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Anthroposophische Reformation II, oder: Bis zur Unkenntlichkeit… und noch viel weiter
„Was ist es übrigens, das die Meisten an der Materie so beleidigt, daß sie dieselbe so gar geringer Herkunft achten? … Gerade diese Unflaßlichkeit, dieses thätliche Widerstreben gegen alles Denken, dieses aktive Dunkel, diese positive Neigung zur Finsterniß musste sie [die Philosophie] zu ihrer Erklärung machen. Aber lieber wollte sie das Unbequeme ganz auflösen in Verstand oder auf irgend eine Weise in Vorstellung. Ein jeder, der dies tut … läugnet die Realität an sich und heißt mit Recht (in der gemeinen Bedeutung des Wortes) Idealist.“
– Schelling: Die Weltalter. Urfassungen (1811), München 1946, 46, 50f.
Weitere Überlegungen zur Transformation des anthroposophischen Komplexes im 21. Jahrhundert, zu Christian Clements Versuch einer Steiner-Rehabilitierung sowie zur liberalen Anthroposophie.
Atlantis im Astralen
Während die anthroposophische Scheibenwelt munter weiter rotiert, hat mein Blog leider länger pausiert. Auf Facebook habe ich zwischenzeitlich immer wieder Beiträge von Michael Eggerts „Egoistenblog“ geteilt, der vermutlich die informativste Diskussionsplattform zur Anthroposophie im deutschsprachigen Internet darstellt. Die „Egoisten“ kann man insgesamt der liberal-anthroposophischen Spielart zuordnen, was nicht heißt, dass dort Anthroposophie light betrieben würde. Zu beobachten sind vielmehr ganz konkrete Neujustierungen – von denen ich eine gleich zum Ausgangspunkt diverser Überlegungen machen möchte. Eggert ist aber vor allem einer der wenigen, die auch die rechten und verschwörungstheoretischen Ausläufer der anthroposophischen Szene kritisch im Blick behalten – so spottet er über Daniele Ganser und hat dem anthroposophischen Faschisten Rüdiger Keuler mehrere Artikel gewidmet. Viele Irrwege der zeitgenössischen Anthroposophie finden abgesehen vom „Egoistenblog“ kaum kritische Aufmerksamkeit. Neulich folgte eine Kritik Eggerts an dem Anthroposophen Andreas Delor, der versucht, die geologisch-spirituelle Existenz von Atlantis zu beweisen. Zweikommafünf Methoden, um sich bereit zu machen, an Hellseher zu glauben titelt Eggert Polemik. Interessanterweise werden darin zwar Delors Allianzen mit jüngerer esoterischer „Atlantisforschung“ demontiert. In den Kommentaren gibt Eggert jedoch eine ganz eigene Variante des anthroposophischen Atlantismythos preis. An ihr lässt sich studieren, wie sich Eggerts Kritik am breiten Spektrum des anthroposophischen Aberglaubens mit seinen eigenen esoterischen Überzeugungen vermittelt. Das sei hier nicht festgestellt, um sich darüber lustig zu machen, sondern weil sich daran wiederum die modernisierende Transformation theosophisch-anthroposophischer Themenkomplexe insgesamt griffig illustrieren lässt. Was Steiner, Delor und Co als physisch-geistige Evolution imaginieren, sei, so Eggert letztlich, eigentlich gar nicht materiell, sondern auf der „Astralebene“ abgelaufen und entsprechend nicht durch exoterische Quellen zu be- oder widerlegen. Auf diese Weise ins Unsichtbare verlagert, kann der okkulte Befund nicht mehr in Konflikt mit dem naturwissenschaftlichen geraten:
„Ich sehe keinerlei Widersprüche zwischen Wissenschaft und Steiner, da letzterer mAn eine ganz andere Perspektive hat. Vieles scheint datierbar- etwa der große Gesamtkontinent dort, wo Steiner Lemurien verortet. Aber was “Menschsein” unter diesen Bedingungen betrifft, so schildert Steiner Ereignisse auf der Astralebene. Für ihn beginnt – die gesamte Evolution bejahend- Menschsein im engeren Sinne erst da, wo Selbstbewusstsein entsteht. Das meint er dann mit “Physischwerden” am Ende der Atlantis: Das Selbstgefühl schritt bis zum Körperlichfühlen voran. Alles vorher ist eine Sache auf der Astralebene, die parallel, und immer wieder mit Berührungspunkten, zur geologischen und humanen Entwicklung verläuft. Die Welt, in der man sich aus dem in der Luft schwimmendem Lebensstoff ernährt, ist keine irdische, sondern himmlische.“
Das macht deutlich, wie sich Anthroposophie durch relativ geringfügige Umschreibungen von Steiners Evolutionsschilderungen aktualisiert.
Kein Äther im Karbongestein
Ein anderes Beispiel wäre der anthroposophische Evolutionsbiologe Wolfgang Schad, der in einem Sammelbandbeitrag von 2011 eine genau umgekehrte Neuinterpretation vornahm. In Steiners Weltbild hat sich die Erde aus “übersinnlichen” Welten heraus erst zu ihrer heutigen Gestalt verdichtet, was er mit zahlreichen pittoresken Details anreicherte. So meinte Steiner, wie Schad ausführt, “dass die Pflanzen der Karbonzeit keine physischen Pflanzen gewesen seien, sondern, was so aussieht, seien nur hauchartige Eindrücke von Ätherwirkungen [sprich: “übersinnlich”-subtilen “Lebenskräften” – AM] in einem undifferenzierten Kohlebrei.” (Schad in Uhlenhoff: Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart, 156, vgl. Steiner: GA 300). Das kann und muss Schad als Evolutionsbiologe kritisieren:
“Wer selbst einmal im Karbongestein Pflanzenfossilien gesammelt hat, kann sich leicht davon überzeugen, dass es sich einst um reale, physisch lebendige Pflanzenfossilien gehandelt hat. Im Mikroskop ist die Zellstruktur der Pflanzengewebe noch gut zu erkennen … auch schon fossile Amphibien und erste Reptilien sind aus dem Karbon gut bekannt.” (ebd.)
Schad wirft Steiner so wenig über Bord wie Eggert dies tut, vielmehr werden die hellsichtigen Schilderungen jeweils so gut als möglich an die vorhandenen exoterischen Erkenntnisse angepasst. Beide verfolgen jedoch unterschiedliche Taktiken. Der eine plädiert angesichts der krausen Produkte pseudo-empirischer „Atlantisforschung“ für mehr Vergeistigung, der andere weiß um die Tücken gerade des spiritualistischen Reduktionismus. Religions- und ideengeschichtlich sind solche Neuinterpretationen freilich nichts Ungewöhnliches, sondern Alltag im permanenten historischen Wandel. Schon Steiners Evolutionsgeschichte ist ein Versuch, vorgefundene okkulte Doktrinen derart zu modifizieren, und zwar eher nach dem Modell Eggert als nach dem Modell Schad. Das lässt sich an seiner Rassenlehre zeigen. Die Adyar-Theosophie, deren zentraler Mythos eine ständige Höherentwicklung ist, hatte verschiedene Evolutionsstufen diversen sog. „Wurzelrassen“, „Zweigrassen“ und „Unterrassen“ zugeordnet, die einander in einem historischen Staffellauf als Akteure des Fortschritts ablösen. Steiner führte ab etwa 1906 eine Neufassung ein: Seiner Ansicht nach könne man erst auf Lemuria bzw. (später nur noch) Atlantis von echten „Rassen“ reden, weil der Mensch erst dort einen tatsächlich physischen Leib annehme (Steiner datiert dies also weit, weit früher als Eggert). Es sei, so Steiner, eine theosophische „Kinderkrankheit“, anders als physisch beschaffene Evolutionszustände mit dem Rassebegriff zu belegen. Steiners Einschränkung des theosophischen Rassebegriffs versuchte, Rassentypologie und Entwicklungsbegriff partiell zu entflechten, was am Ende dazu führte, dass Steiner das vor-evolutionäre Rassenschema Blumenbachs (Äthiopier, Malayen, Mongolen, Europäer, Amerikaner) aufgriff und die Evolutionsphasen, wenn auch inkonsequent, in „Kulturepochen“ umbenannte. (vgl. dazu Rassismus und Geschichtsmetaphysik, 52-98) Eggert wiederum, der sich von Steiners Rassismus sehr deutlich abgrenzt, könnte nun eben antworten, Steiner habe astrale mit körperlichen Zuständen verwechselt und prähumanoide astrale Formen, was auch immer das sein sollte, mit seinen geliebten Weißen usw. – keine Ahnung, ob er das auch tatsächlich tun würde.
Auch wenn derlei interpretative Verschiebungen theosophischer Doktrinen historisch nicht überraschen: Religionsphilosophisch ist die Sache komplizierter – die ständigen Modifikationen der anfänglichen Konzeption des Absoluten sprechen eher gegen als für dieses Absolute. Nach der berühmten „Gärtnerparabel“ stirbt Gott den „Tod der tausend Qualifikationen“, da permanente Falsifikationen und reaktive Neuformulierungen nichts als die Vergeblichkeit solcher Fixierungen kundtun. Der Ausgangspunkt wird durch die tausend Qualifikationen bis zur Unkenntlichkeit verflüchtigt. Ganz abgesehen davon, dass schon die theosophisch-anthroposophische Evolution der Rassen und Kulturen in ihrer Ausgangsform nicht eben durch in- oder externe Plausibilität zu glänzen vermag.
Apologetik, Polemik und Religionismus: Christian Clement
Von diesem Problem her lässt sich die Herangehensweise Christian Clements verstehen, der, obwohl er selbst kein Anthroposoph, sondern eher akademischer Steiner-Sympathisant ist, die radikalste Variante liberaler Anthroposophie auf den Markt geworfen hat – und zwar in der von ihm herausgegebenen „SKA“ (vgl. Die Mystik im Aufgang, Anthroposophische Erkenntnisschulung), der ersten kritischen Ausgabe der Hauptwerke Steiners. Übrigens publiziert auch Clement auf Michael Eggerts Blog und hat sich dort in kurzer Zeit als einer der interessanteren Autoren etabliert. Seine Einträge betreffen meist Sujets aus dem Kontext „SKA“. Ich nutze die Gelegenheit, um Clements zwischenzeitlich erhobenem Vorwurf zu widersprechen, Helmut Zander, Hartmut Traub und meine Wenigkeit würden ihn kritisieren, weil er Anthroposoph sei oder eine ideologische Nähe zur Anthroposophie habe. Die beiden anderen mögen tun, was sie wollen: Ich plädiere dafür, Clements Steinerdeutung als Ausdruck der Säkularisierung und Diffusion des Steinerschen Denkens in einem postmodernen Wissenschaftsbetrieb zu sehen, der alles diskutierbar macht. Der voluntaristische Konstruktivismus, den er Steiners Weltenbauerei nach 1900 zuschreibt, ist selbst Ausdruck davon und ermöglicht zugleich eine zeitgemäße Relativierung der Anthroposophie. Das ist ideologisch, aber aufgrund eines speziellen inhaltlichen Verhältnisses zu Steiners Doktrin, nicht weil es dieser besonders nahe stünde (das ist gerade nicht der Fall).
Dass Steiners Bücher inzwischen nach ganz normalen wissenschaftlichen Standards in einem wissenschaftlichen Verlag ediert werden, gilt natürlich, aber albernerweise allenthalben als bösartiger Betrug, hat Clement anthroposophischerseits alle möglichen wutschäumenden Reaktionen und üble Kampagnen eingebracht. Selbst Wissenschaftlern wie Helmut Zander und Peter Staudenmaier fällt derweil allerdings nichts besseres ein, als Clement anthroposophische Deutungsmuster nachzutragen, während dessen spezifische (und eben konkret zu kritisierende) Deutung mehr oder weniger unter den Tisch fällt. Sie sollte vielmehr selbst Gegenstand von Esoterikforschung werden und kommt ohne Tod durch tausend Qualifikationen aus, weil sie das Dilemma Geist/Welt, Geist/Leib gänzlich zugunsten des Geistes, nämlich in eine Art autotheistischen Solipsismus auflöst, so dass alle evolutionären Stadien, um die sich Eggert und Schad bemühen, nurmehr als überflüssiges Beiwerk erscheinen – und Steiner als eine Art kontemplativer Bewusstseinspädagoge. Steiners ‚höhere‘ Erkenntnisse seien tatsächlich Selbstbeobachtungen eines universalen Bewusstseins und die sinnlichen Bilder des Übersinnlichen nicht weiter wörtlich zu nehmen. Durch diese einseitige Interpretation verblassen die Inhalte von Steiners Schriften zur Unkenntlichkeit – womit Clements Lesart auf eigentümliche Weise sein Projekt einer Kritischen Ausgabe von Steiners Werken konterkariert. Er versucht, das zu umgehen, in dem er die theosophische Abkunft der Anthroposophie zwar zur Genüge dokumentiert, aber interpretativ marginalisiert – zugunsten einer Verortung Steiners im „deutschen Idealismus“, wobei Kant, Fichte, Schelling und Hegel dabei eher genannt als konkret mit Steiner abgeglichen werden. Hartmut Traub, der Steiners philosophische „Frühwerke“ überzeugend auf Fichte zurückgeführt hat, kommt dabei kaum vor – ich erlaube mir, Clements Band zu den besagten philosophischen Frühschriften an eigener Stelle bald ausführlicher zu besprechen.
Clement vertritt so einen ganz eigenen Monismus der Bewusstseinsimmanenz, der die Problematik von Steiners okkultistischem Empirismus und phänomenologischem Konkretismus ebenso relativiert wie er ‚den‘ Idealismus zurechtbiegt. Dogmatische Anthroposophen wie Holger Niederhausen, Thomas Meyer usw., die Clement verketzern (vgl. Willy, Thomas und der Wolf im Schafspelz), übersehen, dass dieser nicht den Geist, sondern die Welt leugnet. Anthroposophiekritikern ist das spezifische Dilemma seines Ansatzes wie gesagt anscheinend ohnehin entgangen. Hier soll die philologische Nützlichkeit und Leistung von Clements Edition nicht im Mindesten in Abrede gestellt werden. Ich würde mich freuen, mit ihm über die großen Denker des Idealismus zu disputieren. Selbst seine Interpretationshypothese wäre, würde sie nicht derart alternativlos hypostasiert, anregend. Davon abgesehen ist es aufschlussreich, dass ausgerechnet Clement Steiner textkritisch ediert: In seinen ausgesprochen langen und detailreichen Vorwörtern ordnet er die Ansätze einer historischen Kritik so an, dass sie seinem monistischen Neo-Steiner Nahrung geben. Clement betreibt gewissermaßen Steinerkitik, wie Spinoza Bibelkritik betrieb (dass Steinerkritik im emphatischen Sinne unwahrer ist als Bibelkritik, liegt auf der Hand). Clements Lieblingsgeschichte zu Steiner lautet in etwa wie folgt:
„In diesem Durchgang wird sich zeigen, soviel sei an dieser Stelle vorweggenommen, dass Steiner seine Esoterik in unmittelbarer Anlehnung an und Auseinandersetzung mit vor allem neotheosophischen Vorbildern ausgebildet hat (Blavatsky, Sinnett und Besant), wie er aber zugleich in dieser Auseinandersetzung die theosophischen Vorbilder zunehmend von innen her um- und weitergebildet hat, und zwar auf Grundlage derjenigen philosophischen Fragen und Überzeugungen, die er in den drei hauptsächlichen Phasen seines vortheosophischen Werkes in Auseinandersetzung mit dem Weimarer Klassizismus und dem deutschen Idealismus, insbesonders mit Fichte, Goethe und Schelling, ausgebildet hatte.“ (Clement: Rudolf Steiners ‚Geheimwissenschaft‘)
Damit, nicht als Anthroposoph, mindert Clement immer wieder den Wert seiner Edition. Die Strategien, mit denen dabei die offensichtlichen Unterschiede und Brüche zwischen deutschem Idealismus und Steiners Esoterik verwischt werden, zeigen sich etwa darin, dass Clement sich eines reichlich undifferenzierten Begriffs von Theosophie bedient. Schellings Theosophiebegriff von 1811 aus den oben zitierten „Weltaltern“ soll beispielsweise nach beiden der oben verlinkten Texte Clements irgendwie relevant für Steiner sein. Diese Suggestion funktioniert in den Texten nur, weil dieser Theosophiebegriff nicht näher erläutert wird. Tatsächlich präsentiert Schelling in der „Weltalter“-Einleitung sein Programm in Abgrenzung vom ‚reinen Schauen‘ (Theosophie – weder Blabatsky noch Steiner beanspruchten in ihren esoterischen Schriften genau diese Form des Eingehens in den Gegenstand) und einer bloß rationalistischen ‚Dialektik‘. Außerdem tut Clement so, als seien die „Weltalter“ in Konzeption und Inhalt der Blavatsky/Steiner-Theosophie vergleichbar – sind sie allenfalls in dem Sinne, als alle drei Clements bewusstseinsphänomenologischem Reduktionismus eine reale, in sich differenzierte Außenwelt wie eine in Potenzen gespaltene Gottheit entgegenhalten könnten. (vgl. zur dabei findigsten, der Schellingschen Version Habermas: Dialektischer Idealismus im Übergang zum Materialismus. Geschichtsphilosophische Folgerungen aus Schellings Idee einer ‚Contraction Gottes‘, in: ders. Theorie und Praxis, Frankfurt a.M. 1971, 172-227) Steiner dagegen setzte stets das Bewusstsein als primäre Tatsache: Als die Menschen im physischen Stadium zuerst in der verschlossenen Wärme des „Alten Saturn“ auftauchten, standen ihnen schon die hoch entwickelten Hierarchien der Engel bis hinauf zu den Seraphim zur Seite.
Im oben zitierten Text wagt Clement erste Fingerübungen zur Kontextualisierung von Steiners ‚Geheimwissenschaft im Umriss‘, es geht also wieder um die Evolutionserzählung. Anstelle von Steiners Quellen wird dabei neben Schelling u.a. C. G. Jung herangezogen, dem die moderne Esoterik eine große Neuerung verdankt: Die Verlegung der „höheren Welten“, die Steiner noch annahm, in ein „kollektives Unbewusstes“, das die Menschheitsgeschichte in Form diverser Archetypen dominiert. Kollektivistischer Psychologismus anstelle des Postulats übersinnlicher Sphären. Dieser Versuch Clements, theosophische Metaphysik in eine spätere esoterische Neuerung aufzulösen, verfehlt ebenfalls das Ziel einer Plausibilisierung Steiners, weil er dessen Ansatz übergeht und allenfalls weiter zur Verzerrung der konkreten Kontexte beiträgt. Einem weiteren esoterischen Publikum, dem bereits Gerhard Wehr eine „Synopse“ von Jung und Steiner vorgelegt hat, kommt eine solche beiläufige Rehabilitierung Jungs sicher gelegen. Jungs Lehre ist selbst bemerkenswert fluid einsetzbar: 1933 als Pionierentwurf einer Psychologie für Arier, im ‚New Age‘ als spiritueller Hintergrund zur Verortung der millenarischen eigenen Erwartungen und heute in etablierten Therapierichtungen. (vgl.Gess: Vom Faschismus zum neuen Denken. C. G. Jungs Theorie im Wandel der Zeit, Lüneburg 1994) Abgesehen davon hätte auch Jung sich gegen eine bewusstseinsphilosophische Erklärung seiner Archetypenlehre gewehrt: Die Seele habe „die Wurzeln … nicht nur über die Erde im engeren Sinn, sondern in die Welt überhaupt gesenkt“ als „eigentlich der chtonische Anteil der Seele … durch den sie an die Natur verhaftet ist oder in dem wenigstens ihre Verbundenheit mit Erde und Welt am sichtbarsten erscheint.“ (Jung: Seele und Erde (1931), Gesammelte Werke 10, 45) Nach Steiner kristallisierten sich eher bestimmte seelische Aspekte umfassenderer spiritueller Wesen im Zeitalter der Erd-Periode bis ins Physische aus. Dies wird sich künftig evolutionär respiritualisieren, was einer parallelen Bewusstseinsintensivierung der Menschheit entspricht. Nicht, dass ein Vergleich dessen mit Jungs sehr viel statischerem Modell nicht aufschlussreich sein könnte, Clement jedoch geht nicht soweit, die Divergenzen und Schnittflächen beider Weltanschauungsgebäude auszutragen.
Ferner ist Christian Clement von der anthroposophischerseits üblichen Opposition zu Helmut Zander geprägt, der 2007 den Nachweis geführt hat, dass und wie sehr die Anthroposophie in all ihren Grundlagen und vielen Details eine „mitteleuropäisch“ eingeebnete Adyar-Theosophie ist, deren multireligiösen Bezugsrahmen Steiner allerdings mit der Zeit auf ein vermeintlich christliches Programm reduzierte. Obwohl Clement selbst munter gegen Zander polemisiert, nutzt er derweil u.a. dessen Kritik, um sich als Verfolgter eines anti-esoterischen wissenschaftlichen Mainstreams zu inszenieren:
„Wer heute dem akademischen Publikum eine kritische Ausgabe der Schriften Rudolf Steiners vorlegt, begibt sich ebenfalls in das von Hanegraaff angedeutete unsichere Terrain zwischen gesellschaftlich ›akzeptierten und akzeptablen‹ und ›nicht akzeptablen‹, vom wissenschaftlichen Establishment geächteten Theoriediskursen.[2] Er hat sich darauf einzustellen, dass, wenn er Steiners Denken nicht ausdrücklich als in irgendeiner Hinsich[t] illegitim ausweist, es gar in seinem eigenen Anspruch ernst nimmt und somit »in den Bereich des akzeptierten und akzeptablen Wissens hineinzieht«, von seinen akademischen Kollegen unter Umständen mit derselben Ächtung belegt wird, wie der in ihren Augen ›illegitime‹ Gegenstand seiner Untersuchung selbst.[3] Eine solche Delegitimierung droht also nicht nur dann, wenn ein Autor bestimmten vom akademischen Establishment geächteten Wissensformen ausdrücklich zustimmt oder sie gar in das eigene Denken aufnimmt; sie kann bereits dann erfolgen, wenn er sich nur in sachlicher, nicht-wertender und nicht-derogativer Art mit der theoria non grata auseinandersetzt.“ (Clement: Über Schwierigkeiten und Aussichten)
Dem eigenen Anspruch Steiners, der seine ‚höhere‘ Wissenschaft doch gerade als unendlich viel besseres Gegenprogramm zur akademischen verstand, kann man akademisch so wenig gerecht werden wie er es je der Akademie wurde. Als ob das nötig wäre (oder auch nur hilfreich), um seine Vorstellungen wissenschaftlich zu untersuchen. Dabei gibt Clement überdies die Kritiken an seiner Editionspraxis verkürzt wieder und behauptet, die bemängelten blinden Flecken seiner Texte würden aufgrund ihrer vermeintlichen Nähe zu Steiner kritisiert und nicht vor allem, weil sie blind sind. Im Prinzip reduziert Clement die Kritik an seinem Unterfangen damit auf genau das, was ihm Andreas Lichte bescheinigt hat: Steiner ’neue Kleider‘ zu verpassen, alten Wein in neuen Schläuchen schmackhaft machen zu wollen. Im zitierten Absatz spinnt Clement tatsächlich fiktive neue Kleider, aber für sich selbst, wie seine verkürzte Wiedergabe Wouter Hanegraaffs zeigt. Letzterer rekonstruiert die Entstehung der ‚westlichen Esoterik‘ zwischen zwei Paradigmen: (1) Einer protestantischen Polemik gegen heidnische Residuen im Katholizismus, die sich in die (protestantisch geprägte) Aufklärung fortsetzte, und (2) einem ‚religionistischen‘ Ansatz, der sich strukturell von der Hermetik mit ihren Konzepten von prisca theologia und philosophia perennis bis ins 20. Jahrhundert im Eranos-Kreis findet. (vgl. Hanegraaff. Esotericism and the Academy, Cambridge 2012) ‚Religionismus‘ ist die Annahme einer im wörtlichen Sinn ‚esoterischen‘ Seite der Religionsgeschichte, deren Reduzierung auf eine interkonfessionelle ‚Mystik‘ als ihren vermeintlichen wahren Kern. Clements Versuch, Steiner einer diffusen ‚theosophischen‘ Tradition vom Mittelalter über ‚den‘ Idealismus zu Jung zuzuordnen, ist ein musterhaftes Beispiel für solchen Religionismus. Paradoxerweise bedient Clement dabei gleichzeitig den ‚polemischen Diskurs‘, indem er versucht, die theosophischen Einflüsse auf Steiner als Oberflächenphänomene sublim zu disqualifizieren, während man den Esoteriker immer bloß von seinen vor-theosophischen Schriften her zu interpretieren habe. Es wird sozusagen eine Zwei-Klassen-Ideengeschichte betrieben, die Steiner vor esoterisch-okkulten Einflüssen bewahren will.
Es bleibt zu hoffen, dass Clement sich endlich auch entschließt, seine aufgeblähte Interpretationshypothese näher auszuweisen, entsprechend zu relativieren und in seiner Steiner-Edition mit anderen Deutungsmöglichkeiten abzugleichen. Das wäre schon deshalb wervoll, weil man diesen Ansatz tatsächlich gewinnbringend für Steiners Veränderungen um und kurz nach 1900 heranziehen könnte. Auf die Veränderungen in seinem Konzept der Subjektkonstitution zwischen dem atheistischen Höhepunkt seiner Ich-Philosophie über die „Seelenwandelung“ zur theosophischen Evolutionlehre trifft in der Tat jene Kurve der ‚Umstülpung‘ zu, die Clement reklamiert: Was von innen angeschaut wurde, wird nun in eine übersinnliche Um- und Außenwelt verlegt. (vgl. Die Mystik im Aufgang) Immerhin will Clement Hanegraaff und andere prominente Forscher für Vorworte in künftigen Bänden der SKA zu Wort kommen lassen. Ich fürchte, die Ausführungen Clements, die in die nächsten „SKA“-Teilen auf uns zu kommen, werden sich trotzdem nicht wesentlich von seiner bisherigen Lieblingsgeschichte unterscheiden. Es war zu viel erwartet, dass eine erste Steiner-Edition außerhalb anthroposophischer Verlage frei von ideologisch-apologetischen Verzerrungen sein würde, mag sie auch wissenschaftlich noch so nützlich sein. Sie steht aber auch nicht im Zeichen der Kontinuität anthroposophischer Hermeneutiken. Sondern Clements Texte zeigen, ähnlich wie Eggert, eben Weiterentwicklungen der Anthroposophie an, die parallel zum Verfall ihrer alten Institutionen (vgl. Sergej, du hast dich selbst gegeben) in immer transparentere und durchlässigere Formen schlüpft und dabei, zäh wie alle Ideologie, in der Lage ist, naturwissenschaftliche wie philologische Probleme gleichsam in sich aufzusaugen – vorläufig allerdings um den Preis ihrer eigenen Verbindlichkeit.
Ist es an der Zeit für eine Rudolf-Steiner-Gesellschaft?
„Ist es an der Zeit, über eine »Rudolf-Steiner-Gesellschaft« (oder auch eine andere akademische Assoziationsform) nachzudenken, die das Ziel hätte, all jenen ein Forum zu geben, die sich mit Steiner und seinem philosophischen, theosophischen, anthroposophischen und künstlerischen Werk beschäftigen und dabei die Früchte ihrer Arbeit in einer Form darzustellen und mitzuteilen bereit sind, die anschlussfähig ist an den allgemeinen akademischen Diskurs?“
– schreibt Christian Clement, Herausgeber der Kritischen Steiner-Ausgabe (SKA) im Stuttgarter frommann-holzboog-Verlag und bietet sich an, bei Interesse Schritte in Richtung Gründung einer solchen Gesellschaft zu unternehmen. Dazu gehören soll ein Jahrbuch mit Artikeln und Rezensionen. Ob es möglich sei, dass „Vertreter der verschiedenen Strömungen innerhalb der Anthroposophie, die Freunde und die Kritiker Rudolf Steiners, unabhängige Esoterik-Forscher und alle möglichen sonstigen Facetten des Spektrums zu einem fruchtbaren Dialog“ zusammenkommen, formuliert Clement wie den ganzen Brief eher in Frageform. Auch ich sehe in den perspektivischen Abgründen zwischen den zu erwartenden Teilnehmern die größte Herausforderung eines solchen Unternehmens. „Freunden“ und „Kritikern“ Steiners, die diese Bezeichnungen verdienen, wäre naturgemäß und für das Allgemeinwohl eher zur gegenseitigen Sabotage zu raten. Ich meine trotzdem und eben deshalb: Ja, in der Tat ist es an der Zeit für eine Rudolf-Steiner-Gesellschaft, vielmehr allerdings für eine Gesellschaft zur Erforschung der Anthroposophie. Eine Vereinigung, die schon im Namen auf „Früchte“ der Steiner-Philologie festgelegt wäre, hätte zum einen den längst dazu existierenden Foren (Alanus-Kolloquien, Rudolf-Steiner-Forschungstage) nicht zwingend viel voraus. Und im Unterschied zum vermutlich überschaubaren akademischen Umfeld irgendeiner Hermann Cohen-, Nicolai Hartmann- oder Karl Jaspers-Gesellschaft hat das Erbe Steiners bekanntlich seine Spezifika. Wissenschaftlich erforderlich wären soziologische oder sozialpsychologische Studien zur Struktur und gesellschaftlichen Rolle der Anthroposophischen Gesellschaft und „Bewegung“, medizinische Untersuchungen zu Steinerschen Zaubermitteln, historische Forschungen beispielsweise zur Anthroposophie (namentlich der Christengemeinschaft) in der DDR…. und last but not least wirklich kritische Analysen, wie es sie hinsichtlich aller gesellschaftlichen Bereiche gibt, während sie von wohlgesinnten „Steinerforschern“ vermutlich als Polemik abgelehnt würden. Hans-Peter Riegels Beuys-Biographie und Peter Bierls „Erzengel, Wurzeln und Volkgeister“ beispielsweise sind selbstverständlich und zu Recht Polemiken, für eine ernstzunehmende Anthroposophie-Forschung aber viel nützlicher als große Teile auch der besseren anthroposophischen Literatur, obwohl es sich bei beiden nicht wirklich um akademische Publikationen handelt. Das Spezifikum der (wenn auch nach wie vor um Steiner zentrierten) Anthroposophie ist ja gerade die Vielfalt ihrer biographischen, gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen. Weiter schlösse sich das ganze Feld der Erforschung der deutschsprachigen Theosophie und Lebensreform an. Die Gründung einer solchen Gesellschaft würde primär davon abhängen, ob es gelingt, sehr unterschiedliche Interessengruppen auch tatsächlich anzulocken, oder ob, dem aktuellen Trend folgend, am Ende doch nur wieder die nächste verklärte „Steiner hat ganz, ganz viel mit dem deutschen Idealismus zu tun“-Gruppe zusammenträte. Natürlich hat Steiner ganz viel mit dem deutschen Idealismus zu tun, aber das ist nur ein Steinchen im reichhaltigen Mosaik der „Steiner-Forschung“, die sich nicht von der Erforschung der Anthroposophie als ganzer abtrennen lässt. Zu klären bleibt, wie in diesem sumpfigen Feld ein wirklich qualitativ neues Diskussionsforum aufgestellt und organisiert sein sollte. Clements Initiative möchte ich mich dabei gern und höchst erfreut anschließen.
Anthroposophische Reformation. Dogmen der liberalen Anthroposophie
„Anthroposophie im 20. Jahrhundert ist weit mehr als Traditionsverwaltung. Zu den Innovationen gehört vor allem eine Neudefinition der Rolle Rudolf Steiners: Vielen gilt er heute weniger als der Guru oder der Eingeweihte, der ein System letzter Wahrheiten eröffnet hat, sondern als ein Schlüssel zur Ermöglichung individueller Sinnsuche. Hier sehe ich eine der dramatischen Verschiebungen gegenüber den ersten Jahrzehnten der Interpretation seiner Person und seines Werks.“
– Helmut Zander: Wie kann man mit Rudolf Steiner sprechen?
Das traditionelle anthroposophische Milieu stirbt aus. Überalterung und schwindende Mitgliederzahlen der „Anthroposophischen Gesellschaft“ (vgl. „Sergej, du hast dich selbst gegeben“) sprechen aber nicht dafür, dass die Steinersche Ideologie sich damit endgültig verflüchtigt. Helmut Zander geht zweifelsohne zutreffend davon aus, dass die Steiner-Interpretation individualisiert und pluralisiert werde – in rein selektiver Aneignung, vermischt mit anderen esoterischen Weltanschauungen oder durch die Sprachgrenzen einer sich globalisierenden anthroposophischen Gemeinde. Ich meine zusätzlich, dass man – für den deutschsprachigen Raum – aber durchaus ideologische Konturen sehen kann, in denen sich so manche „Individualisierung“ und „Pluralisierung“ einpendelt. Die Alternative lautet nicht: orthodoxe Anthroposophie oder irgendwie geartete Erosion. Die „liberale“ Anthroposophie, die sich als solche von den traditional-anthroposophischen Dogmen loslöst, ist nicht mit dem Unsichtbarwerden von Anthroposophie identisch. Sondern hier formen sich ganz eigene Dogmen: Betont wird ein verkitschtes Steinersches „Frühwerk“, das als einzige legitime Urteilsgrundlage für die gesamte Steinerdeutung gelten soll. Ferner werden die höheren Wesen und Welten Steiners als Bilder und Veranschaulichungen ins Subjekt hineingelegt. Schließlich werden so auch Steiners Selbstdeutungen relativiert: Aus dem „Mysterium von Golgatha“ werden biographisch-psychologische Phasen des Gurus gemacht.

„SKA“ 7: In den Einleitungen zu Christian Clements kritischer Steiner-Ausgabe findet sich die reformierte Steiner-Lesart detailliert
Diese Umdeutungen lösen im ortodoxen Lager scharfe, meist unfaire Anfeindungen aus. Denn in der Tat reagieren die liberalen Anthroposophen (bewusst oder unbewusst) auf die Unzugänglichkeit des verquasten Steinerschen esoterischen Werks, und Zweifel an diesem können die Orthodoxen nicht aufkommen lassen. Freilich gehen die Liberalen genauso fehl, wenn ihnen die anthroposophische Esoterik dann nur wieder eine nette, bilderreiche Illustration oder methodische Verlängerung des „Frühwerks“ zu sein scheint. Im Stillen aber bereitet sich so mancherorts eine anthroposophische Reformation vor: Wer Steiners Aussagen über „höhere Welten“ nicht mehr unmittelbar für evident hält, ist in Bezug auf diese offener gegenüber historischen Deutungen oder punktueller Kritik. Im Ganzen freilich ist diese Neo-Anthroposophie nicht minder ideologisch als die orthodoxe Variante, wie sich an ihrem prominentesten Verfechter, dem Germanisten Christian Clement zeigen lässt.
Obwohl die im Folgenden zitierten Autoren sich zweifelsohne nicht als homogene Gruppe sehen würden und jeder Standpunkte einnimmt, denen andere untere den Aufgeführten widersprechen würden, scheinen mir doch die folgenden Punkte geeignet, das Credo eines kleinen, aber wachsenden Flügels von Steiners-Fans zusammenzufassen:
- Depotenzierung der Inhalte: Was Steiner über Engel, Elementarwesen und Weltzeitalter sagte, sei inhaltlich nicht, jedenfalls nicht ganz ernst gemeint, sondern methodische oder heuristische Veranschaulichung von ganz anderen Philosophemen.
- Prospektive statt retrospektive Deutung: Beurteilen die Orthodoxen das Leben des vor-theosophischen Steiner durch die Augen des Theosophen, so drehen die Liberalen den Spieß um. Steiners Aussagen nach seiner Kehre um 1902 werden auf das früher liegende Werk reduziert.
- Radikale Selbstdeutung: Wie jede religiöse Innovation versteht auch diese sich nicht als solche. So behaupten die Neo-Anthroposophen, zum „echten“ Steiner zurückzukehren, „es“ so zu sehen, wie „es wirklich gemeint“ war.
- Individualisierung: Der klassische Steinerjünger sieht sich in einem sehr festgelegten Kosmos von übersinnlichen Kräften und Welten, der liberale, der an diese nicht glaubt, sucht jene Potenzen im Individuum. Jeder muss sich selbst, neu, kreativ, individuell mit ihnen verbinden.
Nochmal: Steiner-Verkürzung in der „SKA“
Manchmal sieht man sich zu peinlichen Schritten gezwungen: zum Beispiel heute ich und zu dem garstigen Schritt, Lorenzo Ravagli zuzustimmen, jenem Verteidiger der Steinerschen Rassenlehre und Möchtegernkritiker der Anthroposophiekritik, der zu allem Überfluss noch pathetisch einen (Wieder-)“Aufstieg zum Mythos“ predigt. (vgl. Ravagli, die Rassen und die Rechten) Nun hat Ravagli allerdings eine geschwätzige Rezension zu Band 7 der von Christian Clement herausgegebenen Kritischen Steiner-Ausgabe (SKA) geschrieben, die auf das zentrale Defizit in Clements Ansatz hinweist. In diesem Band sind Steiners „Schriften zur Erkenntnisschulung“ ediert worden: Anweisungen, Übungen und Schilderungen für seine „Geistesschüler“, um den Pfad in die „höheren Welten“ anzutreten. Clements meisterlicher Stellenkommentar kontextualisiert viele Äußerungen Steiners, weist ausführlich die Quellen nach, aus denen Steiner (natürlich ohne sie zu nennen) geschöpft hat und geht auf inhaltliche Zusammenhänge ein, die jenseits der herausgegebenen Schriften liegen.
Aber. In Vorwort und besagtem Stellenkommentar nähert Clement sich Steiners Konzept der „höheren Erkenntnis“ in ähnlicher Manier wie Ravagli dem Steinerschen Rassismus: Alles sei irgendwie ganz anders gemeint. Konkret meint Clement offenbar, Steiner kenne keine Objekte höherer Erkenntnis. All die Auren, Wesen und Kräfte, die Steiner da umschreibe seien lediglich Bilder und Symbolisierungen. (vgl. Zu Band 7 der Kritischen Steiner-Ausgabe) Clement: “Muss man nicht, gerade im Sinne seines Frühwerks, die von Steiner beschriebenen ‘Lotusblumen’, ‘Astralleiber’ oder ‘Schwellenhüter’ als Gestalten ansehen, die er selbst, wie Faust seine Helena, aus dem ‘Weihrauchnebel’ seiner eigenen Imagination hervorzauberte?“ (SKA 7, XXVIII) Das wäre vielleicht zu bejahen, wenn man es anthroposophiekritisch in dem Sinne wendete, dass es sich bei Steiners „Hellsichtigkeit“ um idiosynkratische Projektionen und Autosuggestionen gehandelt habe. Das jedoch ist Clements Anspruch nicht. Zwar wirft er dem Guru vor, dass er nicht Philosoph blieb, also dem Steiner nach 1900, dass er sich nicht wie vor 1900 verhalten habe – versucht dann aber doch weitgehend ohne Belege, Steiners esoterisches Programm als bloße mythologische Veranschaulichung seiner vormaligen Philosophie zu verkaufen.
Was Steiner über die “höheren Welten” gesagt hat, sei lediglich “eine bewusstseinsphilosophische Darstellung im Geiste Kants und Fichtes, d.h. … eine Phänomenologie der Inhalte des menschlichen Bewusstseins. Das einzige Wesen, dem der Mensch in der Meditation begegnet, ist nach Steiner letztlich das eigene, und zwar als zugleich individuell-persönliches und universell-absolutes.” (ebd., XXIX) Abgesehen davon, dass man Fichte und besonders Kant vor dieser Zuschreibung zumindest partiell in Schutz nehmen muss, ist auch Steiner gegen diese Verzerrung zu verteidigen: Dass er selbst Meditation bzw. „höheres Forschen“ bloß als Selbstbegegnung eines Universalsubjekts sah, lässt sich nicht nur nicht belegen, sondern Steiner selbst sagt verschiedentlich explizit das Gegenteil. In dieser Hinsicht nun ist auf Lorenzo Ravagli Verlass, der Clements Steinerverzerrung ebenfalls, wenn auch vom orthodox-anthroposophischen Standpunkt, nicht nachvollziehen kann:
„Ich sehe keinen Weg, solche Äußerungen Steiners als mythologisierende Redewendungen wegzuraisonnieren, zu denen er nur gegriffen hätte, weil sein Publikum zu dumm war, die Sprache der Aufklärung zu verstehen. Vielmehr erscheint mir dieser Rationalisierungsversuch seinerseits als eine Art Rückfall in den Feuerbachschen Anthropomorphismus. Die aus dem imaginierenden Bewusstsein hervorgehende bildliche Darstellungsform als Rückfall in ein vorwissenschaftliches Bewusstsein zu bezeichnen, widerspricht der gesamten Logik und Systematik der von Steiner nach 1900 entwickelten Anthroposophie …. Auch in den »Stufen der höheren Erkenntnis«, die Clement ja ebenfalls herausgibt und kommentiert, spricht Steiner deutlich aus, dass es sich bei der durch die Imagination erreichbaren Welt – die deswegen keine dualistisch gedachte metaphysische Hinterwelt sein muss – um eine höhere Wirklichkeit handelt, als jene, die dem gegenständlichen Bewusstsein der gewöhnlichen Wissenschaft zugänglich ist.“ (Ravagli: Die Anthroposophie: ein „Rückfall “ in Mythos?)
Ravagli natürlich hat seinen eigenen Anteil an der Genese des von Clement und anderen vertretenen Steinerbildes (vgl. Ravagli: Der esoterische Schulungsweg im Frühwerk Rudolf Steiners, in: ders. (Hg.): Jahrbuch für anthroposophische Kritik, 74ff.), vertritt, zumindest inzwischen, jedoch selbst seinen ganz dezidierten Remythologisierungsansatz. Seinem Vorbehalt gegen Clement ist zwar nicht im Impetus, aber in der konkreten Kritik an Clements Steinerdeutung zuzustimmen. Clement wiederum hat in einer Replik auf meinen Vorwurf, dass er eine ideologische statt analytische Steinerdeutung vornehme, die letztere als „ideogenetisch“ und wie folgt verteidigt:
„Dabei beziehe ich mich nicht nur auf die erkenntnistheoretischen Argumente Steiners bis 1894, sondern auch und vor allem auf die bewusstseinsphilosophisch geprägten Texte von 1901 und 1902 und dem darin von Steiner formulierten (und dann von mir in der Einleitung zu SKA 5 so genannten) „ideogenetischen Grundgesetz“. In dieser Herangehensweise sehe ich aber nicht eine „ideologische Verkürzung“, sondern eine legitime Methode der Deutung Steiners, welche sich zum einen problemlos von Steiner her rechtfertigen lässt und zudem den Vorteil hat, dass sich anhand seiner ohne Schwierigkeiten eine innere Kontinuität zwischen Steiners philosophischen Frühwerk und seiner späteren Esoterik behaupten lässt. So kann man Steiner durch Steiner auslegen lassen, ohne mit den Anforderungen kritischen Denkens in Konflikt zu kommen.“ (Clement: Ideologische vs. ideogenetische Steinerdeutung)
In der Tat lässt sich Steiner nach 1902 kohärent allein mit seinen vorherigen Schriften auslegen, jedoch wohl (jedenfalls bei Clement) um den Preis, das alle seiner späteren Verlautbarungen nicht ernst genommen bzw. auf frühere reduziert werden. In der Tat versucht Clement, Steiner mit seiner Mystik-Schrift von 1902 zu lesen, nach der die mystischen Inhalte menschliche Projektionen seien, in denen doch ein Universales mitschwingt: „dürfen dann nicht, in Anwendung der Steinerschen Konzeption auf seine eigene Gedankenproduktion,auch seine eigenen philosophischen Vorstellungen wie auch die Inhalte der Steinerschen Esoterik, also die Inhalte des imaginativen, inspirativen und intuitiven Bewusstseins, in eben derselben Weise aufgefasst werden? Was an diesem Deutungsansatz ideologisch sein kann, kann ich nicht sehen…“ (ebd.) Da sich Steiners Auffassungen um und nach 1902 (und bis 1925) in rasendem Tempo immer wieder weiterentwickelten, umlagerten und verschoben, ist es bestenfalls gedankenlos, alles nach 1902 willkürlich auf seine Positionen um 1902 zu reduzieren. Wenn das aber kein legitimer Ansatz sei, müsse ich doch wohl jeden hermeneutischen Ansatz als ideologisch brandmarken, so Clement.
Der ungeheure editorische Wert der „SKA“ bleibt ungemindert – ja, in seinem Vorwort zum Band mit den Mystik-Schriften Steiners erwies sich Clements Interpretationsansatz auch noch als treffend (vgl. Die Mystik im Aufgang), wohl weil glücklicherweise Texte bis 1902 untersucht wurden. Ich habe in meiner Rezension einige Aussagen Steiners zitiert, an der Clements Umdeutungsversuche abprallen, Ravaglis Rezension nennt einige mehr, und mühelos wären weitere zu finden. Steiners Aussagen über „höhere Welten“ auch als solche aufzufassen gelingt Clement nicht, er sähe darin wohl einen Dualismus – dass für Steiner monistisch zusammenhängende geistige Wesen mit unterschiedlichen ontologischen Strukturen und Aufgaben existierten, scheint keine Deutungsoption zu sein, die er auch nur heuristisch durchgedacht hätte.
Zur Ideogenese der reduktionistischen Steiner-Lesart
Ich behaupte, dass Clements hermeneutischer blinder Fleck seinerseits nicht im luftleeren Raum steht. Seine Steiner-Lesart ist jedenfalls keineswegs neu, sondern wurde längst in einem gewissen anthroposophischen Milieu vertreten, das auch zu seinen Ausführungen am lautesten applaudiert hat: dem liberal-anthroposophischen Umfeld von Info3. Dort hat Felix Hau, allerdings als „Arbeitshypothese“ gekennzeichnet, schon 2005 den theosophischen Steiner zur verkleideten Verlängerung des frühen Steiner erklärt, was einen bösartigen Aufschrei im anthroposophischen Mainstream nach sich zog.
„Zu keinem Zeitpunkt“ habe Steiner „Engelshierarchien, zwei Jesusknaben, Ätherleiber und soratische Mächte als Anschauungen“ in sich getragen, so Hau, sondern sich „lediglich später auf diese bestimmte Art“ ausgedrückt. Und nochmal:
„Ich bin im Übrigen nicht der Ansicht – und war es nie –, dass Steiner bei seiner Verbindung mit der Theosophie seine Ideen aufgegeben, wesentlich modifiziert oder erst danach die ihn kennzeichnende Auffassung entwickelt hat; ganz im Gegenteil [nämlich dass die Theosophie] … ein Feld bot, auf dem er in aller Seelenruhe seine ureigensten Auffassungen zu Anschauungen entwickeln und ausarbeiten konnte – lediglich um den Preis, sie in eine bestimmte Ausdrucksform zu gießen…“ (Felix Hau: Rudolf Steiner integral, in: Info3 5/2005, 30)
Ähnliches haben, ausführlicher, Haus Kollegen Christian Grauer und Sebastian Gronbach behauptet. Christian Grauer hat daraus einen eigenen, konstruktivistisch-solipsistischen philosophischen Ansatz geformt, der eine eigene Besprechung nötig machte. (vgl. Grauer: Am Anfang war die Unterscheidung. Der ontologische Monismus, Frankfurt 2007, siehe auf diesem Blog auch Grauer: Die Wunderwaffe jedes Fundamentalisten) Gronbach, der selbst als spiritueller Lehrer missioniert, sieht Steiners Engel usw. als bloße Symbole, die Steiner als Universaldidakt aus pädagogischen Gründen erfunden habe, um die Seele zu kultivieren:
„Die Erzengel, die Widersachermächte Luzifer und Ahriman, die Elementarwesen, am Ende auch Christus (ich komme noch dazu), das sind alles Steiners geniale und poetische Beschreibungen spezifischer Formen und Zustände der menschlichen Innenwelt. Es ist die wissenschaftliche Methode der Versinnbildlichung [!], ein Kunstgriff, um komplizierte menschliche Ideen in eine populäre Form zu gießen, mit denen wir über das Denken hinaus eine lebendige Beziehung eingehen können. Ideen finden so den Weg in unsere Seele. … Ist der Erzengel Michael nur ein Symbol? Er ist ein von Steiner, von mir, von Ihnen erschaffener Repräsentant einer Idee. Er ist Wesen, weil Steiner, ich und Sie es wollen, und er ist nur Symbol, wenn wir diese Beziehung zu beenden. Genau das ist für mich die zweite Wahrheit: Es ist Zeit, diese Beziehung zu beenden. Weil er für etwas steht, aber dieses Etwas, die Idee, dasjenige, was der Träger durch die Zeit trug, muss nun meine Sache werden.“ (Sebastian Gronbach: Missionen. Geist bewegt alles, Stuttgart 2008, 97f)
Mein Artikel wurde nicht ohne jeden Sinn „anthroposophische Reformation“ betitelt: Die protestantische Reformation schrieb Kirche und Konzile als relevante Institutionen zur Bibelexegese ab und gab dem einzelnen Gläubigen die Schrift in die Hand. Die anthroposophische Reformation lässt den Unmittelbarkeitsanspruch der Steinerschen Texte wegfallen und macht radikal den Rezipienten zum Dreh- und Angelpunkt. Der Leser muss die in Steiners Schilderungen niedergelegte Idee finden, verstehen und sich ganz individuell aneignen.
Welch radikaler Bruch zum anthroposophischen Mainstream in dieser Auffassung liegt, mag man behelfshalber an einem weiteren Beispiel illustrieren: Info3-Chefradekteur Jens Heisterkamp. Dessen Anliegen ist “eine Neubesinnung auf eine ursprüngliche, ‘nicht-theosophische’ Anthroposophie“, für die Steiners Entwicklung nach den Mystik-Schriften eine uneigentliche Phase bleibt. (Heisterkamp: Anthroposophische Spiritualität, 124) Heisterkamp begeistert sich zwar für eine spirituelle Evolution der Kultur, aber die läuft in Kapiteln wie „magisch“, „mythisch“, „rational“ und „integral“. Steiners Welten-, Wesen- und Rassen-Evolution wird als heuristischer, aber letztendlich gescheiterter Versuch der „Verbildlichung“ dieser Kulturgeschichte angesehen.
„Steiner hat hier offenbar keinen anderen Weg der Darstellung gesehen, als die Wirkmächtigkeit von Bewusstsein als evolutiver Kraft unter Rückgriff auf die Bildlichkeit ‘höherer Wesen’ zu schildern. Entstanden sind dabei äußerst bilderreiche Erzählungen speziell in seinem Buch Geheimwissenschaft im Umriss, die seiner als Philosoph aufgestellten Maxime eines Verzichts auf ‘außermenschliche’ und ‘außerweltliche’ geistige Kräfte zu widersprechen scheinen.” (ebd., 87f.)
Auch die Vorstellung der Reinkarnation wird zwar ästhetisch bejaht, aber ontologisch depotenziert: ob man nun wirklich und wörtlich wieder geboren wäre, das scheint dem Info3-Chefredakteur nicht so wichtig zu sein. (ebd., 75f.) Heisterkamps Ansatz scheint mir unter allen referierten der sympathischste, denn er verfährt dezidiert ekklektisch: “‘Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden’ – diese von Steiner selbst formulierte Lebensregel gilt es auch im Blick auf sein eigenes Werk zu beherzigen.” (ebd., 36) Hier wird Steiner unter weitgehender Ausklammerung der theosophischen Inhalte (nicht aber aller esoterischen) richtiggehend umgeschrieben. Das hat große Vorteile, weil Heisterkamp etwa Rassismus und Antisemitismus verabschiedet, die in der gegenwärtigen orthodoxen Anthroposophie entweder noch virulent, oder zumindest ein latenter Fundus sind. Das zeigt die empörte Reaktion des Kreuzritters Holger Niederhausen auf Heisterkamps Buch: „Eine konkrete geistige mit realen Wesen wird also einfach nicht mehr ertragen. Ebenso wenig aber eine konkrete Geschichte, die neben der Bewusstseinsgeschichte sehr wohl immer bestimmte Völker kannte, die jeweils spezifische Impulse in die Menschheitsentwicklung einfließen ließen. Aber all dies ist ja „diskriminierend“…“, so Niederhausen.
Interpretative Folgen
Die Parallelen zwischen Clement, Hau, Gronbach und Heisterkamp sind schlagend: Steiners „Erforschung“ geistiger Welten wird zum Bild, zur Metapher, zur Einkleidung für Positionen, die er vor oder um 1900 vertreten hat. Das Spätwerk Steiners wird so radikal depotenziert, dass es nur aufgrund des philosophischen Frühwerks (oder was in dieses so hineingelegt wird) überhaupt noch legitim angegangen werden kann. Alle vier würden es als lächerlich verwerfen, wenn man glaubte, Steiner habe wirklich von Engeln gesprochen. Hinzu tritt ein merkwürdiger Begriff von Monismus, der angeblich mit Engeln unvereinbar sein soll. Tatsächlich ist die „Geistige Welt“, die Steiner ab 1903/4, beispielsweise im ersten Fragment seiner „Geheimwissenschaft“ (vgl. GA 89), entfaltete, kein ontologischer Widerpart zu Materie oder zum menschlichen Bewusstsein, sondern die letzteren können sich als Teil des binnendifferenzierten monistischen Geisterkosmos erkennen.
Diese Umdeutung Steiners ist selbst Anthroposophie. Anthroposophie, der die Widersprüche von Steiners Früh- und Spätwerk bewusst geworden sind und die deshalb letztlich versucht, das Inkommensurable am zugänglichsten Schopf zu packen und den Widerspruch durch eine exegetische Monopolstellung des „frühen“ Steiner auszutreiben. Das orthodoxe Lager steht Steiner zwar näher, insofern es das esoterische Weltbild ernst nimmt, verfolgt aber die liberalen Steinerdeuter mit großer Wut. Die wird psychologisch zu erklären sein, denn an den wie auch immer falschen Pointen Neo-Anthroposophie wird deutlich, dass Steiners Werk Interpretation erfordert – während die Orthodoxen sich im Aberglauben wiegen, dass aus Steiners Worten unvermittelt “die Wahrheit sofort hervorginge.” (Niederhausen: Unwahrheit und Wissenschaft, 29) Gegenüber solchem Unsinn zeigt sich das doch hohe reflexive Niveau, das die reformierten von den traditionalen Anthroposophen scheidet.
Natürlich kaufen die orthodoxen Steinerverehrer sich munter Steiners Rassismus und seine Verschwörungsideologie ein. Christian Clements Steiner-Edition wird in den Augen ihrer anthroposophischen Möchtegernkritiker zum diabolischen Plan mormonisch-jesuitisch-freimaurerischer Weltverschwörungen, die natürlich nichts besseres zu tun haben, als zur Zerstörung der Anthroposophie häretische Steinerinterpretationen auf den Markt zu werfen. (vgl. Willy, Thomas und der Wolf im Schafspelz)
Denkend begreifen statt hellseherisch wahrnehmen
Mögen Info3 und Clement die prominentesten Sprachrohre der neuen Steiner-Leküre sein, so sind die ihr zugrundeliegenden Probleme doch auch einigen anderen Anthroposophen bewusst. David Marc Hoffmann, Leiter des Steiner-Archivs (und vormals des Basler Schwabe-Verlags, dem wir übrigens eine exzellente Untersuchung von Steiners Beziehung zum Nietzsche-Archiv verdanken) versucht ebenfalls, durch das „Frühwerk“ Schneisen ins esoterische Spätwerk zu schlagen. Hoffmanns Ausführungen gehören, das sei klargestellt, zu den besten im anthroposophischen Milieu seit Steiners Zeiten überhaupt. Er erkennt „eklatante Widersprüche“ an und geht methodisch viel sorgfältiger vor als Clement. Auch Hoffmanns Feindbild heißt Dualismus, auch er hält es für nötig, Steiners Monismus zu beweisen, auch er will Steiner aus der esoterischen Ecke holen. Hoffmann sieht jedoch Steiners esoterisches Gedankengebäude nicht unbedingt als „Verbildlichung“ vorher ausgearbeiteter Inhalte, sondern hofft Kontinuität zu stiften, indem er die „höhere Erkenntnis“ des „späten“ Steiner als inhaltliche Erweiterung unter den methodischen Prämissen des „frühen“ ausgibt:
„Die eklatanten Widersprüche zwischen Steiners früherem Atheismus und seinem späteren esoterischen Christentum erscheinen unter dem Aspekt der Methode in einem ganz anderen Licht. Wenn Wahrnehmung und Begriff als Maßstab für die Erkenntnis gelten, dann ist alles bloß eine Frage der Grenzen der Wahrnehmungen und des verwendeten Begriffsinventars des erkennenden Individuums. Bei erweiterten Wahrnehmungen und neuen Begriffen ist plötzlich erkennbare Realität, was vorher unwahrnehmbar und undenkbar war – ohne dass die anerkannte Erkenntnismethode preisgegeben wurde. Unter diesem Gesichtspunkt kann auch die (vermeintliche) Esoterik der Anthroposophie relativiert werden. Wenn die Anthroposophie einem Unvorbereiteten oder naiv Gläubigen als Spiritualismus oder gar Dualismus erscheinen mag, kann sie sich bei näherer Betrachtung als monistisches Verständnis der Welt entpuppen … In diesem Sinne lässt sich die geistige Seite der Welt denkend begreifen statt hellseherisch wahrnehmen.“ (David Marc Hoffmann: Rudolf Steiners Hadesfahrt und Damaskuserlebnis. Vom Goetheanismus, Individualismus, Nietzscheanismus, Anarchismus und Antichristentum zur Anthroposophie, in: Uhlenhoff: Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart, 118)
In gewisser Hinsicht hat man es hier durchaus mit einer anthroposophischen Graswurzelrevolution zu tun. Bereits Steiner selbst betonte notorisch, er wolle verstanden statt gläubig verehrt zu werden. Natürlich würden aber orthodoxe Anthroposophen genau das auch betonen, ohne einen einzigen Buchstaben seines Werks in Frage zu stellen. Das gelingt den Neo-Anthroposophen durchaus glaubwürdiger, weil sie mit der Negation einer objektiv existenten „Geistigen Welt“ nur noch eines haben: das von Steiner gleichfalls beschworene Individuum, dem sich um so mehr annehmen wollen – statt auf die ontologische Struktur der Geistwelt muss der Adept nun auf die methodische Struktur seines Denkens hoffen.
Mysterium von Golgatha
Diese Subjektivierung wird auch auf Steiner selbst übertragen. Der beschreibt in seiner Autobiographie seine geistige Wende nach der Jahrhundertwernde zwar nicht als solche, aber durchaus, wie er sich aus inneren Krisen und dämonischen Kräften durch Vertiefung in’s esoterische Christentum rettete, das er natürlich schon hellseherisch wahrnehmen konnte:
„In der Zeit, in der ich die dem Wort-Inhalt nach Späterem so widersprechenden Aussprüche über das Christentum tat, war es auch, daß dessen wahrer Inhalt in mir begann keimhaft vor meiner Seele als innere Erkenntnis-Erscheinung sich zu entfalten. Um die Wende des Jahrhunderts wurde der Keim immer mehr entfaltet. Vor dieser Jahrhundertwende stand die geschilderte Prüfung der Seele. Auf das geistige Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha in innerster ernstester Erkenntnis-Feier kam es bei meiner Seelen-Entwickelung an.“ (GA 28, 388)
Bei unseren anthroposophischen Reformern wird das visionäre „Gestanden-Haben vor“ zu einer Art psychologischem Hindurchgegangensein-durch das „Mysterium von Golgatha“. Statt dass Steiner nach absolvierter Seelenprüfung die Opferung Christi geschaut habe, ja selbst zum Diener der Christus-„Wesenheit“ geworden sei, wird diese autobiographische Äußerung zum biographischen Narrativ. Steiners geistige Kehre um 1900 kulminiert in dieser Deutung nicht in seiner geistigen Präsenz auf Golgatha. Sondern Kreuzigung, Tod und Auferstehung Christi werden zum Muster psychologisiert, nach dem auch Steiners früher Idealismus durch einen atheistischen „Tod“ hindurchgegangen sei, um als neuer Idealismus nach 1900 aufzuerstehen. Hoffmann bedient sich des auch von Clement zum neuen Kanon erhobenen Buchs „Das Christentum als mystische Thatsache“, um Steiners viel spätere autobiographische Behauptung zu deuten.
„Was Steiner in den beschriebenen ‚Ismen‘ (Monismus, Individualismus, Egoismus, Anarchismus) und seiner Opposition zum Christentum erfahren hat, ist ein vollständiger Verlust aller alten Werte, ein Verlust von Mensch und Welt, ein Moment, ‚wo der Geist für ihn alles Leben für Tod erklärt‘. Steiner hat eine derart beschriebene Hadesfahrt durchlebt. Dass sich ihm eine neue Welt, eine neue Sonne und eine neue Erde aufgetan haben, kann man als eine Art Damaskuserlebnis bezeichnen.“ (Hoffmann: Rudolf Steiners Hadesfahrt, a.a.O., 112)
Auch János Darvas, der Kritik am anthroposophischen Antisemitismus übt und gegen diesen eine supra- oder interreligiöse Anthroposophie zu stellen versucht, sieht das ähnlich:
„Rudolf Steiner hat in seiner Freiheitsphilosophie und den anderen erkenntnistheoretischen Schriften eine völlige Ausklammerung aller vorangegangener Tradition vollzogen. Das geschah nicht bloß im Sinne einer methodischen Voraussetzungslosigkeit intellektueller Art, sondern als ein durchaus existenzielles Abkoppeln … Ist ein solches Abkoppeln in diesem existenziellen Sinn vollzogen, dann ist ein totaler Nullpunkt erreicht, der zunächst Determinationen vorausliegender Prägungen durch die Tradition auslöscht. In der Art indes, wie dieser Nullpunkt erlebt wird, bleibt er von dieser Tradition mitgeprägt … Es [Steiners ‚Mysterium von Golgatha‘] ist selbst als Null und Anfang zu erfahren. Dem spirituellen Todeserlebnis im Hindurchgehen durch die Nacht des agnostischen, existenziell erfahrenen ‚Gott-ist-tot‘ steht das ‚Gott-ist-tot‘ des Gekreuzigten auf Golgatha als Entsprechung gegenüber, freilich so, dass in der Überwindung dieser Situation auch eine Qualität erlebt wird, die im christlichen Sprachgebrauch als Auferstehung bezeichnet wird.“ (Darvas: Gotteserfahrungen. Perspektiven der Einheit. Anthroposophie und der Dialog der Religionen, Frankfurt am Main 2009, 21f.)
Steiner selbst spricht davon, dass er sich aus geistigen Krisen durch Vertiefung ins Christentum rettete, das er in den Bekenntnissen nirgends gefunden, sondern aus der geistigen Welt geholt habe. Sein „Gestanden-Haben“ ist ein punktuelles, aber bahnbrechendes Ereignis: Die Auflösung der Krise und die Frucht der Vertiefung ins Christentum. Darvas und Hoffmann dehnen das Muster von Tod und Auferstehung zur Allegorie für Steiners geistige Biographie aus. Auch damit ist eine Depotenzierung, hier des „Mysteriums von Golgatha“, verbunden. Christus, auf den orthodoxe Anthroposophen nichts kommen lassen, ist nicht mehr der Fluchtpunkt von Steiners geistiger Entwicklung, sondern Tod und Auferstehung sind bloß noch Metaphern für Phasen von Steiners Leben. Steiners Goetheanismus, Nietzscheanismus, Theosophie usw. sind keine ernst zu nehmenden Positionen mehr, die Steiner wirklich vertreten hätte, sondern symptomatische Stufen auf dem Bogen durch Nullpunkt/Hadesfahrt und Auferstehung/Damaskuserlebnis.
Anthroposophische Reformation. Eine erste Zwischenbilanz
Über die Folgen der solcherart reformierten Anthroposophie kann man immer wieder erfreut und erleichtert sein. (vgl. Die Scheidung der Geister) Aus diesem Lager wird man wohl kaum über Wurzelrassen, atlantische Planeten-Orakel und Nazi-Mysterien belehrt werden. Dafür hört man aber immer mehr zur „Philosophie der Freiheit“, die transzendentalphilosophisch entkernt und existenzialistisch gewendet wird. Dass im Info3-Verlag mein Buch zu Steiners Rassenlehre wie die kommentierte Edition von Hans Büchenbachers „Erinnerungen“ erscheinen konnte, liegt auch daran, dass die nationalistischen, konspirationstheoretischen und rassistischen Ideologeme dort als überflüssiger Ballast für die „echte“ Anthroposophie gesehen werden. Dass Christian Clement eine solide kritische Edition von Steiners Hauptwerken herausgibt, wie auch immer entstellt das Steinerbild seiner Vorwörter ist, liegt daran, dass die konkreten esoterischen Inhalte für Clement uneigentlichen Charakter gegenüber der „ideogenetischen“ „Bewusstseinsphilosophie“ Steiners haben, die in ihnen lediglich illustriert würde.
Orthodoxe Anthroposophen, und dort vor allem das „Europäer“-Milieu mit seiner Neigung zu antiamerikanistischen Verschwörungsthesen, halten Clement für einen „Vernichter“ Steiners und haben immer wieder den Ausschluss der Info3-Fraktion aus der Anthroposophischen Gesellschaft gefordert. Die Stoßrichtung ihrer Argumentation gegen Info3 entsprach dabei einem Fazit, das auch der Anthroposophiekritiker Andreas Lichte zu Jens Heisterkamps „Anthroposophischer Spiritualität“ zog: Da werde Steiner zur Unkenntlichkeit verdünnt. Lichte:
„… ‚dann mach ich mir ‘nen Schlitz ins Kleid und find es wunderbar‘: Herr Heisterkamp kann ja gerne versuchen – und sich dabei grossartig fühlen – seine EIGENE Anthroposophie zu erschaffen, nur sollte er ihr dann auch einen EIGENEN Namen geben – mit Rudolf Steiner hat das ganze nichts mehr zu tun.“ (Lichte, Kommentar vom 3.11.2014)
Anthroposophiekritik, die ihre Objekte bloß aufgrund einer mehr oder weniger engen Übereinstimmung mit Steiner zu kritisieren wüsste, wäre blind oder eben allenfalls so hilfreich wie die Kritik traditionaler Anthroposophen an ihren heterodoxen Glaubensgenossen. Natürlich muss Anthroposophiekritik den realen Steiner, soweit er sich quellentechnisch erschließen lässt, im Auge behalten. Aber erforderlich ist darüber hinaus, die Rezeption und Transformation des anthroposophischen Steinerbildes zu analysieren. Ich wage zu prognostizieren, dass Stimmen im Stile Heisterkamps und Clements in den nächsten Jahren lauter werden, jedenfalls am Rand des (bis heute vom traditionellen Lager dominierten und somit schrumpfenden) anthroposophischen Establishments. Das ist mit Blick auf Dogmatismus, Rassismus usf. im anthroposophischen Mileu auch äußerst begrüßenswert. Zugleich hat sich ein Gronbach’sches oder Clement’sches Steinerbild längst zum neuen Dogma aufgespreizt. Weiß der traditionale Steinerjünger sich von einer Beziehung zu den Engeln getragen, so der liberale, dass die Engel für „etwas“ „in mir“ stehen, mit dem ICH mich total radikal selbst, individuell, schöpferisch und in Weiheernst verbinden muss. Den anthroposophischen Reformern wäre gleichfalls nachzutragen, was Marx über Luther schrieb:
„Luther allerdings hat die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Er hat den Menschen von der äußern Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum innern Menschen gemacht hat. Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz in Ketten gelegt. Aber, wenn der Protestantismus nicht die wahre Lösung, so war er die wahre Stellung der Aufgabe.“
(Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, 386)
Das trifft auch auf die reformierte Anthroposophie zu. Der „bilderreiche“ Ballast wird aus den „höheren Welten“ nur noch radikaler ins Individuum verlagert. Aber in zweifacher Hinsicht wird auch hier die Aufgabe richtig gestellt: Anthroposophiekritik darf nicht an Steiners albernen Proklamationen von Atlantis bis Zarathustra hängenbleiben, sondern muss die idealistisch-objektlose Innerlichkeit des Selbst ins Auge fassen, die als deren epistemische Grundlage vorausgesetzt und im ‚anthroposophischen Protestantismus‘ auf einen Sockel gestellt wird.
Auch der historischen Steinerforschung stellt die anthroposophische Reformation eine Aufgabe: Nicht nur, dass Christian Clements Steineredition die Textgrundlage auf eine neue Basis stellt. Vor allem David Hoffmanns Publikationen zu Steiner und dem Nietzsche-Archiv gehören zu den besseren Arbeiten zu Steiner überhaupt, sein zitierter Artikel über Steiners geistige Kehre ist im philologischen Sinne auch letztlich viel steinerkritischer als Clements Kommentare. Die Aufgabe, die ich sehe, besteht aber nicht darin, Texte von Steiner-Fans zur Kenntnis zu nehmen, auch vorher war die anthroposophische Literatur logischerweise Basis für die kritische Auseinandersetzung. Die Aufgabe mag mehr eine Warnung sein: Dass dem verklärten Steinerbild der orthodoxen Anthroposophie nun das gleichfalls verkehrte des „philosophischen“ Bilderbauer-Individualisten Steiner entgegengestellt wird, zeigt einmal mehr die Vielfalt ideologischer Umbrüche in seinem Werk, von denen jeder einzelne esoterisch hypostasiert werden kann. Dem Versuch einer vereindeutigenden Festlegung muss man widerstehen, wie das Beispiel von Clements Verwischung des übersinnlichen Erkenntnisanspruchs zeigt.
Ideologische vs. ideogenetische Steiner-Deutung
Eine Replik auf Ansgar Martins Kritik an der Einleitung zu SKA 7
von Christian Clement
Ansgar Martins war so freundlich, eine Besprechung des soeben erschienenen 7. Bandes der Kritischen Ausgabe von Schriften Rudolf Steiners (SKA) – Schriften zur Erkenntnisschulung –auf seinen blog zu setzen. Darin hob er viel Positives hervor und sprach manches Lob aus, fand aber auch einige Kritikpunkte, besonders an der Einleitung zu dem Band, und darunter einiges, von dem er meinte, es füge der Edition als solcher „schweren Schaden“ zu. Auf Martins lobende Aussagen zum Band brauche ich hier nicht einzugehen; die verdienten nehme ich dankend hin, auf die unverdienten werde ich mich hüten, hier näher einzugehen. Zu seinen kritischen Punkten aber möchte ich einiges zu bedenken geben.
Zunächst sei versucht, die Kritik von Martins kurz zusammenzufassen. Dabei stellen sich mir drei Hauptpunkte dar: zum einen bemängelt er, dass ich in meiner Kontextualisierung des anthroposophischen Erkenntnisweges wesentliche Zusammenhänge ausgeblendet hätte, etwa die religionsgeschichtliche Literatur zum Thema ritueller Handlungen, die neuesten Publikationen aus dem Bereich der Esoterikforschung sowie die binnenanthroposophische Literatur über die Arbeit der anthroposophischen Hochschule und über neuere anthroposophische Meditationsrichtungen.
Ein zweiter Punkt betrifft die Tatsache, dass ich in dem Band die Thematik des Wissenschaftsanspruches der übersinnlichen Erkenntnis bei Steiner nichtbehandelt habe. Da sich der Band zentral mit der Thematik der durch Meditation zu erwerbenden höheren Erkenntnisstufen dreht (Imagination, Inspiration und Intuition) und Steiner auf die systematische Ausbildung und Anwendung derselben den Wissenschaftsanspruch der Anthroposophie begründet hat, so Martins, hätte dieses Problem doch in der Einleitung zum 7. Band ausführlich besprochen werden müssen.
Ein dritter Kritikpunkt schließlich ist, und dies scheint für Martins der schwerwiegendste zu sein, dass ich in der Einleitung den Versuch unternehme, die Texte des späten Steiner (also ab der „Theosophie“ von 1904) aus der Perspektive von Steiners philosophischem Denken vor 1904 zu verstehen. In diesem Versuch sieht Martins eine Infragestellung der Eigenständigkeit des Esoterikers Steiner zugunsten des Philosophen. Steiner werde so eine intellektuelle Entwicklung nach 1900 abgesprochen, was sich aber von seinen eigenen Äußerungen her nicht rechtfertigen ließe. Ja noch mehr: es entstehe so eine „ideologische Verkürzung“, durch welche der späte Steiner massiv „umgedeutet“ und „verzerrt“ dargestellt werde. Ausserdem rede ich damit, so Martins, einer gewissen „anti-esoterischen“ Einstellung das Wort, welche doch gerade die jüngere Esoterikforschung endlich zu überwinden beginne.
Im Folgenden möchte ich auf diese drei Hauptpunkte kurz eingehen. Dabei sei vorweg gesagt, dass ich die ersten beiden Einwürfe von Martins gut nachvollziehen kann und prinzipiellberechtigt finde, wobei die monierten „Lücken“ jedoch nur teilsweise als Versäumnisse gelten können, während manches bewusst in Band 7 nicht thematisiert wurde, weil die Besprechung an anderer Stelle sinnvoller erscheint bzw. nicht in den Zusammenhang des Themas „Erkenntnisschulung“ gehört. Den dritten Einwurf hingegen möchte ich entschieden zurückweisen indem ich plausibel zu machen versuche, dass sich mein Versuch einer Deutung der steinerschen Esoterik aus der Perspektive des philosophischen Steiner, besonders des bewusstseinsphilosophischen Steiner der Schriften um 1901/02, durchaus kohärent durchführen und auch von Steiner selbst her rechtfertigen lässt, ohne dadurch zur Ideologie zu werden. Im Gegenteil bietet sie eine Möglichkeit, in kritischer Weise Steiner durch Steiner selbst deuten zu lassen.
Zu Punkt 1: Martins hat recht, wenn er darauf hinweist, dass ich in meiner Betrachtung von Steiners Texten zur Erkenntnisschulung die religionsgeschichtliche Literatur weitgehend ausblende. Dies geschieht vor allem, weil dies nicht mein Feld und nicht mein Ansatz ist und ich mich mit der vertieften Einarbeitung in dieses Feld überfordern würde. Ich betrachte Steiner und seine Darlegungen zur Erkenntnisschulung nicht primär im Rahmen der Religionsgeschichte (denn da gehört sie meiner Meinung nach nicht hin, trotz aller Bemühungen mancher Kritiker, sie so zu interpretieren, und mancher Anthroposophen, sie faktisch zum Religionsersatz umzufunktionieren), sondern in ihrem philosophiegeschichtlichen Kontext. Das ist natürlich eine interpretatorische Verengung, die mir aber durchaus legitim erscheint. Ich bleibe lieber bei meinen Sohlen und lasse hier Lücken, die zu füllen ich Berufeneren überlasse, als zu dilletieren, Falsches hinzustellen oder bloß einige Gemeinplätze zu referieren. Und so gesteht mir ja auch Martins zu, dass ich auch ohne explizites Eingehen auf die entsprechende Sekundärliteratur allein durch meinen umfassenden Stellenkommentar die notwendige Kontextualisierung Steiners, etwa in Bezug auf das theosophische Umfeld, durchaus zufriedenstellend vorgenommen hätte.
Mit der Literatur zur Esoterikforschung verhält es sich ähnlich, obwohl deren Einbeziehung schon viel eher in den von mir gewählten Zugang zu Steiner passen würde, besonders die erwähnte Arbeit von Olav Hammer. Ich muss hier allerdings frei bekennen, dass ich mich in diese Literatur derzeit erst hineinarbeite und nicht, um eines pseudowissenschaftlichen Vollständigkeitsanspruches willen, den Abschluss von SKA 7 auf unbestimmte Zeit herausschieben wollte. Die Zeiten, in denen ein wissenschaftlicher Herausgeber sich die Pose des „allwissenden Erzählers“ geben musste, liegen glücklicherweise hinter uns. Zudem sind die meisten der Werke, die einzubeziehen Martins mir rät, 2012 oder 2013 erschienen, also zu einer Zeit, als die Arbeit an Band 7 bereits weit fortgeschritten war bzw. dieser sich schon in der Korrektur- und Satzphase befand. Ich gebe Martins also prinzipiell recht, dass zumindest ein kursorischer Überblick über diese Literatur meiner Einleitung gut getan hätte, und kann mich nur mit den gegebenen Umständen, der Begrenztheit meines Wissens und der Konzentration auf meine fachlichen Stärken entschuldigen.
Andererseits freut es mich denn doch zu hören, dass sich meine Einleitung trotz dieser Ausblendung der Esoterikforschung laut Martins „auf der Höhe von Fragestellungen der aktuellen Esoterikforschung“ bewege (etwa indem ich das Thema Erkenntnisschulung nicht auf einen rein ideengeschichtlichen Diskurs verkürze) und durch meine überwiegend philosophiegeschichtliche Heraungehensweise durchaus „zu ähnlichen Schlussfolgerungen“ komme wie diese. Anscheinend kann man also nicht nur durch Studium der Sekundärliteratur, sondern auch durch Eingehen auf den Primärtext zu den für diesen Text relevanten Fragestellungen kommen. (Womit ich freilich nicht einer wissenschaftsfeindlichen Position oder einer Forscherfaulheit das Wort reden möchte. Es soll nur angedeutet werden, dass ein gewisser„Mut zur Lücke“ sich rechtfertigen lässt, wenn dadurch der Blick auf die mannigfachen Facetten des Primärtextes nicht verstellt wird; ja dass diese Reduktion gewissermaßen notwendig ist, wenn eine Aufgabe zu bewältigen ist, welche die Kräfte und Möglichkeiten einer Einzelperson in Lebenszusammenhängen wie den meinen im Grunde übersteigt.) Martins versucht dann noch ein geistreiches Apercu indem er bemängelt, dass ich zwar Mitglied der ESSWE sei, aber die Publikationen dieser Gesellschaft nicht hinreichend berücksichtigen würde. Hätte er nachgefragt und erfahren, dass ich von der Existenz der Gesellschaft erst nach Drucklegung von SKA 7 erfahren habe und daraufhin Mitglied wurde, hätte er sich diese Bemerkung wahrscheinlich verkniffen.
Mit Blick auf die binnenanthroposophische Literatur stimme ich Martins uneingeschränkt zu. Deren Einbeziehung hätte in die Einleitung gehört und besondern den Abschnitt zur Wirkungsgeschichte der erkenntnisschulischen Schriften gutgetan. Die hier einschlägige mir von Martins anempfohlene Studie von Johannes Kiersch war mir schlicht nicht bekannt, und es liegt hier somit ein klares Versäumnis vor, ähnlich wie die Nichteinbeziehung von Christoph Lindenbergs Studie bei der Einleitung zu Band 5. Hier kann ich mich für den Hinweis nur bedanken und werde die Anregungen in meiner künftigen Arbeit beherzigen.
Zu Punkt 2: Auch in Bezug auf den ausgeblendeten Wissenschaftsanspruch der Anthroposophie ist Martins Frage einerseits natürlich völlig berechtigt: wenn man Steiners Darstellungen zur Ausbildung der übersinnlichen Erkenntnis behandelt, gehört in diesen Zusammenhang nicht eine Darstellung des Wissenschaftsanspruches, der sich mit dieser Erkenntnis verbindet? Ich habe mich gegen diese Option entschieden, weil in den Texten des 7. Bandes selbst, also in „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“ und „Die Stufen der höheren Erkenntnis“ dieser Anspruch nicht explizit erhoben wird und auch inhaltlich keine große Rolle spielt. Steiner benutzt zwar hier gelegentlich die Begriffe „Geheimwissenschafter“ und „Geheimforscher“, doch sind diese Ausdrück hier weitgehend synonym mit „Geheimlehrer“ und bezeichnen nicht einen expliziten Anspruch, dass das sich in der übersinnlichen Erfahrung ergebende in dem Sinne eine Wissenschaft sei, wie dies die Naturwisseschaften für sich in Anspruch nehmen. Steiner geht es hier vor allem um die praktische Frage des „Wie“ von übersinnlichem Wissenserwerb, nicht um die theoretisch-systematische Frage nach dem „Was“ derselben. Dies geschieht meines Erachtens nach erst in der „Geheimwissenschaft im Umriss“ von 1910, wo die Frage nach dem Wissenschaftscharakter der Anthroposophie schon im Titel und dann in den Vorworten ausführlich von Steiner behandelt wird. (Ähnliches gilt übrigens auch für einen anderen Aspekt anthroposophischen Denkens, dessen Ausklammerung Martins mir vorwirft, und zwar die „geschichtsmetaphysische“ Dimension.) Hier möge man also einfach etwas Geduld haben und sich auf die Einleitung zum 8. Band der SKA freuen; vielleicht auch aufatmen, dass die 130seitige Einleitung nicht noch länger geworden ist.
Zu Punkt 3: Da diese Kritik wohl die zentrale und schwerwiegendste ist, sei der Kernvorwurf kurz in Martins eigenen Worten wiederholt:
»Clement […]ist nicht bereit, Steiners intellektuelle Entwicklung zum theosophischen Erforscher der geistigen Welten ernst zu nehmen. Vielmehr wird der späte Steiner überall dort, wo er mit dem philosophischen Frühwerk nicht mehr übereinstimmt, auf das philosophische Frühwerk reduziert. Dass Steiner mit dem “kritisch-philosophischen Diskurs” tatsächlich gebrochen hatte, ist aber nicht zu leugnen […] Scheinbar kann Clement Steiner den Glauben an Transzendenz nicht zugestehen. Das mag eine legitime Perspektive sein, sofern sie Steiner-kritisch auftritt: Freilich handelt es sich bei Steiners Visionen um “innere Erlebnisse”, die zu real existierenden geistigen Zuständen und Wesen zu hypostasieren eine dogmatische Setzung darstellt. Daraus geht aber nicht hervor, dass Steiner deshalb selbst nur der Auffassung gewesen sei, es handle sich um lediglich innere Erlebnisse, die ohne spirituell-übersinnliches Objekt auskommen. Tragischerweise leugnet Clement also den Sinn und Zweck von Steiners Geistesschau – mit naturwissenschaftlicher Präzision in geistige Seiten des Kosmos vorzudringen und valide Erkenntnisse mitzubringen, die sich dann z.B. in Pädagogik, Medizin usw. verwirklichen ließen –, und zwar leugnet er ihn per se. Clements Herangehensweise zeigt sich hier als ideologische statt analytische. […] Clement trifft offenbar die nicht inhaltlich begründete Vorentscheidung, Steiner die Entwicklung nach 1900 abzusprechen und seine meditativen “Anweisungen und Schilderungen im Lichte seiner zuvor erschienenen epistemologischen und bewusstseinsphilosophischen Schriften” allein zu lesen. (XXX) Dieser reduktionistischen Lesart stehen die eindeutigen Aussagen Steiners zu Legionen entgegen […]«
Diese Deutung von Martins möchte ich hiermit in Frage stellen. In der Tat deute ich die Texte des späteren Steiner aus derjenigen Perspektive, die Steiner selbst in seinen früheren vortheosophischen Schriften entwickelt hat. Dabei beziehe ich mich nicht nur auf die erkenntnistheoretischen Argumente Steiners bis 1894, sondern auch und vor allem auf die bewusstseinsphilosophisch geprägten Texte von 1901 und 1902 und dem darin von Steiner formulierten (und dann von mir in der Einleitung zu SKA 5 so genannten) „ideogenetischen Grundgesetz“. In dieser Herangehensweise sehe ich aber nicht eine „ideologische Verkürzung“, sondern eine legitime Methode der Deutung Steiners, welche sich zum einen problemlos von Steiner her rechtfertigen lässt und zudem den Vorteil hat, dass sich anhand seiner ohne Schwierigkeiten eine innere Kontinuität zwischen Steiners philosophischen Frühwerk und seiner späteren Esoterik behaupten lässt. So kann man Steiner durch Steiner auslegen lassen, ohne mit den Anforderungen kritischen Denkens in Konflikt zu kommen. Dass diese hermeneutische Herangehensweise an Steiner nicht die einzig mögliche ist und, wie alle alternativen Deutungsversuche, auch ihre Schwierigkeiten hat, ist ja selbstverständlich. Wenn aber Martins sie als „ideologisch“ bezeichnet und ihr vorwirft, den späteren Steiner bis zur Unkenntlichkeit zu verzerren, so kann ich dem nicht folgen. Nicht „ideologisch“ gehe ich an den späteren Steiner heran, sondern „ideogenetisch“ in Sinne einer von Steiner selbst formulierten bewusstseinsphilosophischen Konzeption.
Diesevon mir in SKA 5 als „ideogenetisches Grundgesetz“ bezeichete Konzeption besagt,dass sämtliche Formen, welche die Wirklichkeit im Bewusstsein des Menschen annimmt, nicht als Repräsentationen einer vom innersten Wesen des Menschen substantiell getrennten bzw. verschiedenen „Außenwelt“ zu verstehen sind, sondern vielmehr als Repräsentationen bzw. Manifestationendes absoluten, in der menschlichen Erkenntnis sich selbst entwickelnden Weltwesens. Man vergleiche dazu folgende Darstellung aus meinem Aufsatz „Die bewusstseinsphilosophische Grundlegung der Philosophie“:
»[Steiners] Darstellung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Mystik; seine Deutungen der ägyptischen, griechischen, jüdischen und indischen Mystik wie auch seine Darstellung der Essäer und Therapeuten und seine Interpretation des Neuplatonismus, des Augustinismus und der Scholastik orientieren sich überall an seinen eigenen Vorstellungen vom Wesen der mystischen Erfahrung und seinen Anschauungen über den Projektionscharakter der menschlichen Gottes- und Jenseitsvorstellungen.Die gesamte geistige Geschichte des Abendlandeswird so zum Kaleidoskop verschiedener Ausprägungenjenereinen Erfahrung der wahren Natur des Selbst, die Steiner schonin seiner Philosophie der Freiheit zu beschreiben versucht hatte.Und so erweist sich die Schrift [„Das Christentum als mystische Tatsache“, C.C.], die äußerlich als eine Geschichte des Christentums bzw. des Mysteriengedankens in der abendländischen Kultur daherkommt, im Kern als eine fundamentale bewusstseinsphilosophische Untersuchung von Wesen und Entwicklung des menschlichen Wissens, die in vielem an hegelsche und schellingsche Vorbilder anknüpft.
In einem Brief vom 2. Oktober 1902 zeigt Steiner, dass er selbst seine Schriften aus dieser Zeit in genau dieser programmatischen Weise verstand. Dort schreibt er über seine Christentums-Schrift: «Ich weiß, dass ich etwas Ähnliches wage wie einst Fritz Schultze, von dessen positiven Aufstellungen heute nichts mehr als richtig gilt, während das biogenetische Gesetz – vielleicht noch korrigiert – in alle Zukunft weiterleben wird» (GA 39, S. 422f.). Fritz Schultze (1846-1908) hatte in verschiedenen Schriften den Versuch unternommen, das von Haeckel aufgestellte biogenetische Grundgesetz auf die psychologische und moralische Entwicklung des Menschen anzuwenden. Nun besagt dieses haeckelsche Gesetz, dass jede Formgestaltung im Werden eines individuellen Lebewesens als Ausdruck der in diesem Wesen sich auslebenden Art oder Gattung zu verstehen ist, indem jedes individuelle Lebewesen im Lauf seiner Embryonalentwiclung die gesamte Stammesentwicklung seiner Art wiederholt. In ähnlicher Weise versuchte nun Steiner, das Grundprinzip der Entstehung kulturgeschichtlich charalkteristischer Vorstellungen im menschlichen Bewusstsein in Analogie zur Embryonalentwicklung von Säugetieren zu verstehen und somit ein dem «biogenetischen» entsprechendes «ideogenetisches» Entwicklungsgesetz zu formulieren. Dieses besagt: jede im menschlichen Bewusstsein auftretende Gestalt- jeder Mythos, jedes philosophische System, jede naturwissenschaftliche Theorie, jedes Kunstwerk – ist nicht nur als Ausdruck einer Persönlichkeit oder einer bestimmten Kulturstufe zu verstehen, sondern muss als von bestimmten Entwicklungsgesetzen geleitete Projektion derim Denken wirksamen universellen Weltwesenheit in ein als äußerlich vorgestelltes Sein verstanden werden.«
Meine Deutung der Steinerschen Esoterik in SKA 7 orientiert sich an diesen von Steiner selbst entwickelten Vorstellungen. Wenn Steiner in der Tat (zumindest in der Schrift von 1902) die mythischen, philosophischen und wissenschaftlichen Vorstellungen innerhalb der Menschheitsgeschichte als Projektionen verstand, in denen der Mensch das Erleben des in seinem Erkennen zur Offenbarung kommenden Wesens (wohlgemerkt: nicht das bloße Erleben der eigenen Individualität oder Einzelseele) als Begegnung mit einer als von diesem Wesen getrennt vorgestellten „Außenwelt“ erlebt, dürfen dann nicht, in Anwendung der Steinerschen Konzeption auf seine eigene Gedankenproduktion,auch seine eigenen philosophischen Vorstellungen wie auch die Inhalte der Steinerschen Esoterik, also die Inhalte des imaginativen, inspirativen und intuitiven Bewusstseins, in eben derselben Weise aufgefasst werden? Was an diesem Deutungsansatz ideologisch sein kann, kann ich nicht sehen – es sei denn, Martins wolle jeden hermeneutischen Ansatz mit diesem Adjektiv brandmarken, also auch seine eigene, von Prämissen des religionsgeschichtlichen Diskurses geprägte Herangehensweise.
Ich spreche Steiner keineswegs eine intellektuelle Entwicklung nach 1902 ab; ich nehme mir lediglich die Freiheit, die Ausbildung der theosophischen und dann anthroposophischen Vorstellungen Steiners ab 1904 mit demselben Prinzip zu erklären, mit dem Steiner selbst sämtliche von der Menschheit vor ihm hervorgebrachten Vorstellungen erklärt hat. Es liegt mir auch fern, „Steiners intellektuelle Entwicklung zum theosophischen Erforscher der geistigen Welten“ zu leugnen oder „Sinn und Zweck von Steiners Geistesschau – mit naturwissenschaftlicher Präzision in geistige Seiten des Kosmos vorzudringen und valide Erkenntnisse mitzubringen“ abzulehnen. Denn zu diesen Fragen sage ich in SKA 7, wie Martins selbst an anderer Stelle vorwurfswoll anmerkt, – nichts.
Wenn hingegen Martins schreibt: „Scheinbar kann Clement Steiner den Glauben an Transzendenz nicht zugestehen“, hat er völlig recht. Mit dem Glauben hatte Steiner, so wie ich ihn verstehe, nicht viel am Hut. Und auch die Vorstellung einer Transzendenz hat Steiner in seinen philosophischen Schriften so vehement abgelehnt, dass ich die von mir behauptete innere Kontinuität im Werk Steiners nicht länger guten Gewissens vertreten könnte, wenn ich meinte, Steiner habe sich in dieser Hinsicht irgendwann „bekehren“ lassen.
Umgekehrt finde ich es hochproblematisch, wenn Martins zu der Vorstellung einer solchen Konversion Steiners zu einem „Glauben an eine Transzendenz“ kommt, und frage mich, wo denn die „Legion“ von Steinerzitaten sein soll, die dies seiner Ansicht nach belegen. Martins führt ein paar Beispiele an, in denen Steiner mahnt, das in der imaginativen Erkenntnis Erlebte nicht als bloßes Sinnbild, sondern als reales Wesenhaftes zu verstehen. Recht wohl; aber behauptet Steiner irgendwo, das in der geistigen Erfahrung erlebte Wesenhafte sei etwas anderes, als eine Manifestation eben jenes Wesens, das da im und durch den imaginierenden Menschen erlebt? Behauptet er irgendwo, der Erlebende und das Erlebte, das „Geistige im Menschen“ und das „Geistige im Weltall“, „Innenwelt“ und „Aussenwelt“ seien, ausser in der subjektiven menschlichen Erfahrung, zwei verschiedene Dinge und nicht vielmehr das eine durch das andere vermittelt?Nur dann könnte man zurecht von einer Transzendenz bei Steiner sprechen, aber mir sind solche Passagen nicht bekannt. Und hätte ein zum „Glauben an eine Transzendenz“ bekehrter Steiner über die monistische Grundhaltung seiner Frühschriften noch 1925 sagen können, sie erscheine ihm auch jetzt noch als theoretische Fundierung all dessen, was er später in der Anthroposophie erarbeitet hat?
Martins’ Deutung meiner Position scheint sich an einer zugespitzten Formulierung von mir aus der Einleitung zum 7. Band aufzuhängen. Nach Martins soll ich nämlich dort behauptet haben: „der Mensch begegne laut Steiner in der Meditation nur sich selbst.“ Dies deutet er in dem Sinne, dass ich mich in meiner Auffassung gefährlich dem Solipsismus nähere, ja er nennt meinen Ansatz in der Tat an einer Stelle ausdrücklich „solipsistisch“:
»Clement verkehrt Steiners esoterische Epistemologie in ihr Gegenteil: Die Geistige Welt wird in ein einerseits solipsistisches, andererseits zum Absoluten aufgeblähtes menschliches Subjekt verschoben.«
Was ich aber tatsächlich geschrieben habe ist dies:
„Das einzige Wesen, dem der Mensch in der Meditation begegnet, ist nach Steiner letztlich das eigene, und zwar als zugleich individuell-persönliches und universell-absolutes.”
Das scheint mir etwas ganz anderes zu sein. Kein Solipsismus und keine Aufblähung des Subjekts zum Absoluten, sondern vielmehr die dialektisch verstandene Identität von Subjekt und Objekt, Ich und Welt, wie sie sowohl von den Mystikern aller Zeiten wie auch von respektierlichen Philosophen wie Fichte, Schelling und Hegel – aber auch von Rudolf Steiner in der „Philosophie der Freiheit“ –behauptet worden ist.
Zur Rechtfertigung meiner Deutung Steiners hatte ich in SKA 7 folgendes hinzugefügt:
»Wer gegen solche Vorstellungen einwenden wollte, dass Rudolf Steiner im Rahmen seiner esoterischen Vorstellungen schließlich eine ausgearbeitete Hierarchienlehre entwickelt habe, muss bedenken, dass Steiner getreu seinermonistischen Grundhaltung auch dieseHierarchien letztlich wieder in das Wesen des Menschen hineingenommen hat: »[. . . ] durch die ›Philosophie der Freiheit‹ erhebt sich der Mensch zur Wahrnehmung des Menschen als rein geistigen Wesens. Und obwohl die Philosophie der Freiheit nur diesen schildert, so ist es doch wahr, daß der, welcher sich zu dem Freiheitserlebnis durchringt, dann in der Umgebung des geistigen Menschen, den er dann wahrnimmt, die Hierarchien findet. Denn sie [die Hierarchien, C. C.] sind alle im Menschen, und im geistigen Schauen erscheint, was im Menschen ist, als geistige Umgebung« (Steiner 1922 im Gespräch gegenüber Walter Johannes Stein, zit. n. Meyer [1985], 299, Hervorhebung C.C.).«
Wenn also nach dieser Aussage Steiners in den „geistigen Hierarchien“ dem Menschen im geistigen Schauen tatsächlich nichts anderes als sein eigenes Wesen entgegenkommt, ist es dann nicht legitim anzunehmen, dass das auch für alle sonstigen „Wesen“ gilt, sie sich sonst noch im „anthroposophischen Wesenszoo“ tummeln? Ich denke, das lässt sich widerspruchsfrei annehmen. Und wenn das Solipsismus sein sollte: war dann nicht auch Steiner Solipsist? – Steiner hingegen zu unterstellen, er habe sich, entgegen seinen tiefinnersten Überzeugungen im Frühwerk, irgendwann zu einem „Glauben“ an eine Transzendenz bekehrt, welche von „Wesen“ bevölkert wird, die als solche unabhängig vom demjenigen Wesen existierten, welches sie und in welchem sie erkennend erlebt werden, scheint mir mit Steiner selbst nicht belegbar zu sein, ja es scheint mir die Steinersche Esoterik dem Vorwurf eines naiven metaphysischen Realismus auszusetzen.
Dem stehen auch die von Martins zitierten Äußerungen Steiners nicht entgegen, dass sich in der Meditation ZUNÄCHST des Meditierenden eigene Seele als von außen an ihn herankommend offenbare, er DANN aber „zu Höherem“ aufsteige. Denn das Aufsteigen vom Erleben der Eigenseele zu höheren Erlebnissen darf schließlich nicht gleichgesetzt werden mit einem Herauskommen aus dem, was hier das „eigene“ „universelle“ Wesen des Menschen genannt wurde. Es kann sehr wohl, ja muss meiner Ansicht nach von Steiner her als ein kognitiver Aufstieg innerhalb der verschiedenen Manifestationen ein und desselben, für alle begrifflichen Dichotomien unerreichbaren Wesens verstanden werden, welches sich sowohl in der „gewöhnlichen“ wie auch in der „höheren“ Erkenntnis offenbart.
Und so lautet mein Fazit: meine Deutung Steiners, wie sie der Einleitung von SKA 7 zugrundeliegt, erscheint mir weiterhin in sich kohärent und in völliger Übereinstimmung mit Steiners eigenen Aussagen zu sein. Ich kann aber Martins Kritik insofern nachvollziehen, als ich meine Deutung Steiners vielleicht stärker als meineDeutung hätte herausstreichen und deren Zusammenhang mit meinen Darlegungen zur Ideogenese in SKA 5 kräftiger betonenmüssen. Mir schien das selbstverständlich zu sein angesichts dessen, was ich bisher über meine Editions- und Interpretationsprinzipien veröffentlicht habe. (Neben der Einleitung zum 5. Band vor allem mein Aufsatz „Die bewusstseinsphilosophische Grundlegung der Anthroposophie“). Darin, dass dies nicht zureichend geschehen ist, kann ich mit Martins eine Schwäche sehen, wie auch darin, dass eine Ausfüllung einiger der oben erwähnten „Lücken“ innerhalb der Kontextualisierung wünschenswert gewesen wären. Für seine Hinweise darauf bin ich ihm daher dankbar. Seine Schlussfolgerung hingegen, dass damit meine Steiner-Deutung insgesamt untragbarund der Edition schwerer Schaden zugefügt worden sei,wird sich hoffentlich als zu weitgehend und als zu pessimistisch erweisen. Ich gebe mich der Hoffnung hin, dass die Stärken der Einleitung ihre Schwächen mindestens auszugleichen in der Lage sind. Und dass, wenn dies nicht der Fall sein sollte, zumindest der Diskurs um die Anthroposophie um eine bedenkenswerte Deutungsposition bereichert worden ist.
Und auch dies kann ich immer wieder nur betonen: dass der eigentliche Wert und Zweck der Ausgabe in der erstmaligen vollständigen Dokumentation der Texte und ihrer Entwicklung besteht, wogegen meine persönlichen Deutungen und Kommentare derselben eher nebensächlich sind.
Literatur
Christian Clement. Die bewusstseinsphilosophische Grundlegung der Anthroposophie. Rudolf Steiners Schriften in textkritischer Beleuchtung, in: Archivmagazin 2 (2013), 169-192.
Rudolf Steiner: Schriften. Kritische Ausgabe (SKA). Band 5: Schriften über Mystik, Mysterienwesen und Religionsgeschichte. Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung – Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums. Herausgegeben und kommentiert von Christian Clement. Stuttgart-Bad Cannstadt, 2013.
Rudolf Steiner: Schriften. Kritische Ausgabe (SKA). Band 7: Schriften zur Erkenntnisschulung
Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? – Die Stufen der höheren Erkenntnis. Samt einem Anhang mit Materialien aus Rudolf Steiners erkenntnisschulischer und erkenntniskultischer Arbeit. Herausgegeben und kommentiert von Christian Clement. Stuttgart-Bad Cannstadt, 2014.
Mehr zur SKA und zu Christian Clement auf diesem Blog
Welten, die sie trennen! Hartmut Traubs Rezension zu SKA 5
Willy, Thomas und der Wolf im Schafspelz
Die Mystik im Aufgang: Christian Clement liest Steiners esoterische Konversionsbiographie neu
Zu Band 7 der kritischen Steiner-Ausgabe: Anthroposophische „Erkenntnisschulung“ und Theoriefragen der Esoterikforschung von Christian Clement zu Olav Hammer
„We are not dealing with weird anomalies that conflict with our knowledge of how reality is, so that scholars should refuse to lend credence to them or dismiss them as irrational or crazy delusions. On the contrary, specific types of unusual experiences and bodily phenomena are simply to be expected if one exposes people to specific psychophysiological conditions, for instance in a ritual context or through applying spiritual techniques. Particularly if this happens in the framework of an esoteric worldview or symbolic system that has the capacity of integrating such experiences in a meaningful context … This hiatus will not be filled unless scholars in the field are willing to combine expertise in such domains as anthropology, psychology, neurobiology or cognitive studies, with precise textual study of the source materials of Western Esotericism.“
– Wouter Hanegraaff: Western Esotericism, London u.a. 2013, 97, 101
Bei Fromman-Holzboog erscheint seit 2013 eine Kritische Ausgabe der Hauptwerke Rudolf Steiners (SKA). Band 7 (von acht), Steiners „Schriften zur Erkenntnisschulung“ ist soeben erschienen, nachdem zuerst 2013 Steiners Schriften zur Mystik (Bd. 5) ediert worden sind. Das Vorwort stammt aus der Feder von Gerhard Wehr, den Helmut Zander den „Vater der kritischen Steiner-Forschung“ genannt hat. Wehr hat auch ein Buch über Steiner und C. G. Jung geschrieben, und der Vergleich der anthroposophischen „Schulung“ mit dessen Tiefenpsychologie zieht sich durch den Band. In einer sehr langen und unglaublich facettenreichen Einleitung führt Herausgeber Christian Clement zu den beiden herausgegebenen Schriften Steiners hin: „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ (1904/5) und „Die Stufen der höheren Erkenntnis“ (1905-1908). Erstere wurde von Steiner vielfach überarbeitet, woran man die kontinuierliche Entwicklung, Ausarbeitung und Veränderung seiner Konzeption übersinnlicher „Erkenntnis“ mitverfolgen kann. Im Anhang der Edition sind Texte Steiners aus seiner persönlichen Tätigkeit als esoterischem „Lehrer“, der Mantren und Meditationen anleitete, sowie aus seiner Adaption maurerischer Riten abgedruckt. Den größten Gewinn bieten die Stellenkommentare: Minutiös werden hier werkimmanente Bezüge herausgearbeitet und ideengeschichtliche Kontexte des Steinerschen „Schulungswegs“ präsentiert, von der deutschen Klassik über Romantik und Mesmerismus zu den unmittelbaren theosophischen Vorlagen Steiners. Clements historische Kontextualisierung blendet wichtige Teile von Steiners Selbstverständnis und spart ganze Segmente der relevanten Sekundärliteratur aus, bewegt allerdings oft die auch dort systematisch relevanten Fragestellungen. Im Folgenden versuche ich daher, eine Diskussion der Thesen Clements mit deren Rückkopplung an theoretische und methodologische Fragen der Esoterikforschung zu verbinden.
Genese des „Schulungswegs“
Steiner folgt in „Wie erlangt man Erkenntnisse“ (im Folgenden: WE) einem theosophischen Erkenntnispfad, der durch allerlei Charakterschulung und meditative Techniken, zunächst auch durch die Anleitung eines spirituellen Lehrers (im Rahmen der „Esoterischen Schule“ der Theosophischen Gesellschaft) beschritten werden sollte. Ziel war die Entwicklung „höherer Organe“, und durch diese dann das Schauen einer realen geistigen Welt, in einem Bewusstseinszustand, der die Unterschiede zwischen Außen- und psychischer Innenwelt aufhebt. Eine stets angekündigte Fortsetzung des Bandes erschien nie. In „Die Stufen der höheren Erkenntnis“ (im Folgenden: SE) arbeitete Steiner ein paralleles, aber in großen Teilen ganz anders konzipiertes Programm aus: Hier tauchen die in der anthroposophischen Steiner-Rezeption und vielen seiner Vorträge weit zentraleren Begriffe „Imagination“, „Inspiration“ und „Intuition“ als drei Stufen der hellseherischen Entwicklung und künftigen Evolution auf.
Vor allem das 1914 und 1918 von Steiner stark überarbeitete „Wie erlangt man…“ zeigt sich als editorisch umfangreiches Unternehmen. Insbesondere, weil, wie Clement zurecht kritisiert, die inhaltliche und genetische Entwicklung dieses Texts, die im vorliegenden Band dokumentiert ist, meist ignoriert wurde. „Vielmehr herrscht die überhaupt in der anthroposophischen Literatur zu findende Tendenz, das Buch als Werk aus einem Guss zu sehen und selbst offensichtliche, aus der sukzessiven Entstehungsgeschichte und der späteren Entwicklung des Textes sich ergebende disparate Elemente zu ignorieren.“ (LXXXIIIf.) Clement zeigt einmal mehr, dass Steiners „Schulungsweg“ ursprünglich aus theosophischen Vorlagen stammt, ebenso seine persönlich formulierten Anweisungen an esoterische Schüler.
„Vor allem Besants Buch ‚The Path of Discipleship‘, das ebenso aus Vorträgen hervorgegangen war wie das Steinersche aus Aufsätzen, muss inhaltlich und formal als direktes Vorbild und Quelle für WE angesehen werden … Für die Schilderungen der Inhalte des seelischen und geistigen Wahrnehmens hingegen, wie schon bei der Abfassung der ‚Theosophie‘ (vgl. SKA 6), war Charles Leadbeater ein weiterer wichtiger Bezugspunkt Steiners… Darüber hinaus stellten, was konkrete Übungsanweisungen und Meditationsinhalte angeht, Blavatskys ‚Voice of the Silence‘ und Mabel Collins ‚Light on the Past‘ wichtige Quellen dar. Aus erhaltenen Briefen und Übungsanweisungen für Schüler lässt sich entnehmen, dass Steiner die in diesen Schriften zu findenden Texte und Übungen zunächst übernahm und dann nach und nach durch eigene ersetzte, wobei jedoch grundsätzliche Motive und Strukturen erhalten blieben.“ (XXXVII)
Clement schaut jedoch noch tiefer, indem er die spiritistischen und mesmeristischen Quellen der theosophischen Meditation bis in ihre sublimierten Spuren in Steiners Werk verfolgt. (vgl. XXXVIII) Steiner verstand die „Einweihung“ anfangs als rituell, personell und örtlich fixiertes Phänomen, während er in späteren Auflagen von WE die Rolle des esoterischen Lehrers immer mehr relativierte und stattdessen einen sicheren, individuell und ohne Lehrerautorität gangbaren Weg zur höheren Einsicht propagierte. (vgl. CXX) Clement weist darauf hin, dass Steiner die der Konzeption esoterischer Initation inhärente Dialektik von Autorität und Autonomie aber niemals ganz auf eine Seite auflösen konnte. Die autoritäre Pose Steiners betrachtet Clement kritisch (vgl. XXVII), dazu mehr unten im Abschnitt Synkretismus als Konstituens esoterischer Epistemologie.
Diesseits der Mystik
Im Vorwort weist Gerhard Wehr auf Parallelen Steiners zur mittelalterlichen christlichen Mystik hin, die schon Gegenstand von Band 5 der SKA waren, besonders hebt Wehr Jakob Böhme und Thomas von Kempen hervor. Clement sieht die Parallelen zur Mystik freilich ebenfalls, seine dichte Kontextualisierungsarbeit macht es jedoch möglich, auch die hintergründige Funktion der Mystiker für Steiners Theosophie zu sehen, statt bloß auf etwaige Ähnlichkeiten und Entsprechungen hinzuweisen. Ein Beispiel: Steiner zitiert (im Übrigen nicht nur in diesem Kontext) den Satz „Wenn die Rose selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten“ (SKA 7, 110), der von Angelus Silesius (i.e. Johann Scheffler) stammt. Clement versteht es, hier sowohl die mystischen Quellen dieser Anspielung als auch deren Parallelen zur Theosophie zu entdecken, dabei aber überdies die spezifischen politisch-weltanschaulichen Hintergründe Steiners zu betonen. Im Stellenkommentar heißt es zum zitierten Silesius-Satz:
„Inhaltlich findet sich der Gedanke auch im theosophischen Schriftgut, vgl. etwa Besants ‚Path‘, wo es vom ‚disciple‘ heißt: ‚Everything that he gains, he gains for all; everything that he wins, he wins for all‘ (Besant [1896], 105). Ein interessantes Licht auf die Frage, warum Steiner immer wieder gerade auf diesen Mystiker zu sprechen kam, obwohl Scheffler keine eigentlichen theoretischen Texte von Bedeutung verfasst hat, wirft ein Brief an Günther Wagner vom 2. Januar 1905: „Unsere E[soteric].S[chool].-Mitglieder sollen zunächst folgendes wissen: ‚Die deutsche theosophische Bewegung ist von besonderer Wichtigkeit. Die Deutschen sind die Avantgarde der sechsten Unterrasse und werden sich dieser ihrer Sendung immer mehr bewußt werden. Das sollen sie in aller Demut. Sie sollen sich vertiefen in ihre eigenen Idealisten.‘ Das ist Meisters Stimme. Und dazu: ‚Lest Euere großen Idealisten: J.G. Fichte, Jacob Böhme, besonders aber Angelus Silesius‘.“ (GA 264, 85) (Clement, 297)
Dies, wie gesagt, nur als Beispiel für die wendige und kluge Kontextualisierungsarbeit, die diese Edition leistet. Selbst wer die unterschiedlichen Auflagen und Überarbeitungsschritte von WE bereits kennt, wird hier manch unerwarteten Hintergrund und manche verborgene literarische Anspielung Steiners entdecken. Immer weist Clement auf die diesseitige Dimension der Steinerschen Jenseitsreisen hin: Es gehe ihm darum, Meditation „in handfeste politische und soziale Projekte umzusetzen“, die „in der meditativen Arbeit erworbene höhere Wachheit“ in „der konkreten Alltagswirklichkeit“ einzubringen. (XXVI) An dieser Stelle referiert Clement nicht zum einzigen Mal auf Anna-Katharina Dehmelt („Institut für anthroposophische Meditation“), von der er auch viele Überlegungen zur Genese des Steiner’schen Schulungswegs übernimmt. Tatsächlich ist auch Band 7 der SKA, was Helmut Zander mit Band 5 initiiert sah: eine „Zeitenwende“. Mit Vorliegen dieses Bandes wird man Steiners Schulungsweg künftig in neuem Licht und mit vertieftem Verständnis lesen. Dies wird bei orthodoxen Anthroposophen zweifellos weiterhin Angst und Schrecken verbreiten. (vgl. Willy, Thomas und der Wolf im Schafspelz)
Facettenreiche Kontextualisierung und ideologische Verzerrung
Clements Einleitung geht in vielerlei Hinsicht über eine rein philologische und editionsgeschichtliche Einordnung der edierten Texte hinaus, stets mit dem zutreffenden Hinweis, „dass das volle Spektrum der anthroposophischen Erkenntnisschulung nicht ins Auge gefasst würde, wenn man nur die in diesem Band abgedruckten Schriften Steiners berücksichtigte und nicht dessen Gesamtwerk.“ (XCIII) Stets werden Steiners Psychologie und Anthropologie eingebunden. Clement gleicht die Inhalte der beiden Bücher zur „Erkenntnisschulung“ mit Steiners Freimaurerei, „Erkenntniskult“ oder Mysteriendramen ab und weist vor allem darauf hin, wie viel hier wissenschaftlich noch offen und zu klären ist. Besonders hervorzuheben sind einige wegweisende Überlegungen zu Steiners Sprachphilosophie (XCVII-CI), denn freilich ist die suggestive Kraft der Sprache im Rahmen esoterischer Unterweisungen einzubeziehen, was hier nur illustrieren soll, auf welch vielfältige Weise psychoinvasive Techniken wie die beschriebenen Meditationen wissenschaftlich untersucht werden müss(t)en.
Diesbezüglich ist Clements Einleitung, die dank der Stellenkommentare stets der ideengeschichtlichen Abhängigkeiten gewahr bleibt, ein mutiger Text, sozusagen am Puls der Zeit gegenwärtiger Esoterikforschung. „Auf der anderen Seite waren … die Gewässer, in denen Steiner da angelte, denjenigen so unähnlich nicht, in welchen die Pioniere der modernen Psychotherapie fischten“, schreibt Clement. (CIII) In Bezug auf einen Vergleich von Psychotherapie Freud’scher und Jung’scher Methode geht Clement noch weiter als Helmut Zander und Miriam Gebhardt in ihren Steiner-Biographien. (vgl. Der Besuch der toten Tante) Zur simplen Identifizierung von seelsorgerisch-therapeutischen Implikationen der Steinerschen „Schulung“ mit der Psychoanalyse kommt er jedoch nicht: „Zwischen neomystischer Esoterik und wissenschaftlich betriebener Tiefenpsychologie als charakteristischen Erscheinungen des europäischen fin de siècle nehmen die Schriften Rudolf Steiners zur Erkenntnisschulung eine eigentümliche Mittelstellung ein.“ (XXXIII) Und das ist nicht der einzige Aspekt: von Schillers „höherem Menschen“ zu den jenseitigen Eskapaden von Faust II sucht Clement nach Parallelen und Vorbildern. Man merkt, dass er Steiner lieber Goethe als Blavatsky zuschieben möchte, trotzdem marginalisiert er die direkte Vorbildfunktion der Theosophie für Steiners „Erkenntnisschulung“ nicht.
Längst nicht alle zentralen Aspekte werden von Clement behandelt: Eine regelrecht entstellende Lücke ist die Vernachlässigung von Steiners primärem Ziel einer empirischen Wissenschaft von der „Geistigen Welt“, Clement versucht Steiner stattdessen als Bewusstseinsphänomenologen und die Inhalte der höheren Welten als rein bildlich-symbolischen Ausdruck für geistig-monistische Selbsterfahrung zu deuten. Peter Staudenmaiers Kritik (in: Between Occultism and Fascism, 21), Clement reproduziere „standard anthroposophical assumptions“, ist schlicht falsch – Anthroposophen haben den empirizistischen Szientizismus Steiners stets überernst genommen. Clement jedoch macht sich zum Anwalt ganz anderer Dinge.
Eine ebenso gravierende Lücke: Steiners Fortsetzung der esoterischen „Schulung“ in der „Freien Hochschule für Geisteswissenschaft“ in den 20er Jahren kommt in Clements Band in einem Maße zu kurz, dass wesentliche späte Positionen Steiners und die Praxis der „Klassenstunden“ bis in die heutige Anthroposophie praktisch ignoriert werden.
Eine auch nur in Umrissen repräsentative Darstellung von Steiners Positionen zur „Erkenntnisschulung“ stellt der Band somit keineswegs dar. Auch die relevante anthroposophische wie religionswissenschaftliche Literatur zum Thema wird nur teilweise zur Kenntnis genommen.
Reduktionistisches Steinerbild
Ein augenscheinlicher Kritikpunkt Clements an Steiner lautet, dass dieser in seiner Phänomenologie der geistigen Welt allzu anschaulich und plastisch verfahre. Dass dies gerade das Ziel eines Hellsehers sein könnte, erwägt Clement nicht, sondern spricht von einer in der esoterischen Tradition (was immer das sein soll) „nicht unübliche[n] Veranschaulichung und Verdinglichung innerer Erlebnisse“. (XXVIII) Ein „kritischer Leser“ müsse fragen, „ob und inwieweit Steiner hier mit seiner eigenen intellektuellen Vergangenheit und mit allen Gepflogenheiten eines kritisch-philosophischen Diskurses gebrochen hat und möglicherweise in eben jenen ’naiven metaphysischen Realismus‘ verfiel, den er selbst zehn Jahre zu vor … leidenschaftlich bekämpft hatte.“ (ebd) Und weiter:
„Muss man nicht, gerade im Sinne seines Frühwerks, die von Steiner beschriebenen ‚Lotusblumen‘, ‚Astralleiber‘ oder ‚Schwellenhüter‘ als Gestalten ansehen, die er selbst, wie Faust seine Helena, aus dem ‚Weihrauchnebel‘ seiner eigenen Imagination hervorzauberte? Und fällt man nicht, wie der goethescher Geisterseher, in grenzenlose Verwirrung und Träumerei, wenn man diese selbstgeschaffenen Nebelgestalten in naiver Weise für ‚Wirklichkeiten‘ hält? … Damit traf Steiner eine Grundsatzentscheidung, die seinen Aufstieg zur führenden Gestalt der modernen abendländischen Esoterik begründete, sich aber fatal auf die akademische und öffentliche Rezeption seiner Schriften nach 1904 ausgewirkt hat.“ (ebd, XXVIIIf.)
Clement formuliert die Konsequenzen dieser Kritikpunkte nicht aus. Und er ist nicht bereit, Steiners intellektuelle Entwicklung zum theosophischen Erforscher der geistigen Welten ernst zu nehmen. Vielmehr wird der späte Steiner überall dort, wo er mit dem philosophischen Frühwerk nicht mehr übereinstimmt, auf das philosophische Frühwerk reduziert. Dass Steiner mit dem „kritisch-philosophischen Diskurs“ tatsächlich gebrochen hatte, ist aber nicht zu leugnen. Stattdessen hatte er sich in einen neuen, von Clement nicht als solchen berücksichtigten Diskurs begeben: den einer quasi-naturwissenschaftlichen Diskussion übernatürlicher Zu- und Umstände, wie in seiner kritischen Diskussion von Leadbeaters „Erforschung“ der Aura und ihrer Farben deutlich wird. Scheinbar kann Clement Steiner den Glauben an Transzendenz nicht zugestehen. Das mag eine legitime Perspektive sein, sofern sie Steiner-kritisch auftritt: Freilich handelt es sich bei Steiners Visionen um „innere Erlebnisse“, die zu real existierenden geistigen Zuständen und Wesen zu hypostasieren eine dogmatische Setzung darstellt.
Daraus geht aber nicht hervor, dass Steiner deshalb selbst nur der Auffassung gewesen sei, es handle sich um lediglich innere Erlebnisse, die ohne spirituell-übersinnliches Objekt auskommen. Tragischerweise leugnet Clement also den Sinn und Zweck von Steiners Geistesschau – mit naturwissenschaftlicher Präzision in geistige Seiten des Kosmos vorzudringen und valide Erkenntnisse mitzubringen, die sich dann z.B. in Pädagogik, Medizin usw. verwirklichen ließen –, und zwar leugnet er ihn per se. Clements Herangehensweise zeigt sich hier als ideologische statt analytische.
Was Steiner über die „höheren Welten“ gesagt hat, sei lediglich „eine bewusstseinsphilosophische Darstellung im Geiste Kants und Fichtes, d.h. … eine Phänomenologie der Inhalte des menschlichen Bewusstseins. Das einzige Wesen, dem der Mensch in der Meditation begegnet, ist nach Steiner letztlich das eigene, und zwar als zugleich individuell-persönliches und universell-absolutes.“ (XXIX) Zur Begründung dafür soll an Ort und Stelle lediglich eine von Walter Johannes Stein überlieferte mündliche Aussage Steiners herhalten. Clement verkehrt Steiners esoterische Epistemologie in ihr Gegenteil: Die Geistige Welt wird in ein einerseits solipsistisches, andererseits zum Absoluten aufgeblähtes menschliches Subjekt verschoben. Auch die großen Namen Kant und Fichte lassen sich dieser Steiner in jeder Hinsicht zu Unrecht untergeschobenen Position nicht eingliedern. Kant sah in der Vernunft zwar das Medium, das subjektiv objektiv gültige Gedanken, Denknotwendigkeiten hervorbringt, doch für ihn war das Intelligible Reich eben zu denken, nicht zu erfahren. Begriffe ohne (sinnliche) Anschauung blieben ihm blind, so dass man hier kaum von einer Bewusstseinsphänomenologie sprechen kann. Hätte ich dagegen Clements Einschätzung, dass die Fichtesche Theorie der Geisterwelt tatsächlich nur bildliche Umschreibung bewusstseinsphänomenologischer Akte sei, früher zugestimmt, musste ich mich inzwischen durch Hartmut Traub eines Besseren belehren lassen:
„Dass sich Fichtes Zugang zur Esoterik und zum Okkulten eher abgeklärt protestantisch als überbordend und bildreich katholisch wie bei Steiner gestaltet, ändert nichts an der Tatsache, dass eine gewisse Nähe, wenn nicht gar Affinität Fichtes zum Okkulten zu konstatieren ist. Ein Zug, der, wenn man I. H. Fichtes Berichten über sein Elternhaus folgt, auch durch Johanne Marie Fichte, der Gattin des Philosophen, unterstützt wurde. Ein Letztes: Sie haben auf den Unterschied zwischen der Annahme objektiver okkulter Wesenheiten bei Steiner und den eher subjekttheoretischen Charakter in Fichtes Lehre vom „höheren Sehen“ hingewiesen. Dem kann ich nur bedingt zustimmen. Denn in Fichtes Theorie des Geisterreichs tritt die „ideale Individualität“ (Originalität) des einzelnen Menschen in Beziehung zu anderen, durchaus objektiven Geistern.“ (Die „Optik des Geistes“ und der „Geist“ des Okkulten. Ein Gespräch mit Hartmut Traub)
Clement trifft offenbar die nicht inhaltlich begründete Vorentscheidung, Steiner die Entwicklung nach 1900 abzusprechen und seine meditativen „Anweisungen und Schilderungen im Lichte seiner zuvor erschienenen epistemologischen und bewusstseinsphilosophischen Schriften“ allein zu lesen. (XXX) Dieser reduktionistischen Lesart stehen die eindeutigen Aussagen Steiners zu Legionen entgegen, in knapper Formulierung etwa: „Dabei müssen wir uns immer klar sein, dass das, was der Hellseher sieht, nicht etwa eine allegorisch-symbolische Bezeichnung ist, sondern daß das Wesenheiten sind.“ (GA 121, 161) In WE schreibt Steiner, nachdem er den „Hüter der Schwelle“ beschrieben hat, dessen Auftritt tatsächlich symbolisch bzw. metaphorisch wirkt, um ebendas auszuräumen: „Was hier, in eine Erzählung gekleidet, angedeutet ist, hat man sich nicht etwa als etwas Sinnbildliches vorzustellen, sondern als ein im höchsten Grade wirkliches Erlebnis des Geheimschülers“ (SKA 7, 145) Zurecht deutet Clement an, dass Steiner in der Neuauflage von WE ab 1914 Hinweise darauf verstärkte, seine Schilderungen „nicht im naiven Sinne als Objekte oder Dinge misszuverstehen.“ (ebd., CXV) Daraus zu schließen, Steiner habe Objekte der höheren Erkenntnis abgelehnt, ist aber falsch. Steiner wies stattdessen auf die qualitative Differenz von sinnlichen und übersinnlichen Erkenntnisobjekten hin.
Clements Lieblingsbeispiel zur Illustration seiner Theorie ist Steiners Darstellung von Farben des Astralleibs, der er meistens hinterherschiebt, dass etwa eine „blaue“ Färbung nicht wirklich im optischen Sinne blau sei. Denn schließlich zeichnet der Astralleib sich gegenüber allen blauen physischen Gegenständen zunächst durch seine Unsichtbarkeit aus – der uneigentliche Charakter von Steiners Schilderung höherer Welten, den Clement kontrafaktisch suggeriert, wird damit keineswegs belegt. Ein anderes Beispiel. Steiner behauptet in WE (S. 150f.), „daß in der höheren Anschauung das menschliche Innere, die eigene Trieb-, Begierden- und Vorstellungswelt sich genauso in äußeren Figuren zeigt wie andere Gegenstände und Wesenheiten.“ Dazu schreibt Clement, dass hier laut Steiner „Jenseitsvorstellungen“ ein „Spiegel der eigenen seelisch-geistigen Tätigkeit“ seien. (298) Steiner stellt jedoch gleich fest, dass die „Vorstellungswelt“, der das Subjekt wie einer Außenwelt entgegentrete, nicht schon die geistige Welt sei, sondern letztere erst nach Bewältigung dieser subjektiven Welten sichtbar werde: „Es ist durchaus notwendig, daß der Geheimschüler durch den geistigen Anblick seiner eigenen Seele hindurchgehe, um zu Höherem vorzudringen … Nicht etwa bloß im bildlichen, sondern im ganz wirklichen Sinne hat man es mit einer Geburt in der geistigen Welt zu tun.“ (WE, 155)
Durch seine Verzerrungen fügt Clement dem Wert der Edition schweren Schaden zu. Im Gegensatz zu Jens Heisterkamps ähnlich gelagerter Rücknahme von Steiners metaphysischem Weltbild, die allerdings als dezidiert selektive Interpretation gekennzeichnet ist (vgl. Jens Heisterkamps „Anthroposophische Spiritualität“) ist diese wie auch immer originelle Umdeutung Steiners in einer kritischen Edition allenfalls als Interpretationshypothese legitim, auch wenn es eine schwache wäre.
Clement und die jüngere Diskussion um eine kritische Geschichte der Anthroposophie
Zentrale Referenz Clements ist über weite Strecken die von Helmut Zander (Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, 580-615, 696-721) vorgelegte erste historische Kontextualisierung von Steiners „Schulungsweg“ im Rahmen der theosophischen Literatur und der „Esoterischen Schule“, dem spirituellen Arkanbereich der Theosophischen Gesellschaft. Im Gegensatz zu Band 5 der SKA, in deren Einleitung Clement Zanders Position zur esoterischen Konversion Steiners recht apologetisch abfertigte (vgl. „Die Mystik im Aufgang“, Die Farbe des Astralleibs ist Privatsache), findet sich im aktuellen Buch eine kongeniale Diskussion. Clement widerspricht zwar, dass SE einen völligen epistemologischen „Neuansatz“ gegenüber WE darstelle, wie Zander behauptet hatte. Die Kontinuitäten werden in Clements Vorwort und in den textkritischen Stellenkommentaren ersichtlich und zurecht schreibt der Herausgeber der SKA, man werde „der Eigenheit dieser Schrift wohl besser gerecht werden, wenn man es sich zur Aufgabe macht, zu untersuchen, wie und warum Steiner trotz tiefgehender inhaltlicher Übereinstimmungen in SE einen begrifflich, stilistisch und methodisch durchaus anderen Weg gewählt hat als in WE.“ (SKA 7, CXXV)
Zugleich verweist Clement die anthroposophische Anti-Zander-Polemik auf ihren Platz: trotz z.T. überzeugender Beispiele seien die Schriften eines Karen Swassjan und Lorenzo Ravagli „von heftiger Polemik geprägt und offenbaren auch ihrerseits ideologische Voreingenommenheit, indem sie auf die von Zander zurecht aufgezeigten formalen und inhaltlichen Probleme der steinerschen Texte kaum je eingehen…“ (LXXIII) Vielfach ist Zanders Diskussion der Heterogenitäten und Entwicklungen in Steiners Texten detaillierter, das ist jedoch nicht verwunderlich, weil die textlichen Veränderungen, die Zander diskutiert, in der kritischen Edition ohnehin alle abgedruckt und beim Lesen der Texte unübersehbar sind. Teilweise lässt Clements Einleitung Zanders Pionierstudie weit hinter sich, wenn zum Beispiel gezeigt wird, dass sich auch in der Neuauflage von WE 1918 starke inhaltliche Eingriffe Steiners fanden, was Zander, der sich auf die Sprünge in der Auflage von 1914 konzentriert hatte, schlicht nicht untersucht, ja abgestritten hat. (vgl. CIV) Clement stellt jedoch klar fest, dass auch mit seiner Einleitung die Text- und Ideengeschichte des Steinerschen Schulungswegs noch in einer Pionierphase steckt. Eine hinreichende Rechtfertigung für die angedeuteten massiven Lücken und Verzerrungen, die Clements Kontextualisierung enthält, ist dies freilich nicht, aber dennoch eine Teilerklärung. Hier gilt, dass wer viel erarbeitet hat, sich auch Fehler leisten darf.
Kiersch, Heindel, Hanegraaff. Vernachlässigung der relevanten Literatur und Theoriediskussion (I)
Schlicht irritierend ist, dass Johannes Kierschs monumentale ideogenetische Rekonstruktion der „Freien Hochschule für Geisteswissenschaft“ und von Steiners Rolle als esoterischem Lehrer bei Clement nicht vorkommt. Die vernachlässigte Darstellung der „Hochschule“ hätte wenigstens durch den Hinweis auf diese Arbeit abgeschwächt werden können! Hinter Kierschs Darstellung fallen Clements Bemerkungen zu Steiner als esoterischem Lehrer immer wieder zurück. (vgl. Johannes Kiersch: Steiners individualisierte Esoterik einst und jetzt. Zur Geschichte der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, 2. Auflage, Dornach 2012) Auch Clements blasses Kapitel zur Rezeptionsgeschichte der „Erkenntnisschulung“ hätte hier reiches Material gefunden, jedenfalls für die inneranthroposophische Rezeption. In diesem Kapitel erwähnt Clement auch die jüngeren anthroposophischen Meditationsbewegungen (von Anna-Katharina Dehmelt über Robin Schmidt zur „Bildekräfte“-Bewegung) nicht, geschweige denn nichtanthroposophische Rezipienten: Max Heindel etwa, der hier Steiner so nahe steht wie dieser der Theosophie oder das Lectorium Rosicrucianum, das sich wiederum von Heindels „Rosicrucian Fellowship“ abspaltete. Vor allem jedoch Heindels Steinerrezeption (die dieser wie Steiner seine Theosophierezeption nicht als solche gedeutet haben wollte) wäre eigentlich unumgänglich gewesen, weil hier wichtige Bezugspunkte auftauchen (Rosenkreuzer, Erkenntniskult, konkrete Meditationstechniken). Das führt dazu, dass auch Clements Bemerkungen zur Rezeption Steiners Schulungsweg an der realen Situation einfach vorbeigehen. Wieder: schade!
Hinzufügen muss man auch, dass Clements Analyse auf dem religionswissenschaftlichen Auge, mit Verlaub, beinahe blind bleibt. Obwohl er mit großer Prägnanz auf die praktischen, psychologischen, rituellen und ästhetischen Dimensionen des „Schulungswegs“ hinweist, die sich u.a. in Freimaurerei, Mysterientheater und Esoterischer Schule manifestierten, finden die hier eigentlich unentbehrlichen Ritualtheorien bei Clement keine Resonanz. (vgl. zur Einführung Jens Kreinath/Jan Snoek/Michael Strausberg (Hg.): Theorizing Rituals. Issues, Topics, Approaches, Concepts, Leiden 2006) Die Einleitung und Kommentierung von Steiners Texten ist auch im Kontext der neueren wissenschaftlichen Esoterikforschung relevant. Die SKA wird auch auf der Webseite der „European Society for the Study of Western Esotericism“ (ESSWE), deren Mitglied Clement ist, präsentiert. Schade, dass er die materialen Beiträge der Esoterikforscher nur in Ausnahmefällen (bzw. in einem: Karl Baiers großartige Studie „Meditation und Moderne“ [2009]) zur Kenntnis genommen hat!
Die Literatur zur für Steiner denkbar relevanten Theosophie wird beispielsweise nicht hinreichend berücksichtigt. (vgl. für einen ersten Überblick Olav Hammer/Mikael Rothenstein: Handbook of the Theosophical Current, Leiden 2013) Clements ausführlicher Vergleich von Steiners Vorstellungen mit deren theosophischen Quellen (v.a. Blavatsky, Besant, Leadbeater…) in den Stellenkommentaren und eine so ausführliche wie permanente Auseinandersetzung mit Baier, der hierzu viel Material auswertet, führt trotzdem zu einer recht umfangreichen Offenlegung der theosophischen Kontexte Steiners.
Trotz allem bewegt sich Clement auf der Höhe von aktuellen Fragestellung der „Esoterikforschung“. Der derzeit prominenteste Verterter dieses Feldes, Wouter Hanegraaff, wies erst kürzlich auf das Desiderat von Analysen zur esoterischen „Praxis“ hin. (vgl. Hanegraaff: Western Esotericism. A Guide for the Perplexed, London u.a. 2013, 102-118) Unter anderem sei da „the Problem of (crypto)Protestant bias. Classical approaches to the study of religion have been heavily influenced by Protestant assumptions … resulting in a structural over-emphasis on doctrine and belief and a corresponding lack of attention to ritual and other forms of practice.“ (ebd, 103) Er zählt folgende typische Dimensionen und Ansprüche esoterischer Praktiken dar, die freilich alle miteinander verknüpft oder auch isoliert vorkommen könnten und die sich alle bei Steiner finden: 1. Control, 2. Knowledge, 3. Amplification, 4. Healing, 5. Progress, 6. Contact, 7. Unity, 8. Pleasure. (ebd, 104) Neben vielem anderen weist Hanegraaff auf die Probleme mit Quellen und Methoden der Erforschung esoterischer Praxis hin, die auch eins zu eins auf die Anthroposophie zutreffen, nur unter anderem die „Esoterische Schule“, Steiners mauererische Rituale sowie die inzwischen etablierten Konventionen anthroposophischer Meditation:
„There is often no great need to describe religious practice in detail: in most cases, religious practioners learn by oral instruction, daily experience or observation and imitation of ‚how things are done‘, and have very little need of written reminders about what everybody knows. As a result, we are usually better informed about religious or esoteric beliefs than about practices … even if we have sources …, they tend to be incomplete … Finally, there is a problem of method. Even if the importance of practice is acknowledged in principle, it is not easy to decide on appropriate methodologies for studying it. Anthropologists have built up much experience with participant reasearch, and have become increasingly interested in contemporary forms of esotericism, but attempts to apply anthropological approaches to historical materials remain a relative exception.“ (ebd, 102f.)
Clements Ansatz geht nicht in diese Richtung, dennoch haben ihn dieselben methodischen Probleme umgetrieben: Dass meditative, kontemplative, psychoaktive und rituelle Praktiken in der Anthroposophie sich nicht rein ideengeschichtlich abhandeln lassen, darin ist er sich mit Hanegraaffs Ansatz offenbar einig. Er plädiert dafür, die pädagogisch-didaktischen, ästhetischen und psychotherapeutischen Konsequenzen und Dimensionen der Anthroposophie als zentrale Zugänge zum Verständnis der Absichten, Gehalte und Konkretionen von Steiners „Geistesschulung“ zu betrachten. Clement geht sogar noch einen Schritt weiter, „nicht nur die Historiker, Philologen, Philosophen und Theologen, sondern auch und vielleicht mehr noch die Künstler, Psychologen, Therapeuten und Pädagogen“ seien gefragt, ob die „Anschauungen und Praktiken, die Steiner von den Theosophen übernahm und … in den anthroposophischen Erkenntnisweg verwandelte, auch heute noch Relevanz … haben.“ (SKA 7, CIII)
Freilich wäre das zu klären in einer eben doch philologischen Edition zu viel verlangt. Überdies wäre, so nähme man an, nicht nur der Praxisaspekt, sondern auch dessen faktisches Ziel, wissenschaftlich ‚objektive‘ Erkenntnis übersinnlicher Welt- und Wesensbereiche, in einer Edition zur „Erkenntnisschulung“ Steiners, zu berücksichtigen. Clement jedoch deutet Steiners diesbezügliche Schilderungen (was ebenso aufschlussreich ist wie in dieser Einseitigkeit verfälschend) als bildliche Umschreibung einer Bewusstseinsphänomenologie, deren Gegenstände irgendwo zwischen deutschem Idealismus, C. G. Jung und Fausts Gang ins Reich der Mütter zu suchen seien.
Synkretismus als Konstituens esoterischer Epistemologie. Vernachlässigung der relevanten Literatur und Theoriediskussion (II)
Mit Blick auf letzteres wäre ein anderer materialreicher Band aufschlussreich gewesen: Olav Hammers „Claiming Knowledge. Strategies of Epistemology from Theosophy to New Age“ (Leiden 2004). Hier wird eine ganz andersartige Kontextualisierung von Steiners „Erkenntnisschulung“ vorgelegt, die den Vorteil hat, Steiners empirischen Wissenschaftsanspruch als solchen ernst zu nehmen, obwohl sie teilweise zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt wie Clement. Hammer versteht es im Rahmen seiner breit angelegten Geschichte von Meditationsauffassungen, die Geistesschulung Steiners komplexer geistig zu situieren, und zwar neben Alice Bailey und Edgar Cayce als „post-theosophischen“ Typus esoterischer Epistemologie. (63ff.)
Steiners Standpunkt wird in seinen Übereinstimmungen und Differenzen zur Theosophie und zum New Age deutlich, siehe etwa die Ausführungen zur Reinkarnation. (474-477) Auch weitere Bezüge und Parallelen der Anthroposophie zum New Age (vgl. 77f.), zu esoterischen Farbtherapien (93), theosophischen und New Age-Deutungen des Christentums (151ff.) oder Figurationen alter Hochkulteren, namentlich Ägyptens (114f.) und Indiens (126f.) helfen, Steiner auch innerhalb esoterischer Epistemologien des weiteren 20. Jahrhunderts zu sehen. Gerade im unmittelbaren esoterischen Kontext lässt sich so Steiners Position komplexer bestimmen als im Abhängigkeitsverhältnis zur Theosophie allein, worum Clement ja ebenfalls bemüht ist. Denn hier zeigt sich, an welchem Punkt esoterischer Theorieinnovation Steiner stand, welche bei ihm angelegten (post-)theosophischen Vorstellungen auch im New Age zur Entfaltung kamen, aber auch, welche Elemente Steiner und die Theosophie von der jüngeren Esoterik trennen. Clements Versuch, Steiner abgesehen von der Theosophie nur im besser beleumundeten Teil der Geistesgeschichte von Goethe zu Freud zu kontextualisieren, reproduziert implizit die anti-esoterische Polemik (vgl. zur apologetisch-polemischen diskursgeschichtlichen Dynamik, in der sich „Westliche Esoterik“ überhaupt erst formierte Wouter Hanegraaff: Esotericism and the Academy. Rejected Knowledge in Western Culture, Cambridge 2012, dazu auch „Die Pythagoräische Wende“: Esoterikforschung auf der Suche nach ihrem Gegenstand), die er in Bezug auf Steiner überwinden möchte, hinsichtlich anderer Traditionen. Sieht man Steiner dagegen in einer epistemologischen Kontinuität von Blavatsky zum New Age, wird sein innovativer Standpunkt innerhalb struktuell und/oder materialiter ähnlicher Weltanschauungen besser erkennbar.
Clement weist auf disparate Elemente der Genese und Inhalte von „Wie erlangt man…“ hin, nimmt dies auch als Kohärenzproblem wahr, kommt aber nicht darauf, dass ähnliches auf viele esoterische Epistemologien zutrifft und nicht bloß ein merkwürdiger genetischer Umstand der anthroposophischen Initationsvorstellung ist. Überhaupt ist ein Moment von Synkretismus bei retrospketiver Dogmatisierung der theosophischen Esoterik wesenhaft eigen, die das Herz von Steiners christologisch ummantelter Esoterik bildet. (vgl. dazu u.a. Siv Ellen Kraft: „To Mix or Not to Mix“. Syncretism/Anti-Syncretism in the History of Theosophy, in: Numen, 2/2002, 142-177) Hammer zeigt dies auch für Konzeptionen esoterischer Epistemologie:
„The most eclectic constructions are presented as a logically coherent structure culled from a single source. This study will amply demonstrate that Esoteric doctrines can indeed be seen as a form of bricolage, but that they appear so only from the scholar’s, not the adherent’s, perspective.“ (Hammer: Claiming Knowledge, 10)
Als mustergültiges Beispiel dafür nennt Hammer die Anthroposophie: „As an example, few modern revelations draw on as many and as diverse sources as Rudolf Steiner’s anthroposophy. Nevertheless, his followers adamantly insist that his entire teachings are perfectly consistent and have sprung directly from Steiner’s spiritual insights.“ (ebd, 10f.) Mit Katharina Brandt hat Hammer dies 2013 vertieft und gerade in der Dialektik von doktrinärer Heteronomie und rhetorischer Eigenständigkeit ein Konstituens der Steinerschen Esoterik herausgestellt. Ja, Steiners empirischer Wissenschaftsanspruch wird hier erst in der subversiven Dynamik von Annäherung an die Theosophie und Abgrenzung von ihr verständlich. Auch die Ravagli’sche Polemik gegen Helmut Zanders Historisierung wird hiermit als rhetorischer Reflex ersichtlich, der der Anthroposophie seit ihrer Begründung eingeschrieben ist.
„Anthroposophy developed partly by adopting concepts current in the occultist and Theosophical milieus around 1900, and partly by dissociating itself from these same concepts. In this respect, Steiner followed a mode of pursuing identity politics well known in the history of religions … Claude Lévi-Strauss coined the nearly untranslateable term ‚bricolage‘ to describe how mythical innovation takes place. The ‚bricoleur‘ is a handyman who arranges various preexistent elements into a new configuration. In the world of religion, ‚bricolage‘ is ubiquitous … New religions therefore tend to resemble their predecessors … Nevertheless, similarity with competing organizations is also a problematic trait. The success of a schismatic group depends on striking a balance between continuity with one’s predecessors and drawing boundaries against them … A key element in what we could call a rhetoric of dissociation, is the fact that Steiner positions his views on world history, anthropology, and Christology as the result of a quasi-scientific visionary method, resulting from a carefully controlled epistemological process. Steiner presents the details of this method in several of the century, and up to the present day the existence of such a visionary technique is highlighted by commentators sympathetic to the Anthroposophical perspective as a key argument for understanding Anthroposophy as a unique spiritual path … One recent example … of this rhetoric of dissociation is a volume by Lorenzo Ravagli … Ravagli rejects any suggestion of doctrinal links to Theosophy as ’nicht näger geprüfte Vermutung‘, whereas a more profound understandig of Anthroposophy purportedly will show that Steiner’s texts are the result of ‚Erfahrung und Selbsterlebtem'“ (Katharina Brandt/Olav Hammer: Rudolf Steiner and Theosophy, in: Hammer/Rothstein: Handbook of the Theosophical Current, Leiden 2013, 128ff.)
Diese Untrennbarkeit von Ähnlichkeit und Differenzproklamationen ist nicht die einzige dialektische Kontraktion, auf die eine Theorie der anthroposophischen „Erkenntnisschulung“ eingehen muss. Eine andere ist die von Clement sehr wohl differenztiert dargestellte Spannung zwischen Steiners Autorität und dem Freiheitsversprechen seiner Theorie sowie der komplizierten Rechtfertigungsbestrebungen seiner Anhänger, die permanent beides, die eigene Autonomie und gleichzeitig die alles garantierende Autorität Steiners absichern müssen. (Hammer: Claiming Knowledge, 348, 376) Dies führt nicht selten zu Tautologien und Zirkelschlüssen: „The implicit goal of the anthroposophical path to knowledge is to reproduce the doctrinal statements already presented by Steiner.“ (ebd, 418) Clement schreibt zwar auch:
„Anders als in seinen frühen philosophischen Schriften, und auch noch anders als in den bewusstseinsphilosophisch geprägten Texte der Jahre 1901 und 1902, hatte Steiner in ‚Wie erlangt man Erkenntnisse‘ den argumentativen und analytischen Stil seiner früheren Publikationen ganz aufgegeben. Hier spricht nicht mehr eine Stimme, die ein kritisches Publikum durch Argumentation von der eigenen Position zu überzeugen sucht, sondern eine solche, welche die Autorität eines Wissenden für sich in Anspruch nimmt und als Lehrer zu Schülern spricht, d.h. zu Menschen, die den ‚Pfad der Erkenntnis‘ schon beschritten und dadurch für sich eine Vorentscheidung über die Validität des Vorgebrachten getroffen haben.“ (SKA 7, XXVII)
Zwar ist dies richtig, aber nur unter der Prämisse, dass eine autoritäre unhinterfragte spirituelle Lehrerfigur keineswegs wünschenswert ist. Diese Prämisse teile ich und sie findet sich durchaus in Steiners Frühschriften. Trotzdem kann man letztere nicht heranziehen, um quasi immanent-kritisch Steiner vorzuwerfen, er sei seinem eigenen Anspruch nicht gerecht geworden. Denn dieser Anspruch hatte sich umgedreht: Steiner sprach nun tatsächlich als wissenschaftlicher Hellseher, dessen Erkenntnisse zu teilen seine Schüler ja gerade suchten. Die Vorentscheidung der Schüler ist zwar ein Zirkel, es wird etwas gesucht, das bereits vorausgesetzt wird, aber dies ist, obwohl es freilich gegen sie spricht, ein Teil, keine Ausnahme esoterischer Erkenntnissuche.
Im Gegensatz zu Clement hebt Hammer auch einen wichtigen Aspekt von Steiners Vorstellung der Erlangung höheren Wissens hervor: die geschichtsmetaphysische Konstruktion, zur Entwicklung bestimmter Bewusstseinseigenschaften habe die Menschheit lange Jahrhunderte ohne übersinnliche Erkenntnis auskommen müssen, was sich nun nach dem Ende des Kaliyuga 1899 ändere. (Hammer: Claiming Knowledge, 166) Clement legt so viel Wert darauf, Steiners Konstruktionen in Analogie zu Mystik, Deutschem Idealismus und Tiefenpsychologie zu setzen, dass diese evolutionäre Komponente nicht genügend deutlich wird.
Vor allem aber legt Hammer Wert auf die bei Clement weitgehend ausgeblendete empirisch-‚wissenschaftliche‘ Dimension von Steiners Epistemologie der „Höheren Welten“. (vgl. ebd, 225-228, 418-428) Dabei wären viele Ausführungen Hammers zur Untermauerung von Clements Kontinuitätsthese bezüglich Steiners intellektueller Entwicklung geeignet: Auch Steiners Konzeption des Denkens in der „Philosophie der Freiheit“ wird bei Hammer zur Genese seines esoterischen Wissenschaftsverständnisses herangezogen. In der Tat liegt in diesem (theosophischen) Wissenschaftsanspruch Steiners auch eine wesentliche Differenz zu anderen „posttheosophischen“ Meditationsformen. (vgl. ebd, 237, 496) Gefolgt wird das Kapitel über Steiner von einem über „Do-it-yourself Channeling“:
„As we have seen, Rudolf Steiner set out the details of a spiritual do-it-yourself project, but in reality, only Steiner’s own “spiritual science” is truly valid within anthroposophical circles. Several New Age positions have taken the next step: the writer gives detailed instructions on how to open up for channeled messages, but there is no organization with the authority to silence and exclude those who channel the “wrong” messages.“ (427f.)
Ein weiteres Element nennt Hammer „invention of tradition“, was ein weiteres Reflexionsfeld der Esoterikforschung aufmacht (ebd, 497, vgl. auch Egil Asprem/Kenneth Granholm: Constructing Esotericism. Sociological, Historical and Critical Approaches to the Invention of Tradition, in: Asprem/Granholm: Contemporary Esotericism, Sheffield/Bristol 2013, 25-48). Phantasievolle Traditionskreation findet sich bei Steiner vor allem, indem östliche Bezüge zurückgedrängt und ein genuin westliches, „rosenkreuzerisches“, oder eben „modernes“ Wissenschaftsverständnis hervorkehrt. Ironischerweise reflektiert Clement diese gegen die Theosophie konstruierte Traditionskonstruktion der Anthroposophie nicht, sondern hält das Identitäts- für ein materiales Argument, als dessen glühender Anhänger er argumentiert.
Trotz aller Lücken und Entstellungen ist Clements Einleitung als mutig zu bezeichnen. Noch niemand hat eine so umfassende Kontextualisierung von Steiners „Schulungsweg“ gewagt. Dass sie in vielerlei Hinsicht zu kurz greift, darf nicht über die wesentlichen Leistungen hinwegtäuschen. Besonders im Stellenkommentar zeigt sich Clements große handwerkliche Leistung. Für die Kommentierung der nächsten Bände hofft man, dass Clement seine ideologische Herangehensweise an die Texte hinter sich lässt.
Die Pythagoräische Wende: Esoterikforschung auf der Suche nach ihrem Gegenstand
„Ein deutscher Arzt (Hr. Grimm) hält sich in seinen Bemerkungen eines Reisenden etc. über die französische Allwissenheit, wie er sie nennt, auf; aber diese ist lange nicht so geschmacklos, als wenn sie sich bei einem Deutschen eräugnet, der gemeiniglich daraus ein schwerfällig System macht, von dem er nachher nicht leicht abzubringen ist, indessen da eine Mesmeriade in Frankreich einmal eine Modesache ist und bald darauf gänzlich verschwindet … Wider diesen Unfug ist nun nichts weiter zu thun, als den animalischen Magnetiseur magnetisiren und desorganisiren zu lassen, so lange es ihm und andern Leichtgläubigen gefällt…“
– Immanuel Kant an Ernst Ludwig Borowski (1790), AA XI, S. 141f.
Der deutsche Begriff Esoterik („Esoterismus“) wurde im 18. Jahrhundert ausgeprägt: Im religionsphilosophischen Disput über die Deutung der antiken Mysterienkulte, der Frage nach deren Verhältnis zur Freimaurerei sowie in einer damit verknüpften Pythagoras-Interpretation. 1815 schließlich war beides ins Selbstverständnis von Freimaurern eingewandert. Mit dieser Entdeckung der Aufklärungsforscherin Monika Neugebauer-Wölk (Halle) sind erstmals begriffshistorische Belege für eine Vorstellung von Esoterik vor 1828 bekannt geworden (im Englischen allerdings gab es das Wort um 1660). Vor allem aber lassen die Themen, die unter diesem Begriff verhandelt wurden, sich schlüssig auf solche der Rennaissance zurückführen. Das verursachte ein kleines Beben für die Esoterikforschung. Dies und anderes dokumentiert ein 2013 erschienener Tagungsband „Aufklärung und Esoterik: Wege in die Moderne“.
Heute findet sich vor allem unter dem Dach der „European Society for the Study of Western Esotericism“ (ESSWE) eine Fülle von Projekten zusammen, die sich irgendwie mit dem Feld „Esoterik“ beschäftigen. Nur: was gehört in dieses Feld? Noch immer arbeitet die sog. „Esoterikforschung“ sich an den Thesen ihres Gründers Antoine Faivre ab. Kann man heutige Esoterik aus neuplatonischen Texten der Rennaissance herleiten? Oder ist sie ein rein „modernes“, im 19. Jahrhundert entstandenes Phänomen?
„Denkform“ oder „Diskurs“?
Der Pariser Religionswissenschaftler Faivre verstand Esoterik als „Denkform“, die sich seit der Rennaissance auf einen Kanon bestimmter Texte und Autoren gründe. Aus den frühneuzeitlichen Quellen dieses Esoterischen Korpus leitete Faivre vier Denkformen ab, die bis heute der Esoterik zugrundelägen: das Denken in symbolischen Entsprechungen; Imagination und Mediation als Möglichkeiten, die verschlüsselten Symbole der Welt zu erkennen; die Vorstellung einer lebenden Natur sowie eine Erfahrung der Transmutation: Die Möglichkeit, sich auf qualitativ neue, höhere Daseinsebenen zu heben.[1] Faivres Definitionsvorschlag traf aber auf eine Religionswissenschaft, die sich mehr und mehr von derlei idealtypischen oder „essentialistischen“ Ansätzen entfernte. Was man für das „Wesen“ der Religion halte, sei, so mag man die Kritik verkürzt darstellen, meist nur die eigene fehlbare Vorstellung davon.
Der Berliner Religionswissenschaftler Hartmut Zinser schrieb entsprechend 2009 gegen „Faivre und seine Anhänger“ an, diese machten sich zu „Theologen der Esoterik“. Die Annahme eines Esoterischen Korpus der Frühneuzeit sei selbst nichts anderes als esoterisches Wunschdenken. Erst 1828 habe, führte Zinser in völliger Übereinstimmung mit dem damaligen, auch Faire bekannten Stand der Forschung, aus, Jacques Matter den Begriff „Esoterismus“ benutzt – also über zwei Jahrhunderte nach der Rennaissance.[2] „Esoterik als Gegenstand gibt es nicht“, schrieb 2004 Kocku von Stuckrad. Sie „existiert nur in den Köpfen von Wissenschaftlern, die Gegenstände in einer Weise ordnen, die ihnen sinnvoll erscheint, um Prozesse europäischer Kulturgeschichte zu analysieren.“ Stuckrad schlug vor, unter „Esoterik“ all jene „diskursiven Transfers“ zusammenzufassen, in denen irgendjemand Ansprüche auf absolutes oder „höheres“ Wissen erhebt – von der antiken Gnosis zum Chanelling. Ironischerweise fasste er materialiter allerdings all jene Traditionen darunter zusammen, die auch Faivre als esoterisch aufgezählt hatte. Ja, Stuckrad dehnte seine „Kleine Geschichte des geheimen Wissens“ bis weit vor die Frühneuzeit bis zur spätantiken Gnosis aus. [3]
Michael Bergunder vertrat 2008 eine noch schärfer diskurstheoretisch liminierte, letztlich nominalistische Eingrenzung des „esoterischen Feldes“, als er wortreich ausführte, dass „Esoterik“ nicht mehr als ein „Name“ für einen „Diskurs über Religion und Wissenschaft sei“. Es handle sich um einen „leeren Signifikanten“ „ohne autonome Essenz“, der in der „Diskursgemeinschaft“ all derer bestehe, die das Wort „Esoterik“ in den Mund nehmen. [4] Aber was soll ein „esoterischen Diskurs“ sein, wenn man nicht sagen darf, was ihn zu einem esoterischen macht? Diese Form von Diskurstheorie behauptet per se, dass Erkenntnis objektiver historischer Zusammenhänge nicht einmal asymptotisch möglich sei und überlässt, ohne die Frage zu stellen, ob unter dieser Voraussetzung historische Forschung nicht eo ipso sinnlos wäre, sich damit einem voluntaristischen Konstruktivismus. Im Sumpf der sprachidealistischen Beliebigkeit wird Esoterik zum „Container“, in den Wissenschaftler alles mögliche schmeißen können, wie Bergunder offenherzig schreibt.
Polemische Ausgrenzung?
Wouter Hanegraaff, der prominentester Vertreter der munteren Esoterikforscher-Szene, hat dagegen versucht, einen speziellen neuzeitlichen Diskurs zur Grundlage einer Bestimmung zu machen.[5] Er spricht von „Western Esotericism“ als „Rejected Knowledge in Western Culture“, heißt: Esoterik sei im Prozess der Modernisierung ausgegrenztes, zurückgewiesenes Wissen. Protestantische Denker hätten, so Hanegraaff, die in der Rennaissance erfolgende Synthese aus Neuplatonismus, Hermetik und Katholizismus angegriffen, während die Kirchenväter noch zur Apologie des Christentums vor der griechischen Philosophie angetreten seien und damit den Grund jener Synthese gelegt hätten. Damit entsteht Esoterik an der Schnittfläche des Disputs um das Verhältnis des „wahren“ Christentums zum (griechischen) „Heidentum“. Im 18. Jahrhundert schließlich sei im Licht der (nicht zuletzt protestantisch aufgeladenen) Aufklärung manch Anderes auf dem Müllhaufen der Geistesgeschichte geworfen worden: Die Alchemie durch die Chemie oder die Verbindung von Metaphysik und Wissensgewinn (Kant). Esoterische Naturphilosophen mussten sich im 15. Jahrhundert noch vor religiösen Autoritäten als christlich rechtfertigen. In der Moderne dagegen versuchten esoterische Strömungen zu zeigen, dass ihre Methoden „modern“ und „wissenschaftlich“ seien. Darauf reagierten Pietismus und Romantik, sie wandten sich von der „bürgerlichen Kälte“ ab und dem geheimen Leben von Seele und Natur zu. Im 20. Jahrhundert sei auf den Eranos-Tagungen, auf denen Mircea Eliade, C. G. Jung oder Gershom Scholem verkehrten, im Protest gegen die vermeintlich nihilistischen Konsequenzen moderner Geschichtsschreibung die Suche nach einer esoterischen Tiefendimension des Historischen aufgenommen worden. Soweit Hanegraaff: Aber was wurde da ausgegrenzt oder aufgenommen? Welches Objekt war das der von Hanegraaff freigelegten polemischen „Ausgrenzungs“-Geschichte? Der Status als „Rejected Knowledge“ in einem „polemischen Diskurs“ bleibt dem Gegenstand des Diskurses noch äußerlich.
Jenseits des 19. Jahrhunderts: Aufklärung und Esoterik
Indem Neugebauer-Wölk nun dem Esoterikbegriff des 18. Jahrhunderts auf den Grund geht, zeigen sich viele der referierten Überlegungen in neuem Licht.
„Der Begriff Esoterismus wird … eingeführt, um eine Religiositätsform des 18. Jahrhunderts zu bezeichnen, deren Spektrum sich vom Vernunftglauben bis zur neuplatonischen Theurgie erstreckt und die sich hinter den Geheimnissen der Freimaurerei verbirgt … Die Tradition der Debattenkontexte, in denen das Wortfeld des Esoterischen in der Neuzeit begegnet, bewegt sich in den positiv bis negativ bewerteten Auslegungen der Philosophia perennis, wie sie um 1500 in ihrer Basiskonzeption entstand. Das ist keine esoterische Konstruktion, sondern eine empirisch abgesicherte Feststellung … Das esoterische Wortfeld gelangt durch die Rezeption griechischer Schriften in der Rennaissance spätestens um 1500 ins Lateinische. Durch die Pythagoräische Wende in der Mitte des 17. Jahrhunderts gelangt die lateinische Adaption in die Nationalsprachen.“[6]
„Schon während ich sprach“, schreibt Neugebauer-Wölk, „spürte ich eine bemerkenswerte Aufmerksamkeit des Publikums, eine Resonanz, die ich bei diesem doch eher trockenen und kleinteiligen Thema nicht erwartet hatte.“ Christoph Meiners, der 1772 seine „Revision der Philosophie“ veröffentlichte, reklamierte in seiner Inhaltsübersicht für Abschnitt 2 „esoterische Logik“, Abschnitt 4 beginnt mit „was man jetzo esoterische Philosophie nennen kann?“ und verhandelt im dazugehörigen Kapitel „Pythagoräische Gesellschaften“ und ihre „esoterische Philosophie“, gemeint sind philosophische Lehren im Kontext der Freimaurerei. „Die Sonne wärmt den Erdkreis auch dann, wenn sie wann sie hinter den Wolken verborgen ist: ebenso kann die Art zu denken und das Publicum aufklären, wenn der Esoteriker gleich die ersten Principia, auf welche er sich gründet, nicht sehen lässt.“ Es schloss sich eine ganze Debatte an:
1776 legte Meiners mit einem Bericht „Ueber die Mysterien der Alten“ nach. Hier beschrieb er, das religiöse Wissen der Priester in der Antike (esoterisch) habe sich von der gemeinen Volksreligion (exoterisch) unterschieden. „Schließlich“, so Neugebauer-Wölk, „bindet er das gesamte Inventar der Lehre von den alten Theologen aus der Philosophia perennis der Rennaissance an über den spätantiken Neuplatonismus an die Arkansphäre der Mysterien an.“ (ebd., S. 54) Johann Georg Hamann war 1779 der Überzeugung, „die ganze neu aufgerichtete Scheidewand des Ex- und Esoterismus“ „verschwindet“, wenn man in den antiken Mysterien „gewisse auf die Religion des Volks sich beziehende Lehren“ sehe. Dagegen übernahm der prominente Freimaurer August Starck in eine Neuauflage seiner „Apologie der Freimaurerei“ die Mysterien auf. Da er gewisse Ähnlichkeiten von antiken Mysterien und solchen der Freimaurerei sah, betonte er energisch, dass das Christentum („zu dem wir uns alle bekennen“) „keine irrige Volksgeligion“ brauche. Die Behauptung, die Maurer verfügten über einen esoterischen Mehrwert gegenüber den christlichen Konfessionen, wäre aber auch eine damals ehrenrührige Abwertung des Christentums gewesen.
Neugebauer-Wölk datiert noch weitere Funde und stellt diese in zeitgenössische religiöse Verbindung: Insbesondere sind hier Fragen zum (Selbst-)Verständnis der Freimaurerei wichtig. Deren Lehren wurden, zunächst in der Fremdzuschreibung, als „esoterische“, aber mit dem ganzen Korpus der platonischen und hermetischen Literatur identifiziert. Die praktizierenden Esoteriker übernahmen diese Vorstellung. Neugebauer-Wölk hat damit, auch wenn sie dies nicht anspricht, damit erneut Antoine Faivres Postulat eines kanonisch-neuzeitlichen „Esoterischen Korpus“ ins Spiel gebracht. Neugebauer-Wölk mahnt, zu klären,
„…was die Worte zu Begriffen macht, d.h. [man muss] dem jeweiligen Sprachgebrauch die damit bezeichneten Inhalte zu[zu]ordnen. Denn mit einer Wortfindungsstrategie allein ist es nicht getan. Man hätte damit zwar die Klippe des Essentialismus umschifft, wäre aber auf den trügerischen Grund eines abstrakten Nominalismus aufgelaufen. Historische Kontextualisierung ist die zwingende Folge Historischer Semantik. Dabei lässt … [das] Material erkennen, dass der rein formale Kontext der einfachen Esoterischen Unterscheidung, nämlich der Trennung einer Schülerschaft in eine äußere exoterische Gruppe und einen privilegierten esoterischen Kreis, schon seit der Antike mit Aussagen über die im inneren Kreis vermittelte Lehre angereichert wurde.“ (S. 72)
Gesellschaftlich pejorativ war der Esoterikbegriff bei seinem Aufkommen nach 1770 nicht. Das ist auch interessant, weil Wouter Hanegraaff Esoterik als „Rejected Knowledge“ gefasst hat. Die Aufklärung habe ‚esoterische‘ Lehren diskursiv ausgegrenzt, in der Folge protestantischer Polemiken gegen „heidnisch“-griechische Lehren im Katholizismus wie in der katholischen Philosophie.
Die „Mysterien der Alten“ bei Rudolf Steiner
Dass Rudolf Steiner in mancher Geschichte zur Entwicklung der Esoterik im 20. Jahrhunderts mehr Raum gebührte, kann man nicht anzweifeln – wobei die wirkliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihm gerade erst beginnt. Der Germanist, ehemalige Waldorflehrer und Steiner-Herausgeber Christian Clement hat im ersten erschienen Band seiner kritischen Steineredition („SKA“) 2013 darin die Steineriana „Die Mystik im Aufgang“ (1901) und „Das Christentum als mystische Thatsache und die Mysterien des Altertums“ (1902) textkritisch publiziert. Für den um 1900 erfolgten karrieristischen Wandel Steiners vom prekären Philosophen zum Religionsstifter sind beide zentral. Steiners esoterisches Weltbild nahm nicht zuletzt in der (auf einem ziemlich kleinen Spektrum von zeitgenössischen Sekundärwerken beruhenden) Beschäftigung mit den antiken Mysterien Kontur an. Über Clements Behauptung, Steiners Mystikdeutung an der Schwelle seiner philosophisch-individualistischen und seiner evolutionär-theosophischen Phase sei eine „zweite methodische Grundlegung“ der Anthroposophie, mag man streiten. Dass die antiken Mysterien jedoch für Steiners esoterische Konversionsbiographie eine wichtige Rolle spielen, ist unbestreitbar, und stellt eine interessante Parallele zum Themenfeld her, das Neugebauer-Wölk diskutiert. Zu Steiners „Christentum als mystische Thatsache“ schreibt Clement:
„Zentrale These des ersten und umfangreichsten Teils ist, dass sowohl die Bilderwelt des antiken Mythos wie auch die Anschauungen wichtiger Vertreter der antiken Philosophie auf Erkenntniserlebnissen beruhten, die ursprünglich in den Mysterien gemacht worden seien. Mythen, so Steiner, seien letztlich nichts anderes als aus dem naiven Volksbewusstsein heraus entsprungene bildhafte Objektivierungen derjenigen seelischen und geistigen Gesetzmäßigkeiten, nach deren Bewusstmachung man in den Mysterien systematisch gestrebt habe. Und eben diese Mysterienweisheit habe auch den Kern der Philosophie eines Heraklit, Pythagoras und Platon ausgemacht … da diese Philosophen selbst Eingeweihte gewesen seien. Mythologie, Philosophie und Mysterienwesen erscheinen so in Steiners Deutung als drei formal verschiedene, inhaltlich aber identische Gestaltungen mystischer Selbst-Erfahrung im antiken Bewusstsein.“ (SKA 5, XLVIII)
Es ist wohl kaum die Frage, ob Steiners Werk esoterisch ist. Vielmehr hat Steiner selbst den Begriff Esoterik nachhaltig geprägt, oder – essentialistisch: – die moderne Esoterik idealtypisch repräsentiert, popularisiert und fortgebildet. Mit dem deutschen Esoterikbegriff vor 1800 teilt er nicht nur die Beschäftigung mit den Mysterien wie mit der Freimaurerei und deren Verhältnis zur eigenen Geistigkeit, sondern auch die Frage nach der Regelung von Arkanraum und bürgerlicher Öffentlichkeit oder den Bezug auf Neuplatonisches und, nicht zuletzt, die Verankerung in einer bürgerlichen Normalität.
Esoterik, Monismus und das Beispiel Steiner
Im zitierten Sammelband Monika Neugebauer-Wölks findet sich auch ein neuer „materialer Diskussionsvorschlag“ zur Definition von Esoterik. Dessen Autor ist Helmut Zander, der mit Pionierforschung zur Ideengeschichte der Anthroposophie neidbeißerische Verachtung von allerlei Anthroposophen (inklusive Clement) auf sich gezogen hat. Zander schreibt mit einer ganzen Reihe von Belegen und in dichter Auseinandersetzung mit Hanegraaffs Ausführungen, „monistisches, identitätsphilosophisches Denken“ stehe im Zentrum „esoterischer“ Vorstellungen. [7] Ein Denken also, das eine höhere Identität von Welt und Gott, von Geist und Materie behaupte. Die christlich-jüdische Gegenüberstellung von Gott und Mensch werde in esoterischen Konzepten monistisch in eine Einheit rückgebunden, die die Grenze von Göttlichem und Menschlichem für überwindbar halte. Zander versteht seine Definition als Mittelweg zwischen Diskurstheorie und idealtypischer Rekonstruktion in der Tradition Faivres: Jede konkrete esoterische Weltanschauung präsentiert die identitätsphilosophische Grundhaltung in ganz eigener Weise, nicht bei allen steht sie im Zentrum. Aber: „Das monistische Paradigma ermöglicht es, eine Traditionsgeschichte der Esoterik zu schreiben: ausgehend von der Rennaissance über die Invention des Begriffs ‚Esoterik‘ am Ende des 18. Jahrhunderts bis zu dessen Popularisierung im 19. und 20. Jahrhundert, wohlwissend um die … massiven Veränderungen des Verständnisses von ‚Esoterik'“, so Zander.
Die Idee einer Einheit von Mensch und Göttlichem enthält potentialiter jene einer Selbsterlösung. Der Mensch kann die Schwelle zum Geistigen überschreiten und sich zum höheren Wesen transformieren. Dies war das Skandalon für Protestanten und Aufklärer. Es nimmt nicht wunder, dass dieser Vorschlag ausgerechnet von dem Steinerforscher Zander kommt. Steiners Denken repräsentiert das ganze Spektrum des Monismus. Ausgehend von seiner 19-jährigen Selbsterfahrung der Schellingschen Anschauung des Ewigen im eigenen Inneren hatte er in seiner Goethedeutung die Beziehung von Denken und Idee als Verschmelzung „mit dem Urgrunde des Weltendaseins“ beschrieben. Kurz vor 1900 erklärte er das Denken jedoch weltimmanent: Die Mystiker schauten „nur“ ihr eigenes Ich und hielten es für Gott. Nach seiner Auseinandersetzung mit der Theosophie schließlich sah Steiner in Welt und Mensch die evolutionäre Entfaltung eines in sich mannigfaltig differenzierten, spirituellen Kosmos. Steiners wechselhafte Weltanschauung lässt sich als biographisches Experiment über den Monismus verstehen, als Suche nach dem Beziehungsgrund von Geist und Welt. Die Kontinuität seines Denkens stünde so nicht antagonistisch gegen seinen Wandel, sondern zeigte sich vielmehr in der stetigen Metamorphose des Steinerschen Monismus. Diese monistische Fragestellung wäre schließlich die motivische Grundlegung von Steiners Esoterik. In seiner Steiner-Biographie (2011) schrieb Zander noch:
„War Steiners Konversion zur Theosophie ein Ausdruck von Kontinuität (so letztlich Steiner in seiner Autobiographie und mit ihm die orthodoxe anthroposophische Tradition) oder Dokument eines Bruchs (so ein Großteil der kritischen Steiner-Deutung). Ich schlage vor, von einer Transformation zu sprechen, in der die Entscheidung für eine dieser beiden Optionen eine Frage der Perspektive ist. An Steiners Monismus lässt sich diese Ambivalenz exemplarisch ablesen: Monismus kann sowohl materialistisch (vortheosophisch) als auch idealistisch (in Steiners goetheanischer Phase und seit seiner theosophischen Zeit) gedacht werden, kann auf Atheismus oder Spiritualismus hinauslaufen.“ (S. 477)
Im zitierten „Diskussionsvorschlag“ zur Definition von Esoterik wird dieses Spezifikum Steiners als Ausdruck identitätsphilosophisch-esoterischer Tradition verstanden:
„Rudolf Steiner …[hat] das Konzept sowie Lexem ‚Selbsterlösung‘ benutzt und positiv besetzt. Sein Ausgangspunkt war eine Kosmologie, die er expressis verbis als monistisch verstand und in der er die Identität von Geist und Materie unter dem Primat des Geistgen postulierte … Steiner ist in doppelter Hinsicht für die Fragestellungen dieses Aufsatzes interessant: Er vertritt eine monistische Weltanschauung bis in die Konsequenz einer Selbsterlösungsvorstellung hinein, und er gehört zu den wichtigen Popularsatoren des Konzeptes der ‚Esoterik‘, für das er in seinem Textkorpus eine Vielzahl der um 1900 immer noch leidlich seltenen Belege bringt.“ (S. 113)
Das letzte Wort ist mit den hier paraphrasierten Ansätzen noch nicht gesprochen: Neugebauer-Wölks Fund braucht weitere begriffsgeschichtliche Klärung. Neue kritische Einwände und historische Entdeckungen werden zu neuen Definitionen der Esoterik führen. Das ist kein Nachteil empirischer Wissenschaft, sondern Ausdruck des andauernden Bemühens, begrifflich und methodisch einem heterogenenen und wechselhaften Gegenstand gerecht zu werden. Mit den Beiträgen der Historiker Neugebauer-Wölk und Zander zeigt sich allerdings, dass das Primat des Objekts (das vielbeschworene ‚Vetorecht der Quelle‘) gegenüber konstruktivistisch-diskurstheoretischer Sprachmagie durchaus seine Vorteile hat – jedenfalls, wenn es das Ziel sein soll, historische Esoterikforschung zu betreiben.
[1] Antoine Faivre: Was ist Esoterik? Geheime Geschichte des abendländischen Denkens (1992), Freiburg 2001.
[2] Hartmut Zinser: Esoterik. Eine Einführung, München 2009.
[3] Kocku von Stuckrad: Was ist Esoterik? Kleine Geschichte des geheimen Wissens, München 2004.
[4] Michael Bergunder: Was ist Esoterik? Religionswissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Esoterikforschung, in: Monika Neugebauer-Wölk/Andre Rudolph: Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Transformation, Tübingen 2008, S. 477-507.
[5] Wouter Hanegraaff: Esotericism and the Academy. Rejected Knowledge in Western Culture, Cambridge 2012; ders.: Western Esotericism. A Guide for the Perplexed, London u.a. 2013.
[6] Monika Neugebauer-Wölk: Historische Esoterikforschung, oder: Der lange Weg der Esoterik in die Moderne, in: Monika Neugebauer-Wölk/Renko Geffarth/Markus Meumann (Hg.): Aufklärung und Esoterik: Wege in die Moderne, Berlin/Boston 2013, S. 37-72.
[7] Helmut Zander: Das Konzept ‚Esoterik‘ im Bermudadreieck von Gegenstandsorientierung, Diskurstheorie und Wissenschaftspolitik. Mit Überlegung zur konstitutiven Bedeutung des identitätsphilosophischen Denkens, ebd., S. 113-135.
Welten, die sie trennen! Rezension des ersten Bandes der kritischen Ausgabe von Steiners Schriften
von Hartmut Traub
Hartmut Traub, der 2011 die erste umfassende Diskussion und Kritik von Steiners vor-theosophischer Philosophie vorgelegt hat, hat nun eine ausführliche Rezension der von Christian Clement herausgegebenen „SKA“ geschrieben.*
Die Erwartungen waren hoch. Endlich eine kritische Ausgabe von Steiners Schriften. Endlich besteht Hoffnung, seine Arbeiten bekenntnisfrei vorgestellt und kommentiert zu bekommen. Ihr Erscheinen bei einer der ersten philosophischen Verlagsadressen Deutschlands schien dazu die besten Voraussetzungen zu bieten. Und wahrlich, der erste der auf acht Bände angelegten Ausgabe ist ein schönes Buch; und, was die Steinertexte betrifft, auch ein sehr nützliches. So zeigt die Ausgabe im Fußnotenapparat und in den Stellenkommentaren die Überarbeitungsspuren, die Steiners geistiger Wandlungsprozess in den unterschiedlichen Ausgaben seiner Schriften hinterlassen hat. Besonders hilfreich ist das umfangreiche Literaturverzeichnis, das dem Leser die Möglichkeit bietet, sein Interesse an Steiner in unterschiedlichen Richtungen – anthroposophisch oder nicht anthroposophisch – weiter zu vertiefen. Kleines editorisches Manko ist das fehlende Sachregister.
Soviel im Allgemeinen. Der nähere Blick in das von Alois Maria Haas verfasste Vorwort und die von Christian Clement gelieferte Einleitung offenbart ein differenziertes, vielleicht exemplarisches Bild vom mentalen Zustand der gegenwärtigen Steiner-Forschung. Der Titel meines Vortrags „Welten, die sie trennen“ deutet auf die Heterogenität der Geistes-Welten hin, in denen die beiden Verfasser beheimatet zu sein scheinen.
Während die Vorrede von Haas als der insgesamt, sowohl formal als auch inhaltlich, misslungene Versuch anzusehen ist, Steiners Weg in die Mystik zeit- und ideengeschichtlich auszuleuchten, kann Clements Einleitung über weite Strecken und im Wesentlichen ihres Anliegens überzeugen. Auch wenn an der meines Erachtens zu engen anthroposophischen Auslegung von Steiners vortheosophischen Schriften zur Mystik Fragen und Kritik angebracht sind.
* der Text basiert auf einem Vortrag, der am 24. Mai 2014 im Kolloquium „Philosophie und Anthroposophie“ an der Alanus-Hochschule Bonn/Alfter gehalten wurde.
Mehr zu und von Hartmut Traub:
Schwierigkeiten und Chancen einer Vermittlung von Philosophie und Anthroposophie im Werk Rudolf Steiners (Hartmut Traub)
Rudolf Steiner und Baruch de Spinoza. Ein Diskussionsbeitrag (Hartmut Traub)
Die “Optik der Geistes” und der Geist des Okkulten. Ein Gespräch mit Hartmut Traub
Philosophie und Anthroposophie. Zu Hartmut Traubs Steiner-Exegese (Rezension)
Mehr zu Christian Clement und zur kritischen Steiner-Ausgabe:
Willy, Thomas und der Wolf im Schafspelz
Die Mystik im Aufgang: Christian Clement liest Steiners esoterische Konversionsbiographie neu
Dr. Hartmut Traub ist Studiendirektor am Seminar für schulpraktische Lehrerbildung in Essen und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft. Promotion über Fichtes Populärphilosophie und Herausgeber u.a. des Briefwechsels zwischen Schelling und Fichte, der Fichte-Studien und der Fichte-Studien Supplementa. Lehraufträge in Philosophie und Philosophie-Didaktik an der Mercator Universität Duisburg, der Universität Duisburg/Essen und der Alanus-Hochschule Alfter.