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„endlich George + Steiner“: Jan Stottmeister zur deutschen Wirkungsgeschichte der Theosophie
Wie Rudolf Steiner gehört Stefan George zu den so profilierten wie schillernden Prophetengestalten des frühen 20. Jahrhunderts, die von den einen als Verkünder des einzig wahren Menschheitsgeistes, von den anderen als dessen Erzfeinde angeführt wurden. Wie Spengler oder Heidegger repräsentieren sie eine Gegenmoderne, die man nicht mit spitzen Fingern von sich weghalten kann, sondern kritisch studieren sollte, auch weil ihr Einfluss bis in die heutige Zeit reicht. Jan Stottmeister hat 2014 mit „Der George-Kreis und die Theosophie“ (Göttingen 2014) eine Fallstudie zur kulturellen Präsenz der Blavatsky’schen Weltanschauung um 1900 vorgelegt. Das Buch ist ungemein materialreich und nicht zuletzt in einer wendigen, subtil ironischen Sprache verfasst, die dem Pathos des George-Sprechs zu begegnen weiß. Wer einen gut lesbaren Einstieg in die neuere Forschung zur Theosophie und ihrer beeindruckend weitverzweigten Wirkungsgeschichte sucht, ist mit diesem Buch gut beraten. Auch die Anthroposophie lernt man aus einer ganz neuen historischen Blickrichtung kennen.
„Theosophiebedingte“ Anti-Theosophie
Stottmeisters schlüssig dargelegte These lautet, dass sich der George-Kreis „seit 1910 durch die programmatische Abgrenzung von der Theosophie konturierte“:
„… diese Bezüge verbargen sich nicht, im Gegenteil. Sie wurden in eine Öffentlichkeit getragen, in der die Theosophie und die Theosophical Society viel präsenter waren als der George-Kreis … Abgrenzungen sind immer dort am nötigsten, wo Verwechslungsgefahren drohen. Der George-Kreis verstand genau wie die Theosophie seine ‚geistige Bewegung‘ als Gegenbewegung zu einer als ‚ungeistig‘ kritisierten materialistisch-rationalistischen Generaltendenz der Zeit. Er ordnete sich in esoterische Traditionen ein, die auch die Theosophical Society fortzuführen beanspruchte. Mit der Krishnamurti-Kultsetzung fügten die Theosophen diesen Übereinstimmungen noch einen Knabengott hinzu. Die Herausforderung, die Übereinstimmungen als Differenzen zu vermitteln, beschäftigte den George-Kreis, so lange er bestand, und sie beschäftigte einige von Georges Anhängern über den Tod ihres Meisters und den Zerfall des Kreises hinaus. Die Geschichte des George-Kreises ist auch die Geschichte seines Verhältnisses zur Theosophie.“ (S. 13)
Das Buch unterstreicht Georges entschiedene Feindschaft gegenüber der theosophischen Bewegung und Ideenwelt. Die Konkurrenz ging so weit, dass er bestimmte Theoreme der Theosophen übernahm, um sie zu überbieten: So bezeichnete er sich einmal als Gesandten der „Mahatmas“ Blavatyks. (S. 202) Aus der Theosophie Blavatskys und Steiners übernahm der George-Kreis auch das Konzept clairvoyanter „Schau“ des Geistigen. (S. 159ff.) Im Spiegel der Georgianer lassen sich überhaupt einige Erkenntnisse zur Anthroposophie gewinnen – der Theosoph Steiner wurde dort ebenfalls kritisiert und rezipiert. Stottmeisters Fokus auf die Blavatsky-Theosophie werde ich im Sinne dieses Blogs hier zugunsten der Anthroposophie verschieben. Die Parallelen der anti-theosophischen Polemik bei Steiner und George springen ohnehin ins Auge: Ablehnung einer vermeintlich indischen Geistigkeit, Berufung auf eine abendländische (und spezifisch deutsche) Mysterientradition, Protest gegen den theosophischen Messias Jiddu Krishnamurti und eine abenteuerliche Überbietungsrhetorik in spirituellen Fragen. Ebenso groß sind die Differenzen – es ist natürlich charakteristisch, dass das Gegenbild zu Krishnamurti bei Steiner der „ätherische Christus“, bei George der durchaus erotisch-leibliche Knabengott „Maximin“ war. Stottmeister beleuchtet ausführlich, dass die anti-theosophischen Reaktionen um George somit geradezu „theosophiebedingt“ waren. Das trifft auch auf Steiners Bewegung zu, die Stottmeister als die Fortsetzung theosophischer Lehren liest, die sie faktisch war und als die sie von einigen Georgianern bekämpft wurde. Das wird Anthroposophen wie üblich brüskieren, ist aber eine durchaus heilsame historische Begriffsverwirrung:
„Bloch bezeichnet Steiners Lehren als Theosophie, nicht Anthroposophie. Um 1915/17 war offenbar selbst interessierten Zeitgenossen nicht erkennbar, dass die Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft einen Wandel der Lehrinhalte bedeutete, der einen anderen Namen rechtfertigte. Steiner und die Geschichtsschreibung aus anthroposophischer Binnenperspektive setzten später mit ihrem Insistieren auf inhaltlicher Eigenständigkeit und ihrer Marginalisierung der Theosophie-„Vorphase“ eine andere Wahrnehmung durch.“ (S. 274)
Interessanterweise wurde der Wissenschaftsbegriff der Theosophie bei den George-Jüngern als ihr größtes Problem angesehen. Friedrich Wolters verfasste etwa „Richtlinien“ gegen Steiner. Er verwarf „auf Georges Anregung hin die Theosophie als ‚Nur‘-Wissenschaft – als Symptom der Kulturkrankheit des rationalistischen Zergliederns, das den Verlust der göttlichen ‚menschenmitte‘ bedingte. Indem er den Wissenschaftsanspruch der Theosophen völlig unbestritten lässt, bestreitet er ihre Zuständigkeit für das Göttliche.“ (S. 153) Im George-Jargon entsprach das einer Zuordnung zur bloß „Ordnenden Kraft“ statt zur „Schaffenden Kraft“.
Im Gegensatz zur gestelzten theosophisch-anthroposophischen Wissenschaftsprosa mit ihrem Anspruch, verborgene Welten zu enthüllen, kultivierte Georges „geheimes Deutschland“ außerdem stärker das Arkane als elitäre, exklusive Kategorie. Stottmeister weist stets auf mit seinem Gegenstand verflochtene historische Schauplätze und benachbarte Entwicklungen hin. Der Mysterienkult um George beispielsweise war, wie er nahelegt, das unmittelbare Vorbild für Max Webers berühmte Charisma-Theorie, die auch mit Erfolg auf Theosophie und Anthroposophie anwendbar ist. (S. 198) Die demonstrative Abgrenzung zur Theosophie war nicht ganz zuletzt nötig, weil der George-Kreis und die Theosophen sich auf einigen Feldern über den Weg liefen. Beispielsweise im Verlag des (zumindest auch theosophisch inspirierten, aber die „dogmatische“ real existierende Theosophie ablehnenden) völkischen Publizisten Eugen Diederichs, der kurzzeitig als Verleger für George-Schriften in Betracht gezogen wurde. Auch einige Anthroposophen fanden sich im Umfeld Diederichs und des „That“-Kreises. (S. 98, vgl. Staudenmaier: Between Occultism and Nazism, S. 81ff.)
Grenzgänger
Nicht der gesamte George-Kreis und nicht dessen ganzes Umfeld standen der Theosophie so skeptisch gegenüber wie der Meister. Georges Buchillustrator Melchior Lechter – eine Schlüsselfigur, der Stottmeister mehrere Kapitel widmet – und einige andere wurden sogar Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft. Blavatskys kosmische Evolutionsmetaphysik beeinflusste Lechters Werke und ging damit in die ästhetische Gestaltung von Georges publiziertem Oevre ein. Die Theosophie-Begeisterung Lechters hat George wohl zu Beginn wenig gestört, war aber einer der Gründe für seine Distanzierung um 1910. Zu diesem Schisma trug auch eine theosophisch motivierte Indienreise Lechters bei, die er gemeinsam mit dem jüdisch-stämmigen Karl Wolfskehl unternahm, einem weiteren Georgianer mit Theosophie-Mitgliedschaft. Während Lechter George als ebenbürtigem Freund begegnete und zahlreiche andere Jünger sich dem Meister gegenüber wie gewünscht devot verhielten, repräsentiert Wolfskehl den eher individualstischen Typ des spirituellen Suchers. Die von George gesetzten ideologischen Grenzen waren für die umfangreichen Studien Wolfskehls, zu denen auch allerlei Esoterisches gehörte, sekundär. (S. 256f.)
Ebenfalls um 1910 ergab sich eine kurzlebige Bekanntschaft Georges mit dem okkultistischen Schriftsteller Alexander von Bernus, der bereits seit 1905 mit Wolfskehl befreundet war und von Lechter an die Theosophie herangeführt wurde. Bernus hatte ein Klostergebäude in Heidelberg geerbt, wo er ein „George-Zimmer“ einrichtete. „George ließ sich feierlich empfangen, genoss die gespenstische Atmosphäre des einstigen Benediktinerklosters und nahm amüsiert an den spiritistischen Séancen teil, die Bernus und Wolfskehl veranstalteten.“ (S. 266) Schließlich störte sich Bernus am autoritären Gestus Georges, den er verehren, dem er sich jedoch nicht unterwerfen wollte. Zeitgleich mit Lechter trat er am 30. August 1910 in die deutsche Abzweigung der Theosophischen Gesellschaft ein. 1911 stellte Bernus den Kontakt zu den Georgianern ein.
„Der Abbruch fiel ihm umso leichter, weil er für George inzwischen einen hohepriesterlichen Ersatz gefunden hatte. Nach der Konversion zur Theosophie, die Lechter angestoßen hatte, war er im Herbst 1910 in München dem Chef der deutschen Theosophen persönlich begegnet: Rudolf Steiner. Von der Begegnung tief beeindruckt, begann er sein Leben nun auf Steiner auszurichten, der zwar ebenfalls einen charismatischen Herrschaftsanspruch vertrat, aber Benus auch die Rolle des verbündeten Herzogs gewährte, der dem Kaiser unter Wahrung seines Selbstgefühls dient … Stift Neuenburg, der Ort seines zeitweiligen George-Kultes, sollte nach Bernus Hoffnungen nun eine anthroposophische Kultstätte werden … Steiner lehnte das Angebot ab: ‚Karma‘ und ’spirituelle Gründe‘ … wiesen ihn auf den Standort Dornach in der Schweiz, wobei die esoterische Begründung auch den offenkundigen Vorzug verhüllte, dass in Dornach die baugesetzlichen Bedingungen günstiger waren.“ (S. 269f.)
Steiners Übertragung der Theosophie in die anthroposophischen Praxisfelder assistierte Benus mit der Durchführung von eigenen „heilkundlich-alchemistischen Laborversuchen“, wie Stottmeister weiter ausführt. Außerdem wird deutlich, dass die von Bernus gegründete Zeitschrift „Das Reich“, in der Steiner öfter publizierte, wohl eine kritische Antwort auf Georges „Reichs“-Phantasien war.
Weitere Beispiele solcher Grenzgänge(r) und Konversionen, die in der Studie interpretiert werden, sind der Komponist und Schriftsteller Cyril Scott und, in ganz anderer Weise, Ernst Bloch. Der letztere erwähnte 1917 in einem Brief an den (damals gleichfalls noch neoromantisch gesinnten) Freund Georg Lukács enthusiastisch „das ‚Reich‘, das Bernus herausgibt (endlich George + Steiner)“. (S. 271) Stottmeister argumentiert überzeugend, dass Blochs „Geist der Utopie“ weitenteils eine Synthese der „Lichtbringer“ George und Steiner war. Der letztere wurde darin mit einigem Hohn übergossen, Bloch teilte auch die Kritik am theosophisch-anthroposophischen Wissenschaftsverständnis: Ihre „unreligiöse“ Methodik versperre den Weg zum Göttlichen. Aber das stand seiner Wertschätzung der Theosophie (vor allem ihrer Reinkarnationslehre) nicht im Wege. Ziel Blochs war eine „geläuterte Geheimwissenschaft“. Dazu Stottmeister:
„Das Problematische dieses Vorschlags ist offenkundig. Einem Geheimlehren-Gebäude, das sich selbst aus Versatzstücken religiöser Überlieferungen und hellseherisch erlangtem Wissen konstituierte, ließen sich keine Elemente entnehmen, die eine weniger kompilatorische, weniger willkürliche ‚Geheimwissenschaft‘ begründeten. Und weil die Theosophie sich als wissenschaftliche Alternative zu den akademisch ‚materialistischen‘ Wissenschaften verstand, konnte sie nicht aus der Ablehnung ihres Wissenschafts-Anspruchs heraus fortgeschrieben werden.“ (S. 276)
Bloch hätten diese Einwände freilich nicht beeindruckt. Aus seiner eigenen messianischen Vergeistigungslehre der Menschheit verbannte er die theosophische Evolutions- bzw. konkret Wurtelrassenschematik. Vor allem aber begegnete er dem abgelehnten Wissenschaftsverständnis durch einen dezidiert mystifizierenden, „dunklen“ Schreibstil, was ihn wiederum näher an den George-Kreis rückt und eine epistemologische Aufwertung der Kunst im Schlepptau führt. Letztlich, so Stottmeister, stilisierte sich Bloch gegenüber George und Steiner zum besseren Seher, der auch die bessere, eben „geläuterte“ esoterische Mitteilung zu bieten hatte. Den von Steiner pejorativ benutzten Begriff des ‚atavistischen Hellsehens‘ gab er an diesen selbst zurück. Die Identifikation mit George und der Theosophie war nur eine von vielen religiösen Anwandlungen Blochs. 1911 hatte er sich noch gegenüber Lukács als heiliger Geist offenbart, nach der Oktoberrevolution wandte er sich, ungebrochen messianisch, dem historischen Materialismus zu – doch das bedeutete keinen Verzicht auf den Anspruch höherer Einsicht, den er auch in späteren Jahren und Publikationen artikulierte. „Für die Verdrängung seiner theosophischen Sympathien sorgte nicht Bloch, sondern die Bloch-Rezeption.“ (S. 286)
Hier schneidet die Studie ein in der Esoterik-Forschung deutlich zu wenig beachtetes Feld an. Die okkulten Wurzeln einiger linker Theorien und und das ganze Feld der deutsch-jüdischen Intellektuellen wurden bisher fast nur in ihren (allerdings überwiegenden) esoterikkristischen Beiträgen wahrgenommen. Zur selben Zeit, als Bloch sich gegenüber Lukács über „Steiner + George“ in Bernus‘ Zeitschrift freute, las auch ein gewisses Berliner Intellektuellenpaar dieselben Texte: Gershom Scholem – der spätere Kabbalaforscher hatte sich nach 1910 ebenfalls vorübergehend für den Messias gehalten – und Walter Benjamin, der theologische Mentor Adornos:
„Wir sprachen über … die von Anhängern Rudolf Steiners seit kurzem herausgegebene Zeitschrift ‚Das Reich‘, dessen erste Nummmer er [Benjamin] mir [Scholem] bei meinem Besuch im Juni geborgt hatte. Mehrere der sehr esoterischen Aufsätze hatten ihn beeindruckt, und er erzählte, dass er Max Pulver, mit dem er das Interesse an Baader und an Graphologie teilte, in diesem Jahr kennengelernt habe … In Heidelberg sah Benjamin einmal Stefan George auf einem Spaziergang am Schlossberg, und seine Erscheinung machte starken Eindruck auf ihn. Die Bindung an Julia Cohn an die Schule Georges, in deren Umkreis sie 1916 durch Robert Böhringer geraten war, hat bei ihm noch lange eine gewisse Spannung für die Figur Georges enthalten.“ (Scholem: Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt a.M. 1975, 39, 142)
Die internationale Theosophie, das esoterische Gravitationsfeld im deutschen Kulturleben um 1900 und die sich daraus orakelnd erhebenden Meister George und Steiner hatten ohnehin weit mehr Auswirkungen, als sich zwischen zwei Buchdeckel bringen ließen. So darf man sich auf die Aufnahme und Weiterführung der durch Stottmeister angestoßenenen Perspektiven zweifellos freuen.
Kritik der Forschungsgeschichte
Obwohl Stottmeister Georges dichterisches Werk weniger berücksichtigt, wendet er sich enthusiastisch gegen die Marginalisierung des Okkulten in der Literatur- und Kunstgeschichte. Hier kritisiert er auch den Umgang der bisherigen George-Forschung mit der in seiner Studie aufgezeigten Theosophie-Rezeption.
„Selbst wenn die Beschäftigung so offen zutage liegt wie in den okkultistischen Literaturhinweisen in Kandinskys ‚Über das Geistige in der Kunst‘, bleiben die Hinweise Jahrzehnte lang unbeachtet. Was hatte moderne Kunst mit der Geisteskrankheit des Okkultismus zu schaffen? Wer den Hinweisen dennoch nachgeht, wird als kunsthistorischer Wünschelrutengänger ignoriert. Auch in der Literaturwissenschaft herrscht eine Okkultismus-Phobie … in der sich die akademische Aversion gegen ‚das Okkulte‘ auf die literarische Moderne zurückprojiziert. Entweder folgen die Literaturwissenschaftler der Nachkriegsmethode des New Criticism und blenden – analog zur Kunstwissenschaft, in der sich formalistische Deutungen durchsetzen – historische Kontexte methodisch aus dem Textverständnis aus. Oder sie beschränken ihre Kontextforschung auf akademisch anerkannte, ihnen selbst bekannte Quellen. Dazu gehört beispielsweise Nietzsche, der die Geisteswissenschaften seit der Jahrhundertwende beeinflusste und der auch seine zeitweilige Bewertung als Proto-Nazi übersteht. Die Nietzsche-Begeisterung ist immer noch verständlich, zumal Nietzsche um 1970 als Vordenker der ‚Postmoderne‘ neu belebt wird. Unverständlich bleibt dagegen, dass einige der avanciertesten literarischen Modernisten okkultistische Bücher studierten. Das akademische Interesse an Autoren wie Nietzsche wird den literarhistorischen Forschungsobjekten zuerkannt, die akademische Okkultophobie wird ihnen unterstellt.“ (S. 323f.)
Andererseits gibt sich Stottmeister auch nicht der bei manchen Esoterikforschern spürbaren affirmativen Aufwertung seines Gegenstands hin. Er beschränkt sich auf dessen relativ nüchterne historische Rekonstruktion. An manchen Stellen hätte man sich – nicht zuletzt gegenüber George, der den humanistischen Ambitionen einiger Theosophen wohl kaum das Wasser reichen konnte – durchaus stärkere Wertungen gewünscht. So bleiben die engagiertesten Stellungnahmen des Buches, wie in der Historikerzunft leider oftmals üblich, forschungsgeschichtlich. Das dürfte auch für die eindimensionale Schilderung der theosophischen Rassentheorie verantwortlich sein. Diese Schilderung richtet sich gegen deren theosophische Apologeten (namentlich genannt wird James A. Santucci), aber mehr noch gegen die Stilisierung der theosophischen Wurzelrassenlehre zum Proto-Nationalsozialismus. Dem ist durchaus zuzustimmen, obwohl Stottmeister Nazis mit theosophisch-anthroposophischen Interessen ebenso wenig berücksichtigt wie Theosophen und Anthroposophen mit nationalsozialistischen. Dass Theosophie und Anthroposophie den Nationalsozialismus auslösten, behauptet inzwischen keine vernünftige Stellungnahme mehr. Dass aber sowohl die Theosophie als auch die „geistige Bewegung“ Georges ihr Schärflein zum ideologischen Mosaik beitrugen, das sich in den Nationalsozialismus und in die Imagination der „Volksgemeinschaft“ fortsetzte, ist durchaus festzuhalten – nicht gegen Stottmeisters Untersuchungen, sondern für ein komplexeres Verständnis jener Gemengelage, an welcher alle Vereindeutigungsversuche scheitern müssen.
Im Anschluss u.a. an Peter Staudenmaier (vgl. Esoterische Alternativen im deutschen Kaiserreich) hebt Stottmeister zum Einen hervor, dass das esoterische Rassendenken gerade einen ihrer modernen Züge repräsentiert und (wieder einmal) wissenschaftlichen Debatten ebenso entlehnt wie entgegengesetzt war:
„Dass ihre [Blavatskys] eigene Anthropogenesis das Konzept der Rassen-Taxonomie nachahmte, versteht sich im wissenschaftsgeschichtlichen Kontext von selbst. Es gab kein anderes Konzept. Blavatsky übernahm das Wurzel- und Unterrassenschema wie sie grundsätzlich alles, was im Glanz wissenschaftlicher Respektabilität funkelte – von der Sanskrit- zur Elektrizitätsforschung – dem akademischen Diskurs entwendete und ins Elsternnest ihrer theosophischen Metaphysik trug.“ (S. 361)
Auf die inner-esoterischen Quellen der theosophischen Rassenlehre – z.B. bei Fabre d’Olivet oder in der Hermetic Brotherhood of Luxor – wird nicht eingegangen. Dafür kommt in dem Buch die internationalistische politische „Brüderschafts“-Rhetorik der Theosophical Society zu ihrem Recht und wird sehr empathisch beschrieben. Angesichts ihrer politischen Zielsetzungen sei die theosophische Rassenlehre, so Stottmeisters Fazit, am besten im „Oxymoron eines rassentheoretischen Antirassismus“ zu fassen. Leider werden die eigentlich rassistischen Theoreme Blavatskys dabei jedoch eher angedeutet und erwähnt als ausführlich rekonstruiert – hinreichend problematisiert wird allenfalls ihr Antisemitismus. (S. 353) Auch Stottmeisters Versuch, die widersprüchliche theosophische Stellung zur „Rassenfrage“ vereindeutigend festzulegen, ist zu eindeutig. Die Spannung von Humanismus und Rassismus gehört überdies zur Urgeschichte des westlichen Rassedenkens (wie man an Linné, Herder, Kant und vor allem Blumenbach zeigen könnte) und kommt wahrlich nicht erst mit der Theosophie im 19. Jahrhundert auf. Mir erscheint Stottmeisters Analyse hier ergänzungsbedürftig, allerdings ist dem sogleich hinzuzufügen, dass die Rassenlehre Blavatskys keinen Hauptteil seiner Studie darstellt, sondern im Unterkapitel eines Exkurses „Helena Blavatsky, Alfred Schuler, Stefan George und die westliche Deutungsgeschichte des Swastika-Zeichens“ vorkommt.
Dieser Exkurs beschließt das Buch mit dem Jahr 1933, der Ächtung jüdischer George-Jünger und der nationalsozialistischen Verstrickung des Meisters. Wieder einmal ähnlich zu vielen Theo-/Anthroposophen wollte George sich lieber ins apolitisch-geistige zurückziehen und war zugleich von den Parallelen zutiefst überzeugt. Er wäre freilich lieber selbst „Führer“ des „geistigen Deutschland“ gewesen.
„George selbst hatte 1933 zu den vielen Elogen, die ihn anlässlich seines 65. Geburtstags als Ahnherrn des Dritten Reiches priesen, zwar öffentlich geschwiegen, aber aber sein Schweigen war kein Protest gewesen, sondern stilles Wohlgefallen … [er bestand] ausdrücklich auf seinem geistigen Anteil am Nationalsozialismus. Das Amt [als Präsident der Dicherakademie] ausschlagend, nahm er zugleich die Rolle des Ahnherrn an … So wie er sich politisch jeder Festlegung entzog, vermied George 1933 auch jede Stellungnahme zum Antisemitismus der Nazis … Aber ein amoralischer Zyniker, der sich in Zweideutigkeiten gefiel, wo Eindeutigkeit not tat, war er in seinem letzten Lebensjahr mehr denn je … Gegen die Auslegung des ’neuen Reichs‘ als Drittes Reich hat George nie einen moralischen Vorbehalt geäußert. … Unbehaglich war ihm nur, dass diese Deutung jede andere Deutungsmöglichkeit zu überstimmen drohte. Sie verstand seine Prophetien als erfüllt und begrenzte damit deren Sinn auf das Jahr 1933. George sah sich nun wirklich in die Konstellation des ‚Dichters in Zeiten der Wirren‘ versetzt, in welcher der Dichter kein Führer ist, sondern nur Prophet eines Führers … Indem er öffentlich schwieg, geheimdiplomatisch Ahnherrschaft einbekannte und dennoch unklar ließ, ob die ‚herrn der regierung‘ sein Werk richtig einschätzten, versuchte er seinen poetischen Sinn-und-Zeichen-Spielen die Vieldeutigkeit zu erhalten. Aber an diesem historischen Punkt wurden alle Bedeutungen neu verhandelt.“ (S. 386ff., 397f.)
Spätestens hier trennt sich die Konkurrenzgeschichte von Theosophie und George-Kult, denn die erstere wurde zur Enttäuschung einiger Anhänger im NS-Staat eher bekämpft und 1937, im Todesjahr Lechters, verboten. Den „friedfertigen Internationalismus“, den Stottmeister durchaus zurecht bei Blavatsky findet (S. 232), kann man den deutschen Theosophen nach 1933 – ja, oftmals bereits nach dem Ersten Weltkrieg – nicht mehr in der Eindeutigkeit unterstellen. Vielleicht ein Grund mehr, die wie auch immer schwer verständliche Figur und Wirkung Blavatskys analytisch von ihren deutschtümelnden Rezipienten zu trennen.
Die Scheidung der Geister: Eine Zwischenbilanz zur anthroposophischen Erinnerungskultur
„Unter Steiners heutigen Schülern ist die Geschichte der anthroposophischen Bewegung im nationalsozialistischen Deutschland noch weitgehend unaufgearbeitet; der Hintergrund der gestörten Verflechtungen mit völkischen Strömungen so gut wie unerkannt. Diese uneingestandene Vergangenheit wirkt entsprechend nach und erschwert die ohnehin mühsame Diskussion zwischen Anhängern der „Geisteswissenschaft“ und nichtanthroposophischen Wissenschaftlern. Möglicherweise steht die Anthroposophie, ihrem Selbstverständnis nach Sprachrohr des deutschen Geistes, noch einmal am Scheideweg im Hinblick auf ihren eigenen Werdegang.“
– Peter Staudenmaier: Der deutsche Geist am Scheideweg
„Nach dem Krieg glaubte man anderes zu tun zu haben und leugnete oder vertuschte den eigenen … Anteil an dieser unrühmlichen Vergangenheit. Das Problem, über Jahre mit seinen spirituellen oder vermeintlich spirituellen Urteilen versagt zu haben, wurde verdrängt. Es darf aber in der Geschichte der [Anthroposophischen] Gesellschaft nicht fehlen, denn es strahlt auch in andere Schichten des gesellschaftlichen Geschehens aus…“
– Klaus Hartmann: Herbert Witzenmann. Eine Biographie, s.u.
„Hans Büchenbacher zum Gedächtnis“ hieß eine Veranstaltung, die am 13. September im Herbert-Witzenmann-Zentrum Dornach stattfand. Dort spielte Wolfgang von Dechend Musik des in Auschwitz ermordeten Anthroposophen Viktor Ullmann, sprach Klaus Hartmann über die Beziehung von Büchenbacher und Witzenmann. Zum Schluss hielt ich einen Vortrag über die Geschichte der Anthroposophie im Nationalsozialismus sowie Büchenbachers apokalyptische Philosophie nach 1945. Hätte mich vor Kurzem überrascht, dass derlei in Dornach überhaupt Raum findet, so war doch ein weiterer Umstand noch überraschender: Das Publikum. Jene kreischenden Anthroposophen, die ihre eigene Kritikunfähigkeit wie eine Monstranz vor sich hertragen und jeden Kritiker für einen willentlichen Lügner halten – hier fehlten sie zur Gänze. Es war aber nicht das erste Mal, dass ich gerade zu diesem heiklen Thema vorbehaltlos kritische Diskussionen mit Anthroposophen führen konnte. Offensichtlich gibt es bei manchen in der Szene inzwischen die ehrliche Bereitschaft, sich selbstkritisch mit den faktischen Verschmelzungen von Anthroposophie und völkischem Gedankengut zu konfrontieren.
Hans Büchenbachers zu gedenken, heißt auch, zu bedenken, dass nach 1933 wohl die meisten Anthroposophen Nazis waren – oder alternativ einer politisch schlicht naiven Hoffnung auf das „geistige Deutschtum“ anhingen, das gewiss irgendwann von Hitler erkannt werden würde. Von „zwei Dritteln“, die sich „mehr oder weniger“ positiv zu den Nazis stellten, schreibt Büchenbacher. Vieles spricht für seine Beobachtung. „Offenbar verhindert nur der starke Anteil anderer Länder an der anthroposophischen Bewegung, dass diese geschlossen zu Hitler übergeht.“ schrieb 1935 besorgt Ernst Bloch, der 1917 noch eine Synthese von Steiner und Husserl schreiben wollte. Vorstandsmitglied Guenther Wachsmuth begeisterte sich im anthroposophischen Nachrichtenblatt (Nr. 26/1933): „Es ist gut zu sehen, dass diejenigen, die ‚dabei‘ sein wollen, auch in unseren Reihen überwiegen.“ Ein irritierendes weiteres Beispiel ist Roman Boos, enger Vertrauter von Steiners Witwe, dessen zahllose Vorträge über Steiner und die „deutsche Erneuerung“ gar so viel Aufmerksamkeit erregten, dass umgekehrt nazistische Esoterikgegner ihre Schritte gegen die Anthroposophie beschleunigten. (vgl. „Die nazistischen Sünden der Dornacher“?) Zwar wurden die meisten anthroposophischen Organisationen letztendlich geschlossen und verboten, doch nach der Einsicht von Franz Neumanns „Behemoth“ gehörte zum Grauen des Nazismus auch seine Fähigkeit, „einen Teil seiner Opfer zu Anhängern zu machen.“
Dies und anderes erwähnte ich auch am 13.9. im Witzenmann-Zentrum. Es war nicht die erste Veranstaltung zu Büchenbachers „Erinnerungen“ und meinen Recherchen auf deren Spuren. Schon im Mai hat eine entsprechende Podiumsdiskussion in Hannover stattgefunden, zu der der dortige Pfarrer der „Christengemeinschaft“, Frank Hörtreiter, geladen hatte. Im März wiederum war ich zu meiner Überraschung zu den von Junganthroposophen organisierten „Rudolf Steiner Forschungstagen“ eingeladen worden, über „Die Einführung des Nationalsozialismus in die Anthroposophie“ vorzutragen. Alle drei Male war ich überrascht, welche Rückmeldungen und Diskussionsbeiträge kamen. Von zahlreichen Veranstaltungen und aus noch mehr LeserInnen-Mails kenne ich das leider durchaus wahre Klischee des pöbelnden anthroposophischen Mobs.
Hier ganz anders: Nicht einer der Anwesenden schwang sich zu apologetischen Verharmlosungen anthroposophischer Nazisympathisanten auf. Vielmehr wurde etwa kritisch nachgefragt, wie denn Büchenbacher selbst zu seinem jüdischen Vater gestanden habe. Oder diskutiert, wie das Verhalten des Vorstandsvorsitzenden Albert Steffen zu erklären (und zu werten) sei. Steffen hielt, wie man an zahllosen Tagebucheinträgen sehen kann, Hitler für den Antichristen, brachte es aber offenbar bis 1935 nicht über sich, öffentlich gegen Wachsmuths und Marie Steiners von Boos beeinflussten Kurs zu protestieren. Steffen setzte ganz auf eine Überwindung des Bösen durch „geistigen“ Widerstand, den der Dichter in seinen Dramen ausdrücken wollte. Immer wieder war bei den Diskussionen der apokalyptische Einschnitt Thema, den der „Zivilisationsbruch“ Auschwitz darstellt, eben auch für die anthroposophische Geschichte.
Im Witzenmann-Zentrum war unerwartet sogar eine hoch betagte Schwiegertochter Büchenbachers anwesend. Aus dem Gedächtnis steuerte sie allerlei zur Person Büchenbachers bei, bekräftigte energisch, wie ihm die „geistige Welt“ nach 1945 verdunkelt schien und wies nicht zuletzt auf die Blindheit „fanatischer“ Anthroposophen hin. Immer wieder fielen auf den drei Veranstaltungen Worte, die auch Büchenbachers verbitterte Semantik im Rückblick auf seine Genossen in der Nazizeit prägen: „Versagen“ der Anthroposophie, „Verrat“ an den eigenen Prinzipien.
Ich betone demgegnüber Kontinuitäten: Ein Richard Karutz zitierte 1934 „Mein Kampf“ und meinte, damit ausgerechnet die anthroposophische Ich-Philosophie zu erläutern. Ein Jürgen von Grone schrieb während des Zweiten Weltkriegs über eine Weltverschwörung angloamerikanischer „Geheimgesellschaften“, die trotz des „Führers“ „Bemühungen“ um den Frieden den Krieg angezettelt hätten. Dies speist sich offenkundig aus Steiners Konspirationsmodellen aus dem Ersten Weltkrieg. Roman Boos‘ Wahn für die „deutsche Erneuerung“ stellt eine gewiss einseitige, aber konsequente Verlängerung von Steiners Völkerpsychologie dar. Die universalistischen Widerlager in Steiners Weltanschauung wurden dabei nicht vergessen, sondern (siehe Karutz) schlicht nicht als solche empfunden. Mit Jean Améry (in „Jenseits von Schuld und Sühne“) könnte man formulieren, dass an Auschwitz jeder Geist, der diesen Namen verdiente, vor der Wirklichkeit versagte. Wie Nietzsche, Hölderlin und Beethoven, die Améry exemplarisch nennt, lies sich auch Steiner scheinbar rest- und fugenlos in die nazistische Kultursubreption einbauen.
Dass heutige Anthroposophen derlei nüchtern konfrontieren können, dafür wird wohl 2011 eine (freilich diskutable) Äußerung Bodo von Platos Dämme gebrochen haben, nach der die Anthroposophie auf den „ganzen Menschen“ setze, worin man eine „Disposition für alle totalitären Systeme“ erkennen könne, so dass Anthroposophen „vielleicht besonders empfänglich“ gewesen seien und sich heute besonders kritisch mit dieser „anthropologischen Disposition“ beschäftigen müssten. (vgl. Vielleicht besonders empfänglich) Die beginnenden, oft noch marginalen Versuche unter Anthroposophen, völkische Umtriebe ihrer Vorgänger kritisch zu realisieren, sind jedoch selbst Anthroposophie. Sie sind zeitgeschichtliche (Neu)Konstruktionen der Weltanschauung Steiners. Sie gehen mit einer entsprechenden Umdeutung Steiners, einer Verlagerung von Prioritäten einher. Dies ist ein ideologischer Selektions- und Transformationsprozess, aber wohl ein notwendiger, wie kürzlich auch Peter Staudenmaier angedeutet hat:
„Here is much more for Steiner’s followers to learn about the legacy they carry. There is no reason for anthroposophists to despair in the face of this task. Honest engagement with the past can be a boon to alternative spiritual movements, and anthroposophy is no exception. If it helps devotees of Steiner grapple with the topic, they can think of it as something Steiner himself would have encouraged. At its emergence a century ago, anthroposophy represented the flowering of German aspirations for an occult enlightenment. Its latter-day adherents do not need to abandon these hopes for a better world and enhanced consciousness and a different mode of life. Their dreams of more lucid understanding, of changed human relationships, of a new approach to nature, of a world freed of spiritual narrowness are all eminently worth seeking and striving toward. But realizing such a vision calls for other means, including clear-eyed social critique and political engagement. Those means are all too often hindered, rather than furthered, by esoteric ideals and practices. Far from forsaking their high ambitions, anthroposophists need only reflect candidly on what it is that has kept these aims from being fulfilled for so long. Facing up to their own history, straightforwardly and without excuses, will be an indispensable step on that path.“
Bei der erwähnten Podiumsdiskussion in Hannover saß auch der Waldorflehrer Arfst Wagner auf dem Podium, der Anfang der 90er als erster selbstkritisch aus anthroposophischer Perspektive über die Nazizeit geschrieben hat. Er berichtete unter anderem, welch energische Opposition seine Publikationen auslösten: gezielte Boykottaufrufe gegen seinen Verlag zum Beispiel. Oder persönliche Anfeindungen des angeblichen „Nestbeschmutzers“, der „karmisch längst ausgeglichene“ Themen hervorziehe und den bösen Anthroposophiegegnern Futter liefere. Er habe sich daraufhin immer mehr vom Thema ab- und der Politik zugewandt, berichtete Wagner, der für die GRÜNEN im letzten Bundestag saß – und ungebrochen Eurythmielehrer an der Waldorfschule Rendsburg ist.
Von dem feindseligen Klima, das sich in den Neunzigern noch zur Hetzjagd auf Arfst Wagner steigerte, habe ich seit Veröffentlichung der Memoiren Hans Büchenbachers nichts, und ich meine: nichts zu spüren bekommen. Zweifellos ist das seinen Pionierarbeiten zu verdanken, ebenso wie derjenigen Uwe Werners und schließlich Peter Staudenmaiers jüngeren Forschungen – nicht auch zuletzt Michael Eggert, der seit Jahren Texte Staudenmaiers auf seinem Blog zur Verfügung stellt. Last but not least ist Andreas Lichte zu nennen, der mit vernichtenden Artikeln zum Thema bei den „Ruhrbaronen“ 2012 eine breitere Aufmerksamkeit auf Staudenmaiers Funde gelenkt hat. Wie der Einschlag Lichtes und Staudenmaiers zeigt, hinterlässt auch scharfe externe Kritik bisweilen ihre noch so sublimen Spuren im anthroposophischen Selbstverständnis. Spuren, die sich vertiefen können.
Und doch fallen diese neueren Entwicklungen auf einen gern übersehenen, aber vorhandenen Boden. Es gibt sie, die intern leisen und extern praktisch nicht wahrgenommenen Anthroposophen, die beispielsweise aus der Beschäftigung mit Steffens Tagebüchern oder aus dem Wissen um die Gegner des anthroposophischen Widerständlers Karl Rössel-Majdan (der nach 1945 Probleme mit nazi-affinen Kollegen bekam, vgl. Anthroposophie im Widerstand) längst wissen, wie viel anthroposophischerseits im Argen lag und liegt. In der ersten Reihe anthroposophischer Weltanschauungspolitik stehen diese offenkundig nicht.
Herbert Witzenmann (1905-1988), eine sehr umstrittene und marginalisierte Figur in der anthroposophischen Geschichte, repräsentiert vielleicht einen weiteren solchen Strang. Wie Büchenbacher studierter Philosoph und mit diesem seit den 50er Jahren im Austausch, stellte Witzenmann ein Leben lang Steiners frühe philosophische Schriften ins Zentrum seines Interesses. Er lebte zu Beginn der Naziära in Pforzheim, und genau hier wurde ihm sehr schnell vor Augen geführt, was vom Nationalsozialismus zu halten war.
Im „Pforzheimer Anzeiger“ startete der enttäuschte Ex-Anthroposoph und nationalsozialistische Steinerhasser Gregor Schwartz-Bostunitsch („Rudolf Steiner. Ein Schwindler wie kein anderer“) sehr früh eine wirkungsvolle Hetzkampagne gegen die Anthroposophie. Dann wurde noch Witzenmanns Freund Fritz Schnurmann, Arzt jüdischer Abstammung und Pforzheimer „Zweigleiter“, 1935 inhaftiert, weil er zusammen mit einem ehemaligen SPD-Mitglied die Broschüre „Man flüstert in Deutschland. Die letzten Witze über das Dritte Reich“ verbreitet habe. Witzenmann riet Schnurmann nach seiner Entlassung, zu emigrieren. Solche Erfahrungen waren Witzenmann offenkundig Lehre genug über den Nationalsozialismus. Der Gastgeber der Büchenbacher-Gedenkveranstaltung am 13. September in Dornach, Klaus Hartmann, steuerte einen Vortrag über das Verhältnis Witzenmann – Büchenbacher bei. Im ersten Band seiner umfangreichen Witzenmann-Biographie zeichnete Hartmann 2010 dessen Distanz zum Nationalsozialismus nach. Er verstieg sich jedoch nicht dazu, Witzenmann als Sprungbrett zum „Anthroposophen waren gegen Hitler immun“-Mythos zu missbrauchen, sondern schrieb:
„Die aus der Perspektive der Verfolgung verfasste Arbeit von Uwe Werner verzichtet weitgehend auf eine selbstkritische Analyse von Haltungen von Mitgliedern der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft zur NS-Ideologie, auch wenn er die Erinnerungen Dr. Hans Büchenbachers als zuverlässig (S. 27) wertet und ausgiebig zitiert. Büchenbacher möchte aber gerade mit seinen Erinnerungen auf den schwerwiegenden Verrat an der anthroposophischen Sache durch viele führende Anthroposophen aufmerksam zu machen, der 1935 durch das Gesellschaftsverbot unsichtbar gemacht wurde … Nach dem Krieg glaubte man anderes zu tun zu haben und leugnete oder vertuschte den eigenen, wenn auch zuallermeist nur in der Gesinnung liegenden Anteil an dieser unrühmlichen Vergangenheit. Das Problem, über Jahre mit seinen spirituellen oder vermeintlich spirituellen Urteilen versagt zu haben, wurde verdrängt. Es darf aber in der Geschichte der [Anthroposophischen] Gesellschaft nicht fehlen, denn es strahlt auch in andere Schichten des gesellschaftlichen Geschehens aus … Viele Angaben zu allen möglichen Gesellschaftsvertretern in den durchweg verklärenden Biographien sind in dieser Hinsicht wertlos. Zu den bei Arfst Wagner veröffentlichten Dokumenten und Stellungnahmen gibt es noch immer keine von Seiten des Goetheanums die Binnenperspektive überschreitende Darstellung.“ (Klaus Hartmann: Herbert Witzenmann 1905-1988. Eine Biographie, I, Dornach 2010, S. 180f.)
Solche Stimmen machen Mut. Auch am 13. September in Dornach hat Hartmann seine kritische Einschätzung – verschärft – wiederholt.
Natürlich ist Anthroposophiekritik weit, weit mehr als Kritik an Verschmelzungen von völkischem Denken und Anthroposophie: Die problematischen Aspekte und paranoiden Züge, von der Waldorferziehung bis zum Werbecksingen, sind Legion. Man denke nur an die kontinuierlichen Attacken, die von verquast-orthodoxen Anthroposophen selbst gegen einen Steiner so geneigten Wissenschaftler wie Christian Clement ausgehen. Aber diese Verschmelzungen stellen, historisch und gesellschaftlich, einen der mit Abstand gefährlichsten Umstände dar. Sie wurden unter Anthroposophen lange derart offensiv verdrängt und verbogen, dass die Verdrängung sich bis zur armseligen Affirmation von Nazi-Anthroposophen steigerte. Lorenzo Ravagli karikierte etwa die nazi-affine Elisabeth Klein zu einer „Waldorflehrerin, die sich mutig für die Weiterexistenz ihrer Schule gegen die nationalsozialistischen Machthaber einsetzte“. (Ravagli: Unter Hammer und Hakenkreuz, Stuttgart 2004, 212) Tatsächlich setzte sie, die in herzlichem Kontakt zu verschiedenen Nazigrößen stand, sich für die Einbindung ihrer Schule in ein nationalsozialistisches Versuchsschulprogramm ein. Selbst in ihrer Autobiographie verharmloste sie beispielsweise noch den Naziphilosophen Alfred Bäumler, der versucht hatte, sich als eine Art neutraler Gutachter im nationalsozialistischen Streit um die Waldorfschulen zu etablieren.
Solch verzweifelte Beschönigungsversuche werden nicht über Nacht verschwinden. Aber vielleicht werden sie in Zukunft abnehmen. Vielleicht bleiben eines schönen Tages ihre Kunden aus. Vielleicht darf man mit und trotz Büchenbacher hoffen, dass die diesbezüglich klarsichtigen Anthroposophen mehr als bisher aus dem Schatten treten. Auch zu Büchenbacher muss man letztendlich historisch-kritisch Distanz einnehmen: Er raunt beispielsweise über schwarzmagische „Logen“, die hinter dem Nationalsozialismus standen – ironischerweise hatte er derlei, wie er selbst unverblümt in den „Erinnerungen“ schreibt, aus dem Buch „Bevor Hitler kam“ des Nationalokkultisten Rudolf von Sebottendorff übernommen. Hier trifft zu, was Nicholas Goodrick-Clarke über die „Nazi-Mysterien“ schreibt:
„Man muss eben die Mystifikation von dem empirisch Beweisbaren trennen. Wie einst die Nazis ihre putativen arischen Ahnen mythologisierten, um ihren Anspruch auf rassische Überlegenheit zu begründen, so werden in jüngerer Zeit die Nazis ihrerseits mythologisiert, nämlich zu einer einzigartigen Kraft des Bösen – von gewissen obskurantistischen Schreibern, die dergestalt ihren esoterischen oder verschwörungstheoretischen Spintisierereien ein Fundament geben wollen … Zwar liegt den meisten Nazi-Mystifikatoren gewiss der Vorsatz fern, Nazi-Apologie zu betreiben, doch nutzen Interessierte deren Mystifikationen längst in genau diesem Sinne … Die geächteten Führer des Nationalsozialismus und ihre Ideen erscheinen jetzt wie verbotene Götter eines dunklen Reichs – ein Faszinosum für nicht weniger, die der Reiz des Verbotenen lockt.“ (Goodrick-Clarke: Im Schatten der Schwarzen Sonne, Wiesbaden 2009, S. 264f.)
Sollten sich jene Keime einer nazikritischen Anthroposophenschaft in der Bewegung verbreitern: Für viele von ihnen mögen dann die „Nazi-Mysterien“ eine Versuchung sein, aufgrund des eigenen spirituell-mythologischen Geschichtsbildes. Aber eine, der durch die wache Beachtung des historisch Nachweisbaren widerstanden werden kann. So muss man mit Blick auf Büchenbachers okkulte Verschwörungstheorien erwähnen, dass der Anthroposoph Christoph Lindenberg bereits 1978, Jahre vor dem Erscheinen von Goodrick-Clarkes einschlägigen Schriften, Sebottendorffs Nazimystifikationen vernichtend kritisiert hat (vgl. Lindenberg: Die Technik des Bösen, 3. Auflage, Stuttgart 1985, S. 15-25). Auf die weiteren Entwicklungen darf man wohl durchaus gespannt sein.