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Die reformpädagogischen Wurzeln der Waldorfschulen
„Ich habe einen ausgezeichneten Lehrer von einem Landerziehungsheim nach Stuttgart berufen. Ihm gefiel es hier besser, er muss doch hier etwas finden, was über das hinaus geht; der Mann muss doch beides vergleichen können. Daran sehen Sie gleichzeitig, dass man nicht einseitig ist, denn sonst hätte ich den Lehrer nicht berufen.“
– Rudolf Steiner, GA 217a, 79
Die Entstehung der anthroposophischen Praxisfelder ist einerseits gut dokumentiert, weil jeder Fitzel aus dem Leben Steiners aufbewahrt und/oder niedergeschrieben wurde. Andererseits überdeckt das strahlende Bild des Übervaters die Erinnerung an die konkrete Etablierung der Praxis und ihrer Genealogie. Nach der Vorstellung vieler seiner Anhänger und vieler Kritiker setzte der Prophet Steiner seine entsprechenden Anweisungen in die Welt, wo sie von den Schülern dankbar aufgenommen wurden und bis heute versteinerten. Zumindest in den ersten Anfängen war jedoch eher das Gegenteil der Fall: Viele Praxisvorschläge wurden an Steiner herangetragen oder er verlieh schon bestehenden Konzepten und Anwendungen im Nachhinein seine eigene religiöse Handschrift. Diese Variante einer Genealogie anthroposophischer Institutionen legte im Prinzip schon Helmut Zanders umfangreiche Rekonstruktion der „Anthroposophie in Deutschland“ (Stuttgart 2007, Bd. II) nahe. Verbindungen zwischen Waldorf- und Reformpädagogik, die viel kolportiert werden, konnte Zander jedoch höchstens ansatzweise ausmachen. Er stellte vielmehr zutreffend fest, dass sich zwar einige Ähnlichkeiten finden, Steiner aber die großen Reformpädagogen kaum kannte und meist ablehnte. In Landerziehungsheimen würden, so eine Polemik, bloß falsche Individualisten erzogen: „furchtbare Kritiker, schreckliche Kritikaster, denen nichts in der Welt recht ist“, während das Universum für ihn stets wahr, schön und gut war. (GA 217a, 79) Genau das ist aber eine Parallele zu den Weltbildern vieler Reformpädagogen.
„Welche Rolle in diesem Prozeß einige der von Steiner an die Stuttgarter Waldorfschule berufene[n] Lehrer spielten, die von [Hermann] Lietz’ Landerziehungsheim oder aus der Odenwaldschule Paul Geheebs kamen, ist augenblicklich unklar … Adalbert Graf von Keyserlingk, in: Koberwitz 1924, 129, berichtet, daß die Lehrer Christoph Boy und Herr Kilian aus Lietz’ Landerziehungsheim abgeworben wurden, ein dritter, Pfarrer Seusing, nur aus familiären Gründen nicht nach Stuttgart ziehen konnte.“ (Zander, a.a.O., 1389)
Die bei Zander nicht weiter recherchierte Verbindung wurde kürzlich von Matthias Fechner neu ausgegraben, Lehrbeauftragter an der jungen anthroposophisch inspirierten „Cusanus“-Hochschule in Bernkastel-Kues. Zuvor arbeitete Fechner sowohl an einer Waldorf- als auch an der legendären Odenwaldschule, deren Archiven er seine Hinweise verdankt. Ausblicke auf eine ganze Reihe von Funden gewährt ein Artikel in der liberal-anthroposophischen Zeitschrift Info3 (Juni 2016, S. 10-15). Man hofft auf eine ausführlichere Präsentation, aber Fechners Funde scheinen bestechend. Bereits 1913 war an der Odenwaldschule ein großer Teil der heute aus Waldorfschulen bekannten Methoden zusammen, vor allem der Epochenunterricht:
„Jeweils zwei Fächer wurden nun epochal über vier Wochen unterrichtet, für die Dauer eines ‚Arbeitsmonats‘. Mit dem zweistündigen Frühkurs begann der Schltag; eine einstündige Pause folgte, danach fanden sich die Schüler zum Spätkurs in ihrem Fachraum ein. Der Nachmittag blieb offen für die „praktischen Fächer“, womit vermutlich „Schreinerei, Schlosserei, Gartenbau, Landwirtschaft, Papparbeiten und Buchbinderei, Nähen, Kochen“ gemeint sind. Zum Abschluss eines Arbeitsmonates erfolgte eine Präsentation des Geschaffenen…“ (Fechner, S. 13)
Das Konzept entstand im Austausch mit dem Landerziehungsheim Wickersdorf. Hier war laut Fechner ein Mario Jonas ausschlaggebend, Schüler von Geheeb und Gustav Wyneken. Auch scheinbar stärker esoterische Postulate der Steinerpädagogik wurden von Jonas vorgedacht: „An mehreren Beispielen erklärt er, wie der Stoff des Vortages in die Nacht genommen werden könne, damit der Unterricht am folgenden Tag desto fruchtbarer ablaufe.“ (ebd.)

Freie Schulgemeinde Wickersdorf, Saalfelder Höhe (2014), Foto: Aschroet, Wikipedia Commons
Neben Odenwaldschule und dem Landerziehungsheim Wickersdorf steht in der reformpädagogischen Waldorf-Ahnengalerie auch das Erziehungsheim Haubinda. In einem benachbarten Klosterheim Haubinda wohnte Steiner wahrscheinlich 1905, um ungestört an Texten für seine Zeitschrift Lucifer-Gnosis zu arbeiten. Dabei interessierte er sich wohl auch für das Landerziehungsheim, den dort führenden völkischen Pädagogen Hermann Lietz jedoch kritisierte er später. Dies darf nach Fechner „als kalkulierte Abgrenzung gegen den Konkurrenten Lietz gesehen werden“, obwohl beider Gemeinsamkeiten auch nicht so tiefgreifend sind, dass man hier eine weitere verdrängte Abhängigkeits- und Abspaltungsgeschichte erzählen müsse. Haubinda verdankt die Waldorfpädagogik jedoch zumindest die „ausführlichen Textzeugnisse“ – so Fechner. (S. 12)

Hermann Lietz-Schule Haubinda (2016), Foto: Presse03, Wikipedia Commons.
Christoph Boy und Robert Killian kamen in der Tat aus Haubinda an die erste Waldorfschule – so weit war auch Zander unter Berufung auf Keyserling, ohne jedoch den Biographien weiter nachzugehen oder die Parallelen als Kontexte der Steinerschen Ideogenese einzubeziehen. Steiners eingangs zitierte Lobesworte beziehen sich wohl auf Killian, der laut Fechner als maßgeblicher Vermittler von reformpädagogischen Praktiken an der Waldorfschule anzusehen ist. „Keiner hat wie er den Schulorganismus durchdrungen“, schrieb sein Kollege Ernst Weißert in einem Nachruf. Killian hatte nämlich Kontakte zur Odenwaldschule, wo er auch nach der Schließung der Stuttgarter Schule durch den nationalsozialistischen Württembergischen Kultusminister Mergenthaler arbeitete. (vgl. Waldorfschulen 1933-1945) Elisabeth Sachs, Ehefrau des damaligen Leiters der Odenwaldorfschule, arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg wiederum in einem „Camphill“-Dorf in New York. Für Fechner schließt sich hier ein „Schicksalskreis“. (S. 14) Diese entspannte, ja zu Schicksal esoterisierte Akzeptanz der historischen Verbindungen zeigt: Anthroposophen sind in der Lage, den Hinweis auf die Genesis ihrer Konzepte reflexiv zu integrieren. Das hatte nach dem Erscheinen von Zanders Studie von 2007 anders ausgesehen: damals galt das Aufzeigen historischer Kontexte noch als ehrenrührige Polemik. Für Anthroposophiekritik heißt diese Verschiebung vor allem, dass sie ein offenes Auge für die Veränderungen ihres Gegenstands (auch durch äußere Einwirkung) bewahren muss.