreitet. Das Vortragsthema, zu dem ich von den Organisatoren eingeladen worden war – Steiners Rassenlehre–, wird unter Mentzels Bearbeitung natürlich zu meiner ganz persönlichen Angelegenheit, die er deplatziert findet: „Martins wäre aber nicht Martins, wenn er nicht auch auf die Steinersche ‚Rassentheorie‘ zu sprechen käme und an dieser Stelle wird er vermutlich für die meisten Anwesenden recht kryptisch.“ Als wäre Steiner, der jeden Satz dreimal in unterschiedlichen Formulierungen wiederholt und jede Beschreibung öfter phänomenologisch umformt, unfähig, sich auszudrücken, als wäre es entsprechend unmöglich, ihn vorzulesen. Ebenso „kryptisch“ findet Mentzel aber auch, dass einer der anwesenden Waldorf-Vertreter die Wesensglieder-Lehre und die drei Körper-Systeme Steiners ansprach. Mentzel scheint also weniger die Rassentheorie als jeden klar angesprochenen Steinerschen Gedanken für kryptisch zu halten. Die Versuche des besagten Waldorfaktivisten und meiner Wenigkeit, Steiner zu paraphrasieren, belegt Mentzel mit dem Wort „salopp“. Vielleicht ist das ein weiteres Problem im oben angesprochenen Sinne: Steiner ist für viele Anthroposophen jemand, den man ausführlich und langsam im Hinterzimmer liest, mit gedämpfter Stimme bespricht, im Herzen trägt und tastend im Alltag bewährt. Er bleibt somit Arkanwissen, dessen öffentliche Diskussion gilt als heikel bzw. eben „kryptisch“ und „salopp“. Auch hier werden Anthroposophen andere Lösungen finden müssen. Steiners Zitate (so Mentzel über diejenigen, die ich in Minden vorlas) seien „schwer verständlich“, „hochproblematisch“ könnten „Missverständnisse auslösen“. „Aus dem Kontext gerissen“ lässt grüßen. Doch selbst Mentzel verteidigt die entsprechenden Vorstellungen Steiners nicht. Selbst bei „Themen der Zeit“, wo Verschwörungsideologie boomt, will man die Rassenanthropologien offenkundig nicht mehr rechtfertigen. Das scheint mir das beste Argument dafür zu sein, Steiners Gedankengut weiter öffentlich darzustellen.
Waldorf heute: Vom „Eingeweihtenwissen“ zum „akademischen Diskurs“? Ein Interview mit Jost Schieren
Die „Alanus-Hochschule für Kunst und Gesellschaft“ (Alfter) ist eine akkreditierte Hochschuleinrichtung mit anthroposophischen Wurzeln. Keineswegs alle Professuren sind mit Anthroposophen besetzt. Andererseits gibt es einen Studiengang Eurythmie sowie eigene Lehrstühle für Anthroposophie oder Waldorfpädagogik, durchaus mit dem Ziel, diese akademisch anschlussfähig zu machen. Derzeit läuft beispielsweise ein Graduiertenkolleg Waldorfpädagogik an, federführend ist hier Prof. Jost Schieren. Letzterer widersprach neulich dem Mainzer Erziehungswissenschaftler Heiner Ullrich, der in einer neuen Waldorf-Einführung ausführte, die Anthroposophie sei die dogmatische Grundlage der Waldorferziehung. Gegen diese kaum überraschende These verwahrte sich Schieren mit Nachdruck – Grund genug, einmal nachzufragen, wie man das Verhältnis von Anthroposophie und Pädagogik in Alfter versteht. Jost Schieren war so freundlich, ausführlich zu antworten.

Logo der Alanus-Hochschule (Quelle: Wikipedia)
Ansgar Martins: Herr Schieren, Sie sind Professor für Waldorfpädagogik. Ich unterstelle mal, Ihr Amt wird von dogmatischen Anthroposophen als akademische Verwässerung der Lehre Steiners und von Anthroposophiekritikern als Versuch verdächtigt werden, ebendiese Lehren unter dem Mantel des Akademischen zu vermarkten. Welche Probleme sehen Sie hinsichtlich der Vermittelbarkeit von Waldorfpädagogik und akademischen Wissenschaften?
Jost Schieren: Ihre Frage beinhaltet zwei Teile. Der eine Teil bezieht sich auf die inneranthroposophische Kritik an dem Bemühen, die Waldorfpädagogik wissenschaftlich zu verankern und zu etablieren. Solche Kritiken wurden vor zehn Jahren und mehr zu Beginn meiner Tätigkeit an der Alanus Hochschuleteils vehement vorgetragen, sind aber meines Erachtens inzwischen verstummt oder werden nur von einigen wenigen, vermutlich recht dogmatisch gesinnten Persönlichkeiten vorgetragen. Insgesamt ist in der Waldorfbewegung und auch innerhalb der anthroposophischen Szene eine viel größere Bereitschaft gewachsen, in einen Dialog und in eine Diskussion mit den akademischen Wissenschaften zu treten, so dass die genannte Kritik an diesem Weg aus meiner Sicht als eher marginal zu bewerten ist.
Der zweite Teil der Frage, nämlich wie Waldorfpädagogik und akademische Wissenschaften vermittelbar sind, hat tatsächlich eine hohe Relevanz. Den Weg, den meine Kollegen und ich beschreiten, ist derjenige, dass wir einen auch nach heutigen Standards vertretbaren wissenschaftlichen Umgang mit der Waldorfpädagogik und mit den entsprechenden Aussagen Rudolf Steiners einfordern. Dies schließt zum einen die quantitativen und qualitativen methodischen Verfahren der empirischen Sozialforschung im Umgang mit der Praxis der Waldorfpädagogik ein und zum anderen geht es auch um eine hermeneutische Erschließung zentraler Aussagen Rudolf Steiners zur Waldorfpädagogik im Sinne einer Grundlagenarbeit. Bei Letzterem geht es darum, Steiner aus der Ecke einer nebulosen Esoterik herauszuholen und zu zeigen, wie zentrale Thesen beispielsweise der pädagogischen Anthropologie, der Entwicklungspsychologie und der Didaktik der Waldorfpädagogik tatsächlich zeitgemäß formuliert und diskutiert werden können. Das heißt natürlich nicht, dass diese Thesen dann überall Akzeptanz finden, damit kann man nicht rechnen. Aber es wird eine Möglichkeit geschaffen, dass ein Diskurs mit der akademischen Wissenschaft auf Augenhöhe geführt wird. Allerdings liegt hier noch ein weiter Weg vor uns.
AM In einer Rezension haben Sie kürzlich Heiner Ullrichs Bewertung der Waldorfschulen als massiv anthroposophische Institutionen zurückgewiesen. Ich zitiere: „Eine gegenwärtige Waldorfpädagogik begreift die Anthroposophie als Methode und nicht als Inhalt. Das wissenschaftliche Ideal dieser Methode ist die Phänomenologie. Eine kritische Distanznahme zu allen anthroposophischen Inhalten und Aussagen Steiners ist unabdingbar. Die Anthroposophie wird durchgängig auf ihre pädagogische Relevanz und Anwendbarkeit überprüft. Es geht ferner um eine lediglich heuristisch zu erprobende und in einem hohen Maße selbstreflexive Art, mit Steiners Aussagen umzugehen.“ Was genau heißt das für den Umgang mit den einzelnen „menschenkundlichen“ bzw. inhaltlichen Äußerungen Steiners? Was bedeutet in diesem Rahmen Heuristik oder Phänomenologie? Und was „Distanznahme“?
JS Viele der Aussagen Rudolf Steiners beruhen seinem eigenen Anspruch gemäß auf so genanntem Eingeweihtenwissen. Ob das, was Steiner auf dieser Basis behauptet, stimmt oder nicht, entzieht sich damit unserer Beurteilung. Die gängige akademische Wissenschaft fällt daher das Diktum, dass es sich bei diesem Wissen um Mystik, Gnosis oder schlichtweg Spinnerei handele. Der Wissenschaftsrat bezeichnet dementsprechend die Waldorfpädagogik als eine „außerwissenschaftliche Erziehungslehre“. Viele Anthroposophen gehen mit den Aussagen Steiner umgekehrt so um, als handele es sich um „geoffenbarte Wahrheiten“ und meinen dann, darüber verfügen zu können bzw. sie schlimmstenfalls operativ einsetzen zu dürfen. Wenn ich von „Distanznahme“ spreche, so meine ich, dass wir uns des realen Erkenntnisabstandes zu Rudolf Steiners Aussagen bewusst sein müssen. Wir können in der Waldorfpädagogik nicht einfach über Steiners „esoterische“ Aussagen verfügen und sie operational einsetzen. Damit würden wir unser individuelles Einsichtsvermögen korrumpieren. Wir können die Aussagen Steiner, mögen sie richtig sein oder nicht, lediglich als Erweiterung unseres Beobachtungshorizontes, als Annahmen und als Denkmöglichkeiten verwenden. Konkret heißt dies beispielsweise bezogen auf das Konzept der Reinkarnation, dass es schlichtweg offen ist, ob Reinkarnation stattfindet oder nicht, denn das wissen wir nicht. Hier stoßen wir an unsere Erkenntnisgrenzen. Aber man kann sich fragen, welche Sichtweise auf den Menschen bietet das Konzept der Reinkarnation. Und da ist es nun interessant, dass der Gedanke der Reinkarnation ein bestimmtes Individualitätsverständnis beinhaltet, das es erlaubt, den Menschen nicht als irgendwie allein fremdbestimmtes Wesen (Gene, Sozialisation, Gehirnprägungen usw.) zu denken, sondern ihn als im Kern als auf sich selbst gegründet zu begreifen. Wenn ich nun als Pädagoge vor ein Kind trete, so ist es etwas vollständig anderes, ob ich die Persönlichkeit des Kindes als das alleinige Resultat von Vererbung und Umgebung ansehe, oder ob ich denke, dass das Kind und der Jugendliche zudem eine eigene auf sich selbst begründete Persönlichkeit in sich tragen, die auch nicht irgendwie zufällig entstanden ist. Denn das Reinkarnationskonzept Steiners schließt ja diesen Gedanken ein, dass der Mensch seine eigenes Wesen selbstverantwortlich durch eine Reihe von Verkörperungen selbst bildet. Hier muss ich als verantwortlicher Pädagoge allerdings innehalten. Es geht nicht um Inkarnationsforschungen oder dergleichen, sondern lediglich darum, die Freiheit des Menschen konsequent zu denken und dann im eigenen pädagogischen Handeln, dafür einen entsprechenden Entwicklungsraum zu schaffen. Phänomenologie heißt in diesem Zusammenhang, dass der Pädagoge die Kinder und Jugendlichen sehr genau beobachtet und nicht mit vorgefassten Begriffen operiert.
AM Wie hätte in einer solchen Waldorfpädagogik die Entwicklung und Institutionalisierung von pädagogischer Innovation gegenüber Angaben und Annahmen Steiners abzulaufen
JS Viele konkrete waldorfpädagogische Konzepte sind naturgemäß zeitbedingt. Sie sind den politischen und gesellschaftlichen Zeitumständen geschuldet. Gerade in Deutschland gibt es eine starke Waldorftradition und es entsteht schnell der Eindruck, als würde man an den Grundfesten der Waldorfpädagogik rühren, wenn man einmal bestimmte Traditionen wie beispielsweise die achtjährige Klassenlehrerzeit in Frage stellt. Zum Glück hat sich die Waldorfpädagogik auch international sehr breit entwickelt. Ich habe den Eindruck, dass wir von diesen internationalen Entwicklungen, die eben zum Teil unter anderen gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Verhältnissen stattfinden, sehr viel darüber lernen können, welche neuen Wege Waldorfpädagogik beschreiten kann und soll. Besonders das Bemühen um eine interkulturelle Waldorfpädagogik wie sie z.B. in Mannheim und neuerdings auch in Hamburg stattfindet, halte ich für sehr zukunftsweisend.
AM Ist Waldorfpädagogik ohne Anthroposophie möglich? Und was heißt – wenn „ja“ oder „nein“ – in diesem Fall Anthroposophie?
JS Nein, die Anthroposophie bildet unzweifelhaft die Grundlage der Waldorfpädagogik, aber eben nicht wie Klaus Prange, Heiner Ullrich, EhrenhardSkiera und andere Erziehungswissenschaftler behaupten als dogmatisches Gedankensystem, das indoktrinierend und ggf. manipulierend den pädagogischen Prozess kontaminiert. Die Anthroposophie ist im Kern auf das Ideal des freien Menschen ausgerichtet. Diesen denkt sie nicht dualistischer Getrenntheit von den Welterscheinungen, sondern sie in einem monistischen Sinne den Menschen und dessen Freiheitsentwicklung als Teil des Weltgeschehens. Mit dieser Denkform, die an die Tradition des Idealismus und auch an die Romantik anknüpft, steht die Anthroposophie dem Mainstream eines positivistischen und eben auch dualistischen Wissenschaftsverständnisses gegenüber, das den Menschen nicht als autonomes Wesen, sondern letzten Endes alle seelischen und geistigen Qualitäten als Epiphänomene von materiellen Ursachen auffasst. Diese Position der Anthroposophie einer Orientierung an der Freiheitsentfaltung unseres Menschseins ist auch in der Waldorfpädagogik entscheidend. Insofern ist die Anthroposophie und ihr Menschenbild untrennbar mit der Waldorfpädagogik verbunden. Aber diese Position der Freiheit ist ja kein Dogma, sondern lediglich eine Entwicklungsperspektive, dem die Waldorfpädagogik im pädagogischen Handeln den Boden bereitet. Es liegt ja gerade im Begriff der Freiheit, dass sie nicht von außen erzwungen werden kann. Die Waldorfpädagogik schafft lediglich den Entwicklungsraum der Freiheit, aber dies auf sehr praktische Art und Weise. Dabei kommt es entscheidend auf die Lehrerpersönlichkeit an, nämlich ob er/sie im Sinne einer eigenen Schulung und Entwicklung selbst das Beispiel einer freien Persönlichkeitsentwicklung darlebt. Auch hierzu bietet die Anthroposophie zahlreiche Hilfsangebote der inneren Schulung.
AM Im Wissenschaftsbegriff Steiners ist auch ein hellseherischer Schulungsweg als Initiationsvorgang enthalten, der zur Schau höherer Welt- und Wesenszusammenhänge führen soll. Immer wieder beansprucht Steiner – etwa gegenüber der Geschichtswissenschaft und einigen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen – die Superiorität der durch höhere Einsicht in die Dinge gewonnenen Befunde. In diesem Sinne unterstreicht er in der „Allgemeinen Menschenkunde“, die „allein richtige“ pädagogische„Stimmung“ werde das Bewusstsein geben: „Hier in diesem Menschenwesen hast du mit deinem Tun eine Fortsetzung zu leisten für dasjenige, was höhere Wesen vor der Geburt getan haben.“ Wie gehen Sie im Rahmen Ihrer Arbeit mit diesem inner-esoterischen Wissenschaftsanspruch um?
JS Aus Steiners Perspektive ist dies eine nachvollziehbare Haltung. Hier gilt, was ich oben schon ausgeführt habe, dass es bei einer modernen Waldorfpädagogik weder um eine radikale Ablehnung noch um eine dogmatische Vertretung solcher Aussagen Steiners gehen kann, sondern sie müssen in einen angemessenen theoretischen Rahmen diskutiert werden. Die von Ihnen zitierte Aussage bezieht sich ja auf eine bestimmte pädagogische Haltung der Ehrfurcht vor dem Kind. Eine solche Ehrfurcht vor der Entwicklung des Kindes und Jugendlichen und die damit einhergehende Bescheidenheit und Zurückhaltung des Pädagogen hat eine große Tradition, die von Pestalozzi über Korczack bis Buber geht. In dieser Tradition steht die Waldorfpädagogik zweifellos. Hier wird auf eine religiöse Grunddimension des pädagogischen Handelns angesprochen, die für die Waldorfpädagogik sehr wichtig ist, die aber eben niemals argumentativ vertreten werden oder den Anspruch auf Wissenschaft machen kann.
AM Ein anderes Beispiel: Die Waldorf-Zeitschrift „Erziehungskunst“ berichtete 2011 von „Elementarwesen“ als realen Entitäten, die in der Natur wirken, mit Menschen kommunizieren und von ihnen zuweilen erlöst werden. Eine ganze Schar von Zwergen, Elfen und so weiter findet sich in der Tat nicht selten auf den „Jahreszeitentischen“ von Waldorfkindergärten und –grundschulklassen sowie in allerlei dort erzählten Geschichten. Klaus Prange nannte die Waldorfpädagogik deshalb eine „Weihnachtsmannpädagogik“: Wie man kleinen Kindern gegenüber den Weihnachtsmann einführt, arbeite auch die Steiner-Erziehung mit einer Reihe von christlichen Jahreszeitenfesten, Märchen- und Mythenfiguren. Die Frage nach deren realer Existenz bleibe schwammig und beunruhigend unklar bleibe. Wie lässt sich eine solche oszillierende Vorgehensweise wissenschaftlich ausweisen?
JS Man muss wohl unterscheiden, welchen didaktischen Wert auf der einen Seite Bilder, Mythen und Märchen haben und welche Bedeutung in einer religiösen und christlichen Erziehung liegt. Dies kann kurz gesagt ein berechtigter Ansatz sein, die Grundstimmung eines ganzheitlichen Weltbezugs zu pflegen. Auf der anderen Seite gehen mir viele waldorfpädagogische Zwergen- und Engel- und Märchenwelten zu weit, das ist fast so etwas wie Waldorfdisney und ist nicht nur kitschig, sondern auch problematisch. Da kann ich manche Kritiker gut verstehen.
AM An der Alanus-Hochschule kann man Pädagogik, Waldorfpädagogik und Kunstpädagogik studieren. Viele Studienorte für Waldorflehrer dagegen, an denen Fach- und Klassenlehrer ausgebildet werden, haben keinen so stark akademischen Charakter. Nach verschiedenen empirischen Studien wird die fachliche Qualifikation von WaldorflehrerInnen in Zweifel gezogen. Genügt die gegenwärtige Waldorflehrerausbildung den epistemischen Standards, die Sie skizzieren?
JS Eine Waldorflehrerausbildung, die nicht zugleich auch in einem dialogischen Austausch mit der gegenwärtigen Erziehungswissenschaft arbeitet, genügt sicherlich nicht den Kriterien, die für eine gegenwärtige Lehrerausbildung entscheidend sind: hohe Fachlichkeit, ein breiter Rahmen pädagogischen Reflexionswissens, didaktisch-methodische Vielfalt, Diagnostik und die Entwicklung einer pädagogischen Persönlichkeit, die heiter, humorvoll, klar, strukturiert und beziehungsfähig ist, um nur einiges zu nennen.
AM Nach Dirk Randolls empirischer Befragung von Waldorflehrern (2013) scheint sich das Lager der „praktizierenden“ Anthroposophen an den Schulen allmählich zu verdünnen, laut der Studie „Bildungserfahrungen an Waldorfschulen“ von Liebenwein, Barz und Randoll 2012 assoziieren Waldorfeltern „Steiner“ eher negativ. Was bedeutet diese faktische Relativierung der Anthroposophie für die Waldorf-Theorie? Aufruf zum Grundlagenstudium oder Anzeichen für Neuerungsbedarf?
JS Ich vermute, dass die „alte“ Form einer treuen Steinerrezeption und –vertretung im Rückzug begriffen ist und dass es tatsächlich um eine neue, moderne, dialog- und diskursfähige Waldorfpädagogik gehen muss. Ich bin überzeugt, dass eine solche Form „offene“ Waldorfpädagogik auch die Anthroposophie nicht nur als Problemfall, sondern als spannendes Denkangebot begreifen wird.
AM Manche Waldorf-Kreise haben in letzter Zeit deutliche Sympathien für verschwörungsideologische Figuren gezeigt, während die diffuse Sympathie einiger rechter Esoteriker für Waldorfschulen nicht abreißt. Das ganze ordnet sich auch in gesamtgesellschaftliche Entwicklungen ein, in der Verschwörungstheorien oder „Reichsbürger“-Elemente sowohl im rechten als auch im tendenziell linken Spektrum an Salonfähigkeit gewinnen. Wie steht es bei einer Schulbewegung, die lange Zeit gesellschaftlich eher introvertiert war, um die politische Bildung?
JS Dies ist ein wichtiger Bereich einer kritischen Selbstreflexion, wo die Waldorfbewegung aus meiner Sicht inzwischen einiges gelernt hat: Sie agiert sehr viel transparenter, selbstkritischer und auch handlungskonsequenter in politischen Fragen, als es in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. Zudem taucht das Fach „Politik“ bzw. „politische Bildung“, das lange Zeit an der Waldorfschule unter „Geschichte“ subsumiert worden ist, in vielen Curricula inzwischen als eigens Fach auf. Ob dies ausreichend ist oder ob an einzelnen Schulen noch spezifischer Handlungsbedarf besteht, das kann ich nicht beurteilen. Der Bund der Freien Waldorfschulen hat sich in diesen Fragen aus meiner Sicht erfreulich klar und offensiv positioniert: Rechtsextremismus, Rassismus, Diskriminierung und Ausgrenzung haben keinen Platz in der Waldorfpädagogik.
Heiner Ullrichs „kritische“ Einführung in die Waldorfpädagogik
Auf socialnet habe ich eine Rezension zu Heiner Ullrichs 2015 erschienenem Buch „Waldorfpädagogik. Eine kritische Einführung“ geschrieben.
Heiner Ullrich ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Mainz und hat seit seiner Dissertation „Waldorfpädagogik und okkulte Weltanschauung“ (1984) eine ganze Reihe von Publikationen zu diesem Thema vorgelegt, auch empirische Forschung dazu betrieben und eine Biographie des Waldorfschulpropheten Rudolf Steiner (1861-1925) geschrieben, der ab 1900 seine anthroposophische Esoterik entwickelte. Weite Teile des neuen Buchs stellen komprimierte Übernahmen aus Ullrichs vorangehenden Publikationen dar. Die Studie begründet ihre Aktualität im ersten Kapitel knapp und treffend: Waldorfschulen expandieren weltweit. ….
Djihad für die Freiheit: „Israel-Kritik“ bei „Themen der Zeit“
„Während es – gerade in der Linken – seit Jahrzehnten Streit darum gibt, ob und inwiefern sogenannte “Israel-Kritik” und sogenannter “Anti-Zionismus” nur schlecht getarnter Antisemitismus im neuen Gewand sind, lassen viele der aktuellen Pro-Gaza-Demos keinen Zweifel mehr: Parolen wie “Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein” dürften wohl seit 1945 nicht mehr in der Offenheit auf Berlins Straßen gebrüllt worden sein. Wer diesen Zusammenhang jetzt noch leugnet, macht wissentlich gemeinsame Sache mit einer hasserfüllten Meute.“
(„Israel-Kritik“ revisited; publikative.org)
Verschwörungsdenken: eine anthroposophische Normalität
Wenn russische Soldaten, wahlweise auch als „prorussische Separatisten“, durch die Ost-Ukraine wüten, sind in Wahrheit die USA schuld, die versuchen, die spirituelle Friedensmission des Deutschtums bzw. „Mitteleuropas“ zu verhindern. Und wer darüber kritisch berichtet, da sind sich viele Anthroposophen mit der neurechten „Friedensbewegung“ einig, geht den manipulierten „Mainstream-Medien“ auf den Leim. (vgl. EU und Ukraine – Neues von der angloamerikanischen Weltherrschaft) Denn über die hinterhältige Konspiration „des Angloamerikanertums“ hat schon Dr. Steiner während des Ersten Weltkriegs schwadroniert und völkische Anthroposophen haben seither nahezu jedes weltpolitische Ereignis in diese universal anwendbare Unterstellung integriert. Die ahrimanisch-„okkulten Logen“, die sich hinter „Amerika“ verstecken, haben in ihrer unsäglichen Bosheit schließlich Kaspar Hauser ermordet, eine kritische Steiner-Ausgabe verbrochen, den Ersten Weltkrieg und so nebenbei noch den Zweiten ausgeheckt (vgl. Anthroposophischer Geschichtsrevisionismus). Wer dazu die Macht und den Willen hat, kann zweifellos auch im Handumdrehen jede erdenkliche andere Krise auslösen.
Im antiwestlichen Ressentiment treffen sich Anthroposophen vom Schlag „Der Europäer“ mit politisch scheinbar moderateren Kandidaten, wie Michael Mentzel von „Themen der Zeit“, der sein Facebook-Profil gerade u.a. als persönliche Entlastungsseite für Wladimir Putin nutzt. Ich meine, dass Mentzels Phantasien eher mit altlinker Ideologie zusammenhängen, die ja die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie ohnehin bereitwillig durch Hass auf die „da oben“ und die USA ersetzte. Freilich ist es von dort aber nur ein Schritt zum völkischen Denken – einen besonders abstrusen Artikel zum Thema übernahm „Themen der Zeit“ „mit freundlicher Genehmigung“ vom „Europäer“. Die USA wollten einen Keil zwischen Russland und Europa treiben, um jene „geistige Ehe“ der letzteren beiden zu verhindern, die Rudolf Steiner beschrieben habe, hieß es da.
Obwohl solche Anthroposophen einen Machthaber wie Putin reflexhaft und wortreich unterstützen, haben sie sich zu weiteren Themen merkwürdig ausgeschwiegen: die aktuellen Exzesse von Antisemitismus und Islamismus etwa. Während in Irak und Syrien der „IS“ seine erklärt mörderische Gewaltherrschaft auszubauen versucht und die Hamas mit entsetzlichen Folgen für die palästinensische Bevölkerung jüngst wieder alles daran setzte, Israel anzugreifen, berichtet „Der Europäer“ in seiner September-Ausgabe (wie immer) bloß vom Ersten Weltkrieg oder einer Pudabester Konferenz über die eigenen Verschwörungsideologien. Michael Mentzel dagegen nahm trotz aller Schreckensmeldungen dieses Jahres tatsächlich ein „Sommerloch“ wahr und bloggte deshalb über „Demeter und die Formel1“. Auch die neue Unverhülltheit von Antisemitismus in Deutschland wurde nicht thematisiert.
Am 18. August erschien dann aber doch der unvermeidliche Beitrag „Qualitätsmedien? FAZ und SZ zu Gaza“. Autor Matthias Jochheim war offenbar bis 2013 im Vorstand von „IPPNW Deutschland – Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.“ Und genauso ist auch sein Artikel. Natürlich: „Themen der Zeit“ zeichnet sich oft ohnehin durch sachliche Irrelevanz aus und die Realitätsferne dieses Beitrags ist letztlich auch nicht größer als sonst. Seine Brisanz liegt im spezifischen Inhalt. Ob die Ursache davon Dummheit, Ahnungslosigkeit, böser Wille oder sonstwas sein mag – keine Ahnung, aber selbstbewusst desinformierte Texte auf „Themen der Zeit“ waren ja schon früher festzustellen (vgl. EU und Ukraine, Friedrich Hiebel und die Waldorfschulen in der NS-Zeit, Michael Mentzel bestätigt, Entwicklungsrichtung Anthroposophie, Die unendliche Geschichte, Mentzels Traum)
Death for Allah
Da Matthias Jochheim sich mit zwei Reaktionen in SZ und FAZ auf den jüngsten Gaza-Krieg beschäftigt, und im Endeffekt „Freiheit für Gaza“ fordert, ohne aber näher auf die dortigen Verhältnisse einzugehen, seien diese hier kurz ergänzt. Hamas lässt an ihrer von Jochheim nicht näher ausgeführten Motivation keinen Zweifel, wie dem fleißigen Facebook-Nutzer Mentzel auffallen könnte: „ALLAH IS OUR GOAL, THE PROPHET IS OUR LEADER, JIHAD IS OUR WAY, AND DEATH FOR ALLAH IS OUR MOST EXALTED WISH“. Der Hamas-Charta ist unzweideutig zu entnehmen, dass Frieden mit Israel keine Option für die Terrororganisation ist. „Dass das Banner Allahs über jedem Zentimeter von Palästina“ wehen soll, ist eine klare Absage an jene Zweistaatenlösungen, die einst auch weisere Anthroposophen wie Schmuel Hugo Bergman propagiert hätten. Im Gegenteil wird kein Hehl daraus gemacht, dass die Hamas auch den allerletzten Juden töten will:
„Der Prophet – Andacht und Frieden Allahs sei mit ihm, – erklärte: Die Zeit wird nicht anbrechen, bevor nicht die Muslime die Juden bekämpfen und sie töten; bevor sich nicht die Juden hinter Felsen und Bäumen verstecken, welche ausrufen: Oh Muslim! Da ist ein Jude, der sich hinter mir versteckt; komm und töte ihn! … Ansätze zum Frieden, die sogenannten friedlichen Lösungen und die internationalen Konferenzen zur Lösung der Palästinafrage stehen sämtlichst im Widerspruch zu den Auffassungen der Islamischen Widerstandsbewegung. Denn auf irgendeinen Teil Palästinas zu verzichten bedeutet, auf einen Teil der Religion zu verzichten; der Nationalismus der Islamischen Widerstandsbewegung ist Bestandteil ihres Glaubens. … Für die Palästina-Frage gibt es keine andere Lösung als den Djihad.“ (Artikel 7, 13)
Mit dem radikalen Islam verbindet sich hier und anderswo ein Verschwörungsdenken, das vielen Anthroposophen vertraut sein müsste. Statt des Angloamerikanertums sind hier jedoch „die Zionisten“ an allem schuld:
„Sie standen hinter der Französischen Revolution und hinter den kommunistischen Revolutionen und den meisten Revolutionen, von denen man hier und da hört. … Sie nutzten das Geld ebenfalls dazu, die Macht über die imperialistischen Länder zu gewinnen und sie dazu zu bringen, viele Länder zu kolonisieren, um die Reichtümer dieser Länder auszubeuten sowie ihre Korruption dorthin zu verbreiten. Hinsichtlich der regionalen und weltweiten Kriege ist es zweifellos soweit gekommen, dass die Feinde hinter dem I. Weltkrieg standen um so das Islamische Kalifat auszulöschen. Sie sammelten materielle Ressourcen und übernahmen die Kontrolle über zahlreiche Quellen des Wohlstands. Sie erreichten die Balfour-Erklärung und etablierten den Völkerbund, um mit den Mitteln dieser Organisation über die Welt zu herrschen. Sie standen ebenfalls hinter dem II. Weltkrieg, in dem sie immense Vorteile aus dem Handel mit Kriegsausrüstungen zogen und die Etablierung des Staates Israel vorbereiteten. Sie inspirierten die Errichtung der Vereinten Nationen und des Sicherheitsrats, um den Völkerbund zu ersetzen und die Welt mithilfe ihrer Mittelsmänner zu beherrschen. Es gab keinen Krieg, an welchem Ort auch immer, der nicht ihre Fingerabdrücke trägt.“ (Artikel 22)
Dieser Wahn legitimiert jede Grausamkeit. Nachdem diesen Sommer der nächste Krieg gegen Israel vom Zaun gebrochen worden war und die IDF bekanntlich mit einer Bodenoffensive reagierte, wussten die Djihadisten sich routiniert zu helfen. Gezielt wurden palästinensische Zivilisten als menschliche Schutzschilde benutzt, gezielt die Zerstörung von Infrastrukturen und Wohnhäusern befördert – wie das am besten zu forcieren sei, erklärte ein eigenes Handbuch. Gezielt wurden außerdem Opferzahlen manipuliert (z.B. getötete Kämpfer zu Frauen und Kindern gemacht) sowie Nachrichtenagenturmeldungen zensiert. Davon ganz unabhängig kann Hamas sich der Unerstützung durch deutsche Medien sicher sein. Wie die Wahrheit zu Israels Ungunsten zurechtgebogen wird, illustrieren schon hiesige Schlagzeilen: „Israel erwidert trotz neuer Waffenruhe Beschuss aus Gaza“, empörte sich etwa der Spiegel. Kein Land wird in deutschen Medien so oft und harsch kritisiert wie Israel, das lässt sich sogar statistisch belegen, wie eine Studie der TU Berlin unter Leitung von Monika Schwarz-Friesel zeigt.
Israel ist an allem Schuld
Matthias Jochheims Beitrag versteht es, sich gänzlich mit dem antisemitischen Hamas-Terror zu solidarisieren, ihn als legitimen „Aufstand“ in einem „Ghetto“ auszugeben und alle eben skizzierten Propagandastrategien für bare Münze zu nehmen. Von diesem Standpunkt aus sieht die israelische Reaktion auf die Hamas-Beschüsse dann logischerweise so aus: „Eine mit modernsten Zerstörungsmitteln ausgerüstete Armee überfällt zu Wasser, zu Lande und zur Luft eine dicht besiedelte, abgeriegelte und durch jahrelange Handels- und Reiseblockaden ausgepowerte Enklave, tötet rund 1900 Menschen – zu mindestens zwei Dritteln unbewaffnete Zivilisten, darunter rund 400 Kinder – und erklärt dies zu einer Operation gegen den Terror.“ (Qualitätsmedien? FAZ und SZ zu Gaza) So ist die Täter-Opfer-Umkehr perfekt, Israel wird sogar noch die Ausrüstung seines Militärs zum Vorwurf gemacht.
Erst im zweiten Absatz wird nebenbei erwähnt, dass diese so zur puren Aggression verbogene Militäroffensive „mit dem Abschuss vorsintflutlicher, ungesteuerter Raketen“ „begründet“ werde. Der Beschuss der Hamas verwandelt sich in Jochheims Text in eine Art bloß vorgeschobener Behauptung Israels. Im weiteren werden die Schäden auf beiden Seiten gegeneinander aufgerechnet. Dass „nur“ drei israelische Zivilisten getötet worden seien, wird erneut zu Ungunsten Israels präsentiert. Unerwähnt bleibt selbstverständlich, dass die israelische Regierung weder Geld noch Mittel scheut, um Zivilisten zu schützen, während in Gaza umgekehrt Waffen in zivilen Einrichtungen versteckt und von dort aus abgeschossen werden. Dass die israelische Staatsraison glücklicherweise einigermaßen funktioniert, wird ihr vielmehr zum Vorwurf gemacht: Als wäre die Situation irgendwie ausgeglichen, wäre dort mehr Schaden angerichtet, wären mehr Israelis getötet worden.
Seine verdrehte Darstellung setzt Jochheim dann als real voraus, um FAZ und SZ ihre immerhin etwas weniger verdrehte Berichterstattung zum Vorwurf zu machen: „Verantwortlich ist in erster Linie Hamas, die „endlich einzusehen“ habe, „dass sie ihr Volk nicht weiter der krass überlegenen Kriegsmaschine ausliefern darf.“(!)“ Was an diesem SZ-Satz falsch sei, erläutert der Autor nicht, da er aber den Hamas-Beschuss auch nur für den Vorwand für eine wodurch auch immer zu begründende Aggression Israels zu halten scheint, ist offensichtlich, dass er schlicht Kritik an der islamistischen Terrororganisation ablehnt. Die Aussage des SZ-Kolumnisten, dass die Situation zum Verzweifeln sei, kommentiert er so: „Na – wenn ohnehin nichts daran zu ändern ist, kann die deutsche und erst recht die US-Regierung ja ruhig weiter Waffen und Finanzsubventionen an ihre israelischen Regierungsfreunde senden, da muß sich der SZ-Leser nicht mehr darüber Sorgen machen!“
Das liest sich wirr und unverständlich, doch Jochheims Kommentar zu einem Satz in der FAZ schafft Klarheit: „Und es stimmt einfach nicht, dass immer Israel an allem schuld ist“, hieß es wohl in FAZ. Dazu Jochheim: „(!) FAZ= Frankfurter Allgemeiner Zynismus.“ Jochheim geht also offensichtlich schlicht davon aus, dass Israel wirklich „an allem schuld ist“. Dem ist durch Argumente freilich nicht mehr beizukommen. Dass FAZ und SZ sich in der Zurückweisung einer solchen Alleinschuld Israels einig seien, veranlasst den Arzt gegen Atomkraft gar zu dem makaberen Kommentar, dass es wohl „Kommunikationstunnel zwischen Frankfurt und München“ gebe.
„Die Situation in Gaza wird mit einiger Berechtigung immer wieder mit einem Ghetto verglichen“, weiß Jochheim, und enttarnt diesen perfiden Vergleich natürlich nicht als das, was er ist, sondern schließt sich ihm an. 1,8 Millionen seien von der Außenwelt abgeriegelt, und über die von Israel zur Verfügung gestellten Hilfsgüter heißt es abstruserweise, sie würden den Palästinensern wegen der „Blockade ganz unzureichend geliefert“. Wurde der Ghetto-Vergleich erst referiert, erscheint er im nächsten Absatz schon als Realität und der Erlösungsantisemitismus der Djihadisten als „Aufstand“ in demselben: Terror als subversive Praxis. Die Rede von „Aufstand“ und „Ghetto“ legt noch ganz andere, geschichtsrevisionistische, Assoziationen nahe – den beliebten Vergleich Israels mit den Nazis nämlich –, aber es ist nicht auszuschließen, dass dem offenbar unkundigen Jochheim diese Verharmlosung der Judenverfolgung schlicht entgangen ist.
„Freiheit für den Gaza-Streifen“
Zum Schluss muss noch der Ha’aretz-Journalist Gideon Levy herhalten, von dem neun „Forderungen“ als „Grundlage“ einer „fairen Verständigung“ paraphrasiert werden. „Fair“ heißt selbstredend, dass Israel (wohl aufgrund seiner Alleinschuld) alle Waffen abziehen, Waffenruhen zusagen und Gaza ökonomisch aufbauen muss. Terroristen, die den Tod auch des letzten Juden und ihrer selbst (als Märtyerer Allahs) wünschen und beides mit allen Mitteln herbeizuführen suchen, möglichst wenig einschränken: Zweifellos ein sicherer Weg zum Ende des Nahostkonflikts. Der Artikel endet mit einem wörtlichen Zitat von Levy und einem weiteren unverblümten Kommentar von Jochheim:
„Levy resümiert: „Die Hamas und der Islamische Dschihad fordern Freiheit für denGaza-Streifen. Es gibt wohl keine Forderung, die verständlicher und berechtigter ist. Wenn wir das nicht akzeptieren, werden wir nicht den gegenwärtigen Zyklus der Gewalt durchbrechen, und in einigen Monaten wird alles so weitergehen wie bisher.“ Es ist schade, dass wir in unseren sogenannten Qualitätsmedien einen so abgewogenen Beitrag zur Meinungsbildung nur mühsam auffinden können.“
Wer das glaubt, hat die israelfeindliche Berichterstattung der deutschen Medien (inklusive SZ und Spiegel) offenbar verschlafen – neben vielem anderen. Dass es Hamas und Islamischem Djihad um Freiheit gehe, lässt sich wohl höchstens in Orwells Neusprech ernsthaft behaupten. Freiheit für Gaza, die diesen Namen verdiente, wäre nicht ohne Freiheit von Islamismus und Scharia zu haben. Die Freiheit für Gaza dagegen, die Levy und Jochheim anscheinend fordern, liefe auf uneingeschränkte Herrschaft antisemitischer Gewalt hinaus. Wahrscheinlich würde deren Umsetzung beiden Autoren missfallen, aber das ist keine Entschuldigung für seine Hamas-Apologie.
Es wäre unfair, Jochheims Beitrag „der Anthroposophie“ anzulasten. Janós Darvas etwa tritt seit Jahren in zahlreichen kraftvollen Texten mit aller Klarheit für eine jüdische Anthroposophie ein und hat auf der Webseite der auflagenstarken anthroposophischen Zeitschrift Info3 einen leidenschaftlichen Beitrag gegen die Verharmlosung von Hamas geschrieben:
„Hamas kämpft einen aussichtslosen Kampf auf dem Schlachtfeld. Das wissen sie. In Wirklichkeit ist es unter anderem ein Propagandakampf, den sie schlau in die westlichen Medien und in die westliche Öffentlichkeit hineintragen, und viele fallen darauf herein. Ziel erreicht! … Denn das, was Hamas und andere Islamisten antreibt, ist Antisemitismus – militant, fanatisch, eliminatorisch. Verurteile ich ihn hier, muss ich ihn auch dort verurteilen. Und zwar rückhaltlos und nachhaltig.“ (Darvas: Antwort an einen deutschen Freund)
Aber Info3 ist das einzige anthroposophische Organ, auf das man sich, wenn Anthroposophistan sich wieder einmal mit der nächstbesten Barbarei solidarisiert, einigermaßen verlassen kann.
„Nationalist Cosmopolitanism“: Anthroposophen und der Erste Weltkrieg – ein Interview mit Peter Staudenmaier
Im Sommer 1914 jährt sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Dieses Datum wie seine entsetzlichen und verheerenden Folgen haben sich auch tief in die Entwicklung und das Antlitz der Anthroposophie und ihres Gründers Rudolf Steiner (1861-1925) eingegraben. Dazu befragte ich Peter Staudenmaier (Juniorprofessor für Neuere deutsche Geschichte an der Marquette University – Milwaukee, Wisconsin), der kürzlich die erste umfangreiche kritische Geschichte der Anthroposophie im Nationalsozialismus publiziert hat.
Peter Staudenmaier (Foto: Privat)
Ansgar Martins: Die Anthroposophie entstand aus der deutschen Landessektion der Theosophischen Gesellschaft Adyar. Im Einklang mit der multinationalen theosophischen Agenda unter Annie Besant entwickelte Steiner eine Esoterik, die explizit an das „christliche Abendland“ und die „deutsche Tradition“ anknüpfte. Diese Tendenzen verselbstständigten sich immer mehr. Sie waren dann auch wichtige Motive bei der Trennung von Theosophie und Anthroposophie 1912/3. Welchen Einfluss hatte der keine zwei Jahre später ausgebrochene Erste Weltkrieg auf die Entwicklung dieser jungen esoterischen Bewegung?
Peter Staudenmaier: Der Weltkrieg hatte einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung der Anthroposophie als Weltanschauung und als Bewegung. Das war kein mitteleuropäischer Sonderfall; der Krieg stellte eine grosse Herausforderung für theosophische Strömungen in der ganzen Welt dar. Besants eigene Äusserungen zum Krieg lassen sich durchaus mit Steiners Vorstellungen vergleichen. Beide haben landläufige Klischees übernommen und ihren vermeintlich internationalen Lehren eine dezidiert nationale Färbung gegeben, selbstverständlich in entgegengesetzter Richtung. Für Steiner wie für seine Anhänger – von wenigen, meist französischen, Ausnahmen abgesehen – rief der Weltkrieg eine deutliche Verstärkung der schon vormals auffallend deutschbetonten Elementen im anthroposophischen Weltbild hervor. So wurden Sendungsbewußtsein und Einkreisungsängste verknüpft und gesteigert. Dabei war Steiners Sichtweise stets wechselhaft. Seine Erkenntnis der Kriegslage sowie seine Deutung der behaupteten „geistigen Hintergründe“ des Kriegsgeschehens änderten sich von 1914 bis 1918 und darüber hinaus. Diese Wandlungen werden unter heutigen Anthroposophen oft nicht wahrgenommen. Für ein historisches Verständnis von Steiners Werdegang spielen sie aber eine wesentliche Rolle.
AM Steiner interpretierte den Krieg und Deutschlands Rolle weniger politisch als spirituell: Vor dem Hintergrund der ehernen kosmischen Evolution, in der die Missionen verschiedener Rassen und Nationen eine zentrale Rolle spielten. Was waren die Kernpunkte von Steiners Kriegsdeutung?
PS Der Grundgedanke kann treffend mit dem Begriff „nationalist cosmopolitanism“ erklärt werden. Für Steiner bestand die deutsche Mission gerade darin, das Eng-Nationale zu überwinden und das Allgemein-Menschliche zu verkörpern. Dies bedeutete eine deutsche Vorreiterrolle in der Weltentwicklung. Anthroposophen begrüßten den Krieg als eine „Zeitenwende, die Deutschland und dem germanischen Volkstum die Führerschaft im Gesamtbereiche der menschlichen Geisteskultur bringen wird.“ (Das Reich April 1916, S. 1) Steiner zufolge war der Krieg „im Karma der Völker begründet.“ Es musste geschehen „zum Heile der Menschheit.“ (Steiner, Die geistigen Hintergründe des Ersten Weltkrieges, S. 19, 25) Als solche Standpunkte ab 1917 zunehmend unhaltbar wurden, kamen andere Töne zum Vorschein, und Steiner stellte die Mittelmächte als unschuldige Opfer eines lange vorbereiteten Planes vor, der Mitteleuropa zerstören und seine weltgeschichtlich entscheidende Aufgabe verhindern sollte. England, Frankreich, und Rußland wollten den Krieg und haben ihn geistig wie auch militärisch ausgelöst. Deutschland und Österreich wurde also ein Verteidigungskrieg aufgezwungen.
AM Auf welchen Quellen basierte – sieht man vom pro-bellizistischen und deutschnationalen Klima jener Jahre ab – Steiners Urteilsbildung zum Kriegsgeschehen?
PS Das ist immer noch schwer zu sagen, trotz neuer Veröffentlichungen wie z.B. die Neuedition der späteren Kriegsvorträge (Steiner, Zeitgeschichtliche Betrachtungen, 2011); in dieser und anderer Hinsicht fehlen bisher die notwendigen Vorarbeiten – selbst die Textgrundlage der Steiner zugeschriebenen Aussagen bleibt in vielen Fällen merkwürdig ungeklärt. Offensichtlich aber hat er viel Kriegsliteratur gelesen und eine geistig überhöhte Unschuldthese daraus entwickelt. Bei aller esoterischen Einzigartigkeit stand Steiner damit keinesfalls allein; solche Auffassungen waren unter deutschen Intellektuellen weit verbreitet. In unzähligen Druckschriften dieser Jahre wurde der Krieg zum geistigen Wettstreit und Kampf gegen den Materialismus verklärt.
AM 1914 hat Steiner auch die von der Theosophie geerbte „Esoterische Schule“ geschlossen – denn geheime irgendwie „freimaurerische“ Organisationen waren als verschworene „Kriegshetzer“ verdächtig, er selbst teilte diese Ressentiments über „okkulte Logen“. Spielten diese Verschwörungstheorien schon vor 1914 eine Rolle in seinem Werk? Wie kamen sie im Kontext des Ersten Weltkriegs auf?
PS Derartige Thesen in Steiners Schriften und Vorträgen vor 1914 sind mir unbekannt. Nach Kriegsbeginn sind sie aber recht schnell ins Blickfeld geraten; schon Ende September 1914 stand für Steiner fest, „daß dieser Krieg eine Verschwörung ist gegen deutsches Geistesleben.“ (Steiner, Die geistigen Hintergründe des Ersten Weltkrieges, S. 27) 1916 war dann die Rede von „westeuropäischen Geheimgesellschaften“ und „okkulten Orden,“ die den Krieg jahrzehntelang vorbereitet hätten (Steiner, Mitteleuropa zwischen Ost und West, S. 109-10); auch Freimaurer treiben dabei ihr unheilvolles Wesen. Im letzten Kriegsjahr und erst recht nach der deutschen Niederlage wurde dieses Thema zu einem Leitmotiv anthroposophischen Denkens; siehe beispielsweise die Vorträge vom Dezember 1918 in Steiner, Die soziale Grundforderung unserer Zeit, S. 64-68, 255, 320, usw. Das wohl bekannteste Beispiel dieses anthroposophischen Verschwörungsmythos – von Steiner inspiriert, unterstützt, und gefördert – ist das Buch von Karl Heise, Entente-Freimaurerei und Weltkrieg (Basel 1919). Dieses Werk leistete einen bedeutenden Beitrag zur Verbreitung von antisemitischen undantifreimaurerischen Feindbilder in der Weimarer Zeit. Andere Anthroposophen bemühten die gleichen unseligen Märchen. So wetterte Wilhelm von Heydebrand gegen englische Okkultisten, Freimaurer, Juden, und Sozialisten, die den Weltkrieg entfesselten, um die „Vernichtung Deutschlands“ zu erreichen (Wilhelm von Heydebrand, „Ausführungen über gewisse Grundlagen der Politik“ Das Reich April 1919, S. 112-16). Düster deutete von Heydebrand an, daß „die Freimaurer-Logen der Anglo-Amerikaner und ihre romanischen Anhängsel stark von einem intellektuell hochentwickelten Judentum durchsetzt sind.“ (Wilhelm von Heydebrand, „Die schwarz-rot-gelbe Internationale und ihr Gegensatz“ Dreigliederung des sozialen Organismus Nr. 9, 1919) In anthroposophischen Darstellungen des Weltkrieges kehren okkulte Verschwörungen immer wieder, eine Tradition, die sich vom Kriegsende bis heute hartnäckig erhalten hat, von Ludwig Polzer-Hoditz über Renate Riemeck bis Thomas Meyer usw.
AM Als der Erste Weltkrieg ausbrach, beschwor Rudolf Steiner anfänglich seine versammelten Anhänger, die gerade in Dornach den sog. „Johannesbau“, das „Erste Goetheanum“ als Tempel des Steinerschen Geistes bauten, der Krieg sei ein tragisches Ereignis. Man müsse gegen die militärische Auseinandersetzung „einen Keim von Menschen mit brüderlicher Gesinnung über alle Nationen hinaus in uns selbst“ heranbilden. Ausführungen in diese Richtungen kehren in Steiners Vorträgen routiniert wieder. Wie vereinte er diesen theosophischen Kosmopolitismus mit seinem Enthusiasmus für den deutschen Geist?
PS Aus Steiners Sicht gab es da keinen Widerspruch; der deutsche Geist war eben der auserkorene Träger dieses spirituellen Kosmopolitismus, der Inbegriff des Allgemein-Menschlichen. In der historischen Perspektive sind solche Glaubenssätze nicht besonders verwunderlich. Steiners Dornacher Kriegsrhetorik war sowieso der außergewöhnlichen internationalen Zusammensetzung des sich dort aufhaltenden Personals geschuldet. Das der ‚Johannesbau’ überhaupt in der (neutralen) Schweiz entstand, und nicht in Deutschland, war eigentlich Zufall; er sollte ja in München gebaut werden. Der Münchener Bauplan wurde von den bayrischen Behörden erst Ende 1913 endgültig abgelehnt (wobei die Grundsteinlegung in Dornach schon im späten September 1913 erfolgte). Eine Vortäuschung war diese Beschwörung des internationalen Zusammenlebens allerdings nicht. In Steiners Augen gehörten die „Friedenssehnsucht“ und der „Friedenswille“ ganz einfach zur deutschen Strategie, das war fester Bestandteil seines Kriegsverständnisses. Deswegen begrüßte er z.B. das Friedensangebot der Mittelmächte vom Dezember 1916 als aufrichtigen Versöhnungsversuch und echte Chance für einen fairen und gerechten Verständigungsfrieden, unter völliger Verkennung der tatsächlichen Lage. (Siehe etwa den Vortrag in Basel vom 21. Dezember 1916, in der Erstausgabe der Zeitgeschichtlichen Betrachtungen (1966 bzw. 1983), S. 240-41 – ein Vortrag, der übrigens bezeichnenderweise in die Neuedition von 2011 nicht übernommen wurde.) Diese geschichtswissenschaftlich gesehen hoffnungslos naive Position wird erstaunlicherweise von heutigen Anthroposophen immer noch aufrechterhalten.
AM Steiner hat 1915 eine aggressiv nationalistische Schrift zur Apologie der deutschen Rolle verfasst, in der es hieß „Deutschlands Feinde“, hätten diesen Krieg seiner Nation „aufgezwungen“. Nach dem Krieg erschien keine Neuauflage, manche Quellen deuten an, er habe sich dezidiert dagegen ausgesprochen. Wie würden Sie diesen Vorgang interpretieren?
PS Nach der deutschen Niederlage im November 1918 hat Steiner seine Schrift Gedanken während der Zeit des Krieges von 1915 zwar bereut, offenbar aus Verlegenheit (Steiner, Entwicklungsgeschichtliche Unterlagen zur Bildung eines sozialen Urteils, S. 46), aber inhaltlich ausdrücklich bestätigt (z.B. Steiner, Wie wirkt man für den Impuls der Dreigliederung des sozialen Organismus, S. 228-29; vgl. Steiner, Die Geschichte und die Bedingungen der anthroposophischen Bewegung, S. 136). 1915 rechnete er schließlich nicht mit einer Niederlage der Mittelmächte. In der Zwischenkriegszeit wurde die Schrift nicht verleugnet, sondern vielmehr in den Kanon der grundlegenden Werke Steiners aufgenommen, so etwa bei Karl Heyer, Wie man gegen Rudolf Steiner kämpft (Stuttgart 1932); der Text wurde im Sammelband Rudolf Steiner während des Weltkrieges (Hg. Roman Boos, Dornach 1933) vollständig wiedergegeben. Außerdem waren Steiners Ideen ein Bezugspunkt für andere Schriftsteller aus dem esoterischen Umfeld, die sich ähnlicher Deutungsmuster bedienten. Einige Beispiele: Karl Heinz, Der Krieg im Lichte der okkulten Lehren: Ein Wort an die weiße Rasse (Breslau 1915); Friedrich Lienhard, Deutschlands europäische Sendung (Stuttgart 1915); Friedrich Rittelmeyer, Christ und Krieg (München 1916); Karl Heise, „Kriegs-Visionen“ Zentralblatt für Okkultismus, August 1917, 72-76. Noch auffälliger ist das Nachleben dieser Art von aggressiv-nationaler Apologie in anthroposophischen Zusammenhängen ab 1918. Hier eine kleine Stichprobe:
Fritz Kipp, „Zum Gedenktag für die Opfer des Weltkrieges“ Anthroposophie 4. September 1924; Jürgen von Grone, „Zum Tage von Versailles“ Anthroposophie 7. Juli 1929; Ernst Moll, „Der Krieg in Ost und West“ Die Christengemeinschaft März 1931; Jürgen von Grone, „Zum Kriegsausbruch 1914“ Die Drei Januar 1964; Jürgen von Grone, „Rudolf Steiners Handeln im Dienste Mitteleuropas“ Die Drei April 1969; Karl Buchleitner, Das Schicksal der anthroposophischen Bewegung und die Katastrophe Mitteleuropas (Schaffhausen 1997); Thomas Meyer, „Moltke, Steiner – und welche deutsche ‚Schuld’?“ Der Europäer Mai 2001; Andreas Bracher, Hg., Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges (Basel 2005).
AM Wie zentral war Steiners Beschäftigung mit dem Krieg für seine intellektuelle Biographie dieser Jahre? Er hat ja in diesen Jahren beispielsweise auch viel Zeit in die Überarbeitung und Aktualisierung seiner älteren Schriften investiert, die „Philosophie der Freiheit“ etwa oder „Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert“.
PS Es war eher Steiners normale Arbeitsweise, sich gleichzeitig mit mehreren Projekten verschiedenster Art zu beschäftigen; das war keine Besonderheit der Kriegsjahre. Die Stelle des Weltkrieges in seinem Denken während dieser Zeit ist nicht zuletzt deshalb schwer einzuschätzen, weil viele seiner Vorträge vor allem aus dem ersten Kriegsjahr noch nicht veröffentlicht sind (siehe die redaktionellen Notizen zu der Neuausgabe von Steiner, Zeitgeschichtliche Betrachtungen (2011), Bd. I, S. 449). Das unerwartete Ergebnis des Krieges führte anscheinend zu einem Umdenken und letzten Endes zu der Hinwendung zum Praktischen – Waldorfpädagogik, biologisch-dynamischer Landbau, anthroposophische Medizin, usw. – in den Nachkriegsjahren.
AM Welche Bedeutung hatte Steiners Metaphysik des Weltkrieges für die weitere Entwicklung der Anthroposophie 1918?
PS Eine wesentliche, aber keine eindeutige. Steiners Deutung der Ereignisse änderte sich im Laufe des Krieges, zunehmend gegen Ende der Kampfhandlungen. Das kommt vor allem an der Entstehung der „sozialen Dreigliederung“ zum Ausdruck. Die beiden Memoranden, die Steiner im Sommer 1917 schrieb, welche die Grundlage der Dreigliederungsidee bilden, spiegelten in gewissem Sinne seine letzten Hoffnungen wider, die letzten Vorstellungen einer möglichen positiven Auswirkung des Krieges im Zeichen „Mitteleuropas.“ Diese Memoranden waren aber gleichzeitig der Auftakt zu einer lang anhaltenden Polemik gegen „Wilsonismus“ und „westliche Demokratie“ und „Anglo-Amerikanertum“ usw. — Themen, die den anthroposophischen Diskurs bis weit in die Weimarer Zeit hinein prägten.
AM Im anthroposophischen Gedächtnis ist es u.a. dieses oben erwähnte Bild, das immer wieder pathetisch ausgemalt wird: Während man in Dornach die Kanonen von der Kriegsfront hört, bauen dort Anthroposophen und Steiner-Fans aus unterschiedlichen europäischen Nationen vereint am „Ersten Goetheanum“. Nun gibt es zwei unterschiedliche Interpretationen dieses Umstands. Einige Anthroposophen, wie Roman Boos, sahen darin einen Beweis dafür, dass Anthroposophen aus allen Ländern dank Steiner zum deutschen Geist fanden. Andere, wie Elisabeth Vreede, sahen in der faktischen Multinationalität der Goetheanum-Crew ein Exempel für die Erhabenheit der Anthroposophie über jeden Nationalismus. Was kann man aus der ambivalenten Deutung dieses Topos lernen?
PS Diese Ambivalenz ist in der Tat eine bemerkenswerte Folge der Frühgeschichte der anthroposophischen Bewegung. Letztendlich ist sie in der widersprüchlichen Einstellung zum Universalismus und zum Partikularismus begründet, welche Steiners Denken seit seiner Jugend im Habsburgerreich bezeichnete. Mit der Anthroposophie strebte Steiner eine grenzübergreifende Bewegung an, und er verstand seine Botschaft als eine universalistische. Dabei ist er in einem entscheidenden Punkt über seinen eigenen deutsch-österreichischen Hintergrund nie hinausgekommen: eine internationale bzw. multinationale Gemeinschaft stellte er sich als eine Art Völkervielfalt unter deutscher Hegemonie vor – einer geistigen Hegemonie, natürlich. Steiner dünkte sich über jeden Partikularismus, über jeden Nationalismus erhaben, blieb aber in einer nicht hinterfragten partikularen und nationalen Denkweise befangen, die er mit Universalismus verwechselte.
AM Immer wieder wird auch auf Steiners Beziehung zu Generalstabschef Helmut von Moltke verwiesen. Wie kann man sich beider Kontakt vorstellen und wie kam er zustande?
PS Moltkes Frau war eine engagierte Theosophin und Anthroposophin, und Moltke selber hegte ein ernsthaftes Interesse an esoterischen Themen. Steiner fungierte gelegentlich als sein spiritueller Berater. Der Chef des Generalstabes wiederum bot für Steiner eine Verbindung zu führenden Kreisen des Kaiserreichs. Moltkes Tod im Sommer 1916 kann man sogar as ersten erheblichen Wendepunkt in Steiners Kriegswahrnehmung sehen. Vor dem Kriegsausbruch war Moltke der maßgebliche Befürworter eines Präventivkrieges, nach dem Motto je früher desto besser. Nach der Marneschlacht wurde er, teilweise zu Unrecht, für die deutsche Niederlage verantwortlich gemacht. Steiner hat eine Mitschuld Moltkes am Kriegsausbruch unerschütterlich absgestritten, im vollkommenen Gegensatz zu den Tatsachen. Die Verbundenheit mit Moltke hat dann auch die weitere anthroposophische Beurteilung des Krieges beeinflusst, was die etwas willkürlichen Schuldzuweisungen nach November 1918 erklärt; Anthroposophen haben wahlweise Bethmann oder Jagow oder Falkenhayn verurteilt – nur nicht Moltke. Was aus nichtanthroposophischer Sicht bedeutsamer erscheint, ist das Auftauchen von esoterischen Komponenten in Moltkes Überlegungen zum Krieg. So schrieb er November 1914 – nach seiner Entlassung – in seinen „Betrachtungen und Erinnerungen“: „Dieser Krieg, den wir jetzt führen, war eine Notwendigkeit, die in der Weltentwickelung begründet ist.“ (Helmuth von Moltke, Erinnerungen, Briefe, Dokumente 1877–1916, Stuttgart 1922, S. 13)
Der Krieg folge „höheren Gesetzen“ und gehöre zu einem „Weltentwickelungsplan,“ durch welchen „die Kulturepochen sich in fortschreitender Folge ablösen, wie jedes Volk seine bestimmte Aufgabe in der Weltentwickelung zu erfüllen hat und wie diese Entwickelung sich in aufsteigender Linie vollzieht. So hat auch Deutschland seine Kulturaufgabe zu erfüllen. Die Erfüllung solcher Aufgaben vollzieht sich aber nicht ohne Reibungen, da immer Widerstände zu überwinden sind; sie können nur durch Krieg zur Entfaltung kommen.“ (ebd. S. 13) Sollte Deutschland „vernichtet“ werden, „so wäre damit das deutsche Geistesleben, das für die spirituelle Weiterentwickelung der Menschheit notwendig ist, und die deutsche Kultur ausgeschaltet; die Menschheit würde in ihrer Gesamtentwickelung in unheilvollster Weise zurückgeworfen werden.“ (S. 13-14) „Eine geistige Weiterentwickelung der Menschheit ist nur durch Deutschland möglich. Deshalb wird auch Deutschland in diesem Kriege nicht unterliegen, es ist das einzige Volk, das zur Zeit die Führung der Menschheit zu höheren Zielen übernehmen kann.“ (S. 14)
Ein Jahr später, November 1915, hielt Moltke fest, „daß dieser Krieg einen der großen Wendepunkte der Weltgeschichte bedeutet, daß sein Ausgang entscheidend sein wird für die Richtung, die der Menschheitsentwicklung, der Menschheitskultur auf Jahrhunderte hinaus gegeben werden wird.“ (S. 444) „Es handelt sich um etwas Höheres, darum, der gesamten Welt das führende deutsche Geistesleben zu erhalten. Deshalb ist es ein heiliger Krieg, den wir führen . . . “ (S. 391) Was Moltke betrifft, scheint ausnahmsweise ein ziemlich breiter anthroposophischer Konsens zu herrschen, von Willy Lochmann bis Jens Heisterkamp. Das ist kein gutes Zeichen für die anthroposophische Geschichtsaufarbeitung.
AM Gab es auch andere hochrangige Militärs mit anthroposophischen Interessen?
PS Ja. Die Biographin von Werner von Blomberg zum Beispiel schreibt über dessen „Vorliebe für die Anthroposophie und Theosophie“: Kirstin Schäfer, Werner von Blomberg: Hitlers erster Feldmarschall (Paderborn: Schöningh, 2006), S. 46, 127. Man findet Ähnliches in anderen Zusammenhängen auch; der englische General J.F.C. Fuller war zeitweise ein Anhänger Aleister Crowleys.
AM Gegner der Anthroposophie bis in die Nazizeit hinein haben immer wieder behauptet, Steiner habe Moltke „okkult“ manipuliert und dem deutschen Volk dadurch schaden wollen, ja er habe aktiv an der deutschen Niederlage mitgewirkt. Wieso war dies ein so beliebter Angriffspunkt?
PS Diese Anschuldigungen waren u.a. eine esoterisch verbrämte Variante der Dolchstoßlegende. Nach der deutschen Niederlage 1918 diente der inzwischen gestorbene Moltke leicht als Sündenbock, und man wollte unbedingt ein militärisches Versagen in irgendwas anderes verwandeln, um den Ruf der militärischen Führung zu wahren. Steiners vermeintlicher Einfluss bot eine geeignete Gelegenheit zur Denunziation. In Krisenzeiten sind „okkulte“ Erklärungen ohnehin gefragt.
AM Welche Rolle spielte der Topos „Steiner während des Weltkriegs“ umgekehrt: für Anthroposophen 1933-1945? Etwa für das Vorgehen gegen Nazigegner oder die Einschätzung des Zweiten Weltkriegs?
PS Das war ein beliebtes Thema nach 1933 bei führenden Anthroposophen wie Friedrich Rittelmeyer oder Erhard Bartsch, die Steiner zum heldenhaften Verfechter der deutschen Mission gegen die „okkulten Mächten des Westens“ hochstilisierten (Erhard Bartsch, „Rudolf Steiner während des Weltkrieges,“ Juli 1940, Bundesarchiv Berlin, NS 15 / 302: 57691; vgl. Friedrich Rittelmeyer an Erhard Bartsch, November 1934, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 90 P Nr. 33 / 3: 311, sowie Franz Krause, „Rudolf Steiner während des Weltkrieges“ Das Goetheanum 26. November 1933). Der herausragende Vertreter dieser Argumentation war Jürgen von Grone, der wiederholt überschwengliche Texte über Steiners heroische Haltung im Ersten Weltkrieg veröffentlichte und an verschiedene Nazi-Größen sandte (z.B. Jürgen von Grone, „Rudolf Steiner und das Deutschtum“ Korrespondenz der Anthroposophischen Arbeitsgemeinschaft April 1933; Jürgen von Grone, „Nachwort zu Versailles“ Korrespondenz der Anthroposophischen Arbeitsgemeinschaft August 1933; Jürgen von Grone, „Generaloberst von Moltke im Kriegsausbruch“ Korrespondenz der Anthroposophischen Arbeitsgemeinschaft Juli 1934; Jürgen von Grone, Denkschrift für Hermann Göring, Januar 1936, Bundesarchiv Berlin, R 58 / 6195: 382; Jürgen von Grone, „Vom Wirken Rudolf Steiners für das Deutschtum,“ Februar 1936, Bundesarchiv Berlin, NS 15 / 303: 58270).
Sogar der Zweite Weltkrieg wurde nach dem gleichen Muster gerechtfertigt. Im Juli 1940 geißelte Grone die „englischen Logenkreisen“ und „Geheimgesellschaften,“ die den Krieg von 1914 durch „okkulte Methoden“ angestiftet hätten um Deutschland auszurotten. Genau die gleichen Kräfte, schrieb Grone, seien an dem neuen Krieg schuld: die englischen „Freimaurerlogen“ mit ihrem „angelsächsischen Rassenegoismus,“ die „Hocharistokratie und Plutokratie,“ „die Oberschicht der Lords und Gentlemen,“ „die führenden Kreise der Hochfinanz“ usw. Um die deutsche „Sendung“ zu durchkreuzen habe England dem friedlichen Deutschland abermals einen Krieg aufgezwungen, „trotz weitestgehender Vorschläge und Bemühungen von seiten des Führers.“ (Jürgen von Grone, „In Memoriam Juli 1914“ Wir und die Welt Juli 1940, S. 282-89; vgl. Jürgen von Grone, „Herrschaftsziele des Empire: Vom Weltkrieg bis zum deutsch-englischen Krieg der Gegenwart“ Wir und die Welt September 1940, S. 377-79, und Jürgen von Grone, „Krise und Umschwung: Ein Blick hinter die Kulissen“ Wir und die Welt November 1942, S. 414-18)
AM Wie gehen englischsprachige Anthroposophen heute mit den deutschnationalen Tiraden Steiners und vieler seiner Anhänger um?
PS Diese Seite von Steiners Denken und Tun ist unter seinen englischsprachigen Anhängern weitgehend unbekannt, mit Ausnahme der anthroposophischen Verschwörungstheoretiker und Holocaustleugner, die mit solchen Thesen ausgeprochen gern weiterfaseln und ihre eigenen Geschichtsentstellungen begründen. Aber okkulte Verschwörungsfantasien im allgemeinen finden immerhin eine rege Anhängerschaft unter englischsprachigen Anthroposophen, und selbst Steiners Kriegsvorträge werden neuerdings stärker rezipiert, wenn auch in etwas mangelhafter Übersetzung. Eine bedenkliche Editionspolitik ist dabei im Spiel. Die gegenwärtige englische Ausgabe von Steiners Zeitgeschichtlichen Betrachtungen wurde vom Londoner Rudolf Steiner Press 2005 neuverlegt, d.h. vor Erscheinen der neuen deutschen Fassung; die englische Neuauflage beruht also auf einer wenige Jahre später für ungültig erklärten Grundlage. Ausserdem wurden die englischen Bände ausgerechnet von Terry Boardman herausgegeben, einem anthroposophischen Verschwörungstheoretiker reinsten Wassers, der alberne Vorstellungen zu Allerlei verbreitet, nicht nur zum Weltkrieg. Man stelle sich vor, der Rudolf Steiner Verlag würde die Herausgeberverantwortung für eine Steiner-Vortragsreihe Dieter Rüggeberg anvertrauen. Das ist ungefähr das Niveau von Boardman. Noch extremer sind die Überzeugungen von englischen und amerikanischen Anthroposophen wie Robert Mason oder Nicholas Kollerstrom, die Aufsätze wie „The Auschwitz ‘Gas Chamber’ Illusion“ propagieren.
Nun gibt es natürlich Ausnahmen, zum Beispiel Christoph Lindenberg, dessen Steiner-Biographie 2012 in englischer Übersetzung erschien (aber bisher anscheinend wenig gelesen wurde). Man möchte sagen können, für jeden Peter Selg und jeden Lorenzo Ravagli gebe es einen Christoph Lindenberg, aber soweit ich das überblicken kann, ist dies leider nicht der Fall. Und für jeden Haverbeck oder jeden Bondarew? Die altbekannte anthroposophische Schwierigkeit im Umgang mit der Geschichte, zumal der eigenen, kommt hier auf unerfreuliche Weise zum Tragen.
AM In der aktuellen Ausgabe der rechts-anthroposophischen Zeitschrift „Der Europäer“ (Basel) erscheint ein Artikel mit dem Titel „Zum Begräbnis der deutschen Alleinschuld-These“. In Anthroposophistan nimmt man seit neuestem auch gern auf Christopher Clarks „The Sleepwalkers“ (2012) bezug, das offensichtlich auch nicht davon ausgeht, Deutschland „allein“ sei am Krieg Schuld gewesen. Aber: Ist das wirklich eine neue historische Position? Und: Kann man wirklich sagen, dass die wissenschaftliche Debatte neuerdings anthroposophische Bewertungen des Ersten Weltkriegs teilt?
PS Das ist keineswegs eine neue historische Position. Von einer Alleinschuld Deutschlands ist so gut wie kein Historiker je ausgegangen, solche Behauptungen wurden fachintern nie ernst genommen. Clarks Buch Die Schlafwandler gibt eine altbewährte historische These wieder. Daß dies von Steiners Anhängern derart missverstanden wird, zeigt die Realitätsferne anthroposophischer Diskussionen (das gleiche gilt freilich für so manch andere öffentliche Diskussion heutzutage, ob in Deutschland oder in den USA). Die Meinungen zum Ersten Weltkrieg, die von vielen Anthroposophen geteilt werden, bestehen zum großen Teil nicht einmal aus falschen Bewertungen, sondern einfach aus Legenden, die einer auch nur oberflächlichen geschichtlichen Analyse nicht standhalten. In diesem Sinne gehen anthroposophische Stellungnahmen an der wissenschaftlichen Debatte schlicht vorbei.
AM Welche Antworten zur „Kriegsschuldfrage“ werden in der historischen Forschung zum Ersten Weltkrieg in der letzten Zeit geteilt und debattiert?
PS Die ganze Thematik ist nach wie vor Gegenstand einer lebhaften historischen Diskussion. Neue Forschungsergebnisse werden besprochen, neue Interpretationen erwogen, ältere Ansätze weiterentwickelt. Die „Kriegsschuldfrage“ als solche ist mittlerweile eher eine Frage nach den Kriegsursachen geworden, nach der Entstehung und Entwicklung der unmittelbaren Gründe für den Kriegsausbruch. Sowohl Deutschland als auch Österreich-Ungarn nehmen da einen Hauptplatz ein, neben England, Frankreich, Rußland, und Serbien. Geschichtswissenschaftlich gesehen sind die gängigen anthroposophischen Weltkriegsmythen nichts als Ausflüchte, ein Kapitulieren vor der Komplexität der Geschichte. Verschwörungstheorien sind überhaupt ein Sammelsurium aller möglichen Vermutungen, Gerüchten, und Verzerrungen ohne logischen Zusammenhang, und es wäre wohl verfehlt, hier ein stimmiges Argument zu erwarten. Dennoch könnte eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der vielfältigen historischen Forschung zum Ersten Weltkrieg für Steiners Anhänger ein Anlass zum Nachdenken, zur Besinnung, Selbstreflexion und Neuorientierung sein.
AM Vielen Dank für dieses Interview!
Peter Staudenmaier ist Juniorprofessor für Neuere deutsche Geschichte an der Marquette University (Milwaukee, Wisconsin). 2010 promovierte er an der Cornell University zum Thema “Between Occultism and Fascism: Anthroposophy and the Politics of Race and Nation in Germany and Italy, 1900-1945.”
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