Posts filed under ‘Christoph Kühn’
Der Christus im Sinkflug
von Christoph Kühn
„Noch heute ist es ein bei Waldorflehrern bekanntes Übel,
dass sie in der Regel lieber dreihundert Kilometer zu einem vorverdauten Vortrag
anreisen als eine Seite Originaltext zu lesen, und sei er von Steiner.“
– Fritz Beckmannshagen: Rudolf Steiner und die Waldorfschulen, Wuppertal 1984
Vorwort AM – heute ein Text von Christoph Kühn, der Feldforschung im meinungsbildenden Arkanum der anthroposophischen Szene unternimmt. Dieses Arkanum heißt „Vortrag“ und der hier rezensierte wurde von Rahel Uhlenhoff gehalten, die 2011 als Herausgeberin des Sammelbandes „Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart“ auf sich aufmerksam machte. Es geht natürlich um Christus, um Europa, um allerlei Reinkarnationen und die tragische Opferrolle Rudolf Steiners. Christoph Kühns Bericht erschien zuerst auf dem Endstation Dornach Blog.
__________________________________________________
Was macht der rechtschaffende Geistesschüler an einem lauwarmen Sonntagabend? Er geht zu einem Vortrag ins Rudolf Steiner Haus. Es spricht Rahel Uhlenhoff über die „Geburt der Anthroposophie aus der europäischen Geistesgeschichte“.
19.00 Uhr Teil I: „Sokrates – Platon – Aristoteles“
Es sind 22 Personen gekommen. Ich freue mich auf Rahel Uhlenhoff, die ich als klare Denkerin und sehr angenehme Vortragende in Erinnerung habe. Sie ist schon da, im Saal und sie ist erblondet. Wie finde ich denn das? Ich habe sie allerdings auch eine Weile nicht mehr in natura gesehen und ein kleines Style-Update wollen wir ihr doch gönnen. Sie sieht nach wie vor sehr gut aus, ist aber anscheinend noch dünner geworden. Sie trägt einen langen blonden Zopf, eine weiße, kurzärmelige Bluse und einen schwarzen langen engen Rock. Kurz erinnere ich mich an Judith von Halle, die zwar auch hübsch und sehr dünn ist, aber bei ihrem Vortrag ganz in Schwarz gekleidet war, inklusive fingerloser Handschuhe. Sind die beiden sich nun ähnlich oder nicht? Ich kann es nicht sagen.
Armin Grassert begrüßt und wünscht Erkenntnisse. Er benötigt dafür keine zehn Sekunden, sehr angenehm. In der ersten Hälfte des Abends soll es um “Sokrates – Platon – Aristoteles” gehen. Uhlenhoff beginnt mit einer kleinen Überraschung, indem sie sagt, im Kern gehe es ihr um die Frage, ob wir es mit der Anthroposophie Rudolf Steiners oder mit der „ganz allgemeinen Anthroposophie“ zu tun haben. Ihr These lautet: Es geht um die von der „Heiligen Sophia“ inspirierte allgemeine Anthroposophie, die sich in allen Epochen der europäischen Geistesgeschichte zeigt.
Im antiken Griechenland gab es eine Entwicklung von der Weisheit der Mythenschulen zur Sophisterei der Menschen. Gab es etwas dazwischen? Eine Verbindung „nach oben“? Ja, die Liebe zur Weisheit, die Philosophie des Sokrates. Er „hat mächtig gerüttelt an den Ichen“ seiner Zeit. Er führte die Menschen auf ihr Ich, weg vom Religiösen hin zum Willen. Sokrates sagte nein, zu Göttern, die in ihm denken, er wollte selbst denken.
Sein Schüler Platon repräsentierte die Kunst und das Gefühl, ging auf Reisen, interessierte sich für Politik und beschäftigte sich mit den (Ur-)Ideen. Für Platon geht alles auf das Eine zurück. Uhlenhoff unterstreicht ihre Ausführungen immer wieder mit Gesten, die nach oben und unten deuten, in den Himmel zu den Göttern und auf die Erde zu den Menschen. Es kommt mir erstaunlich kindlich vor, zumal sie sonst so überaus intellektuell wirkt.
Aristoteles hingegen erforscht die „stoffliche Welt“ und begründet mit rationalem Denken die Wissenschaft. Er untersucht die Bereiche der Physik, der Metaphysik und der Logik. Er hat das Tor zur geistigen Welt geschlossen. Aristoteles wendete sich den Phänomenen der Welt zu, wie sie uns begegnen und steht im Gegensatz zu Platon, der die Ideen beschreibt, die „von oben nach unten“ bzw. aus höheren Welten zu uns Menschen kommen. Anthroposophen streben ja, so Uhlenhoff, danach, das Platonische mit dem Aristotelischen in Einklang zu bringen und im Grunde sei Sokrates, der auf dem Marktplatz Dialoge führt und im Leben steht, das Bindeglied.
Sokrates, Platon und Aristoteles wirkten in Athen, hinter ihnen und ihren Menschen- und Weltbildern steht die Göttin Athene, hinter dieser die „Heilige Sophia“ und dahinter schließlich das Eine oder – in anthroposophischer Terminologie – der Christus. So Uhlenhoffs Wahrnehmung. Das Eine sei „der Christus“, der sich „im Sinkflug auf die geistige Welt“, das Ätherische, befand.
Erst in der Moderne/Postmoderne kam mit Rudolf Steiner als Wiedergeburt des Aristoteles jemand, der das Tor zur geistigen Welt wieder öffnete. Steiner, der eine Geisteswissenschaft gründete und vor allem auch wieder eine spirituelle Praxis anregte so wie die Wissensgebiete seiner Zeit auf eine neue geistige Grundlage stellte. Als Wiedergeburt des Platon führt Uhlenhoff Valentin Tomberg ein, dem es Marie Steiner versagte, das Goetheanum zu leiten. Tomberg widmete sich einer tiefgehenden Mystik und begründete eine eigene geistige Strömung, die an die Kunstliebe des Platon erinnert. Sie plädiert dafür, Tomberg eben als eine solche eigene geistige Strömung gelten zu lassen. Und mit ermunterndem Tenor ins Publikum: Warum denn auch nicht?
Was die spirituelle Praxis betrifft, bedürfe es nach Uhlenhoff in unserer Gegenwart einer neuen, im Steinerschen Sinne selbständigen geistigen Praxis: „Wir brauchen das geistig-esoterische Gespräch mit den Elementarwesen und mit den Engeln.“ Dies sei heute wichtiger denn je und sie empfehle dazu die engelskundlichen Bücher von Alexa Kriele.
20.30-21.30 Uhr Teil II: “Thomas von Aquin – Hegel – Rudolf Steiner”
Es sind 26 Personen anwesend und mein Handy, das ich nun auf Wunsch meiner Sitznachbarin wieder ausschalte, zeigt 20.15 Uhr. Während Rahel Uhlenhoff den ersten Teil des Vortrags überflüssigerweise noch einmal in zusammengefasster Version wiederholt, schalte ich die Welt kurz ab und denke nach (wie früher in der Schule oder an der Uni). Ich denke in der Moderne und Postmoderne ist nicht die Anthroposophie Steiners das Gewand der Heiligen Sophia, sondern die Aufklärung, die Freiheit. Nur insofern ist auch Steiners Anthroposophie dabei, nämlich mit seinem Frühwerk.
„Wo ist die Wiedergeburt des Sokrates?“ ruft Rahel Uhlenhoff und antwortet sogleich, dass er (!) schon da sei. Sie freut sich geheimnisvoll und euphorisch, sie ist jetzt wirklich sehr liebenswürdig. In die gute Stimmung hinein leitet sie über zur Anthroposophie Rudolf Steiners als Reinkarnation des Aristoteles. Sie stellt Aristoteles‘ Weltbild (Physik, Metaphysik), Menschenbild (Politik, Ethik) und Denken (Sprache, Syllogismus, Kategorien) vor und dessen These, alles sei immer im Wandel und daher sei Geschichtswissenschaft nicht möglich. Thukydides indes hatte bereits den Grundstein antiker Geschichtsschreibung gelegt.
Thomas von Aquin, der seine Heilslehre mit aristotelischer Wissenschaftlichkeit begründete, streift sie nur flüchtig. Zu Hegel – der zu jenen gehört, deren Vornamen Georg Wilhelm Friedrich nie genannt werden – hatte sie mehr zu sagen. Hegels Heilslehre, die selbstverständlich protestantisch geprägt war, kennt die Begriffe Trinität, Weltgeist und – oh ja, tatsächlich – auch ein Ich und zwar eines, das sagt „Ich bin der Schöpfer“. Während es bei Hegel einerseits nicht nur den Weltgeist, sondern auch Volks- und Zeitgeister gebe, gehe seine Philosophie andererseits aber nicht mehr von einer geistigen Welt aus. Diese Voraussetzungslosigkeit, die sich in der Naturwissenschaft etablierte, habe Steiner, im Anschluss an Hegel, dann auch für die Erforschung der geistigen Welt angewendet. Uhlenhoff betont, dass in der Anthroposophie Rudolf Steiners fast nur die alt- bzw. rechtshegelianische Strömung, also – so denke ich – auch besonders der christliche Aspekt, wirke. Die steinersche Geisteswissenschaft soll ja nicht nur dokumentierbare Informationen liefern, sondern auch Inspiration sein.
Mit der Inspiration durch die Heilige Sophia sollen alle Lebensbereiche befruchtet werden, wie es in den anthroposophischen Praxisfeldern deutlich wird. Hier macht Uhlenhoff wieder diese Gesten mit den Armen, die von oben nach unten deuten, vom Himmel zur Erde. So ginge Steiner einer ganzen „Kulturepoche“ voraus, er sei nicht nur Theoretiker, sondern mische sich mit den Impulsen aus der Heiligen Sophia – also Christus-Impulsen? frage ich mich – in die Wirklichkeit ein. Und diese wiederkehrenden Anfeindungen gegen Steiner, beschließt sie ihren Vortrag, würde es in der slawischen Kulturepoche (3573 – 5733 n. Chr.) vermutlich gar nicht geben.
„Amen“ rufen alle im Saal. Nein, nicht wirklich. Aber die schläfrige Zustimmung unter den Anwesenden ist wie ein „Amen“. Der Vortrag ist zu Ende und ich bin müde und enttäuscht. Diese kindische Alles-Gute-kommt-von-oben-Attitüde und das Wir-sind-Opfer-Finale ist billigste Allerwelts-Wohlfühlesoterik – das hat sie doch wirklich nicht nötig. Warum macht sie das? Ist das die Geburt der Anthroposophie aus der europäischen Geistesgeschichte? Ist es doch wahr, dass Steiners anthroposophische Bewegung erst erfolgreich wurde, als er begann, sich im Supermarkt des Christentums zu bedienen? Ist Uhlenhoffs Heilige Sophia im Grunde nichts anderes als ein Supermarkt mit einem enormen Sortiment christlicher und anderer religiöser und esoterischer Ingredienzien, Opium des Volks? Wo sie nun angekommen ist, sieht sie ja noch nicht einmal die Tür zur Philosophie der Freiheit, sie bleibt im Vorhof des Vorhofs stehen.