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„Sergej, du hast dich selbst gegeben“. Nachlese zum Aussterben der Theosophie und zu anthroposophischen Erinnerungen an Sergej Prokofieff
„Mein Prokofieff-Bild beruhte vollständig auf dem, was mir meine Großmutter zu ihm sagte. Er sei für sie der wichtigste Anthroposoph nach Rudolf Steiner und auch – das betonte sie sehr – ein Wunder. Denn er habe, ohne von Rudolf Steiner und der Anthroposophie in Kenntnis zu sein, isoliert in der UdSSR sitzend, eben die gleichen wahrhaft anthroposophischen Erkenntnisse gehabt. Prokofieff war für sie eine Art zeitgenössischer anthroposophischer Heiliger. Außerdem passte das gut in die Russland-Affinität, die sie, wie andere auch, pflegte.“
– Christoph Kühn, in: Endstation Dornach, Rinteln 2011, S. 307f.
Rückgang der Mitgliederzahlen
Die Entwicklung der Mitgliederzahlen der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland verläuft für letztere nicht unbedingt erfreulich. In der aktuellen Ausgabe der „Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland“, Beilage von „Anthroposophie Weltweit“ (August/September 2014), heißt es:
„Zunächst ist wahrzunehmen, dass der Rückgang unserer Mitgliederzahlen sich von Jahr zu Jahr verstetigt. Im vergangenen Jahr sind die Mitgliederlisten nach tiefgreifenden Klärungen der Mitgliedschaften in den Zweigen, Arbeitszentren und in der Landesgeschäftsstelle auf den neuesten Stand gebracht worden. Danach stellen wir fest, dass die Mitgliederzahl im Berichtsjahr von 14.740 um 1.008 auf 13.732 zurückgegangen ist, das sind fast 6,9 %.“ (Jahresrechnung 2013. Bericht des Schatzmeisters und des Geschäftsführers für das Jahr 2013, S. 9)
Die Mitgliederzahlen sinken seit 1989 stetig, es kommt offensichtlich kaum oder jedenfalls: zu wenig Nachwuchs. (vgl. Miriram Gebhardt: Rudolf Steiner, 15) Der anthroposophische Blogger Michael Eggert sieht darin eine „Quittung für das engstirnige und selbstbezogene Treiben“ der organisierten Anthroposophie: „Sieben Prozent Schwund in einem Jahr auf ohnehin schwachen Beinen mag der genaueren Zählung mit geschuldet sein, gleicht aber doch einem Offenbarungseid, der zumindest vor der Tür steht. Das Mutterschiff Anthroposophische Gesellschaft ist leck geschlagen, aber die an Bord scheinen ihre seltsam entrückte Party unbeeindruckt weiter zu zelebrieren.“ (Eggert: Die anthroposophische Gesellschaft als die FDP der Esoterikszene)
Eggert spricht von jenen traditionellen und betagten Anthroposophen, die Gegenstand von Klischees und doch in anthroposophischen Kreisen die Regel sind: Unbeirrten Lehnstuhl-Michaelsritteln, die jeden Mittwoch im örtlichen „Zweig“ Steiner lesen, zu Vorträgen populärer anthroposophischer Autoren in ihrer Umgebung fahren oder sie ggf. organisieren und liebevoll ihre die nächstgelegene Waldorfschule besuchenden Enkel und Urenkel versorgen. Mit dieser anthroposophischen (Kern-)Generation können deren jüngere Mitglieder zahlenmäßig bei Weitem nicht mithalten. In der Außenperspektive freilich ist dies mehr als die „Quittung“ für die selten überschnittene Selbstbespiegelung in anthroposophischen Kreisen. Die Anthroposophie als Form der Esoterik gleicht nach wie vor der Bewegung, der sie entstammt, von der sie sich stets manisch abgrenzte und deren Probleme sie ebendeshalb nie überwunden hat: Der theosophischen. (Eine Ausnahme bildet Robin Schmidt: Rudolf Steiner. Skizze seines Lebens, Dornach 2011) Auf sie scheint denn auch zuzukommen, was die englischsprachige Theosophie-Forschung über das schlichte Aussterben ihres Gegenstands berichtet. Die ältere Theosophie Nordamerikas zeigt vielleicht, was für die Anthroposophische Gesellschaft in nicht allzu langer Zeit zu erwarten sein dürfte:
„The infusion of counterculture youth and their ideas in the 1960s and 1970s undoubtly strengthend the movement for a time, but today it has lapsed into a relatively quiescent state, and few if any indications point to it experiencing dramatic resurgence in the future … The old days of big public meetings and, numerous lodges in major cities, massive output of periodical and other literature – these are gone … No doubt individuals will continue to network. But the shrinking membership of the three [Theosophical] societies appears to be an irreversible process. If the organizational forms of the movement are to play important roles in the spiritual developments of the twenty-first century, then at present those roles are not clear …“ (W. Michael Ashcraft: The Third Generation of Theosophy and Beyond, in: Olav Hammer/Mikael Rothenstein (Hg.): Handbook of the Theosophical Current, Leiden 2013, 86f.)
Kein Zweifel: Die Waldorfschulen boomen. Zugleich zeigen sie denselben Befund: Immer weniger und vor allem ältere Lehrer bekennen sich offenbar noch zur Anthroposophie (Vgl. „Die richtige Gesinnung“), auch wenn sich ebendiese Exemplare gern zu „Despoten“ der Schule aufzuschwingen scheinen, wie Valentin Hacken anmerkte. Längst aber haben nicht mehr die meisten Eingestellten – auch wegen des chronischen Mangels an Lehrkräften – eine Waldorflehrer-Ausbildung absolviert. Den anthroposophischen Tochterbewegungen mag in den kommenden Jahrzehnten eine immer weitergehende Transformation und Diffusion in das ungebrochen große, ja wachsende ökologisch-esoterische, alternativ-„bewusste“, progressistisch-„spirituelle“ Milieu usw. bevorstehen, das sich ja bereits gegenwärtig an Waldorfschulen tummelt. Noch freilich wird es dauern, bis sich massive Struktureinbrüche der Anthroposophischen Gesellschaft zeigen. Vielleicht gelingt auch auf irgendeinem Wege ein Umschwung. Auf ihrer Jahrungstagung Mitte Juni in Stuttgart hat die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland sich an „neuen Wegen“ versucht, bewusst jüngere Mitglieder in Vorbereitung, Ablauf und Vorstand zu integrieren. Anthroposophie solle „nahbar“ werden, man sah sich „im Licht am Ende eines langen Tunnels“, wie NNA berichtete.
Sergej Prokofieff: Ein anthroposophischer Star
In der anthroposophischen Szene wird schon länger um die Beantwortung der Frage gekämpft, wie es mit der anthroposophischen „Arbeit“ weitergehen soll. Hierzu kann ein Blick auf einen Autor helfen, den viele Anthroposophen als einen Fels in der Brandung einer krisengeschüttelten Anthroposophie- und überhaupt irgendwie allgemeinen Menschheits-Situation wahrnehmen. Der kürzliche Tod Sergej Prokofieffs, eines unter Anthroposophen eben auch der scheidenden Generation über alles geliebten Okkultisten, Buchautoren und Vortragsredners ruft in der Szene die Frage nach der künftigen Bedeutung seines esoterischen Erbes wach. Prokofieff, bis vor Kurzem Mitglied des Vorstands der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, ist einer derjenigen Anthroposophen, an denen sich ein Liberaler wie der oben zitierte Michael Eggert regelmäßig kritisch bis empört abarbeitet. Wer die abnehmenden Mitgliederzahlen als „Quittung“ versteht, zweifelt auch nicht, welche Stars der anthroposophischen Szene die Verantwortung dafür haben müssen: Jüngst machte Egert sich über Prokofieffs „Seeligsprechung“ in den Landesnachrichten der Schweizer Anthroposophischen Gesellschaft lustig.
„Das Wesentliche ist offenbar die Emotion, dass wir (wer immer sich dazu rechnen mag) mit dem „Strom“ und dem „Ziel“ verbunden seien- ein Versprechen, eine Aussicht, vielleicht auch eine Anmaßung. Aufgrund dieser Vagheit und der pompösen Selbstzuschreibung bleibt es für den Betrachter doch sehr fraglich, ob Prokofieff denn nun tatsächlich einer war, dem das «Verbinden von Intelligenz mit Spiritualität» , wie behauptet, in vollendeter Weise gelungen sei.“ (Eggert: Sergej Prokofieffs Seeligsprechung)
Prokofieff war habitueller Anthroposoph par excellence, er hatte und verbreitete eine Mission. In seinen Schriften und Reden hatte er es nie nötig, sich auf irgendwelche Anthroposophie-externen Quellen zu stützen. Prokofieffs Wirkung auf seine Fans beschränkte sich ganz auf den okkulten Arkanbereich der Anthroposophischen In-Group und beruhte noch ganz auf seinem Charisma – von ihm gesetzte Thesen galten aus seiner eigenen auratisch-rhetorischen Kraft und brauchten keine weitere Herleitung. Prokofieffs Ideologieproduktion war dabei m.E. letztlich nicht produktiv oder erweiternd – sondern übersteigerte, kombinierte und potenzierte im Wesentlichen irgendwelche Aussagen Rudolf Steiners zu einer noch komplizierteren esoterischen Maschinerie. Dabei wurden Steiners vielfach anlassgebundene und mit dezidierten Problem- oder Fragestellungen verknüpften esoterische Vorträge aus ihren historischen und werkimmanenten Kontexten gelöst und zu universal anwendbaren und aneinandersetzbaren Modulen. Eine ähnliche Steiner-Exegese scheint auch viele „Zweigabende“ zu dominieren, was wohl seinen Teil zur Affinität des älteren anthroposophischen Kernpublikums zum Prokofieff beitrug. Ein anderer Grund war die Verpflichtung auf eine anthroposophisch durch-gestaltete Lebenswelt, für die etwa das Internet eine Falle des Erzdämonen Ahriman darstellen kann. Prokofieff hat auch den Wissenschaftler Helmut Zander als Werkzeug Ahrimans bezeichnet. (zit. bei NWA: Gefährliche Wissenschaften) Ein Interview mit der dem anthroposophischen Mileu verhafteten alternativen Nachrichtenagentur „NNA“ sagte Prokofieff vor Jahren wohl aufgrund seiner habitualisierten Internetabstinenz ab, wie es in einem Nachruf dieser Agentur angedeutet wird.
Diese Steinerdeutung sorgte dafür, dass Prokofieff in den öffentlichen Debatten um die Anthroposophie selten eingriff und in der Außenwahrnehmung fast keine Rolle spielte. Lediglich Peter Bierl bemerkte mit Blick auf Prokofieffs Erzählungen „über die Besonderheiten der diversen europäischen Volksgeister und den ganz besonderen deutschen Voksgeist“ hämisch: „Prokofieffs Werk sei jedem empfohlen, der sich aus erster Hand davon überzeugen möchte, was für eine wirre Phantasiewelt Anthroposophie ist.“ (Bierl: Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister, Hamburg 2005, S. 256, vgl. Prokofieff: Die geistigen Aufgaben Mittel- und Osteuropas, Dornach 1993) Zuletzt ist Prokofieff mit einem Hieb gegen seine charismatische Konkurrentin Judith von Halle, die durch Christus-Visionen und Stigmata von sich reden machte, aufgetreten. Dies war Prokofieffs letzte offiziöse Handlung, kurz zuvor hatte er seine Mitgliedschaft im Vorstand der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ ruhig gelegt und sich aus Krankheitsgründen zurück gezogen.
Trauergäste
Darüber und über Prokofieffs Thesen und Werdegang habe ich im Artikel „Sinn und Sinnlichkeit“ mehr geschrieben. Hier soll es um das „Phänomen“ Prokofieff gehen. Repräsentativ ist dafür die eingangs zitierte Erinnerung von Christoph Kühn aus „Endstation Dornach“. An Ort und Stelle beschrieb auch Christian Grauer Prokofieff als „den Lieblingsanthroposophen meiner alten Tante.“ Die habe immer gesagt: „Das ist so ein bescheidener Mensch! Und doch kann er so tief in die geistige Welt blicken, er muss sein Wissen schon von irgendwoher mitgebracht haben.“ Als vor Jahren Prokofieffs Wiederwahl in den Vorstand der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ anstand, sollen aneblich Fans ganze Busse organisiert haben, um wiederwahlwillige Mitglieder zur Dornacher Abstimmung zu bringen. Weitere meinungsbildende Anthroposophen wie Peter Selg beziehen sich wohlwollend auf ihn.
Am 26. Juli 2014 nun ist Prokofieff nach dreijähriger Krankheit verstorben. Von der Trauerfeier, die übrigens wohl altersmäßig sehr heterogen besucht war, berichtete NNA:
„Viele der Trauergäste konnten im großen Saal der Schreinerei am Goetheanum keinen Platz mehr finden, in Warteschlangen vor den geöffneten Saaltüren stehend, erlebten sie die Feierlichkeit. Vor einer Saaltür war ein großes Foto des Verstorbenen aufgestellt. Er selbst hatte gebeten, von Blumen- und Kranzspenden abzusehen und stattdessen für die Anthroposophische Gesellschaft in seiner Heimat Russland zu spenden. In Anwesenheit eines internationalen und auch von den Generationen her sehr gemischten Publikums zelebrierte Pfarrer Rolf Herzog aus Basel das Bestattungsritual der Christengemeinschaft. Auch manche Angehörige von Prokofieffs weitverzweigter Familie waren nach Dornach gekommen, um dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen ebenso wie die Vorstandsmitglieder der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft. Prokofieff hatte dem Vorstand bis 2013 angehört, zuletzt als emeritiertes Mitglied. Innerhalb des Aussegnungsrituals der Christengemeinschaft gab Pfarrer Herzog einen kurzen Lebensrückblick. Der mit Prokofieff befreundete Arzt und Autor Peter Selg, der bis zuletzt mit ihm in Verbindung gestanden hatte, würdigte die Verdienste des Verstorbenen als Redner und Schriftsteller im Dienste der Anthroposophischen Gesellschaft. Ausführlich schilderte Selg wesentliche Lebensstationen und Wendepunkte seines verstorbenen Freundes.“
Es ist aufschlussreich, wie Prokofieffs jetzt unter Anthroposophen gedacht wird. Man hat in der Tat das Gefühl, die „Seligsprechung“ eines in die Geistige Welt zurückgekehrten anthroposophischen Apostels mitzuerleben. Der NNA-Nachruf bemühte sich vor allem, Temperament und Auftreten des Staranthroposophen aus seinen jugendlichen künstlerischen Ambitionen zu erklären. Nicht weniges spricht dafür.
In den von Eggert kritisierten „Mitteilungen“ der Schweizer Anthroposophen drehte sich eine Ausgabe komplett um ihn (IX, 2014). Nach dem Abdruck eines Prokofieff-Vortrags über den Erzengel Michael schreibt Peter Selg über „Sergej O. Prokofieff und das Michael-Mysterium“ (S. 7-10), anschließend erzählt Clara Steinemann eine „Erinnerung an Sergej O. Prokofieff und seine ‚Winterarbeit‘ am Goetheanum“ (S. 10-11), gefolgt von Marc Desaules‘ „Rencontre avec Sergej Prokofieff“ ( S. 11-12). Darauf wiederum folgt Thomas O’Keefe mit dem Titel „Sergej Prokofieff verband beispielhaft Intelligenz und Spiritualität in seinem Herzen“ (S. 12), bevor Günther von Negelein noch „Gedanken am Sarg von Sergej Prokofieff“ mitteilt. Der Meister wird, ähnlich wie Steiner, fast, aber dann doch nicht unnahbar hoch gestellt. Und, wie im anthroposophischen Vehältnis zum Anthroposophie-Gründer, wird das eigene Verhältnis zu dieser riesigen spirituellen Figur als menschlich-allzumenschliches Versagen vor seinen erhabenen Intentionen dargestellt.
Figurationen eines Helfers der Menschheitsentwicklung
Prokofieff repräsentierte nicht nur, er inkarnierte für seine Anhänger das Wesen der Anthroposophie. Dazu Günther von Negeleins „Gedanken am Sarg“:
„Ich betrachte seinen Mund, dessen Lippen den Eindruck vermitteln, als ob sie sich gleich wieder öffnen würden, warum dürfen sie es nicht mehr? Welches Opfer ist hier gebracht worden? Unter wie viel Unverständnis und Widerständen hatte er zu leiden? Und trotzdem diese hohe, von Sorgenfalten unberührte Stirn. Was für ein Reichtum an Gedanken sind hinter ihr gespiegelt worden! Die in dem Verstorbenen gelebte Geisteswissenschaft wird der geistigen Welt erweisen, was auf Erden gedacht werden kann. Möge er trotz der im neuen Prospekt seiner Werke ausgedrückten Enttäuschung über das Nicht-verstanden-worden-Sein bezüglich seiner Intentionen uns beistehen, dass wir unsere Aufgaben auf geisteswissenschaflicher Ebene in der rechten Weise erkennen.“ (S. 13)
Eine ganze Ausgabe des anthroposophischen Zentralblatts „Das Goetheanum“ (35/2014) ist Prokofieff ebenfalls gewidmet worden. Deren Titelblatt zitierte den sakralen Verstorbenen trotzdem widersprüchlicherweise mit den Worten: „Keine Bilder, keine Lobeshymne. Ein Jahrhundert lang. Möge Schweigen mich umgeben.“
Ganz ähnlich wiederum geschehen anthroposophische Erinnerungen an die Person Steiners – jede noch so dogmatische Abhandlung weiß Steiners „Keine Dogmen!“ zu zitieren und gutzuheißen. Noch zwei Ausgaben später empörten sich allerdings Leserbriefe über die in der Tat performativ widersprüchliche Wahl des Titelspruchs. Tomás Bonek etwa glaubt, die „Goetheanum“-Redaktion sei hier unfreiwillig vom „Bösen“ beeinflusst worden, schließlich dürfe man über Prokofieff niemals schweigen, ja: es zu tun, wäre menschheitlich gefährlich.
„Da es in diesen Strophen auch um ein ‚hundertjähriges Schweigen‘ geht, ist die Sache noch bedenklicher und ernster. Die Worte sind aus dem Zusammenhang der lyrischen Jugenddichtung Sergej Prokofieffs gerissen, die er vor mehr als 40 Jahren in einem völlig anderen Kontext geschrieben hat – sie wurden gewissermaßen durch die Verwendung zu einer testamentarischen Willensäußerung erhoben. Wenn es so wäre, dann würden selbst die Gebete und Sprüche, die für Sergej Prokofieff weltweit gesprochen werden, infrage gestellt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es seinem aktuellen Willen und der Situation entspricht. Sergej Prokofieff erhoffte sich auch für die Zukunft eine positive und fruchtbare Wirksamkeit seiner Werke, die mit seinem Namen und seiner Individualität verbunden sind und bleiben.“ (Das Goetheanum, 37/14. September 2014, S. 12)
Auf derselben Seite steht ein Gedicht über Prokofieff aus der Feder von Irene Johanson, die Prokofieff schon kannte, als er noch in Russland „wirkte“ und die sogar mit ihm gesprochen habe („Von daher fühle ich mich sehr mit ihm verbunden“). In den Zeilen heißt es u.a.:
„Sergej, du hast dich selbst gegeben,
Zu zeugen für des Geistes Leben.
Als Russland noch vom Geist verlassen,
Hast du geebnet ihm die Straßen,
…
In viele Sprachen zog er ein;
Um jedem Volk ein Licht zu sein.
…
Wer dich gekannt hat, darf vertrauen
Und Geist im Erdenleben schauen.“
Auch in die oben zitierten Schweizer Mitteilungen wurde ein Gedicht von Ruth Dubach mit dem Titel „Für Sergej Prokofieff“ aufgenommen (S. 7). Darin liest man, der Verstorbene sei schon längst über die Schwelle, weite sich geistig, sei auf dem Weg zum „Strahlenkreis der Götter und der Geistgefährten in der auserwählten Stunde“. In dieser Apotheose wird Prokofieffs höheres Wesen jedoch zugleich als weltzugewandt vorgestellt (sein „Herz“ wende sich mit „Feuerkraft“ „erdenwärts“). Er ist offensichtlich ein geistiger, den Göttern naher Menschheitshelfer. Zum Unheil unserer „kranken Welt“ schaue der große Geist mit seinem „Flammenblick“: „Je grösser Deiner Menschenbrüder Not, je mehr das ferne Götterziel bedroht, nur umso mächtiger Dein Helferwille loht.“ Man beachte einmal mehr die Sinnlichkeit dieser Beschreibungen: sakraler Leib (von Nägelein), tiefe Berührung durch persönliche Begegnung (Johanson), eine wiederholt als feurig-flammenhaft beschriebene Geisteskraft, die von ihm ausstrahle (Dubach).
Weisheit vom Menschen
Es wäre unangemessen, diese Seligsprechung ironisch abzutun. Sie folgt einer internen Logik, die aus Steiners Zeiten herrührt, vor allem aber viel über den religiösen Kern der Anthroposophie und seine rituellen Auswirkungen mitteilt. Tore Ahlbeck schreibt über das anthroposophische Steinerbild der Gründergeneration: „they regarded him as a human being, not as a devine or semi-devine being.“ (vgl. Ahlbäck Rudolf Steiner as a Religious Authority, in: Western Esotericism, hg. v. Tore Ahlbäck, Donner Institute for Research in Religious and Cultural History, 2008, S. 14) Das klingt nach einer simplen Feststellung, lenkt aber den Blick auf das Wichtigste: Steiner wie Prokofieff galten oder gelten als hoch entwickelte menschliche Individuen, denen Wertschätzung eben darum zu zollen ist, weil sie sich als Menschen auf das Göttliche hin vollendeten und die aufgrund der so erworbenen geistigen Kraft auch nach ihrem Tod auf die Welt einwirken. Fest steht dabei: Prokofieff arbeitet im Dienste der weit umfassenderen Entelechie und Signifkanz Rudolf Steiners, der er aber mustergültig gerecht wurde.
Höchst wahrscheinlich stammt der überwiegende Anteil der Prokofieff-Anhänger tatsächlich aus dem überalterten Mainstream der anthroposophischen Szene. „Schuld“ an der Überalterung trifft ihn freilich nicht, vielmehr ist sein Erfolg Ausdruck der spirituell-autoritativen Wünsche einer bestimmten anthroposophischen Generation. Es bleibt abzuwarten und beobachtenswert, welche weiteren Transformationen der aufgestiegene Geisteslehrer im anthroposophischen Diskurs durchlaufen wird.
Mehr auf diesem Blog:
Sinn und Sinnlichkeit: Sergej Prokofieff, Judith von Halle und das „Volkstümlich-Mondhafte“
Anthroposophischer Geschichtsrevisionismus: Wie England den Deutschen Volksgeist zerstörte
Rudolf Steiner war vieles, aber kein Freund weltanschaulicher Kompromisse. Im Ersten Weltkrieg lief der esoterische Vollzeitpatriot zur völkischen Höchstform auf: Alle Welt habe sich gegen das ehrliche, freiheitsliebende Deutschland verschworen. Seine völker- und rassentheoretischen Positionen hat der Anthroposoph niemals zu revidiert. Umso bemerkenswerter, dass er nach dem Ersten Weltkrieg die vorher apodiktisch abgelehnte Schuld Deutschlands an diesem Krieg eingestand: „Die Welt will ein ehrliches Wahrheitsbekenntnis des deutschen Volkes … Und diese Wahrheit, sie ergibt, recht gelesen, die restlose Verurteilung der deutschen Politik. Eine Verurteilung, die schärfer nicht sein könnte.“ (GA 24, 387)
Trotz dieser (impliziten Selbst-)Kritik Steiners haben sich seine Gedanken während der Zeit des Krieges in Anthroposophistan bis heute nicht erledigt. Wer denkt, geschichtsrevisionistisches und verschwörungstheoretisches Gedankengut spiele in heutigen anthroposophischen Kreisen keine Rolle mehr, kann sich jedenfalls in der aktuellen Ausgabe von „Anthroposophie weltweit – Mitteilungen Deutschland“ (11/2013, S. 6) eines Besseren belehren lassen. Dort wird über eine Tagung der deutschen Anthroposophischen Gesellschaft berichtet, die vom 3. bis zum 6. Oktober 2013 in Kassel stattfand. Der Pathos, mit dem im Mitteilungsblatt über die Veranstaltung berichtet wird, zeigt, wie sehnsuchtsvoll anscheinend auch viele heutige Anthroposophen am deutschen Wesen genesen möchten:
„Die mit Recht groß angekündigte Kassler Herbsttagung zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges und zu Rudolf Steiners diesbezüglichen Aussagen war nicht nur für die Veranstalter, die AGiD und den Kassler Zweig, ein großartiger Erfolg, sondern auch für die etwa 250 Besucherinnen und Besucher ein einmaliges, unvergessliches Erlebnis.“ (Verlust der Mitte – das tragische Schicksal Mitteleuropas, ebd.)
Zweifellos. Denn die 250 Besucherinnen und Besucher hörten Thesen, die auch Steiner schon im Ersten Weltkrieg von sich gab: Der kosmpolitische „deutsche Geist“ und seine Inkarnationsplattform „Mitteleuropa“ stehen für den universellen Frieden. Der wurde verhindert, und zwar von allerlei Geheimbünden, die sich hinter konkurrierenden esoterischen Fraktionen (namentlich der Theosophie), den USA und England verstecken. Letztere beherrschen die Welt mehr oder weniger vollständig, haben aber zumindest die deutsche Mission (deren wichtigstes Medium natürlich die Anthroposophie ist) erfolgreich an seiner weltumspannenden Sendung gehindert.

„In den geheimen Zirkeln der englisch sprechenden Welt“ ersonnene „Neugestaltung Europas“: Verschwörungstheoretische Karte Steiners, abgedruckt bei dessen Schüler Karl Heise: Entente-Freimaurerei und Weltkrieg (Basel 1918). Heise, Anhänger der Ariosophie, arbeitete später mit Alfred Rosenberg zusammen und wurde auch von Himmler geschätzt.
Vom romantischen Protest gegen die Aufklärung zum reaktionären gegen die Weimarer Demokratie haben einsame deutsche Seelen sich mit solchen Elementen aus dem nationalen Verschwörungsbaukasten die wärmende Brust ihrer „Volksseele“ zusammengezimmert. Solchermaßen vor kritischen Einsichten in Geschichte und Gesellschaft geschützt, ließ sich das Modell auch problemlos ins 20. und 21. Jahrhundert übertragen. Zwar ist in der anthroposophischen Bewegung ständig von „Menschheitsentwickelung“ und einem fortschrittsoptimistischen Konzept der Bewusstseinsgeschichte die Rede. Die Geschichte seit 1918 scheinen die Referenten oder jedenfalls der zitierte Berichterstatter der Tagung zwar abstrakt zur Kenntnis genommen, aber, mit Verlaub, nicht wirklich nachvollzogen zu haben: Wenn im eingangs erwähnten Tagungsbericht die „80er Jahre“ angeführt werden, bezieht sich das auf das 19. Jahrhundert. Wenn Stephan Stockmar (s.u.) in einer Paraphrase des Hauptredners Markus Osterrieder von „den Juden“ spricht, dann, um an deren sog. „Heimatlosigkeit“ zu erinnern – als wäre nicht zwischenzeitlich Israel gegründet worden. Wenn der Flyer der Tagung „die europäische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ erwähnt, ist damit nicht etwa die Shoa oder der Zweite Weltkrieg gemeint, sondern das „geschichtliche Geschehen“ des Ersten, in dem Rudolf Steiner sukzessive ab 1917 seine sog. „Friedensinitiative“ der Sozialen Dreigliederung entwickelte.
Deren faktische Irrelevanz ist natürlich auf das ‚Angloamerikanertum‘ zurückzuführen. Dass der Westen sich gegen „Mitteleuropa“ verschworen habe, ist jedenfalls für den Berichterstatter in „Anthroposophie weltweit“ eine zentrale Botschaft der Tagung gewesen:
„Gehen wir ein wenig in die Details von Osterrieders und Boardmans Darstellungen, dann zeigte sich vor allem Eines: die zielsichere Instinkthaftigkeit derer, die von westlicher, vor allem britischer Seite aus seit den 80er Jahren an der Vorbereitung der Neuordnung Europas durch die Inszenierung nicht nur des Ersten, sondern auch des Zweiten Weltkrieges mitgearbeitet hatten. Fast blieb einem bei manchen Darstellungen Boardmans, die britische Seite betreffend, angesichts der Eindeutigkeit des hier Enthüllten der Atem stehen. Könnte Boardman vor englischem Publikum solche Enthüllungen ungehindert aussprechen? Man war geneigt, solches zu bezweifeln.“ (ebd.)
Nicht nur den Ersten, sondern auch den Zweiten Weltkrieg hatte also die ‚westliche‘, ‚britische‘ Welt zu verschulden. Dies ist Geschichtsrevisionismus in mindestens zwei wohl bekannten Kategorien: Die Verschwörungstheorie einer „Kriegsschuldlüge“ wird ebenso aufgetischt wie eine (gleichwohl implizite, auf Verschweigen beruhende) Relativierung der Alleinschuld der Nazis am Zweiten Weltkrieg. Dazu kommen diverse abstruse Vorstellungen über ‚okkulte Logen‘ auf der Hinterbühne des Weltgeschehens. Der pauschale Ausdruck Geschichtsrevisionismus ist aber schwammig, weil die Geschichte hier auf spezifisch anthroposophische Weise revidiert wird. So werden, und das ist durchaus bemerkenswert, keine klassisch-revisionistischen Argumente angeführt: Zweifellos würden die Referenten solche in ihren vulgären, etwa rechtsradikalen Formen, auch deutlich ablehnen. Vielmehr überlagert eine theosophisch-okkultistische Geschichtsdeutung so gut wie alles, was wir heute über die behandelten Ereignisse wissen. Nationalsozialismus, Kaiserreich, Deutschnationalismus, Antisemitismus, Militarismus usw. usf. werden nicht etwa willentlich einer Apologie unterzogen, sondern schlicht und ergreifend ausgeblendet. In der anthroposophischen Geschichtsmetaphysik ist allem Anschein nach angesichts der Steinerschen Verschwörungstheorien für die reale Geschichte Deutschlands kein Platz.
Erster und Zweiter Weltkrieg sind vielmehr in erster Linie Beiprodukte der englischen Herrschaftspläne, durch die an der sog. „Neuordnung Europas“ „mitgearbeitet“ worden sei. Was genau da „enthüllt“ wurde, liest sich in der Paraphrase von Stephan Stockmar, Chefredakteur der Zeitschrift „Die Drei“, wie folgt: Wikinger und Araber haben den englischen Geist zur Weltherrschaft geführt und dieser hat die Regierung inzwischen an die USA abgetreten. Oder ausführlicher:
„Terry Boardman, Autor und Dozent aus England, zeichnete in seinem Vortrag den Weg »Vom englischen zum amerikanischen Weltreich« nach. Auch er nahm im frühen Mittelalter seinen Ausgangspunkt, als England von Norden her dem Einfluss der rücksichtslos erobernden, seefahrenden Wikinger ausgesetzt war und von Süden her dem der arabischen Welt, der seinen Niederschlag in der Intellektualität von Oxford und Cambridge fand. Über den Hundertjährigen Krieg und die imperiale Epoche, als sich die Engländer als von Gott erwähltes Volk verstanden, die Gründung des englischen Geheimdienstes im 16. Jahrhundert, der über lange Zeit durch die bis heute im Oberhaus aktive Adelsfamilie der Cecils getragen wurde, führte Boardmans Darstellung schließlich in die Zeit des Ersten Weltkriegs, in der England den Stab der globalen Vorherrschaft an die USA abgeben musste. Zum Schluss kam er noch besonders auf die Rolle von Sir Edward Grey zu sprechen: Seiner Auffassung nach hätte dieser den Ersten Weltkrieg verhindern können, wenn er Deutschland über Englands Verhalten im Falle eines Einmarsches in Belgien nicht im Unklaren gelassen hätte.“ (Stockmar: Rudolf Steiner, der Erste Weltkrieg und das Schicksal Mitteleuropas)
Neben Boardman und Osterrieder redete Hartwig Schiller, Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland. Der hat viel Enthusiasmus für die „Mysterien des Nordens“ und (sofern Stockmars Zusammenfassung das Wesentliche trifft) auf der Tagung Thesen wiederholt, die er auch andernorts schon ausführlich ausgebreitet hat, etwa 2007 in der Waldorf-Zeitschrift „Erziehungskunst“. Neben einer Dreiheit von geographisch in Nord, Süd und Ost zentrierten Mysterien geht es unter anderem um eine Urgeschichte der Germanen, in der neolithische Felsenzeichnungen Symbole des Ersten Goetheanums zeigen und gotische Heerführer das Wort dazu gefunden haben sollen: „Ich“. Osterrieder enthüllt andere geschichtsmetaphysische Sepkulationen, die ’nur‘ ins 9. Jahrhundert zurückreichen. Aber fest steht für alle: Der Individualismus und der freie Mensch seien geistig Produkte Deutschlands, d.h. „Mitteleuropas“ – eine Idee, die Fichte und der (von Steiner immer wieder gelobte) völkische Prophet Julius Langbehn auch schon vertraten. Der Wert des Individuums und des Internationalismus wird keineswegs über Bord geworfen, sondern mit dem „Deutschtum“ in eins gesetzt, während England eine kollektivistisch-kapitalistische Schreckensherrschaft verkörpert. Deutschland kommt dem gegenüber nurmehr eine „Mitschuld“ am Ersten Weltkrieg zu, die im „Nichtergreifen“ seiner globalen „Aufgabe“ bestehe. Zwischenzeitlich habe sich immerhin eines geändert: sogar Nichtdeutsche können nun „im eigentlichen Sinne Mensch werden“:
„So stand am Ende dieser vielschichtigen Darstellung der Eindruck, dass gerade im Nichtergreifen einer menschheitlich-geistigen Aufgabe Deutschlands Mitschuld am Kriegsausbruch liegt. Natürlich könne man auch weiterhin das Mitteleuropäische immer wieder beschwören. Doch die Gelegenheit, im eigentlichen Sinne Mensch zu werden, besteht heute allerorten. Und Osterrieder hält es für möglich, dass im Zuge beider Weltkriege eine speziell für Mitteleuropa bestehende Entwicklungschance unwiederbringlich verloren gegangen ist.“ (Stockmar, a.a.O.)
Auf den „Geheimdienst“ Englands und die Überzeugung einer britischen Auserwähltheit wird mit Empörung reagiert, dagegen ist die Auserwähltheit Deutschlands offenbar Selbstverständlichkeit. Es bedurfte anscheinend zweier Weltkriege, um einen anthroposophischen Vortragsredner davon zu überzeugen, es sei auch nur „möglich“[!], dass „Mitteleuropa“ eine „Entwicklungschance“[!] verpasst haben könne. Dass „Mitteleuropa“ dem Rest der Welt besagte Kriege und Auschwitz brachte, wird wieder nicht erwähnt. Und auch das ‚Verpassen‘ der ‚Chance‘ liege selbstverständlich daran, dass man nicht deutsch (denn das heißt ja „menschheitlich“) genug gewesen, sondern dem Vorbild Englands gefolgt sei. Stockmar über Osterrieder:
„Es geht ihm also nicht um ein Volk und seine Kanzlerin, sondern um Kultur und Sprache als innere Heimat. Die Fragen nach der seelischen Mitte Europas und nach dem, was es ausmacht, ein Deutscher zu sein, entwickelte er aus der Stimmung der Heimatlosigkeit, wie sie auch bei den Juden zu finden ist. Allerdings, frei nach Fichte: Als Deutscher ist man nicht geboren! Und genau hier beginnt die Problematik auch im Sinne Steiners: Das Seelische muss aus dem Ich heraus wieder neu geboren werden. Doch gerade das offizielle Deutschland war zu Anfang des 20. Jahrhunderts mit ganz anderen Fragen beschäftigt, die es England nacheifern ließ und dadurch in den Nationalismus trieb.“ (ebd.)
Ob die Erwähnung der ‚heimatlosen‘ Juden den Umstand demonstrieren soll, dass man möglichst schnell über diesen Status hinauskommen müsse, ob damit etwas Glanz vom auserwählten Volk geborgt, eine besondere geistige Flexibilität behauptet oder aber der vermeintliche Opferstatus der Deutschen beschworen werden soll: ich vermag es nicht zu sagen. Klar ist nur, dass die Anthroposophie der von allen anderen verhinderte Nucleus des deutschen Wesens ist, das bestimmt war, den freien, schöpferischen „eigentlichen Menschen“ zu erschaffen: Das Seelische kommt aus dem Ich und das Ich aus Deutschland, das Deutschthum liegt nicht im Geblüthe, sondern im Gemüthe. Die zitierten Positionen sind schlichte, aber konsequente Ergebnisse einer in die Gegenwart verlängerten anthroposophischen Geschichtsdeutung: Alle Augen sind auf Steiner gerichtet, der mit seinem „mitteleuropäischen“ Okkultismus alles ganz anders hätte machen können, wären die Mächte von Ost und West nicht gewesen.
„Denn immer wieder wurde auf eindrückliche Weise deutlich: Der mitteleuropäische Okkultismus eines Rudolf Steiner, das hier in Kassel bereits vor Ausbruch des 30-jährigen Krieges vergeblich wirksame Rosenkreuzertum, die Anthroposophie rechnet mit dem freien Willen des sich entwickeln wollenden Menschen – weder durch Manipulation, noch durch Suggestion, sondern durch das frei angebotene «Erkenne dich selbst» wirkt der mitteleuropäische Einweihungsweg, während von Ost und West mit manipulativen, das freie Erkenntnisvermögen und den freien Willen übergehenden, letztlich unmenschlichen, ja Menschen verachtenden Methoden gearbeitet wurde und weiterhin gearbeitet wird.“ (Bericht in Anthroposophie weltweit, a.a.O.)
Diesen Gedanken hat Lorenzo Ravagli zu seinem zynischen, antihumanen Ende weitergedacht. Bei ihm müssen weniger „Ost und West“, dafür aber die Nazis und nicht näher definierte Linke als „Archonten“, gnostische Schattengötter, herhalten, die den Weg der anthroposophischen Mission blockieren:
„Die alten Mächte, die Archonten dieser Welt, bäumten sich umso mehr gegen das Licht auf, das in ihre Finsternis schien, als dieses Licht in immer mehr Menschen zu leuchten begann … wie auf der einen Seite das Licht einer friedenstiftenden, menschheitsversöhnenden Erkenntnis durch das Wirken Rudolf Steiners aufleuchtete, während sich auf der anderen Seite die individualitätsauslöschende, hasserzeugende Finsternis durch das Wirken von Gegenmächten ausbreitete. Diese geistigen Gegenmächte bedienten sich kollektivistischer und totalitärer gesellschaftlicher Formationen, die sich in offener Feindseligkeit gegen die alles umfassende Generalreformation des Abendlandes stellten, auf welche die Anthroposophie hinzielte und strebten die Auslöschung jener spirituellen Strömung des christozentrischen Individualismus an, die ihre eigene Herrschaft untergrub. In seltener Einmütigkeit verbündeten sich schließlich der autoritäre Konservatismus kirchlicher und nationalistisch-völkischer Provenienz und der kollektivistische Progressismus der Linken, um die einzige geistige Strömung zu vernichten, die den Untergang des Abendlandes hätte verhindern können, den sie durch ihren eigenen Antagonismus am Ende herbeiführten.“ (Ravagli: Peter Selgs Steiner-Biographie)
An dieser Aussage Ravaglis lässt sich einmal mehr demonstrieren, wie anthroposophischer Geschichtsrevisionismus funktioniert: Da der Weltenlauf sich ausschließlich um Steiner dreht, der nicht nur „Geisteswissenschaftler“ ist, sondern (Stichwort: Anthroposophie – eine Religion?) auch das ultimativ erlösende Wissen verkündet, fällt alles Gegenläufige anscheinend unter den Tisch. Jede Katastrophe wird zur „Feindseligkeit gegen die alles umfassende Generalreformation“ Steiners, während dessen Ressentiments akzeptiert und zur Rasterfahndung nach Feinden verwendet werden. Und Steiner hielt die Anthroposophie nicht nur für abendländisch, sondern eben auch primär: für „deutsch“, den Ersten Weltkrieg für „angloamerikanisch“ usw. usf. Dies öffnet Tür und Tor für historische Verdrehungen. So schlimme Sachen wie Krieg können mit dem ‚wahren Deutschtum‘ nichts zu tun haben: Was nicht sein darf, kann nicht sein – ein Spruch, dessen Gegenteil das 20. Jahrhundert mehrfach in schrecklichen Ausmaßen gezeigt hat. Die Realitätsresistenz der Anthroposophie verhindert freilich jeden Zweifel an einer der Geschichte immanenten Vernunft, an die Stelle von Entsetzen tritt eine ultimative kosmische Geschwätzigkeit.
Zum Ersten Weltkrieg und Steiners Ansichten dazu hat Osterrieder, promovierter Historiker, offenbar auch noch ein 1400-seitiges Buch geschrieben, 14 Jahre dafür recherchiert – all das finanziert von der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland. Ob sich darin valide historische Forschung findet oder derselbe Unsinn, wie ihn die zwei zitierten Tagungsberichte nahelegen, sei mal dahingestellt: Ich würde mit ersterem nicht mehr rechnen. Der Tagungsbericht in „Anthroposophie Weltweit“ schließt mit der sorgsam als Frage formulierten Andeutung:
„Das Rosenkreuzertum im Zeichen Michaels wurde hier in seiner ganzen Größe, aber eben auch Tragik sichtbar. Denn was alles hätte verhindert werden können, wenn mehr Menschen sich zum Ersten Goetheanum, dem kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges als Wahrzeichen des in der Äthersphäre der Erde anwesenden Friedensbringers errichteten Menschheitsbaus gefunden und daran mitgearbeitet hätten, diesen Friedensimpuls in Europa auszubreiten?“
Aber bevor wir dazu möglicherweise nicht erst 2033 neue Märchen hören werden, die die Verschwörungstheorien zum Ersten Weltkrieg alt aussehen lassen könnten, steht erst 2014 an, das von weiteren Tagungen dieser Art nicht verschont bleibt. In „Anthroposophie Weltweit“ findet sich direkt unter dem Tagungsbericht ein Aufruf zur Gestaltung einer weiteren, auf der es um Helmuth von Moltke gehen soll. Für die wird das Team Boardman und Osterrieder noch um Thomas Meyer erweitert, Chefredakteur der Zeitschrift „Der Europäer“. Von Osterrieder erfährt man noch, dass er „auch bereit ist, für Schüler ab der 12. Klasse vorzutragen (interessierte Geschichtslehrer mögen sich melden).“ (ebd.) „Erkenntnisse“ ähnlich den zitierten sind also nicht dem Arkanbereich der Anthroposophischen Gesellschaft vorbehalten. Geht es nach deren Aktivisten, sollen sie offensichtlich auch bald an der einen oder anderen Waldorfschule Thema sein. Derweil ist mit einer adäquaten Kritik des universalistisch-nationalistischen „Deutschtums“ nicht zu rechnen: Die üblichen Möchtegernkritiker der Anthroposophie beschränken ihre „Rassismuskritik“ in aller Regel auf das Zitieren von Steiners pittoresken „Neger“-Tiraden.
Aktualisierung: Offenbar gab es auch schon eine kritische inneranthroposophische Reaktion von Ramon Brüll (Info3). Darin wird auch der Name des Berichterstatters für „Anthroposophie weltweit“ genannt: Andreas Neider. Brüll schließt: „Etwa 100 Jahre, nachdem jene „zielsichere Instinkthaftigkeit“ sich formierte, die Neuordnung Europas vorzubereiten, in der Friedensbewegung der 1980-Jahre, tauchte der auf Bertolt Brecht zurückgehende Spruch auf, ‚Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin‘. Denkt man Neiders ‚Geflunker‘ (Steiner a.a.O.) zu Ende, kann es sich dabei nur um eine Umdeutung durch die eine oder andere schwarzmagische Loge handeln. Der Slogan hätte lauten sollen: ‚Stell dir vor, es droht Krieg, und alle gehen nach Dornach!'“