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Hinter dem Mond hervor. Waldorfbund warnt die Schulen vor politischen Demagogen

Endlich: Der „Bund der Freien Waldorfschulen“ hat sich in einem Schreiben an die Kollegien aller deutschen Schulen mit einer begrüßenswerten Klarheit gegen rechte Tendenzen ausgesprochen – Tendenzen im eigenen Umfeld. Der auf den 10. Juli 2015 datierte Brief wird auch von der Anthroposophie-nahen Nachrichtenagentur nna sowie auf der Seite der Waldorf-Verbandszeitschrift „Erziehungskunst“ paraphrasiert. Henning Kullak-Ublick, der die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Waldorfbundes leitet, schreibt unter anderem:

„Im vergangenen Schuljahr hat es mindestens fünf Vorfälle an deutschen Waldorfschulen gegeben, die es wegen ihrer Nähe zur rechtsextremen oder „reichsbürgerlichen“ Szene in die Presse geschafft haben. Das erfüllt uns mit Sorge und wir möchten Sie daher nachdrücklich bitten, unsere pädagogische und gesellschaftliche Verantwortung nicht im Namen eines vermeintlichen „freien Geisteslebens“ zu konterkarieren, das mit der eigentlichen Bedeutung dieses Begriffes gar nichts, mit Demagogie aber sehr viel zu tun hat. Wenn Sie bezüglich eines Redners unsicher sind, hilft oft schon ein Blick ins Internet. Nicht alles, was man dort findet, stimmt, aber Quellenkritik gehört zu den Basiskompetenzen unserer Zeit – und sollte auch unseren Schülerinnen und Schülern beizeiten vermittelt werden.“

Hier schwingt ein sarkastischer Ton mit, wenn die Waldorfpädagogen etwa darauf hingewiesen werden, dass man sich auch im Internet informieren könne. Das Alarmierende ist, dass dieser Hinweis tatsächlich nötig zu sein scheint. Andreas Molau, inzwischen Aussteiger aus der rechten Szene, konnte etwa rückblickend berichten, wie leicht es war, als NPD-Kader an einer der Schulen unterzukommen: „Dann bin ich zur Waldorfschule gegangen, was nur funktioniert hat, weil die so herrlich hinter dem Mond gelebt haben. Die hatten überhaupt keine Ahnung. Ich bin da einfach hingefahren, habe gesagt, ich habe Deutsch und Geschichte studiert und möchte Lehrer werden und finde Waldorfschulen toll.“ Hinter dem Mond will Kullak-Ublick die Schulen hervorholen: Später im Schreiben wird explizit auf Mängel im Politik- und Wirtschaftsunterricht hingewiesen, der „Bund“ fordert hier Verbesserungen. Konkret an konspirationsideologischen Kontakten benannt werden Kilez More und Ken Jebsen, denen kürzlich die Schülermitverwaltung der Waldorfschule Filstal ein Forum bieten wollte. Dieses Ereignis dürfte auch den unmittelbaren Anlass für das Schreiben dargestellt haben. In dem Brief wird eine wichtige Schnittstelle rechts-anthroposophischer und mode-verschwörungstheoretischer Denkhaltung getroffen: Das „Freie Geistesleben“ Steiners lässt sich platt enthistorisiert als Gegensphäre zur „Lügenpresse“, den „Mainstream-Medien“ mit ihren „US-Lakaien“ und den ganzen anderen politisch simplifizierenden Paranoia deuten. In der Tat hat der „Bund“ derartigem schon vor einigen Monaten eine Absage erteilt, wie auch das Schreiben programmatisch anführt:

„Mit unserer Publikation zu der „Reichsbürger“-Bewegung haben wir vor einem halben Jahr bereits auf die Gefahr von Verschwörungstheorien hingewiesen, die gerade auf junge Menschen oft verführerisch wirken, weil sie einfache Antworten für komplexe Zusammenhänge bereithalten. Verschwörungstheorien leben von Zirkelschlüssen, denen man, wenn man ihnen einmal verfallen ist, nur schwer wieder entkommt. Dass sie oft dem rechten Spektrum angehören, zeigt das ebenso typische wie immer wiederkehrende Beispiel des so genannten „Weltjudentums“, dem über die Kontrolle der Finanzmärkte die heimliche Weltregierung zugeschrieben wird. Von dort bis zum Antisemitismus ist es nicht weit. Es gehört zu unserer pädagogischen Verantwortung, junge Menschen aufzuklären und urteilsfähig zu machen, nicht aber, unsere Schulen zu Plattformen für die Verbreitung solcher Ideologeme zu machen.“

Dem kann man sich weitgehend anschließen, und auch wenn die Verbindung von Antisemitismus und Verschwörungstheorie hier unklar bleibt, weist Kullak-Ublick zutreffend auf den alarmierenden Gleichklang dieser Denkmuster hin. Auf die historische Konvergenz beider Motive im anthroposophischen Umfeld  geht der Brief nicht ein. Waldorf-Kontakte nach rechts erscheinen bloß als Produkte von Desinformiertheit und politischer Verführung (was sie sicher auch sind). Den angeschriebenen LehrerInnen jedenfalls wird eine positive Grundhaltung bescheinigt:

„Beim Verfassen dieses Briefes ist uns wohl bewusst, dass er bei den meisten von Ihnen „Eulen nach Athen“ trägt. Dennoch ist seit einiger Zeit zu beobachten, dass Waldorfschulen eine gewisse Anziehungskraft auf Menschen auszuüben scheinen, die dem rechten oder verschwörungstheoretischen Spektrum angehören. Das erfordert eine gesteigerte Wachheit und klare Begriffsbildung, weil die Grenzen oft fließend, die Protagonisten Sympathieträger und Teilwahrheiten schwerer zu durchschauen sind als offensichtliche Irrtümer oder Lügen. Insofern möchten wir auch am Ende dieses Briefes noch einmal auf die Notwendigkeit eines qualifizierten Gesellschafts- und Wirtschaftsunterrichtes hinweisen, der die Schülerinnen und Schüler befähigt, sich auf der Grundlage belastbarer Kenntnisse bewusst mit der Zeit, in der sie leben, auseinanderzusetzen.“

Dem andernorts beginnenden anthroposophischen Geschichtsbewusstsein (vgl. Die Scheidung der Geister) kann man die ideenpolitische Kehrtwende des „Bundes“ nur bedingt zuschreiben. „Seit einiger Zeit“ ist beispielsweise eine äußert euphemistische Betrachtung – bedenkt man, dass zu den Waldorfeltern erster Stunde Anthroposophen wie der Rassenkundler Richard Karutz gehörten. Letzterer forderte 1923 nach der Ruhrgebietsbesetzung die Abschaffung des Französischunterrichts, Steiner dagegen betonte, die überlebte, hohle Sprache der degenerierten Franzosen werde schon noch von allein verschwinden. Politisches Kontinuum der Anthroposophie – der ihre wechselnden Anbiederungen und Teilverschmelzungen mit Lebensreform, NS, 68ern oder der neuen völkischen Bewegung zu einem guten Teil mitprägt – ist der Hass auf „den Westen“, der von okkulten schwarzmagischen Logen beherrscht wird und für „den Materialismus“ steht, ein jüngeres Beispiel dafür wird unten diskutiert.

Es ist offensichtlich, dass die neue Haltung des Waldorfbundes kaum aus einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte erwächst, sondern in erster Linie eine Reaktion auf die politische Gegenwart darstellt. „Reichsbürger“, Verschwörungsfans, Pegidisten, „besorgte Bürger“ aller Fraktionen sind in der deutschen Öffentlichkeit derzeit stark präsent und werden öfter kritisch thematisiert. Unter diesen Vorzeichen steht auch die waldorfinterne Debatte. Deren Kritiker haben freilich seit den 90er Jahren darauf hingewiesen, dass rechtslastige Neigungen von Waldorflehrern öfter vorkamen. „Lauter Einzelfälle“ nannte Peter Bierl die Einleitung seines Buches „Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister“. In den letzten Jahrzehnten hat der „Bund“ aber anscheinend keine Probleme gesehen.

Trotz der weitgehend fehlenden Aufarbeitung des Nationalsozialismus ist die neue Intention jedoch zweifellos unterstützenswert. Es geht in der Tat um Kinder und Jugendliche, die man vor Unsinn beschützen sollte. Dieses Ansinnen aber fällt fatal auf die Waldorfbewegung zurück, wie Andreas Lichte nach dem Vorfall in Minden kommentiert hat: „‚Rechter‘ Waldorflehrer muss gehen, Rudolf Steiner bleibt“. Lichte weist auf Steiners Rassetheorien hin – wie in allen seinen Artikeln, während die antiamerikanischen und verschwörungshysterischen Ideologeme kaum einmal und niemals mit der Wichtigkeit vorkommen, die sie auch im heutigen anthroposophischen Diskurs (im Gegensatz zu den Rassetheorien) faktisch haben.

„Medusenartige Tabus“, oder: „Ukraine, Israel, ISIS, TTIP“

Obwohl dieses Thema hier in letzter Zeit sehr oft zur Sprache kam, muss man festhalten: Es wird allgemein unterschätzt, welche Bedeutung konspirationstheoretische Motive in der anthroposophischen Geschichte hatten – Von Steiner zu Steffen, von Büchenbacher zu Beuys, von Wachsmuth zur Renate Riemeck usw. usf. In der Zeit des Nationalsozialismus waren auch die Waldorfschulen vielfach mit verschwörungstheoretischen Vorwürfen konfrontiert und reagierten darauf charakteristisch. Ein Beispiel hat die Historikerin Karen Priestman dokumentiert: Ende 1933 hielt ein NSDAP-Mitglied A. Schönthal in Stuttgart einen aggressiven Vortrag gegen die Waldorfschulen (mit den alten Vorwürfen: Nähe zum Marxismus, Steiner sei Jude, Freimaurerei) und bezog sich auf die mächtige Weltverschwörung. Ihm antwortete ein Stuttgarter Waldorflehrer Dr. Emmert aus anthroposophischer Perspektive: “While Emmert conceded that there were dangerous secret societies in existence, he rejected Schonthals claims that the Anthroposophy Society was one of them.” (vgl. Waldorfschulen 1933-1945) Das ist die Ironie der anthroposophischen Politik. Für die Hetze gegen Freimaurer, Jesuiten und Okkultisten stets aufgeschlossen, übernahmen Anthroposophen stets Muster, mit denen zugleich sie selbst diffamiert wurden.

Die anthroposophischen Verschwörungstheoretiker unserer Tage mögen jede Form des Faschismus für dämonisch inspiriert halten, bedienen sich aber nach wie vor politischer Denkmuster, die mit denen völkischer Strömungen unmittelbar korrespondieren. So ist es zwar begrüßenswert, wenn Kullak-Ublick sich für brauchbaren Politik- und Wirtschaftsunterricht ausspricht und schreibt: „Aus gegebenem Anlass möchten wir Sie allerdings mit einiger Sorge darauf hinweisen, dass bei der Einladung von Gästen, die mit den Schülerinnen und Schülern an diesen Themen arbeiten, darauf zu achten ist, dass man sich nicht irgendwelche Verschwörungstheoretiker ins Haus holt – oder Schülern unreflektiert gestattet, dies zu tun.“ Ein Programm der Nicht-Einladung solcher Gäste übersieht, dass die Themen, die im Waldorfumfeld politisch virulent sind (wie Direkte Demokratie oder Bedingungsloses Grundeinkommen), sich auch in der neuen Rechten großer Beliebtheit erfreuen.

Ein best of anthroposophischer Konspirationshysterie bringt in der jüngsten Ausgabe die rechtsanthroposophische Zeitschrift „Der Europäer“ auf den Punkt. Die erscheint im Basler Perseus-Verlag, der namengebende griechische Heros wird im Editorial der jüngsten Ausgabe als „Michaelkämpfer“ gedeutet:

„Im Sinne dieses Motivs versuchen Verlag und Zeitschrift seit mehr als drei Jahrsiebten, in vernunftgeleiteter Art aktuelle Gegenwartsfragen zu behandeln, die oft von einem Wall von irrationalen Emotionen oder medusaartigen Tabus umgeben sind – wie zum Beispiel die Ereignisse des Ersten Weltkriegs, des Nationalsozialismus, der westlichen Machtpolitik oder auch spirituelle Strömungen, die das Fundament der Geisteswissenschaft zu untergraben suchen usw.“

Der erste Weltkrieg wird dabei etwa stets verschwörungstheoretisch verhandelt. Michaels Gegner ist laut Rudolf Steiner Ahriman, dem man alle Grauen der Moderne zuschieben kann, ohne sich irgendeiner Analyse widmen zu müssen.  Ahriman wird sich leibhaftig inkarnieren – natürlich „im Westen“, wie die „Europäer“ nochmal eigens betonen. In der Ankündigung einer Veranstaltung mit Chefredakteur Thomas Meyer auf der „Perseus“-Webseite liest man:

„Ukraine, Israel, ISIS, TTIP, der «Krieg gegen den Terror» – alle diese Kriegs- und Krisenherde sind ohne geistige Gesichtspunkte letztlich nicht durchschaubar. Rudolf Steiners 8 Vortragsäußerungen über die nahende Inkarnation Ahrimans im Westen (GA 191 und 193) bieten den spirituellen Schlüssel zum Verständnis dieser Ereignisse und Entwicklungstendenzen. Die Inkarnation Ahrimans ist das wichtigste spirituelle Ereignis der Gegenwart. Sie vollendet, zusammen mit der Inkarnation Christi und derjenigen von Luzifer die Trinität von Inkarnationen spiritueller Wesen, die nur einmal stattfinden.“

Diese politisch-spirituelle Apokalyptik ist nur die okkultistisch verbrämte Variante jener Einkreisungsphantasien, die in ganz unterschiedlicher Weise auch die neuen Wutbürger-Bewegungen links und rechts zum Ausdruck bringen. Gegen die hier mitschwingende „Ablehnung der bestehenden politischen Strukturen Europas oder der transatlantischen Beziehungen“, richtet sich der Waldorfbund (freilich ohne auf den „Europäer“ zu verweisen). In Kullak-Ublicks Brief wird, zurecht (und wohl mit Blick auf die in Griechenland angerichteten Katastrophen), aber auch die Unverzichtbarkeit von Kritik an der EU betont. Derart tritt der „Bund“ in einen politischen Diskurs ein, der weit von den Spintisierereien der „Europäer“ entfernt ist und die okkulte Geschichtsmetaphysik hinter sich lässt. Insofern hat der zeitgenössische Transformations- und Diffusionsprozess der „anthroposophischen Bewegung“ (der andererseits beispielsweise zum „Reichsbürger“-Problem geführt haben dürfte), pragmatisch betrachtet, auch seine positiven Seiten. Zeit für Entwarnung ist es aber noch lange nicht.

 

17. Juli 2015 at 10:33 am 9 Kommentare

EU und Ukraine: Neues von der angloamerikanischen Weltherrschaft

„Gutmütige Enthusiasten dagegen, Deutschtümler von Blut und Freisinnige von Reflexion, suchen unsere Geschichte der Freiheit jenseits unserer Geschichte in den teutonischen Urwäldern. Wodurch unterscheidet sich aber unsere Freiheitsgeschichte von der Freiheitsgeschichte des Ebers, wenn sie nur in den Wäldern zu finden ist? Zudem ist bekannt: Wie man hineinschreit in den Wald, schallt es heraus aus dem Wald. Also Friede den teutonischen Urwäldern! Krieg den deutschen Zuständen!“
– Karl Marx, Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie

Während die deutsche Berichterstattung um die sog. „Ukraine-Krise“ und Euromaidan-Proteste mit anschließender „Krim-Krise“ und über Putins großrussischen Chauvinismus schon wieder abflaut, nährt sie noch die Sehnsucht heimischer Verschwörungsdenker. Wie immer auch in der anthroposophischen Szene. Einsam steht hier ein Artikel der liberalen Zeitschrift Info3 gegen eine Front, die von rechten Konspirationsnostalgikern wie Willy Lochmann zu Schwätzern wie Michael Mentzel reicht. Deren Feindbilder sind klar: USA, EU und die manipulierten „westlichen Medien“. Ihr Ziel: Ein spirituelles, ungegängeltes „Mitteleuropa zwischen Ost und West“.

Pläne zur "Neugestaltung Europas", erdacht "in den geheimen Zirkeln der englisch sprechenden Welt": Steiners verschwörungstheoretische Phantasien, abgedruckt von Karl Heise, der später Himmler und Rosenberg als Stichwortgeber diente (aus: Heise: Die Entente-Freimaurerei und der Weltkrieg, Basel 1918).

Pläne zur „Neugestaltung Europas“, erdacht „in den geheimen Zirkeln der englisch sprechenden Welt“: Steiners verschwörungstheoretische Phantasien, abgedruckt von Karl Heise, der später Himmler und Rosenberg als Stichwortgeber diente (aus: Heise: Die Entente-Freimaurerei und der Weltkrieg, Basel 1918).

„Themen der Zeit“: Feindbild Westen

Die deutsche Meinung steht: Böse, gleichgeschaltete Medien machen sich über Putin lustig, linke und rechte Blätter entdecken ihre Sympatien für ihn. Rigolf Hennig von der rechtsradikalen „Europäischen Aktion“, erklärt, die ukrainischen Nationalisten seien von „den Zionisten im Gewand der EU“ als „nützliche Idioten“ missbraucht worden. Und weiter: „Wenn das Monster ‚Zionismus‘ über die Ukraine verfügt, dann ist Russland gefährdet und nur noch China steht zwischen ihm und der Weltherrschaft.“ Klar, wem da die Sympathien gelten: „Auch wenn Putin schwer zu durchschauen ist: er hat bislang geopolitisch gute Arbeit geleistet“, so Hennig. Ähnlich mahnt Nick Griffin, Chef der neofaschistischen British National Party, die ukrainischen Genossen, „den US- und EU-Globalisten bei ihrem anhaltenden Krieg gegen die Völker Europas, was selbstverständlich Russland einschließt“, nicht nachzugeben.  Udo Voigts, ehemaliger Vorsitzender und aktueller Europa-Spitzenkandidat der NPD findet, EU und USA „hetzen die Ukrainer gegen die Russen auf und lassen sie am Ende doch im Stich“ (zit. n.  Carsten Hübner)

Natürlich haben die allerwenigsten Anthroposophen Sympathien für die NPD (Steiner war ja in ihren Augen auch der größte Antirassist) und derartiges will ich keinem der im Folgenden Zitierten unterstellen. Bekanntermaßen sind die Meinungen der Mitte den Thesen von rechts aber in der Regel nicht so unähnlich, wie erstere gern glauben möchte. In Anthroposophistan weiß man überdies seit Steiners Zeiten, dass der freie Westen die wahre Gefahr für alle dreigegliederten Mitteleuropäer ist. Michael Mentzel von „Themen der Zeit“ schrieb bereits im März in Erinnerung an Steiners Politikmodell:

„Deutschland und die EU wären gut beraten, endlich die Aufgabe einer echten Mittlerrolle zwischen Ost und West einzunehmen und gleichzeitig darüber nachzudenken, wie die Ideale der Freiheit, der Gleichheit und der Brüder- oder Geschwisterlichkeit endlich einmal Fuß fassen könnten in unserer Gesellschaft. Der aktuelle Konfrontationskurs, den die derzeitige Große Koalition – mit freundlicher Unterstützung der Grünen – in Sachen Ukraine und Krim eingeschlagen hat, wird uns in die falsche Richtung führen. Völlig in den Hintergrund scheinen die Vorgänge um Edward Snowden und die NSA zu geraten. Haben wir eigentlich immer noch nicht bemerkt, dass die Überwachungs- und Kontrollpraktiken der westlichen Geheimdienste längst unser aller Leben im Blick hat? Stattdessen schaudert Otto-Normalbürger immer noch vor „dem Leben der Anderen“ (Ein Film, der die Praktiken der Stasi-Ost zum Thema hatte) und bei dem Hinweis auf die KGB-Vergangenheit Putins gerät er gleich vollends aus dem Häuschen und sieht sich schon in Sibirien erfrieren und verhungern. Wer die Berichterstattung während der Olympiade einigermaßen aufmerksam verfolgt hat, wird wissen, was hier gemeint ist.“

Da der finstere Westen in Mentzels Augen Sowjetunion und Stasi-Terror also längst an Boshaftigkeit überholt hat, solle die deutsche Regierung sich lieber als „Mittlerin“ erweisen und den großrussischen Chauvinismus gleichberechtigt berücksichtigen. Mentzel hat, wie die zitierten Zeilen vermuten lassen, viel Verständnis für Putin übrig, die russische Annexion der Krim hält er für demokratisch legitimiert, ebenso Janukowitsch, keineswegs jedoch die Euromaidan-Revolutionäre. Dass diese erst auf ihre Kriminalisierung durch Janukowitsch militant wurden, ja der ganze Hergang der Ereignisse wird nicht näher erläutert. Was Mentzel wirklich interessiert, zeigt der im Artikel kontextlos eingeführte Edward Snowden: Die „westlichen Geheimdienste“. KGB-Putin ist Mentzel anscheinend die sympathischere Option, obwohl er dessen „Politik des Stärkeren“ immerhin ein bisschen unheimlich findet. Doch Putin sei höchstens genauso schlimm wie die USA:

„Einhundert Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs steht die Welt wieder einmal vor dem Scherbenhaufen einer ideenlosen Gesellschaft, in der das so genannte Recht des Stärkeren fröhliche Urstände feiert. Und es ist beileibe nicht nur Wladimir Putin, der diesem „Recht“ durch sein derzeitiges politisches Handeln Ausdruck verleiht. Die geopolitischen Interessen der USA und seiner westlichen Verbündeten sorgen für einen Ausgleich in diesem Spiel, in dem sich – seit dem Ende des Kalten Krieges – die ehemals klar erkennbaren Trennlinien in andere Sphären verlagern, die Akteure in diesem Spiel unterhalb der allgemeinen und öffentlichen Wahrnehmungsschwelle agieren und ein wahrhaft gefährliches Spiel treiben.“

Natürlich war der ukrainische Versuch, Russisch als Zweitsprache in Landesteilen mit überwiegend russisch sprechender Bevölkerung zu vebieten, sicher nicht der klügste. Natürlich darf man bezweifeln, dass eine Integration der Ukraine in die EU bei gleichzeitigen Problemen mit Gaslieferungen von russischer Seite den einzelnen Landesbürgern mittelfristig viel helfen wird. Natürlich kann man allerlei an der EU aussetzen. Aber die Ukraine ist für Mentzel von minderer Bedeutung. Der echauffiert sich vielmehr über Deutschlands und der EU Versuch, sich politisch an die USA zu halten, über Auslandseinsätze der Bundeswehr und die unterkühlte diplomatische Beziehung mit Russland. „Mitteleuropa zwischen Ost und West“ – das schwebte schon Steiner als ideale politische Konstellation vor. Am deutschen Wesen muss die Welt genesen, das dafür vor allem eines nicht darf: sich mit dem hinterlistigen „Angloamerikanertum“ verbünden. Steiner:

„Damit soll nicht gesagt werden, daß Mitteleuropa nicht im Sinne einer inneren politischen Gestaltung eine Fortentwickelung erfahren solle, allein eine solche darf nicht die Nachahmung des westeuropäischen sogenannten Demokratismus sein, sondern sie muß gerade dasjenige bringen, was dieser Demokratismus in Mitteleuropa wegen dessen besonderer Verhältnisse verhindern würde. Dieser sogenannte Demokratismus ist nämlich nur dazu geeignet, die Menschen Mitteleuropas zu einem Teile der englisch-amerikanischen Weltherrschaft zu machen, und würde man sich dazu auch noch auf die sogenannte zwischenstaatliche Organisation der gegenwärtigen Internationalisten einlassen, dann hatte man die schöne Aussicht, als Mitteleuropäer innerhalb dieser zwischenstaatlichen Organisation stets überstimmt zu werden.“ (Rudolf Steiner: Memorandum vom Juli 1917, GA 24, 350)

„Das Deutschtum“, da war Steiner sicher, „kann für England-Amerika nur so behandelt werden, dass es als kleinstes Hindernis für dieses wirkt. Daher kann das Deutschtum sich nur retten, wenn es erkennt, was ihm droht und sich darauf einrichtet, durch Harmonisierung seiner Interessen mit denen der slawischen Welt.“ (GA 173c, 269) Mentzel ist sicher kein Antidemokrat, vielleicht eher ein Verfechter der anthroposophischerseits inzwischen favorisierten „Direkten Demokratie“. Aber die Angst vor der „englisch-amerikanischen Weltherrschaft“ (Steiner) und ihrer selbstverständlich dekadenten, materialistischen Kultur teilt er offenbar, wenn er schreibt:

„Garniert wird das alles mit einem kaum definierbaren Freiheitsgeschwurbel. den „Segnungen“ des Infotainment und einer damit eng kooperierenden schier allmächtigen Unterhaltungsindustrie, die dafür sorgt, dass Ruhe herrscht im Karton. Die Ruhe aber ist trügerisch, denn es brodelt ganz schön unter der Schminke, mit der die Probleme in unserem Land – nur notdürftig – überdeckt werden. Werden wir demnächst mit dem Hinweis auf eine – natürlich durch Russland – gefährdete Energieversorgung, die dann auch die Konjunktur gefährdet, wieder über verlängerte Laufzeiten der AKW reden? Oder über das Fracking, dass ja in den USA so „erfolgreich“ angewendet wird? Braucht es tatsächlich noch die Bilderberger oder gar den eher nach rechtsgeschwenkten Kopp-Verlag, um festzustellen, dass hier Entwicklungen im Gange sind, deren Folgen kaum abzusehen sind?“

Mentzel ist scheinbar nicht allzu wohl dabei, auf Bilderberger und Kopp hinzuweisen. Aber er realisiert zurecht, dass man seine Einschätzung der Zeitlage eher dort teilen würde als anderswo. Zwar hat man der russischen Schwulen- und Lesbenfeindlichkeit und anderen Grausamkeiten der dortigen Politik bei „Themen der Zeit“ keine Zeile gewidmet und auch kein Wort darüber verloren, warum die Ukrainischen Protestler sich eher der EU als dem russischen Imperialismus zuwandten, dem sie nichts zu verdanken hatten. Nun aber übernimmt Mentzels Seite einen Artikel des Soziologen Arno Klönne, der unter anderem schreibt:

„Völlig außer Kontrolle ist die Entwicklung in der Ukraine geraten. Aus der geplanten ‚zivilgesellschaftlichen‘ Übernahme des Terrains ist nichts geworden, das Land mit seinen Turbulenzen wird nun zu einer kostspieligen Last, der neue Kalte Krieg bringt nachhaltige Beschädigungen deutscher Wirtschaftsinteressen hervor. Lästig ist auch, dass in der deutschen Medienwelt die Aggressionen gegen den „Brandstifter Putin“ sich verselbständigen; so militant hat die regierende Koalition das nicht gewünscht. Die Mehrheit der Deutschen aber findet solcherart Russophobie unsinnig, Zweifel an der Steuerungsfähigkeit der eigenen Regierung kommen auf.“

Thomas Meyer und Willy Lochmann: „Das eigentliche Fernziel der EU“

In der Basler Zeitschrift „Der Europäer“ hält man sich zwar für antinationalistisch, teilt aber die Feinde der extremen Rechten und der antiimperialistischen Linken. Während „Themen der Zeit“ sich mit modisch-antiwestlichem Ressentiment begnügt, werden im „Europäer“ die widerlichen esoterischen Hintergrundüberzeugungen sichtbar. Im Editorial der April/Mai-Ausgabe 2014 schreibt „Europäer“-Chefredakteur Thomas Meyer wieder einmal über die gerade erschienene erste historisch-kritische Steiner-Ausgabe, die er für eine Verschwörung der Mormonen hält. Im selben Text geht es auch um die sog. Ukraine-Krise – wirkt zusammenhanglos, ist es aber nicht. Das Schlüsselwort heißt wieder „Angloamerikanertum“ und hinter diesem stehen geheime, verschworene okkulte Zirkel. Die stehen hinter allem Ausdenkbaren: Wissenschaftlichen Büchern über Rudolf Steiner, hinter dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, der EU, den demokratischen Kräften in der Ukraine – und den USA ja ohnehin. Meyer zitiert natürlich keine rechte Quelle, um seine abstrusen Theoreme zu belegen, dafür aber die links-antisemitische Tageszeitung Junge Welt. Wie Udo Voigts und letzteres Schmierblatt sieht er den Weltfrieden durch die hinterhältige westliche Zuwendung zur Ukraine in Gefahr. Hinter den Euromaidan-Protesten sieht er dagegen freilich nichts als die nun ebenfalls an die Macht gekommenen ukrainischen Faschisten.

„Im November 2013 hatte der abgesetzte ukrainische Präsident Janukowitsch ein Assoziierungs-Abkommen mit der EU auf’s Eis gelegt – Auftakt zu den von einem Profiboxer mitgeleiteten Unruhen. Besonders besorgniserregend: die Mitwirkung neo-nazistischer Kräfte beim Kiewer Staatsstreich. Die Einseitigkeit westlicher Berichterstattung ist phänomenal. Die argentinische Schriftstellerin Stella Calloni schrieb am 24. Februar in der Tageszeitung Junge Welt über den Kiewer Putsch: ‚Die jüdische Bevölkerung in der Ukraine muss um ihre Sicherheit und Unversehrtheit fürchten, und ausgerechnet in Deutschland wird der Grund dafür bejubelt. Außerdem sehen viele nicht, dass die aggressive NATO-Politik den Weg für den Dritten Weltkrieg bereitet (…) Die Kette Irak, Libyen, Syrien und jetzt Ukraine führt geradewegs dahin. Die USA und Europa stecken in einer tiefen Krise, das macht sie so gefährlich (…) In Deutschland und Europa sind die Menschen nicht richtig informiert und sich auch nicht darüber im Klaren, dass ihre Regierungen zwar überall Sprengsätze legen, die Zünder dafür aber andere in der Hand halten.'“

Endlich einmal wieder echte „Faschisten“ ausmachen und sie dann noch vermeintlich den USA anlasten zu können, überdies im Zitat einer echten „Tageszeitung“ auch noch den Hinweis auf einen Dritten Weltkrieg dank NAZO zu finden – darauf muss man beim „Europäer“ lange gewartet haben. Und für alle, die den Wink mit dem Zaunpfahl noch nicht verstanden haben, steuert Meyer auch gleich noch bei, dass die angloamerikanischen Dunkelmänner hinter allem stecken:

„‚Tonangebend ist eine Gruppe von Menschen, welche die Erde beherrschen wollen mit dem Mittel beweglicher kapitalistischer Wirtschaftsimpulse‘, so konstatierte bereits Rudolf Steiner nach dem Ersten Weltkrieg in einer erstmals im Europäer veröffentlichten Notiz.“

Diese „Notiz“ liest sich weiter so:

„Hinter der Politik der englischsprachigen Völker steht als fester Plan die allmähliche Beherrschung der Welt durch diese Völker … Für diesen Plan wird die Elite der englischsprachigen Völker in den geistigen Gemeinschaften erzogen, die hinter dem sichtbaren Geistes- und Kulturleben der englischsprachigen Völker stehen und von denen das Sichtbare nur der äußere Ausdruck ist.“ (GA 173c, 268f.)

Das zitiert Meyer zwar nicht, hält es aber zweifellos für richtig und formuliert seine eigene, ‚zeitgenössische‘ Version zur „Errichtung einer Welt-Herrschaft unter anglo-amerikanischer Führung“:

„Vergessen wir niemals das eigentliche Fernziel der EU, wie es einmal Winston Churchill für die Vereinigten Staaten von Europa vorgesehen hatte: die Errichtung einer Welt-Herrschaft unter anglo-amerikanischer Führung. Churchill machte unmissverständlich klar: ‚Ohne ein vereintes Europa gibt es keine sichere Aufsicht auf eine Welt-Regierung.‘ (London 14. Mai 1947)* In dieses Europa sollte seit geraumer Zeit auch die Ukraine mehr und mehr eingebunden werden. Das ging nicht so glatt von statten, wie erwartet. Die Aktivierung legal stationierter russischer Truppenteile auf der Krim wurde zur ‚Invasion‘ aufgebläht und Russland mit Sanktionen gedroht, denn es habe in eklatanter Weise Völkerrecht gebrochen, – eine unüberbietbare Heuchelei, wenn die Vorwürfe von Seiten der seit bald einem Jahrhundert global agierenden Invasions-Macht USA erhoben werden.“

USA und EU, aber letztere nur als verlängerter Arm der ersteren, sind für Meyer und Konsorten durchweg böse. Hier zeigt sich einmal mehr der explizite Hass auf Demokratie und Rechtsstaat, für die brave Deutsche die Alliierten nach zwei Weltkriegen zu verachten gelernt haben. A priori steht auch fest, welche Verbündeten gegen die westliche Welt man beim „Europäer“ wie in links- und rechtsradikalen Kreisen schätzt: Russland. Natürlich hat die erbarmungslose staatliche Homophobie und Putins autoritäre Politik auch im „Europäer“ bisher keine Ächtung gefunden. Aber so richtig empfehlenswert wird Russland dann doch erst, wenn es auf Konfrontationskurs mit dem verhassten Westen geht: In einer älteren Notiz hatte „Der Europäer“ empfohlen, zum Krimreferendum könne man sich auf russischen Kanälen besser informieren als in westlichen Medien.

Ähnlich sieht das der Anthroposoph Willy Lochmann. In einer 5-seitigen Ausgabe seines obskuren Online-„Rundbriefs“ schreibt er etwa:

„Die Feinde der menschlichen Zivilisation sind unentwegt aktiv, eine „Baustelle“ nach der anderen wird „aufgearbeitet“. Nun ist die Reihe an der Ukraine, nachdem die „Umtriebe“ in Syrien, trotz der üblichen gigantischen Propaganda-Walze, im Gegensatz zu Libyen, nicht zur völligen Zufriedenheit verlaufen sind. Die geopolitische „Denkfabrik“ (Think Tank) Zbigniew Brzeziński beschreibt  welchem Zweck die „demokratische“ Umwandlung der Ukraine in eine Ganovenrepublik dienen könnte. Die uns im Westen servierten Berichte über die verworrenen Verhältnisse waren nie dazu angetan, uns die Probleme und Unruhen wirklich verständlich zu machen – im Gegenteil…“

Und so geht es seitenlang, großenteils in Zitaten weiter. Lochmann bekundet neben vielem anderen seine Sympathie für Putin und lässt dabei den Kopp-Verlag sowie den anthroposophischen Holocaustleugner Gennadij Bondarew zu Wort kommen.

Info3: Kritik auf einsamem Posten

Dass die anthroposophischen Positionen so sehr an rechte Sympathien und Feindschaften erinnern, sollte nicht von einem wesentlichen Detail ablenken. Es sind, sieht man vielleicht von Lochmann ab, weit eher die salonfähigeren Amerikahasser aus der antiimperialistischen Linken, die in Anthroposophistan zitabel sind. Und es ist keineswegs nur eine pseudomarxistische linke Splittergruppe, die in dieser Weise zur Solidarität mit dem russischen Chauvinismus aufruft. Beides hat kenntnisreich Jens Heisterkamp in der aufgeklärtesten anthroposophischen Zeitschrift, Info3, herausgearbeitet:

„Im politischen Diskurs steht solchen Ambitionen eine erstaunliche Bereitschaft an Verständnis gegenüber: Ob Gregor Gysi, Gerhard Schröder, Egon Bahr, Peter Gauweiler, Antje Vollmer oder Alice Schwarzer: Der Wille, ja nicht einer „Polarisierung“ das Wort zu reden und auf Russland „Rücksicht zu nehmen“, ist parteiübergreifend verbreitet. Noch eifriger sind verschwörungstheoretische Netzwerke dabei, wenn es darum geht, die machtpolitischen Interessen Russland zu relativieren. Sie treffen sich oft in einer auch von der Eurasien-Philosophie propagierten Ablehnung der modernen individualistischen Lebenshaltung, die manche als faschistisch einstufen. Das ganze Ukraine-Szenario, so kann man hier hören, sei eigentlich von den USA angelegt, um Russland schlecht aussehen zu lassen und ihm in der Folge den Zugang zum Weltmarkt zu verbauen. Russlands Landgier sei vom Westen geschürt, es laufe in eine „Falle“. – Abgesehen davon, dass diese Lesart sämtliche vorangegangenen Dialog-Gesten des Westens (bis hin zum Angebot einer russischen Nato-Mitgliedschaft) negiert, ist hier die Denkfigur bemerkenswert, wonach jedwedes tyrannische Verhalten auf dieser Welt entweder weniger schlimm ist als das der Amerikaner oder im Zweifelsfall sogar „eigentlich“ von ihnen angezettelt sei. Das ist gerade auch in Deutschland erstaunlich: Denn für viele, die in den 30er Jahren auf Hitler hereingefallen sind, waren auch damals die eigentlich „Bösen“ diffuse „Schattenbrüder“, die man dem Westen zuordnete und es ging für die gutbürgerlichen Intellektuellen nicht an, sich auf „eine der bösen Seiten“ zu stellen. Auch die Deutung des Ersten Weltkriegs folgt in manchen, auch anthroposophischen Kreisen bis heute dieser Lesart, wonach Deutschland durch „englischsprachige Zirkel“ seinem wahren Wesen entfremdet und zu Großmachtgebaren verführt wurde.

Solche schlafwandlerischen Ausfälle gehören zum Schmerzlichen dieser Tage: dass man dort, wo man wenigstens einen freien Blick auf die Dinge haben könnte, zum Opfer der eigenen Gescheitheit wird und beginnt, offensichtliche Gewalt schönzureden. „Wenn wir uns für Europa einsetzen, geht es dabei auch um unsere Souveränität. Um die Menschenrechte und um die Freiheit. Das sind nicht nur schöne Worte, das ist die nackte Wahrheit“, sagte kürzlich der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch auf einer Veranstaltung der Böll-Stiftung in Berlin. Wird hierzulande im entscheidenden Moment die Idee von Freiheit und die Solidarität mit denen, die dafür kämpfen, aufgegeben – mit den besten alternativen, friedensbewegten oder auch spirituellen Absichten?“

8. April 2014 at 9:08 pm 5 Kommentare

Willy, Thomas und der Wolf im Schafspelz

„Um einer wachsenden, den eigenen Absichten gefährlich scheinenden geistigen Bewegung den Garaus zu machen, verbanden sich die sonst sich gegenseitig befehdenden Parteien. Alldeutsche, Katholiken, protestantische Pastoren, Kommunisten und Vertreter der Wissenschaft waren in diesem Bestreben einig. Und die finanzmächtigen und pressegewaltigen jüdischen Kreise taten alles, um durch Hetzartikel den Vernichtungswillen der Feinde zu stützen und zu schüren.“
Marie Steiner 1944 über die „Gegner“ der Anthroposophie

Der Angreifer hat viele Namen und Gesichter. Juden, Katholiken, Protestanten, Alldeutsche, Kommunisten, Wissenschaftler – und neuerdings: Mormonen. Eine Hand voll anthroposophischer Konspirationstheoretiker versucht erfolglos, eine historisch-kritische Edition der Hauptwerke Rudolf Steiners zu desavourieren. Da sachliche Argumente nicht zu finden sind,  muss die ganze Galerie anthroposophischer Ur-Feindbilder herhalten (vom Antisemitismus lässt man sorgsam die Finger). Steiner historisch-kritisch zu edieren, sei Einfluss der erzdämonischen „Wesenheit Ahriman“, die „die Geisteswissenschaft“ attackieren wolle, findet etwa Thomas Meyer, Chefredakteur von „Der Europäer“. Solche dummdreisten Diffamierungsversuche stehen natürlich in alter Tradition, die Frage ist, wie weit die (über Clement mehrheitlich erfreuten) anthroposophischen Medien dem derzeit entwachsen.

„Feuer und Flamme“

„Dass von anthroposophischer Seite hilfsbereit und begeistert darauf reagiert wird, wie das schriftliche Werk eines Mannes, dessen Goetheanum schon mal von Gegnern abgebrannt wurde, dessen Werk also ohne jeden Zweifel wachsamen Schutz braucht, in den Händen unverbindlicher Menschen liegt, mutet eigenartig, weltfremd und gar skurril an. Es braucht Menschen, die in Feuer und Flamme stehen für die Anthroposophie und dessen [!] Schöpfer, die offen zu diesem Werk stehen, und die sich keine überlebten wissenschaftlichen Maßstäbe auferlegen lassen.“

Alles klar? Wir sind einmal mehr zurück im tiefsten Akasha-Dschungel, der Autor der zitierten Zeilen heißt Arnold Sandhaus und Objekt seines Hasses ist die sog. „SKA“, die erste historisch-kritische Ausgabe von Rudolf Steiners Werken. Dass bei einer so grässlichen Sache wie einer Steinerausgabe, in der die Textüberarbeitungen ihres Autoren kenntlich gemacht sind, niemand an den Brandanschlag auf’s „Erste Goetheanum“ denkt, findet Sandhaus „eigenartig, weltfremd und gar skurril“. Denn nichts Besseres haben auch die „unverbindlichen Menschen“ als „Gegner“ zweifellos im Sinn. Makabererweise will unser kosmischer Feuermelder statt Gebäuden lieber eine anthroposophische Gesinnung „in Feuer und Flamme“ haben.

Was zuvor geschah

Das Sakrileg: Die „SKA“ wird sukzessive Steiners Hauptwerke nach wissenschaftlichen Standards herausgeben. Im ersten Band hat Herausgeber Christian Clement die Textveränderungen in verschiedenen Auflagen nachgewiesen. Überdies hat er hunderte Quellen Steiners aufgetan – und gezeigt, welcher Vorstellungen der Esoteriker sich für seine Interpretation der christlichen Mystik bediente. Quellenarbeit, wie sie jede historisch-kritische Edition erfordert. Dass dabei die Sprünge in Steiners Argumentation, die zeitgenössischen Wurzeln vieler seiner Vorstellungen, die Ungenauigkeit vieler seiner Recherchen zum Vorschein kommt, sollte niemanden überraschen. Steiner selbst betonte in einem Brief, er habe das unter den Begriffen „Mystik“ oder „Christentum“ Behandelte absichtlich nicht im historisch üblichen Sinne verwendet, sondern damit eigene Konzepte verschlagwortet:

„Mein «Christentum» nehmen Sie bitte für nicht mehr, als es sein will. Ich kenne seine Fehler, namentlich die historischen, ganz genau. Der Zusatz «als mystische Tatsache» will ganz ernst genommen werden. Und ich wollte mir den Eindruck nicht dadurch verderben, daß ich an gewissen Punkten auf andere, zum Beispiel auf Strauß hinwies. Ich lege den Wert auf die Erkenntnis-Gesinnung, die ich zum Ausdruck bringe.“ (GA 39, 422)

Clements interpretativer Trick besteht denn auch darin, Steiners „ideogenetische“ „Erkenntnis-Gesinnung“ den Kontingenzen seiner philologisch-historischen Arbeit gegenüberzustellen. Es sei Steiner um die Illustration seiner eigenen Einstellung gegangen, nicht um eine geistesgeschichtlich korrekte Abhandlung zur Mystik. Wie weit das schon die Grundbotschaft Steiners gewesen ist, wäre allerdings zu diskutieren. (vgl. zu Clements Thesen auch Helmut Zander: Zeitwende)

Juden, Jesuiten, Freimaurer und – Mormonen!

Die großen anthroposophischen Zeitschriften reagierten erfreut: In „Info3“, „Die Drei“ und „Das Goetheanum“ lobten Jens Heisterkamp, David Marc Hoffmann und Johannes Kiersch Clements Steiner-Deutung und seine philologische Arbeit. Sogar mein besonderer Freund Lorenzo Ravagli war glücklich. Hoffmann, Nietzsche-Experte, ehemaliger Leiter des Basler Schwabe-Verlags und gegenwärtiger des Rudolf Steiner-Archivs, gefiel Clements Steinerdeutung so gut, dass er den Steiner-Verlag zur Kooperation mit dem fromann-holzboog-Verlag aufforderte, der die „SKA“ druckt. Das Kooperationsprojekt kam zustande. Ein Aufschrei über diesen „Verrat“ des Steinerverlags ging durch’s fundamentalistisch-anthroposophische Lager. Wilfried Hammacher fühlte sich sogar bemüßigt, das frommann-holzboog in einem mehrseitigen Brief mitzuteilen. Clement pflege einen „aggressiven Ton“ und „pharisäische Verdrehungen“, mache Steiners Werk zum „Kriminalroman“ usw. usf.

Die positiven Stimmen werden (kaum qualitativ, sehr wohl aber quantitativ) von einem lautstarken Splitter der Steiner-Anhänger übertönt, der die Anthroposophie als letzte Insel des Lichts in einer „angloamerikanisch“-freimaurerischen Weltverschwörung sieht. Freilich, solche Verschwörungstheorien sind unter vielen Anthroposophen noch mehrheitsfähig (vgl. Anthroposophischer Geschichtsrevisionismus). Sie auf einen Steiner so geneigten Forscher wie Clement anzuwenden, blieb jedoch dem rechten Rand der heutigen Anthroposophie vorbehalten. Zwei Umstände dienen als Grundgerüst der kunstvollen Kampagne: 1. Clement arbeitet an der mormonischen „Brigham Young University“, 2. der Steiner-Verlag unterstützt und fördert das Editionsprojekt. Willy Lochmann, der in Kooperation mit Ravagli schon dem anthroposophischen Shoa-Banalisierer Gennadij Bondarew ein Forum verschafft hat, zog daraus den Schluss:

„Wer mit der Anthroposophie Rudolf Steiners vertraut ist, der weiss, dass es neben den Jesuiten vor allem die Freimaurer sind, die ausschliesslich deren Zerstörung mitsamt dem Ansehen Rudolf Steiners beabsichtigen. Und dazu ist ihnen jedes Mittel und auch jede Allianz recht. Im Moment sind es die Mormonen, die ihren Assistant-Professor Christian Clement dafür finanzieren, dass er eine sog. „Kritische Textausgabe“ Rudolf Steiners herausgeben kann … Doch es ist dies nur ein taktisches Verwirrspiel … Er betäubt uns, damit wir sein Machwerk nicht durchschauen. Und er wird solche Unterstellungen selbstverständlich wieder als „paranoide Phantasien“ brandmarken … Clement ist natürlich ein Wolf im Schafspelz … [der sich] als ein „Verständiger“ darzustellen versucht, als einer, der sich in die Gedankenwelt der Anthroposophie eingearbeitet hätte. … Er betäubt uns, damit wir sein Machwerk nicht durchschauen.“

Pietro Archiati hat gar ein Buch über Clements „Willen zur Vernichtung der Anthroposophie“ geschrieben.

Aus der fabelhaften Welt des Thomas Meyer

Thomas Meyer vom „Europäer“ konstatierte dann auch noch Bezüge zum weltpolitischen Zeitgeschehen. Im Oktober war das für ihn der syrische Diktator Assad, der gegen die bösen machthungrigen Amerikaner (die selbstverständlich in Wirklichkeit von schwarzmagischen Geheimlogen regiert werden) beschützt werden musste. Klar, dass auch 9/11 (natürlich von der hinterlistigen Bush-Regierung inszeniert) irgendwie eine Rolle spielt. Meyer:

Das Kesseltreiben gegen Assad schaukelt nach wie vor um einen gefährlichen Höhepunkt herum, an dem eine reale Kriegsgefahr besteht. Atomsprengköpfe wurden für den Ernstfall in aller Heimlichkeit von Texas an die Ostküste verlegt. Wenn auch Präsident Obama die Kongress-Abstimmung über eine Militärintervention in seiner Rede an die Nation vom 10. September verschob und der diplomatischen Lösung den Vorzug geben wollte – das mit Lügen angefüllte Pulverfass Syrien bleibt explosiv: Die fortwährenden Behauptungen von Assads «mutmaßlichen» Giftgas-Einsätzen erinnern an die mutmaßlichen «Massenvernichtungswaffen» von Saddam Hussein, deren angebliche Existenz sich als verlogener Kriegsvorwand herausstellte …“

Für Meyer war es sachlich offenbar naheliegend, einen Absatz später zu Christian Clement und zur „SKA“ überzugehen. Der Umstand, dass Clement Professor an der Brigham Young University ist, hat auch bei Meyer Phantasien über den Zugriff „der Mormonen“ ausgelöst. Diese ohne jede Begründung (die ja auch nicht existiert) zuzugestehen, besitzt auch er die Chuzpe.

„Wir hatten zu Clement und seinen Aktivitäten bereits im Editorial vom Juli 2012 – zur Zeit der Präsidentschafts-Kandidatur des Mormonen Mitt Romney – berichtet. Wir schlossen das damalige Editorial mit einer durchaus berechtigten Frage: «Anthroposophie und Mormonentum? Eine (…) sich anbahnende neue Allianz? Sie würde jene von Kirche und ‹Anthroposophie› noch in den Schatten stellen.»

Denn ja: „Die Kirche“ ist ebenfalls nicht anthroposophisch und außerordentlich böse, überhaupt muss man ja auch immer wieder mit den fiesen Jesuiten rechnen. Aber Clement besaß auch noch die Frechheit, dieser „durchaus berechtigten Frage“ zu widersprechen. Meyer weiter:

Diese Bemerkung hat Clement jüngst auf Facebook folgendermaßen kommentiert: «Für Freunde von Verschwörungstheorien: nachdem zuerst Thomas Meyer öffentlich die kritische Steiner-Edition als Zeichen einer ‹unheiligen Allianz› zwischen Dornach und Salt Lake City gedeutet hat http://www.perseus.ch/archive/3021, hat sich nun auch Willy Lochmann angeschlossen und überbietet Meyer noch an Detailreichtum seiner paranoiden Phantasien (…)» … Dass sich der neue kritische Steiner-Herausgeber mit der Universalphrase «Verschwörungstheorien» in solcher Art als Verunglimpfer von Leuten betätigt (inkl. des Autors Wood des abgebildeten Buches!), die ihrerseits kritische Fragen stellen, ist, gelinde gesagt, erstaunlich. … Freunde der Geisteswissenschaft Steiners, die sich für deren sachgemäße Ausbreitung in der Welt mitverantwortlich fühlen, sollten sich die sich hier anbahnenden «pro-anthroposophischen Allianzen», die Steiners Werk historisieren, psychologisieren und «kontextualisieren», genau ansehen, bevor sie sie als unbedingten Fortschritt preisen. Nicht nur Kerry’s und Obamas Phrasen gegenüber, auch solchen neueren publizistischen Entwicklungen gegenüber tut geistige Wachheit und Klarheit not. Die Frage ist: Wes Geistes Kind sind sie?“

Was nicht sein darf, kann nicht sein

Auch diese Frage beantwortet Meyer sich selbst. Denn der einmal aufgekommene Verdacht wird von Clement niemals ausgeräumt werden, Verschwörungstheorie ist ja auch nur so eine „Universalphrase“. Thomas Meyer ist nicht nur Ankläger, sondern zugleich auch Richter der geistigen Welt. Den seiner Meinung nach „vielleicht bedeutendsten Schüler Steiners im Westen“, D. N. Dunlop, zitierend, erklärt er jüngst, welcher (Un-)Geist hinter der „SKA“ steckt: Ahriman, der neurotisch-materialistische Finsternis-Dämon in Steiners Geisterkabinett. Der, so Dunlop, wird „stärker werden und einen noch hinterhältigeren Charakter annehmen“ … und, wie es scheint, schließlich die hinterhältige Philologie ausbrüten, zum Ende aller esoterisch-christlichen Clairvoyance. Keiner von Clements anthroposophischen Möchtegernkritikern hat auch nur einen relevanten Fehler in dessen Arbeit gefunden. Ein Grund mehr, dem bösartigen Mormonenspitzel die wissenschaftliche (erst recht „geisteswissenschaftliche“) Befähigung schonmal vorsorglich abzusprechen. 

Clement hatte darauf hingewiesen, dass dem Realschüler, Naturwissenschaftsstudenten und späteren Herausgeber, Archivar und Journalisten Steiner das „nötige philologische Rüstzeug“ fehlte, um „sich auf dem Felde klassischer, hellenistischer, mittel-alterlicher und frühneuzeitlicher Literatur“ (SKA V, S. XXXI) in dem Maße umzutun, dass er sein „Christentum als mystische Thatsache“ auf Originalquellen hätte aufbauen können. Meyer widerspricht allen ernstes mit dem Hinweis darauf, dass Steiner in seiner Autobiographie erwähnt, er habe nach autodidaktischem Lernen Latein- und Griechischnachhilfe gegeben. Dass Meyer 1. die Qualifikation eines Hauslehrers und Studienabbrechers mit einer philologisch-religionsgeschichtlichen für identisch hält und diesen einzigen (auch noch auf einem Missverständnis seinerseits beruhenden) „Fehler“ 2. zum Anlass nimmt, Clements gesamtem Werk die Wissenschaftlichkeit abzusprechen, ist charakteristisch für die Argumentationen im „Europäer“ wie das Verschwörungsdenken Marie Steiners. Wer braucht schon Beweise, wenn er die „wahre“ Natur der mit Nettigkeit getarnten „Feinde“ kennt.

Dass Clement Steiner hunderte von freien Paraphrasen, Übernahmen und Plagiaten nachweist und vielmehr noch erklärt, warum dies seiner Originalität nicht schade, wird weder kritisiert noch honoriert – sein beschönigendes Fazit „Saubere Quellenarbeit, Methodenschärfe und sachliche Distanz zum Gegenstand… waren Steiners Sache nicht“ halten die orthodoxen Anthroposophen für „Vorurteile“, Unterstellungen und „Gegnerschaft“. Was nicht sein darf, kann nicht sein. Lieber den Überbringer der Botschaft ohne Gründe diffamieren, als sich mit Steiner zu beschäftigen.

Rotkäppchen, der Wolf und die Erreger

Dass Meyer, Sandhaus, Lochmann, Pietro Archiati, Irene Diet, Marcel Frei usw. den von ihnen über Clement verbreiteten Unsinn wirklich für die Realität halten, ist vielleicht schwer zu glauben. Zu beachten ist allerdings, dass „Der Europäer“ seit vielen Jahrgängen zu einem großen Teil mit „angloamerikanischen“ finsteren Plänen vom Ersten Weltkrieg zu 9/11 und „dem kosmopolitischen wahren deutschen Geist“ beschäftigt ist. Meyers Behauptungen zur „SKA“ wenden den Gehalt der sonstigen Artikel nur auf einen neuen Gegenstand an. Dass Thomas Meyer sich jedoch mit etwas so Garstigem wie dem unqualifizierten Mormonenfreimaurerjesuitenahrimanamerikaner Clement überhaupt beschäftigen muss, hält offenbar mancher Stammleser trotzdem für eine große Zumutung (hier zu den Leserbriefen). Ein „Dr. med Olaf Koob“ schrieb in einem dreispaltigen „Europäer“-Leserbrief:

„Ich wünsche Thomas Meyer, dass er sich nicht zu sehr von den Lügen und Verdrehungen fesseln lässt und so andere Aufgaben vernachlässigt. Aber es ist gut, dass dies oben Genannte einmal im Europäer klar gestellt wurde und schon Kafka meinte treffsicher: ‚Einer muss wachen…'“

Der Dr. med hat natürlich auch eine Erklärung dafür, wie es Clements in jeder Hinsicht affirmativer Steinerdeutung gelingt, trotzdem perfideste Perfidie zu sein:

„…wie der Wolf im Rotkäppchen mit einer Stimme spricht, die der Großmutter ähnelt – um die innerste Substanz der Anthroposophie und Rudolf Steiner selber zu diskriminieren und zu zersetzen … Erreger können nur dann in einen Organismus eindringen und ihn zerstören, wenn sie sich tarnen, um das ohnehin schon geschwächte Immunsystem zu umgehen…“

Und Leser Alois Ratzlin schreibt:

„Christian Clements Kritische Ausgabe ist ein Symbol, das Symbol einer Krankheit. Fein, wie die Europäer-Redaktion wacker gegen diese Kritische Ausgabe, diesen «Morbus CC» mit all seinen Fiebersymptomen angeht. Frau Diet hat die Hilflosigkeit des Mormonen, Steiner zu beurteilen, sauber herausgearbeitet, erfrischend die Karikatur von Dilldapp. Clement hat sie bereits auf seine Fratzenbuchseite («Facebook-Homepage») genommen.“

Statt dass unseren „Europäern“ die von ihrer Hetze gezeugten Pathologisierungsversuche peinlich wären, werden letztere sogar noch abgedruckt. „Krank“ ist alles, was nicht auf Linie liegt. „Krank“, wer Steiner philosophisch gelehrt deutet. „Einer muss wachen“, „gut“ dass Thomas aufpasst, dass niemand die anthroposophische Bewegung aus ihrem dogmatischen Schlummer weckt.

1914 – 2014: Hundert Jahre Hass

Wer die Geheimnisse der göttlichen Hierarchien und des Elementarreichs kennt und weiß, dass Erster und Zweiter Weltkrieg hauptsächlich von dämonisch-„materialistischen“ Dunkelmännern (mit Sitz in der englischsprachigen Welt) vorbereitet wurden… wer jeden Menschen in die nächstliegende ideologische Schublade (hier eben: „Mormone“) einsortiert, um dann einen „geisteswissenschaftlichen“ Kübel Dreck über dessen Haupt auszugießen, wer dabei noch meint, eine „Freiheitsphilosophie“ zu vertreten – der kann es anscheinend auch schlicht nicht ertragen, wenn jemand den großen Menschheitsführer Steiner als beweglichen Menschen darstellt, der für seine Bücher und Vorträge sogar recherchieren musste.

Die überaus freundliche, ja bis in die Terminologie der Anthroposophie verwandte, aber liberale Steinerdeutung Clements gebiert Ungeheuer. Keine tatsächliche ideologische Entgegensetzung, sondern die Konkurrenz um die Deutung Steiners ruft die orthodoxesten Steinerjünger auf den Plan, die solange weitermachen werden, bis Clement selbst zu Steiner schweigt. Als „Morbus C[hristian]C[lement]“ erscheint er in der Tat für jene, denen das Universum eine notwendig gefügte Enzyklopädie ist, deren erbarmungs- und lückenlose Identität von einem ins Maßlose verzerrten Rudolf Steiner garantiert wird. Sie fordern ideologisch (mitnichten realpolitisch) ein, was Max Horkheimer als „Welt ohne Unterschlupf“ bezeichnete. Jeder Riss im Beton und die Blüten, die daraus für eine deviante Steinerlektüre treiben könnten, müssen weggewischt, die „Erreger“ ausgerottet werden – auf dass wieder Eindeutigkeit einkehre. Um die versteinerte Geisteswüste wieder in ein hellsichtig-durchsichtiges Panoptikum zu verwandeln, in dem nichts außen vor, transzendent, intim oder geheim bleibt – außer okkulten Logen und ihren dämonischen Herren, gegen die „einer wachen muss“. Der deus absconditus ist der deus malignus. Es ist eine Welt von Freund, der das heilige Wissen teilt oder zumindest hineinpasst – oder Feind.

Das Verschwörungsdenken, zu dem unsere „Europäer“ neigen, ist kein Unfall, sondern zutiefst mit alteingesessenen anthroposophischen Selbstwahrnehmungen verflochten. Die ganz oben zitierten Worte Marie Steiners stehen dafür exemplarisch. Ihre Einkreisungsphantasie wird von den „Europäern“ letztlich geteilt, die freilich den Seitenhieb gegen die „finanzmächtigen jüdischen Kreise“ heutzutage kaum noch bemühen werden (und Steiner wahrscheinlich für den größten Anti-Antisemiten halten). Dieselben dunklen Mächte, die den deutschen Propheten Steiner vernichten wollen, wollen auch Deutschland vernichten. Alldeutsche, Katholiken, Protestanten, Juden, Kommunisten – so leicht wie Steiners Witwe halluzinierte, sie alle hätten sich verbündet, um Steiner zu schaden, so leicht wurde diese anthroposophische Ungeschichtsschreibung seit 1944 weitergesponnen (unterbrochen in der Tat von Interventionen wie denen Christoph Lindenbergs oder, zu ganz anderen Themen, Hoffmanns).

Der ahrimanische Christian Clement, die bösartigen Alliierten und ihre freimaurerisch-jüdischen Geheimlogenherren, die den unschuldigen, friedliebenden Deutschen zwei Weltkriege zugejubelt haben, sind, so die pathische Projektion, ontologisch-kosmologisch letztlich identisch: „Widersachermächte“. Die angeblich verbündeten und verschwisterten „Anthroposophiefeinde“ sind austauschbar und duplizieren sich munter, je nach Anlass. Aus diesem (von Clement selbst nicht zu Unrecht als paranoisch bezeichneten) Kern sind alle Phantasien über Mormonen und heimliche Gegner, die geistigen „Erreger“ usw. usf. vielleicht unbewusst, aber konsequent abgeleitet. Die Mehrzahl seiner anthroposophischen Rezensenten steht solchen Gedanken zumindest im Hinblick auf Clement fern. Nur Ramon Brüll und Jens Heisterkamp (Info3) haben allerdings ausführlich gegen die Gerüchte von Diet, Lochmann, Meyer und Co Stellung bezogen (Brüll auch gegen jüngst neu aufgelegte Verschwörungsthesen zum Ersten Weltkrieg). In gewisser Hinsicht steht hier die anthroposophische Bewegung selbst an einem Scheideweg: Der Ball liegt im Feld der durchaus prominenten Herren Heisterkamp, Hoffmann, Ravagli oder Kiersch. Wird eine esoterische Strömung, die sich selbst die höchsten moralischen und spirituellen Güter und Tugenden zuschreibt, Mittel, Motiv und Mut aufbringen, sich mehrheitlich von diesem Konspirationsgeraune zu distanzieren? Ich fürchte, die Chancen stehen schlecht. Das Jahr 2014 wird vermutlich eine weitere von erstaunlich vielen verpassten Chancen sein.

20. Januar 2014 at 10:16 pm 14 Kommentare

„Thilo Sarrazin – Ein Nachfahre der Zigeuner?“

Neues vom „Europäer“ oder: die Vulgarisierung anthroposophischer Rassismen

Auf meinen letzten Artikel gibt es seit ein paar Tagen plötzlich ein erfreulich (oder beunruhigend) großes Echo per Mail. Das mag an seiner nun auch gedruckten Auslieferung in der anthroposophischen Zeitschrift Info3 liegen oder daran, dass er sich erst jetzt rumgesprochen hat. Das gros der Mailschreiber_innen freute sich über die als „fair“ empfundene Besprechung, fand, es sei natürlich wichtig für heutige Anthroposoph_innen, sich von den Rassentheorien Rudolf Steiners abzugrenzen, und formulierte erstaunlich einhellig, dass sei zwar ein wichtiger Punkt zur Vergangenheitsbewältigung, habe aber keinerlei aktuelle Relevanz. Steiners Rassismus sei die eine Sache, aber aktuell werde „sowas“ doch von niemandem in anthroposophischen Kreisen ernsthaft wiederholt.

KritikerInnen sehen dagegen das Problem in einer unreflektierten Weitertradierung rassismuskompatiler Theorieelemente durch das anthroposophische Gedankengebäude. In ihrer 2010 veröffentlichten Dissertationsschrift kam die Berliner Kulturwissenschaftlerin Jana Husmann zu dem Fazit, dass Steiners Rassentheorie schon deshalb zumindest latent und als unausgesprochene Denkvoraussetzung weiterlebe, weil Steiner sie in seine „evolutionäre Spiritualität“ verschmolzen hat:

„Hierin liegt das grundlegende Dilemma Anthroposophie-interner Rassismus-, Eurozentrismus- und Nationalismus-Kritik, das sich letztlich nur durch erhebliche Umschreibung der Steinerschen ‚Geistesschau‘ kosmologisch-geschichtlicher Abfolgen enthierarchisieren ließe. … Inhaltlich gehen das Festhalten an diesem Modell und die Behauptung seiner egalitären Struktur mit der Fortschreibung eines Mythos der ‚Ganzheitlichkeit‘ einher, dem diese Zentralisierung und Privilegierung von Weißsein und eine konstitutiv dualistische, asymmetrische Struktur inhärent ist. Farblich scheint dabei die Kategorie Weißsein irrelevant geworden zu sein, als spirituelles Erlöserprinzip sich jedoch hartnäckig in Form des vermeintlich farblosen ‚Europäertums‘ zu halten.“ (Jana Husmann: Schwarz-Weiß-Symbolik. Dualistische Denktraditionen und die Imagination von „Rasse“: Religion – Wissenschaft -Anthroposophie, Bielefeld 2010, S. 355f.)

Wer das formulierungstechnisch zu komplex findet, mag sich durch einen Blick in die in der Tat farblose Baseler anthroposophische Zeitschrift „Der Europäer“ überzeugen. Diese druckte im letzten Sommer noch Karten aus einem auch von nationalsozialistischer Seite geschätzten Entente-Freimaurer-haben-den-Ersten-Weltkrieg-verschuldet-Klassiker nach, der aus der Feder des zeitweiligen Anthroposophen Karl Heise stammte und für das Anthroposophiegründer Rudolf Steiner ein zögerndes Vorwort schrieb (vgl. „Der Europäer“, Abschnitt „Neues zum April“). Neuerdings scheinen komplizierte und, mal ganz ehrlich, ja auch irgendwie langweilige Verschwörungstheorien beiseite gestellt worden zu sein: „Der Europäer“ hat den Freudengarten schlechter rassistischer Witze für sich entdeckt.

Der junge Frank staunt: „Demnach wäre Thilo Sarrazin ein Nachfahre der Zigeuner?“ (Auf dem Bild: Sarrazin bei der Vorstellung seines Bestsellers „Deutschland schafft sich ab“, Bild von Richard Hebstreit, Wikipedia-Commons)

Unter dem Namen „Boris Bernstein“ schreibt ein „Europäer“-Autor in jeder Ausgabe die Kolumne „Apropos“. Jüngst wird er angeblich von „dem 17-jährigen Jüngling“ „Frank“ begleitet, „der mir buchstäblich vor die Füße gefallen ist“ und der den „Rechtsstaat“ strukturell und real für eine Verschwörung prügelsüchtiger Hooligan-Polizisten (und Schlimmerem) hält (Apopros 63). Bernstein ergänzt den Jüngling Frank:

„Der zitierte 17-Jährige hat mit seinen Beobachtungen weitgehend recht! Was er aber nicht berücksichtigt, ist der Gesichtspunkt der Reinkarnation. Die geistigen Gesetze sind unerbittlich: Jede Verfehlung muss wieder gutgemacht werden. So gibt es keinen Grund, den Kopf hängen zu lassen. Man muss nur die nötige Geduld aufbringen.“ (ebd.)

Genau. Schon Buddha Gautama wusste schließlich:

„Eine Frau, die in ihrem früheren Leben aufbrausend und jähzornig war, und außerdem noch sehr geizig und nicht bereit war, Mönche und andere Menschen finanziell zu unterstützen, wird in ihrem jetzigen Leben sowohl hässlich als auch arm sein.“ (In ‚Bodhi Baum‘, zit. bei Peter Michel: Einführung in „Die Weisheitslehren des Buddha: Das Dhammapada“, Neuausgabe Wiesbaden 2010, S. 15)

Das nächste Leben werden Boris und Bibi Frank also wahrscheinlich mit der meditierenden Polizei im Reinen Lande Amidas zubringen. Bis dahin drohen aber noch schmerzliche Prüfungen und Trennungen. Im Februar 2011 musste Boris Bernstein seine Kolumne – Titelthema diesmal: „Skandale und dämonisch Wirkendes“ – ohne seinen jugendlichen Intimus schreiben:

„Frank, der junge Mann, der – wie hier mehrmals geschildert – in mein Leben gepurzelt ist, kann sich zur Problematik nicht äußern, weil er weit weg an einem wunderschönen Badestrand liegt. Um sein etwas schlechtes Gewissen zu übertönen, hat er mir eine Geschichte geschickt: Es sei schade, meint er, dass Adam und Eva keine Chinesen waren. Denn die hätten statt des Apfels die Schlange gegessen und wir dürften alle noch immer das Paradies genießen…“ (Apopros 68)

Aber immer noch besser hunde-, pferde- und schnlangenessende Chinesen als Araber oder gar Amerikaner: Im März 2011, Frank lag immernoch am „wunderschönen Badestand“, schrieb Boris Bernstein über das in der Tat spannende Thema „Wie Europa nicht nur christlich, sondern auch jüdisch und islamisch geprägt ist“. Bernstein stellte scharfsinnig fest, dass die drei abrahamitischen Religionen offenbar irgendetwas miteinander zu tun haben:

„Ähnliche Zusammenhänge wie zwischen Judentum und Christentum gibt es nach Rudolf Steiner auch zwischen Christentum und Islam. In einer Fragenbeantwortungäußerte sich Rudolf Steiner zur ‚Wesenheit Allahs'“ (Apropos 70)

Allah sei nun niemand anderes als Ahriman, jener zoroastrischen „Erzverderber“, den Steiner zum dämonischen Schirmherrn des neuzeitlichen Materialismus erklärte (vgl. Ahriman, Avitchis und die Apokalypse). Bernstein zitiert „den Doktor“ Rudolf Steiner mit den Worten:

„Der Mohammedanismus ist die erste ahrimanische Manifestation, die erste ahrimanische Offenbarung nach dem Mysterium von Golgatha. Der Gott Mohammeds, Allah, Eloha, ist ein ahrimanischer Abklatsch oder Abglanz der elohistischen Wesenheiten, der Elohim, aber monotheistisch erfasst. Er bezeichnet sie immer in einer Einheit. Die mohammedanische Kultur ist ahrimanisch, aber die Gemütsverfassung der Islamiten ist luziferisch.“

Hilfreich erklärt Bernstein: „Nun soll man diese Kräfte ja nicht fliehen, sondern erkennen.“ Denn ohne Luzifer (in Anthroposophistan ein flatterhafter Luft- und Lichtgeist) sei Leben unmöglich und ohne Ahriman „äußere Wissenschaft“. Der wahre Christ balanciere beides. Mensch fühlt sich frappierend an C. S. Lewis beliebte und jüngst erfolgreich verfilmte Kinderbuchreihe über die „Chroniken von Narnia“ erinnert. Im letzten der sieben Bücher geht das Zauberland „Narnia“ aus dem Titel in einer stilechten Apokalypse unter. Währenddessen erklärt das löwengestaltige narnianische Jesus-Pendant „Aslan“ den Orientalen unter seinen Schäfchen freundlich, sie hätten bedauerlicherweise in ihrem vogelköpfigen Gott „Tash“ immer den Falschen, nämlich den leibhaftigen Teufel angebetet – und vergibt den Rechtschaffenden unter ihnen gütig. Bernstein indes lehrt weiter:

„Islam, Arabismus, Mohammedanismus, Mohammedanertum: Rudolf Steiner macht da keinen prinzipiellen Unterschied. Selbstverständlich muss man sich gegen (gewalttätige) Islamisten wehren.“ (Apopros 70)

Dass Steiner offensichtlich vom Islam wenig bis keine Ahnung hatte und die aufgezählten Namen aus einem improvisierten Stehgreif-Vortrag des Gurus stammen, kommt Bernstein natürlich nicht als Ursache für die Benennungsvielfalt in den Sinn. Doch er, der in Apopros 68 immerhin betonte, dass der „Multikulti“-Ansatz „der einzige“ Ansatz mit Zukunftsfähigkeit sei, konzediert großzügig: „Fanatiker gibt es im Übrigen in allen Religionen, auch bei den Christen. Gewalttätigkeit ist letztlich eine Erziehungsfrage.“  Zur guten Erziehung tauge natürlich in letzter Konsequenz wieder nur eines: Reinkarnationsglaube.
„Denn wer konkret damit rechnen muss, dass seine (Un-)Taten wie ein Bumerang auf ihn zurückkommen, lässt möglicherweise den einen oder anderen Unsinn bleiben.“ (ebd.)
Logisch. Denn wie wir wissen: Wer schön sein will, muss Mönche füttern. Doch grau ist alle Theorie und so endet Boris Bernstein auch diesmal mit einem chauvinistischen Schenkelklopfer bzw. einer „pikanten Geschichte“ vom Feinsten, die Freund Frank mit Grüßen vom Badestrand schickte:
„In einem Spracheninstitut taucht eine uralte Dame auf und erklärt, sie müsse jetzt unbedingt Althebräisch lernen. Der Institutsleiter runzelt die Stirn und antwortet, ein solcher Kurs sei leider nicht im Programm. Dann fixiert er die Frau: ‚Entschuldigen Sie, meine Dame, aber warum wollen Sie denn noch Althebräisch lernen?‘ Diese erwidert: ‚Das ist ganz einfach. Ich werde sehr bald dem lieben Gott gegenüberstehen und da möchte ich mich doch mit ihm unterhalten können.‘ Der Sprachschulleiter meint: ‚Ach ja, das leuchtet ein. Aber sagen Sie, was ist, wenn Sie in die Hölle kommen?‘ Die alte Dame antwortet völlig cool: ‚Das wäre überhaupt kein Problem, Amerikanisch kann ich schon …'“ (Apopros 70, PS)
Es fragt sich, ob die sprichwörtliche anthroposophische Humorlosigkeit demgegenüber nicht die bessere Alternative war.

Rassismus und Nationalismus werden von „Der Europäer“ nach eigenem Bekunden natürlich abgelehnt. Unter dem Titel „Nationalismus ist die schlimmste Unwahrheit“ kritisierte Boris Bernstein im November 2010 (Apropos 67)  den deutschen Sozialdemokraten, Ex-SPDler und Ex-Bundesbankchef Thilo Sarrazin. Sarrazins soziobiologische und wahrlich deutsche Fabel „Deutschland schafft sich ab“ reproduzierte, wie letztlich auch die anthroposophische Rassenlehre, die eurozentristischen Darwinismen des 19. Jahrhunderts. Im Fin de Siecle warnten die Eugeniker vor völkischer „Dekadenz“, vor dem Verlust kultureller Kreativität und christlich-weißer Hegemonie durch „Rassenmischung“. Die finsteren „Rassen“ sind bei Sarrazin zu islamischen Migranten, die „Dekadenz“ ist zu einem durch jene sinkenden deutschen IQ-Durchschnitt geworden. Bernstein lehnt Sarrazin rundweg ab, nach Steiner sind wir nämlich inzwischen in das „Zeitalter der Bewusstseinsseele“ eingetreten. In diesem Zeitalter muss das Christentum die Weltreligionen in Interreligiosität und Deutschland die übrigen Nationen im Internationalismus unterrichten. Das hatte ja nun Sarrazin offensichtlich nicht vor, entsprechend „nationalistisch“ erscheint er den Pionieren der Philanthropie im „Europäer“. Ich kann mich allerdings des Eindrucks nicht erwehren, dass „die Sarrazindebatte“ für Bernstein eher Stichwortgeber für allerlei ist, das er ohnehin schon immer mal sagen wollte:

„Apropos Meinungsfreiheit. Rudolf Steiner hat dazu eine entschiedene Ansicht: ‚Es ist die größte Frivolität der Seele, zu glauben, dass man ein gewisses Recht auf subjektive Meinungen habe. Dieses Recht auf subjektive Meinungen hat man nicht, sondern man hat als Mensch die Verpflichtung, hinauszudringen über seine Subjektivität zu dem Objektiven.‘ Das heißt ja nun nicht, dass Meinungsfreiheit in einem äußeren (etwa juristischen) Sinn nicht erlaubt wäre; es heißt, dass ein Mensch als Mensch sich ernsthaft um eine Sache bemühen muss und auf Blabla gefälligst verzichten soll.“ (Apropos 67)

Bernstein zeigt, wie das geht, und geht ernsthaft und sachlich bemüht der enorm wichtigen Frage nach, woher eigentlich Sarrazins Name kommt:

„Das kann nun auch der junge Frank nachvollziehen. Verblüffend ist für ihn aber doch die weitere Wende der Geschichte. Denn besonders pikant wird die Sache, wenn man die Herkunft des Namens untersucht:“ (ebd.)

Und anschließend folgt der Beweis für die profane Tatsache, dass auch vergeistigte Anthroposoph_innen ihr Sachwissen bisweilen nicht aus dem übersinnlichen Akasha-Archiv, sondern aus Wikipedia beziehen. Denn von dort zitiert Bernstein den Artikel zum Stichwort „Sarazenen“:

‚Besonders in Frankreich und der Schweiz ist noch heute der Familienname Sar(r)asin bzw. Sar(r)azin verbreitet, in der deutschsprachigen Schweiz auch Saratz, in Italien und der italienischsprachigen Schweiz Sar(r)aceno, Sar(r)acino, im Englischen die aus dem Französischen bzw. Anglonormannischen noch weiter entwickelte Form Sarson. Vorläufer solcher Namen ist im Mittelalter ein in den lateinischen Quellen seit dem 11. Jahrhundert vielfach dokumentierter Name oder Beiname Saracenus, der in vielen Fällen wegen einer ‹sarazenischen› Herkunft des Trägers, in anderen Fällen aber auch nur wegen eines zeitweiligen Aufenthaltes bei den ‹Sarazenen› oder, wie lat. Maurus, nordfrz. Moreau, engl. Moore, zur Hervorhebung einer besonders dunklen Haut- oder Haarfarbe entstand. Sofern der Name erst im Spätmittelalter in Gebrauch kam, ist auch mit der Möglichkeit zu rechnen, dass er im Hinblick auf die mögliche Bedeutung ‹Zigeuner› gewählt wurde.‘

Der junge Frank staunt: ‚Demnach wäre Thilo Sarrazin ein Nachfahre der Zigeuner?‘ … Dann wäre Sarrazin Nachkomme eines von Gott heilsgeschichtlich verstoßenen Volkes?“ (Apropos 67)

Das gibt der Wikipedia zwar nun gerade nicht her – ebensowenig wie einen Zusammenhang von Genetik und Etymologie – aber egal, denn: Was hilft dagegen? Richtig. Reinkarnation.

„Meine Taten von heute (dazu gehört auch das Politisieren) haben Folgen in der Zukunft, mit denen ich wieder konfrontiert werde. … P.S. Auf dem geschilderten Hintergrund wird vielleicht auch die Bibel wieder verständlicher: ‚Geldgier ist eine Wurzel des Bösen.'“ (Apropos 67)

Sarrazin wird nach dieser light-Auffassung von Seelenwanderung – als kausaler Vergeltungslehre – im nächsten Leben sicherlich Kopftuchträgerin. Zur Ehrrettung der anthroposophischen Szene sei gesagt, dass sie sich in puncto Sarrazin ungewöhnlich zurückhielt. Die von der deutschen A.G. herausgegebene Zeitschrift „Die Drei“ druckte gar mit einem enthusiastischen Vorwort die Kritik der „Arbeitsgruppe Interkulturelle Soziale Arbeit des Deutschen Fachhochschultages“ an Sarrazins Buch ab (PDF). Sogar Boris Bernstein, wer immer sich hinter diesem Namen verbirgt, glänzt zuweilen durch vernünftige Kritiken, etwa an der katastrophalen Asylpolitik der EU. Als „rechtsradikale“ Statements lassen sich seine gleichzeitig banalen wie erschreckenden Kommentare kaum bezeichnen, dazu ist die Vermischung mit liberalen und „linken“ politischen Standpunkten zu häufig und zu hoch. Das ist kein Einzelfall, Peter Staudenmaier spricht mit Blick auf das große anthroposophische Engagement bei der Partei „Die Grünen“ treffend von einer „continuation of the left-right crossover that has marked anthroposophical politics from the beginning“ und nennt dafür die politischen Biographien von Otto Schily und Georg Werner Haverbeck als zwei Beispiele (Between Occultism and Fascism: Anthroposophy and the politics of Race and Nation in Germany and Italy, 1900-1945, Diss., Cornell University 2010, S. 509).

Es ist nichtsdestominder ernüchternd, zu sehen, dass verstiegene und verästelte anthroposophische Gedanken über Gesellschaft und globale Politik so freudig und unreflektiert mit stupiden Alltagsrassismen und Antiamerikanismen vereinbar sind, oder mit der Annahme, eine fiktive Roma-Ahnenreihe Thilo Sarazins sei auch nur entfernt relevant in der politischen Debatte um sein Buch. Solange so etwas frei und friedlich in einer Zeitschriftenausgabe mit Artikeln wie „Der Meditationsweg der Michaelschule in neunzehn Stufen“ (Thomas Meyer) oder „Nicht mit dem Verstand kann man Russland begreifen …“ (Serge U. Linder) erscheint (beide in der März-2011-Ausgabe von „Der Europäer“), würde es mich stark wundern, wenn jemand im „Europäer“-Dunstkreis jemals auf den Gedanken käme, sich an einem historisch-kritischen Blick auf Steiners Werk zu versuchen.

13. März 2011 at 4:26 pm 6 Kommentare


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