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Die Scheidung der Geister: Eine Zwischenbilanz zur anthroposophischen Erinnerungskultur

„Unter Steiners heutigen Schülern ist die Geschichte der anthroposophischen Bewegung im nationalsozialistischen Deutschland noch weitgehend unaufgearbeitet; der Hintergrund der gestörten Verflechtungen mit völkischen Strömungen so gut wie unerkannt. Diese uneingestandene Vergangenheit wirkt entsprechend nach und erschwert die ohnehin mühsame Diskussion zwischen Anhängern der „Geisteswissenschaft“ und nichtanthroposophischen Wissenschaftlern. Möglicherweise steht die Anthroposophie, ihrem Selbstverständnis nach Sprachrohr des deutschen Geistes, noch einmal am Scheideweg im Hinblick auf ihren eigenen Werdegang.“
– Peter Staudenmaier: Der deutsche Geist am Scheideweg

„Nach dem Krieg glaubte man anderes zu tun zu haben und leugnete oder vertuschte den eigenen … Anteil an dieser unrühmlichen Vergangenheit. Das Problem, über Jahre mit seinen spirituellen oder vermeintlich spirituellen Urteilen versagt zu haben, wurde verdrängt. Es darf aber in der Geschichte der [Anthroposophischen] Gesellschaft nicht fehlen, denn es strahlt auch in andere Schichten des gesellschaftlichen Geschehens aus…“
– Klaus Hartmann: Herbert Witzenmann. Eine Biographie, s.u.

„Hans Büchenbacher zum Gedächtnis“ hieß eine Veranstaltung, die am 13. September im Herbert-Witzenmann-Zentrum Dornach stattfand. Dort spielte Wolfgang von Dechend Musik des in Auschwitz ermordeten Anthroposophen Viktor Ullmann, sprach Klaus Hartmann über die Beziehung von Büchenbacher und Witzenmann. Zum Schluss hielt ich einen Vortrag über die Geschichte der Anthroposophie im Nationalsozialismus sowie Büchenbachers apokalyptische Philosophie nach 1945. Hätte mich vor Kurzem überrascht, dass derlei in Dornach überhaupt Raum findet, so war doch ein weiterer Umstand noch überraschender: Das Publikum. Jene kreischenden Anthroposophen, die ihre eigene Kritikunfähigkeit wie eine Monstranz vor sich hertragen und jeden Kritiker für einen willentlichen Lügner halten – hier fehlten sie zur Gänze. Es war aber nicht das erste Mal, dass ich gerade zu diesem heiklen Thema vorbehaltlos kritische Diskussionen mit Anthroposophen führen konnte. Offensichtlich gibt es bei manchen in der Szene inzwischen die ehrliche Bereitschaft, sich selbstkritisch mit den faktischen Verschmelzungen von Anthroposophie und völkischem Gedankengut zu konfrontieren.

Hans Büchenbachers zu gedenken, heißt auch, zu bedenken, dass nach 1933 wohl die meisten Anthroposophen Nazis waren – oder alternativ einer politisch  schlicht naiven Hoffnung auf das „geistige Deutschtum“ anhingen, das gewiss irgendwann von Hitler erkannt werden würde. Von „zwei Dritteln“, die sich „mehr oder weniger“ positiv zu den Nazis stellten, schreibt Büchenbacher. Vieles spricht für seine Beobachtung. „Offenbar verhindert nur der starke Anteil anderer Länder an der anthroposophischen Bewegung, dass diese geschlossen zu Hitler übergeht.“ schrieb 1935 besorgt Ernst Bloch, der 1917 noch eine Synthese von Steiner und Husserl schreiben wollte. Vorstandsmitglied Guenther Wachsmuth begeisterte sich im anthroposophischen Nachrichtenblatt (Nr. 26/1933): „Es ist gut zu sehen, dass diejenigen, die ‚dabei‘ sein wollen, auch in unseren Reihen überwiegen.“ Ein irritierendes weiteres Beispiel ist Roman Boos, enger Vertrauter von Steiners Witwe, dessen zahllose Vorträge über Steiner und die „deutsche Erneuerung“ gar so viel Aufmerksamkeit erregten, dass umgekehrt nazistische Esoterikgegner ihre Schritte gegen die Anthroposophie beschleunigten. (vgl. „Die nazistischen Sünden der Dornacher“?) Zwar wurden die meisten anthroposophischen Organisationen letztendlich geschlossen und verboten, doch nach der Einsicht von Franz Neumanns „Behemoth“ gehörte zum Grauen des Nazismus auch seine Fähigkeit, „einen Teil seiner Opfer zu Anhängern zu machen.“

Dies und anderes erwähnte ich auch am 13.9. im Witzenmann-Zentrum. Es war nicht die erste Veranstaltung zu Büchenbachers „Erinnerungen“ und meinen Recherchen auf deren Spuren. Schon im Mai hat eine entsprechende Podiumsdiskussion in Hannover stattgefunden, zu der der dortige Pfarrer der „Christengemeinschaft“, Frank Hörtreiter, geladen hatte. Im März wiederum war ich zu meiner Überraschung zu den von Junganthroposophen organisierten „Rudolf Steiner Forschungstagen“ eingeladen worden, über „Die Einführung des Nationalsozialismus in die Anthroposophie“ vorzutragen. Alle drei Male war ich überrascht, welche Rückmeldungen und Diskussionsbeiträge kamen. Von zahlreichen Veranstaltungen und aus noch mehr LeserInnen-Mails kenne ich das leider durchaus wahre Klischee des pöbelnden anthroposophischen Mobs.

Hier ganz anders: Nicht einer der Anwesenden schwang sich zu apologetischen Verharmlosungen anthroposophischer Nazisympathisanten auf. Vielmehr wurde etwa kritisch nachgefragt, wie denn Büchenbacher selbst zu seinem jüdischen Vater gestanden habe. Oder diskutiert, wie das Verhalten des Vorstandsvorsitzenden Albert Steffen zu erklären (und zu werten) sei. Steffen hielt, wie man an zahllosen Tagebucheinträgen sehen kann, Hitler für den Antichristen, brachte es aber offenbar bis 1935 nicht über sich, öffentlich gegen Wachsmuths und Marie Steiners von Boos beeinflussten Kurs zu protestieren. Steffen setzte ganz auf eine Überwindung des Bösen durch „geistigen“ Widerstand, den der Dichter in seinen Dramen ausdrücken wollte. Immer wieder war bei den Diskussionen der apokalyptische Einschnitt Thema, den der „Zivilisationsbruch“ Auschwitz darstellt, eben auch für die anthroposophische Geschichte.

Im Witzenmann-Zentrum war unerwartet sogar eine hoch betagte Schwiegertochter Büchenbachers anwesend. Aus dem Gedächtnis steuerte sie allerlei zur Person Büchenbachers bei, bekräftigte energisch, wie ihm die „geistige Welt“ nach 1945 verdunkelt schien und wies nicht zuletzt auf die Blindheit „fanatischer“ Anthroposophen hin. Immer wieder fielen auf den drei Veranstaltungen Worte, die auch Büchenbachers verbitterte Semantik im Rückblick auf seine Genossen in der Nazizeit prägen: „Versagen“ der Anthroposophie, „Verrat“ an den eigenen Prinzipien.

Ich betone demgegnüber Kontinuitäten: Ein Richard Karutz zitierte 1934 „Mein Kampf“ und meinte, damit ausgerechnet die anthroposophische Ich-Philosophie zu erläutern. Ein Jürgen von Grone schrieb während des Zweiten Weltkriegs über eine Weltverschwörung angloamerikanischer „Geheimgesellschaften“, die trotz des „Führers“ „Bemühungen“ um den Frieden den Krieg angezettelt hätten. Dies speist sich offenkundig aus Steiners Konspirationsmodellen aus dem Ersten Weltkrieg. Roman Boos‘ Wahn für die „deutsche Erneuerung“ stellt eine gewiss einseitige, aber konsequente Verlängerung von Steiners Völkerpsychologie dar. Die universalistischen Widerlager in Steiners Weltanschauung wurden dabei nicht vergessen, sondern (siehe Karutz) schlicht nicht als solche empfunden. Mit Jean Améry (in „Jenseits von Schuld und Sühne“) könnte man formulieren, dass an Auschwitz jeder Geist, der diesen Namen verdiente, vor der Wirklichkeit versagte. Wie Nietzsche, Hölderlin und Beethoven, die Améry exemplarisch nennt, lies sich auch Steiner scheinbar rest- und fugenlos in die nazistische Kultursubreption einbauen.

Dass heutige Anthroposophen derlei nüchtern konfrontieren können, dafür wird wohl 2011 eine (freilich diskutable) Äußerung Bodo von Platos Dämme gebrochen haben, nach der die Anthroposophie auf den „ganzen Menschen“ setze, worin man eine „Disposition für alle totalitären Systeme“ erkennen könne, so dass Anthroposophen „vielleicht besonders empfänglich“ gewesen seien und sich heute besonders kritisch mit dieser „anthropologischen Disposition“ beschäftigen müssten. (vgl. Vielleicht besonders empfänglich) Die beginnenden, oft noch marginalen Versuche unter Anthroposophen, völkische Umtriebe ihrer Vorgänger kritisch zu realisieren, sind jedoch selbst Anthroposophie. Sie sind zeitgeschichtliche (Neu)Konstruktionen der Weltanschauung Steiners. Sie gehen mit einer entsprechenden Umdeutung Steiners, einer Verlagerung von Prioritäten einher. Dies ist ein ideologischer Selektions- und Transformationsprozess, aber wohl ein notwendiger, wie kürzlich auch Peter Staudenmaier angedeutet hat:

„Here is much more for Steiner’s followers to learn about the legacy they carry. There is no reason for anthroposophists to despair in the face of this task. Honest engagement with the past can be a boon to alternative spiritual movements, and anthroposophy is no exception. If it helps devotees of Steiner grapple with the topic, they can think of it as something Steiner himself would have encouraged. At its emergence a century ago, anthroposophy represented the flowering of German aspirations for an occult enlightenment. Its latter-day adherents do not need to abandon these hopes for a better world and enhanced consciousness and a different mode of life. Their dreams of more lucid understanding, of changed human relationships, of a new approach to nature, of a world freed of spiritual narrowness are all eminently worth seeking and striving toward. But realizing such a vision calls for other means, including clear-eyed social critique and political engagement. Those means are all too often hindered, rather than furthered, by esoteric ideals and practices. Far from forsaking their high ambitions, anthroposophists need only reflect candidly on what it is that has kept these aims from being fulfilled for so long. Facing up to their own history, straightforwardly and without excuses, will be an indispensable step on that path.“

Bei der erwähnten Podiumsdiskussion in Hannover saß auch der Waldorflehrer Arfst Wagner auf dem Podium, der Anfang der 90er als erster selbstkritisch aus anthroposophischer Perspektive über die Nazizeit geschrieben hat. Er berichtete unter anderem, welch energische Opposition seine Publikationen auslösten: gezielte Boykottaufrufe gegen seinen Verlag zum Beispiel. Oder persönliche Anfeindungen des angeblichen „Nestbeschmutzers“, der „karmisch längst ausgeglichene“ Themen hervorziehe und den bösen Anthroposophiegegnern Futter liefere. Er habe sich daraufhin immer mehr vom Thema ab- und der Politik zugewandt, berichtete Wagner, der für die GRÜNEN im letzten Bundestag saß – und ungebrochen Eurythmielehrer an der Waldorfschule Rendsburg ist.

Von dem feindseligen Klima, das sich in den Neunzigern noch zur Hetzjagd auf Arfst Wagner steigerte, habe ich seit Veröffentlichung der Memoiren Hans Büchenbachers nichts, und ich meine: nichts zu spüren bekommen. Zweifellos ist das seinen Pionierarbeiten zu verdanken, ebenso wie derjenigen Uwe Werners und schließlich Peter Staudenmaiers jüngeren Forschungen – nicht auch zuletzt Michael Eggert, der seit Jahren Texte Staudenmaiers auf seinem Blog zur Verfügung stellt. Last but not least ist Andreas Lichte zu nennen, der mit vernichtenden Artikeln zum Thema bei den „Ruhrbaronen“ 2012 eine breitere Aufmerksamkeit auf Staudenmaiers Funde gelenkt hat. Wie der Einschlag Lichtes und Staudenmaiers zeigt, hinterlässt auch scharfe externe Kritik bisweilen ihre noch so sublimen Spuren im anthroposophischen Selbstverständnis. Spuren, die sich vertiefen können.

Und doch fallen diese neueren Entwicklungen auf einen gern übersehenen, aber vorhandenen Boden. Es gibt sie, die intern leisen und extern praktisch nicht wahrgenommenen Anthroposophen, die beispielsweise aus der Beschäftigung mit Steffens Tagebüchern oder aus dem Wissen um die Gegner des anthroposophischen Widerständlers Karl Rössel-Majdan (der nach 1945 Probleme mit nazi-affinen Kollegen bekam, vgl. Anthroposophie im Widerstand) längst wissen, wie viel anthroposophischerseits im Argen lag und liegt. In der ersten Reihe anthroposophischer Weltanschauungspolitik stehen diese offenkundig nicht.

Herbert Witzenmann (1905-1988), eine sehr umstrittene und marginalisierte Figur in der anthroposophischen Geschichte, repräsentiert vielleicht einen weiteren solchen Strang. Wie Büchenbacher studierter Philosoph und mit diesem seit den 50er Jahren im Austausch, stellte Witzenmann ein Leben lang Steiners frühe philosophische Schriften ins Zentrum seines Interesses. Er lebte zu Beginn der Naziära in Pforzheim, und genau hier wurde ihm sehr schnell vor Augen geführt, was vom Nationalsozialismus zu halten war.

Im „Pforzheimer Anzeiger“ startete der enttäuschte Ex-Anthroposoph und nationalsozialistische Steinerhasser Gregor Schwartz-Bostunitsch („Rudolf Steiner. Ein Schwindler wie kein anderer“) sehr früh eine wirkungsvolle Hetzkampagne gegen die Anthroposophie. Dann wurde noch Witzenmanns Freund Fritz Schnurmann, Arzt jüdischer Abstammung und Pforzheimer „Zweigleiter“, 1935 inhaftiert, weil er zusammen mit einem ehemaligen SPD-Mitglied die Broschüre „Man flüstert in Deutschland. Die letzten Witze über das Dritte Reich“ verbreitet habe. Witzenmann riet Schnurmann nach seiner Entlassung, zu emigrieren. Solche Erfahrungen waren Witzenmann offenkundig Lehre genug über den Nationalsozialismus. Der Gastgeber der Büchenbacher-Gedenkveranstaltung am 13. September in Dornach, Klaus Hartmann, steuerte einen Vortrag über das Verhältnis Witzenmann – Büchenbacher bei. Im ersten Band seiner umfangreichen Witzenmann-Biographie zeichnete Hartmann 2010 dessen Distanz zum Nationalsozialismus nach. Er verstieg sich jedoch nicht dazu, Witzenmann als Sprungbrett zum „Anthroposophen waren gegen Hitler immun“-Mythos zu missbrauchen, sondern schrieb:

„Die aus der Perspektive der Verfolgung verfasste Arbeit von Uwe Werner verzichtet weitgehend auf eine selbstkritische Analyse von Haltungen von Mitgliedern der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft zur NS-Ideologie, auch wenn er die Erinnerungen Dr. Hans Büchenbachers als zuverlässig (S. 27) wertet und ausgiebig zitiert. Büchenbacher möchte aber gerade mit seinen Erinnerungen auf den schwerwiegenden Verrat an der anthroposophischen Sache durch viele führende Anthroposophen aufmerksam zu machen, der 1935 durch das Gesellschaftsverbot unsichtbar gemacht wurde … Nach dem Krieg glaubte man anderes zu tun zu haben und leugnete oder vertuschte den eigenen, wenn auch zuallermeist nur in der Gesinnung liegenden Anteil an dieser unrühmlichen Vergangenheit. Das Problem, über Jahre mit seinen spirituellen oder vermeintlich spirituellen Urteilen versagt zu haben, wurde verdrängt. Es darf aber in der Geschichte der [Anthroposophischen] Gesellschaft nicht fehlen, denn es strahlt auch in andere Schichten des gesellschaftlichen Geschehens aus … Viele Angaben zu allen möglichen Gesellschaftsvertretern in den durchweg verklärenden Biographien sind in dieser Hinsicht wertlos. Zu den bei Arfst Wagner veröffentlichten Dokumenten und Stellungnahmen gibt es noch immer keine von Seiten des Goetheanums die Binnenperspektive überschreitende Darstellung.“ (Klaus Hartmann: Herbert Witzenmann 1905-1988. Eine Biographie, I, Dornach 2010, S. 180f.)

Solche Stimmen machen Mut. Auch am 13. September in Dornach hat Hartmann seine kritische Einschätzung – verschärft – wiederholt.

Natürlich ist Anthroposophiekritik weit, weit mehr als Kritik an Verschmelzungen von völkischem Denken und Anthroposophie: Die problematischen Aspekte und paranoiden Züge, von der Waldorferziehung bis zum Werbecksingen, sind Legion. Man denke nur an die kontinuierlichen Attacken, die von verquast-orthodoxen Anthroposophen selbst gegen einen Steiner so geneigten Wissenschaftler wie Christian Clement ausgehen. Aber diese Verschmelzungen stellen, historisch und gesellschaftlich, einen der mit Abstand gefährlichsten Umstände dar. Sie wurden unter Anthroposophen lange derart offensiv verdrängt und verbogen, dass die Verdrängung sich bis zur armseligen Affirmation von Nazi-Anthroposophen steigerte. Lorenzo Ravagli karikierte etwa die nazi-affine Elisabeth Klein zu einer „Waldorflehrerin, die sich mutig für die Weiterexistenz ihrer Schule gegen die nationalsozialistischen Machthaber einsetzte“. (Ravagli: Unter Hammer und Hakenkreuz, Stuttgart 2004, 212) Tatsächlich setzte sie, die in herzlichem Kontakt zu verschiedenen Nazigrößen stand, sich für die Einbindung ihrer Schule in ein nationalsozialistisches Versuchsschulprogramm ein. Selbst in ihrer Autobiographie verharmloste sie beispielsweise noch den Naziphilosophen Alfred Bäumler, der versucht hatte, sich als eine Art neutraler Gutachter im nationalsozialistischen Streit um die Waldorfschulen zu etablieren.

Solch verzweifelte Beschönigungsversuche werden nicht über Nacht verschwinden. Aber vielleicht werden sie in Zukunft abnehmen. Vielleicht bleiben eines schönen Tages ihre Kunden aus. Vielleicht darf man mit und trotz Büchenbacher hoffen, dass die diesbezüglich klarsichtigen Anthroposophen mehr als bisher aus dem Schatten treten. Auch zu Büchenbacher muss man letztendlich historisch-kritisch Distanz einnehmen: Er raunt beispielsweise über schwarzmagische „Logen“, die hinter dem Nationalsozialismus standen – ironischerweise hatte er derlei, wie er selbst unverblümt in den „Erinnerungen“ schreibt, aus dem Buch „Bevor Hitler kam“ des Nationalokkultisten Rudolf von Sebottendorff übernommen. Hier trifft zu, was Nicholas Goodrick-Clarke über die „Nazi-Mysterien“ schreibt:

„Man muss eben die Mystifikation von dem empirisch Beweisbaren trennen. Wie einst die Nazis ihre putativen arischen Ahnen mythologisierten, um ihren Anspruch auf rassische Überlegenheit zu begründen, so werden in jüngerer Zeit die Nazis ihrerseits mythologisiert, nämlich zu einer einzigartigen Kraft des Bösen – von gewissen obskurantistischen Schreibern, die dergestalt ihren esoterischen oder verschwörungstheoretischen Spintisierereien ein Fundament geben wollen … Zwar liegt den meisten Nazi-Mystifikatoren gewiss der Vorsatz fern, Nazi-Apologie zu betreiben, doch nutzen Interessierte deren Mystifikationen längst in genau diesem Sinne … Die geächteten Führer des Nationalsozialismus und ihre Ideen erscheinen jetzt wie verbotene Götter eines dunklen Reichs – ein Faszinosum für nicht weniger, die der Reiz des Verbotenen lockt.“ (Goodrick-Clarke: Im Schatten der Schwarzen Sonne, Wiesbaden 2009, S. 264f.)

Sollten sich jene Keime einer nazikritischen Anthroposophenschaft in der Bewegung verbreitern: Für viele von ihnen mögen dann die „Nazi-Mysterien“ eine Versuchung sein, aufgrund des eigenen spirituell-mythologischen Geschichtsbildes. Aber eine, der durch die wache Beachtung des historisch Nachweisbaren widerstanden werden kann. So muss man mit Blick auf Büchenbachers okkulte Verschwörungstheorien erwähnen, dass der Anthroposoph Christoph Lindenberg bereits 1978, Jahre vor dem Erscheinen von Goodrick-Clarkes einschlägigen Schriften, Sebottendorffs Nazimystifikationen vernichtend kritisiert hat (vgl. Lindenberg: Die Technik des Bösen, 3. Auflage, Stuttgart 1985, S. 15-25). Auf die weiteren Entwicklungen darf man wohl durchaus gespannt sein.

15. September 2014 at 12:42 pm 5 Kommentare

„Vielleicht besonders empfänglich“: Anthroposoph_innen im Nationalsozialismus

(von Laura Krautkrämer)

Vorwort von Ansgar Martins — Einmal wieder ein Beitrag zu einem der Kernthemen dieses Blogs: Die Vernetzungen von Anthroposophie und Rassismus. Und diesmal sogar von ungewohnter Seite: Die „Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland“ scheint sich auf ihrer Jahrestagung 2011 bei einer interessant besetzten Podiumsdiskussion wenn schon nicht mit der Rassenlehre des Anthroposophie-Gründers Rudolf Steiner, so doch immerhin mit dem Verhältnis von Anthroposophie und Nationalsozialismus beschäftigt zu haben.  Dabei sind unerwartete und ungewöhnliche An- und Einsichten zutage getreten, wenn etwa Bodo von Plato Schnittmengen zwischen nationalsozialistischem und anthroposophisch-esoterischem Ganzheitsdenken feststellte. Wenn auch keine neuen historischen Informationen freigelegt wurden, scheint mir das doch ein dokumentierungswürdiges Ereignis zu sein. Der folgende Bericht stammt unter dem Originaltitel „Anthroposophie in der Zeit des Nationalsozialismus“ von Laura Krautkrämer (Medienstelle Anthroposophie). Links im Text und Fußnotentexte sind von mir gesetzt.

150 Jahre Rudolf Steiner – das Jubiläumsjahr geht weiter. Die öffentliche Tagung der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland, die Mitte Juni in Weimar stattfand, wollte zu diesem Anlass ein „Begegnungsfest“ werden und sich „dem Ursprung, der Entwicklung und der Zukunft des anthroposophischen Kulturimpulses“ zuwenden, wie es im Veranstaltungsflyer hieß.

Im Rahmen der viertägigen Veranstaltung, die vom 16. bis 19. Juni 2011 im noblen Kongresszentrum Neue Weimarhalle stattfand, wurde mit einem Podiumsgespräch zum Thema „Anthroposophie in der Zeit des Nationalsozialismus“ auch ein Thema aufgegriffen, das im öffentlichen Diskurs bislang vor allem von Kritikern der Anthroposophie besetzt ist. Gerade in Weimar, das eben nicht nur ein zentraler Ort der Deutschen Klassik (und in Steiners Biographie) ist, sondern mit Buchenwald auch ein Ort des nationalsozialistischen Grauens, lag das Thema jedoch nahe. „Steiners Ideen als geistiges Fundament des Nationalsozialismus – diesen Vorwurf, diese Frage wollten wir uns nicht von außen stellen lassen, sondern sie von innen aufgreifen und damit zur Bewusstseinsbildung anregen“, betonte Generalsekretär Hartwig Schiller in seiner Einleitung.

Während das Thema anfangs als eine der zahlreichen Arbeitsgruppen Eingang finden sollte, trafen die Verantwortlichen schließlich die Entscheidung, es im Plenum zu verhandeln. Mit Bodo von Plato, Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft am Goetheanum, den Historikern Michael Rissmann und Uwe Werner (vgl. Wichtige Hinweise – falsche Prämissen) sowie Mechtild Oltmann, Pfarrerin der Christengemeinschaft, war das Podium kompetent besetzt. Moderator war Albert Schmelzer, Dozent an der Freien Hochschule Mannheim.

Was erwartet man nun von einer solchen Veranstaltung von „offizieller Seite“ zu diesem Thema? Dass die zwar wenigen, aber dennoch extrem heiklen Äußerungen Steiners (vgl. Ausrutscher oder Rassenlehre) zum „überholten Judentum“ oder dem angeblich starken Triebleben Farbiger thematisiert würden, war unwahrscheinlich. Auch wenn die internen Auseinandersetzungen um das „Frankfurter Memorandum“, dessen Unterzeichner sich dezidiert von diesen Äußerungen distanzierten, inzwischen einige Jahre zurück liegen, sind sie doch noch in Erinnerung. Tatsächlich konnte man sich in der Weimarer Runde – zu Recht – auf die verschiedenen Untersuchungen sowohl von akademischer als auch von anthroposophischer Seite stützen, die dargelegt haben, dass der von Steiner im Rahmen seines Evolutionskonzeptes geführte Rassendiskurs nicht dem völkischen Rassismus entspricht. Der Historiker Michael Rissmann betonte in diesem Zusammenhang, dass Steiner den Begriff der Rasse als etwas, das zukünftig überwunden werden sollte, postulierte. Uwe Werner, Autor des Standardwerks Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus, wies darauf hin, dass Kritiker wie Peter Staudenmaier oder Jana Husmann bei ihren Rassismusvorwürfen gegen Steiner eine klare Definition dessen, was sie unter Rassismus überhaupt verstünden, schuldig blieben [1], wodurch der Auseinandersetzung eine wichtige Grundlage fehle.

Sehr selbstkritisch in Bezug auf die anthroposophische Bewegung äußerte sich Bodo von Plato: Das Spiel zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sei ein entscheidendes Grundmuster der nationalsozialistischen Ideologie – und zwar im Sinne einer heroischen Vergangenheit, der elenden Gegenwart und der wiederum heroischen Zukunft. Auch in der Anthroposophie sei dies ein wichtiges Muster, wie es überhaupt Parallelen in der „anthropologischen Disposition“, in der Empfänglichkeit für den Faschismus und die Anthroposophie gebe. Der Grund sei eine tiefe Sehnsucht nach dem, was verloren ist und nach einem mythischen Verstehen der Gegenwart – das durch die Rationalität verhindert werde. „Man kann da eine Disposition für alle totalitären Systeme erkennen“, führte er aus. Die Nazi-Ideologie sei in diesem Sinne als Gegenbild zur Anthroposophie zu sehen, „verwandt in der Art, nicht im Wesen“.

Michael Rissmann berichtete, dass in der historischen Forschung seit den 1990er Jahren anstelle der Gesamtbevölkerung verstärkt einzelne Biographien oder auch Berufs- und Bevölkerungsgruppen betrachtet werden. „Vielleicht sollte man nicht immer auf den Nationalsozialismus blicken, genauso wenig wie auf die Anthroposophie. Aus Einzelwahrnehmungen kristallisiert sich möglicherweise ein viel tragfähigeres Bild.“ Obgleich nach einer Aussage des damaligen Vorsitzenden der Anthroposophischen Gesellschaft, Hans Büchenbacher [2], 1933 der gesamte Landesvorstand der Gesellschaft den Nationalsozialismus einhellig abgelehnt habe, schätzte er damals, dass etwa zwei Drittel der Mitglieder den neuen Machthabern gegenüber positiv eingestellt seien (vgl. Waldorf Schools in Nazi Germany). Wie die beiden Historiker Rissmann und Werner darlegten, war diese Affinität durchaus repräsentativ für das bildungsbürgerliche Milieu der Zeit, in dem es zwar Widerwillen gegen das primitive Auftreten der Nazis, aber durchaus Sympathie für deren Anliegen – etwa das Angehen gegen die „Schande von Versailles“ – gegeben habe.

Von Plato unterstrich in diesem Zusammenhang nochmals die damals vorherrschende Sehnsucht, aus der gegenwärtigen Misere herauszukommen. „Anthroposophen waren da vielleicht besonders empfänglich, da sie die Wahrnehmung hatten, dass der Diskurs nicht weiterhilft – wie die Anthroposophie ja überhaupt diskursfeindlich eingestellt war und vielleicht noch ist, weil sie ein apodiktisches Verhältnis zur Wahrheit pflegt.“ Daher habe es wohl vielfach emotionale Affinitäten gegeben, die jedoch in der Praxis, im Handeln keine Entsprechung gefunden hätten. Wie Uwe Werner berichtete, konnten aufgrund der Forschungen des dezidiert kritischen Historikers Peter Staudenmaier bisher 34 Anthroposophen namentlich identifiziert werden, die Mitglieder in der Partei oder Parteiorganisationen waren. „Selbst wenn dazu vielleicht noch 50 weitere Namen kommen sollten, ist dies im Verhältnis zu den damals rund 8.000 Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft eine verschwindend geringe Zahl“, so Werner.

Auf die schwierige Abschlussfrage, inwiefern sich aus diesem dunklen Kapitel der deutschen Geschichte Erkenntnisse ziehen lassen, die vielleicht auch der Weiterentwicklung der Anthroposophie dienen könnten, gab es erwartungsgemäß nur vorsichtige Ausblicke. „Die Anthroposophie fordert den ganzen Menschen, so wie auch totalitäre Systeme wie der Nationalsozialismus das tun,“[3] erklärte von Plato. Es sei entscheidend, trotzdem eine Distanz sowohl zur Weltanschauung als auch zu sich selbst zu bewahren, was eine ständige Gratwanderung erzwinge.

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Fußnoten

[1] Uwe Werner lag während der Erstellung seines Buchs „Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse“ noch nicht Jana Husmanns Dissertationsschrift vor, die ausführlich auf Rassismusdefinitionen eingeht und einen sehr weiten Rassismusbegriff vorschlägt, um die fluiden geisteshistorischen Dynamiken, die im modernen Rassismus mündeten, zu erfassen.  Bei dem amerikanischen Anthroposophiekritiker Peter Staudenmaier, und der lag Werner vor, heißt es: „The interpretation proposed here is premised on the idea that anthroposophy embodied a contradictory set of racial and ethnic doctrines which held the potential to develop in different directions under particular political, social, and cultural conditions. In spite of anthroposophists’ insistence that their worldview was ‘unpolitical,’ my argument will identify an implicit politics of race running throughout their public and private statements, a body of assumptions about the cosmic significance of racial and ethnic attributes that shaped their responses to fascism. Many of Steiner’s followers considered their own views to be anti-nationalist and antiracist, and there was no straight line that led inexorably to the extreme and explicit formulations of spiritual racism. What emerged were racial and ethnic stances that were frequently ambiguous and multivalent but that in several cases found a comfortable home in fascist contexts precisely because of their spiritual orientation, one that did not deign to concern itself directly with the distasteful realm of politics.“ (Between Occultism and Fascism: Anthroposophy and the politics of race and nation in Germany and Italy, 1900-1945, Diss., Cornell-University 2010, S. X)
[2] Hans Büchenbacher (1887-1977), da selbst jüdischer Abstammung, wurde nach der „Machtergreifung“ alsbald von hoher Stelle nahegelegt, von seinen Ämtern in der deutschen Anthroposophischen Gesellschaft zurückzutreten. Ihm verdanken wir einige interessante Details über Synthesen anthroposophischer und nationalsozialistische Folklore: „Ende Februar 1933 sehe ich im Redaktionsbüro [der Vierteljahresschrift ‚Anthroposophie – Zeitschrift für Freies Geistesleben‘] ein großes Bild von Hitler und darunter auf einem hübschen Brettchen einige schöne Kristalle. In dem sich daran anschließenden Gespräch zeigte sich, dass Picht stark von der nationalsozialistischen Anschauung infiziert war.“, aber Hinweise auf Anthroposoph_innen, die sich gegen den Nationalsozialismus stellten und diesbezüglich vor der Dornacher Führung der Anthroposophischen Gesellschaft enttäuscht waren: „Zu meiner Überraschung waren alle Vorstandskollegen angereist, um mit mir eine Sitzung zu halten. Sie teilten mir mit, dass Frau Dr. Steiner und Dr. Wachsmuth ganz pronazistisch seien…“  (vgl. die Auszüge aus seinen Memoiren in info3 April 1999).
[3] Vgl. dazu auch Monika Neugebauer-Wölk: Esoterik und Neuzeit. Überlegungen zur historischen Tiefenstruktur religiösen Denkens im Nationalsozialismus. Der Glaube freilich, es gebe besondere strukturelle Übereinstimmungen zwischen Esoterik und Nationalsozialismus, lässt sich nur mit schielendem Blick aufrecht erhalten, ebenso schlagend und explizit sind  nämlich die Parallelen zu und Anlehnungen an monotheistische Frömmigkeit, vgl. Claus-Ekkehard Bärsch: Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiöse Dimension der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler, München 2002 sowie Ders.: Der junge Goebbels, Erlösung und Vernichtung, München 2004.

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Laura Krautkrämer
Geboren 1973 in Bonn, Studium der Germanistik und Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (MA). 2001-2004 Beraterin in einer Unternehmensberatung für Kommunikation in Frankfurt/Main mit Schwerpunkten in den Bereichen Kulturmarketing, Stiftungs-PR und Unternehmenskommunikation/CSR. Seit 2005 freiberuflich als PR-Redakteurin und -Beraterin sowie als Zeitschriften-Autorin tätig. Lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Oberursel im Taunus. (laura-krautkraemer.de)

23. Juni 2011 at 10:38 am 10 Kommentare


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Hallo allerseits,
Ich bin Ansgar Martins, geb. 1991 und war bis Juni 2010 Schüler an der FWS Mainz. Inzwischen studiere ich Religionsphilosophie, Soziologie und Geschichte in Frankfurt a. M. Dieser Blog ( dessen "Leitbild" ganz oben rechts ) ist mein persönliches Projekt, um die oft einseitigen und selbstgerechten Pro- und Contra-Positionen in der Debatte um die Waldorfpädagogik und Anthroposophie kritisch zu kommentieren. Ich hoffe, das gelingt, und freue mich über Rückmeldungen jeder Art!

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Da ich dieses Risiko gerade bei den bekannten Verstiegenheiten anthroposophischer Websites nicht eingehen will, distanziere ich, Ansgar Martins, mich hiermit vorsorglich von ausnahmslos allen Gestaltungen und Inhalten sämtlicher fremder Internetseiten, auch wenn von meiner Seite ein Link auf besagte Internetseite(n) gesetzt wurde.

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