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Wissenschaft, Mythos und andere unproduktive Etikettierungen – Hartmut Traub zu Heiner Ullrich

Plädoyer für eine Wendung auf Sachfragen

„Die Wissenschaft steht […] dem Mythos viel näher, als eine wissenschaftliche Philosophie zugeben möchte“

Hartmut Traub hat 2011 die erste umfassende philosophische Kritik der Frühschriften Steiners vorgelegt. Schon darin plädiert er dafür, auch die spätere Esoterik der Anthroposophie vor allem aus dem gedanklichen Gravitationsfeld des deutschen Idealismus herzuleiten. Aus dieser Perspektive bespricht er nun Heiner Ullrichs 2015 erschienene ‚kritische‘ „Einführung in die Waldorfpädagogik“ und zeigt, dass Steiner und die Transzendentalphilosophie einander näherstehen als Ullrich vermuten lässt. Dieser Versuch, Ullrichs simple Trennung von Mythos und Moderne zu umgehen, indem die vermeintlich Kantischen Grundlagen der letzteren als Mythos enthüllt werden, unterstützt neuere subjekt- und bewusstseinsphilosophische Lesarten Steiners. Der Text basiert auf einem Vortrag, der im Mai 2016 auf einer Veranstaltung mit Ullrich an der anthroposophischen „Alanus-Hochschule für Kunst und Gesellschaft“ gehalten wurde.


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Dr. Hartmut Traub ist Studiendirektor am Seminar für schulpraktische Lehrerbildung in Essen und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft. Promotion über Fichtes Populärphilosophie und Herausgeber u.a. des Briefwechsels zwischen Schelling und Fichte, der Fichte-Studien und der Fichte-Studien Supplementa. Lehraufträge in Philosophie und Philosophie-Didaktik an der Mercator Universität Duisburg, der Universität Duisburg/Essen und der Alanus-Hochschule Alfter.

Hartmut Traub

10. August 2016 at 12:40 pm 4 Kommentare

Waldorf heute: Vom „Eingeweihtenwissen“ zum „akademischen Diskurs“? Ein Interview mit Jost Schieren

Die „Alanus-Hochschule für Kunst und Gesellschaft“ (Alfter) ist eine akkreditierte Hochschuleinrichtung mit anthroposophischen Wurzeln. Keineswegs alle Professuren sind mit Anthroposophen besetzt. Andererseits gibt es einen Studiengang Eurythmie sowie eigene Lehrstühle für Anthroposophie oder Waldorfpädagogik, durchaus mit dem Ziel, diese akademisch anschlussfähig zu machen. Derzeit läuft beispielsweise ein Graduiertenkolleg Waldorfpädagogik an, federführend ist hier Prof. Jost Schieren. Letzterer widersprach neulich dem Mainzer Erziehungswissenschaftler Heiner Ullrich, der in einer neuen Waldorf-Einführung ausführte, die Anthroposophie sei die dogmatische Grundlage der Waldorferziehung. Gegen diese kaum überraschende These verwahrte sich Schieren mit Nachdruck – Grund genug, einmal nachzufragen, wie man das Verhältnis von Anthroposophie und Pädagogik in Alfter versteht. Jost Schieren war so freundlich, ausführlich zu antworten.

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Logo der Alanus-Hochschule (Quelle: Wikipedia)

Ansgar Martins: Herr Schieren, Sie sind Professor für Waldorfpädagogik. Ich unterstelle mal, Ihr Amt wird von dogmatischen Anthroposophen als akademische Verwässerung der Lehre Steiners und von Anthroposophiekritikern als Versuch verdächtigt werden, ebendiese Lehren unter dem Mantel des Akademischen zu vermarkten. Welche Probleme sehen Sie hinsichtlich der Vermittelbarkeit von Waldorfpädagogik und akademischen Wissenschaften?

Jost Schieren: Ihre Frage beinhaltet zwei Teile. Der eine Teil bezieht sich auf die inneranthroposophische Kritik an dem Bemühen, die Waldorfpädagogik wissenschaftlich zu verankern und zu etablieren. Solche Kritiken wurden vor zehn Jahren und mehr zu Beginn meiner Tätigkeit an der Alanus Hochschuleteils vehement vorgetragen, sind aber meines Erachtens inzwischen verstummt oder werden nur von einigen wenigen, vermutlich recht dogmatisch gesinnten Persönlichkeiten vorgetragen. Insgesamt ist in der Waldorfbewegung und auch innerhalb der anthroposophischen Szene eine viel größere Bereitschaft gewachsen, in einen Dialog und in eine Diskussion mit den akademischen Wissenschaften zu treten, so dass die genannte Kritik an diesem Weg aus meiner Sicht als eher marginal zu bewerten ist.

Der zweite Teil der Frage, nämlich wie Waldorfpädagogik und akademische Wissenschaften vermittelbar sind, hat tatsächlich eine hohe Relevanz. Den Weg, den meine Kollegen und ich beschreiten, ist derjenige, dass wir einen auch nach heutigen Standards vertretbaren wissenschaftlichen Umgang mit der Waldorfpädagogik und mit den entsprechenden Aussagen Rudolf Steiners einfordern. Dies schließt zum einen die quantitativen und qualitativen methodischen Verfahren der empirischen Sozialforschung im Umgang mit der Praxis der Waldorfpädagogik ein und zum anderen geht es auch um eine hermeneutische Erschließung zentraler Aussagen Rudolf Steiners zur Waldorfpädagogik im Sinne einer Grundlagenarbeit. Bei Letzterem geht es darum, Steiner aus der Ecke einer nebulosen Esoterik herauszuholen und zu zeigen, wie zentrale Thesen beispielsweise der pädagogischen Anthropologie, der Entwicklungspsychologie und der Didaktik der Waldorfpädagogik tatsächlich zeitgemäß formuliert und diskutiert werden können. Das heißt natürlich nicht, dass diese Thesen dann überall Akzeptanz finden, damit kann man nicht rechnen. Aber es wird eine Möglichkeit geschaffen, dass ein Diskurs mit der akademischen Wissenschaft auf Augenhöhe geführt wird. Allerdings liegt hier noch ein weiter Weg vor uns.

AM In einer Rezension haben Sie kürzlich Heiner Ullrichs Bewertung der Waldorfschulen als massiv anthroposophische Institutionen zurückgewiesen. Ich zitiere: „Eine gegenwärtige Waldorfpädagogik begreift die Anthroposophie als Methode und nicht als Inhalt. Das wissenschaftliche Ideal dieser Methode ist die Phänomenologie. Eine kritische Distanznahme zu allen anthroposophischen Inhalten und Aussagen Steiners ist unabdingbar. Die Anthroposophie wird durchgängig auf ihre pädagogische Relevanz und Anwendbarkeit überprüft. Es geht ferner um eine lediglich heuristisch zu erprobende und in einem hohen Maße selbstreflexive Art, mit Steiners Aussagen umzugehen.“ Was genau heißt das für den Umgang mit den einzelnen „menschenkundlichen“ bzw. inhaltlichen Äußerungen Steiners? Was bedeutet in diesem Rahmen Heuristik oder Phänomenologie? Und was „Distanznahme“?

JS Viele der Aussagen Rudolf Steiners beruhen seinem eigenen Anspruch gemäß auf so genanntem Eingeweihtenwissen. Ob das, was Steiner auf dieser Basis behauptet, stimmt oder nicht, entzieht sich damit unserer Beurteilung. Die gängige akademische Wissenschaft fällt daher das Diktum, dass es sich bei diesem Wissen um Mystik, Gnosis oder schlichtweg Spinnerei handele. Der Wissenschaftsrat bezeichnet dementsprechend die Waldorfpädagogik als eine „außerwissenschaftliche Erziehungslehre“. Viele Anthroposophen gehen mit den Aussagen Steiner umgekehrt so um, als handele es sich um „geoffenbarte Wahrheiten“ und meinen dann, darüber verfügen zu können bzw. sie schlimmstenfalls operativ einsetzen zu dürfen. Wenn ich von „Distanznahme“ spreche, so meine ich, dass wir uns des realen Erkenntnisabstandes zu Rudolf Steiners Aussagen bewusst sein müssen. Wir können in der Waldorfpädagogik nicht einfach über Steiners „esoterische“ Aussagen verfügen und sie operational einsetzen. Damit würden wir unser individuelles Einsichtsvermögen korrumpieren. Wir können die Aussagen Steiner, mögen sie richtig sein oder nicht, lediglich als Erweiterung unseres Beobachtungshorizontes, als Annahmen und als Denkmöglichkeiten verwenden. Konkret heißt dies beispielsweise bezogen auf das Konzept der Reinkarnation, dass es schlichtweg offen ist, ob Reinkarnation stattfindet oder nicht, denn das wissen wir nicht. Hier stoßen wir an unsere Erkenntnisgrenzen. Aber man kann sich fragen, welche Sichtweise auf den Menschen bietet das Konzept der Reinkarnation. Und da ist es nun interessant, dass der Gedanke der Reinkarnation ein bestimmtes Individualitätsverständnis beinhaltet, das es erlaubt, den Menschen nicht als irgendwie allein fremdbestimmtes Wesen (Gene, Sozialisation, Gehirnprägungen usw.) zu denken, sondern ihn als im Kern als auf sich selbst gegründet zu begreifen. Wenn ich nun als Pädagoge vor ein Kind trete, so ist es etwas vollständig anderes, ob ich die Persönlichkeit des Kindes als das alleinige Resultat von Vererbung und Umgebung ansehe, oder ob ich denke, dass das Kind und der Jugendliche zudem eine eigene auf sich selbst begründete Persönlichkeit in sich tragen, die auch nicht irgendwie zufällig entstanden ist. Denn das Reinkarnationskonzept Steiners schließt ja diesen Gedanken ein, dass der Mensch seine eigenes Wesen selbstverantwortlich durch eine Reihe von Verkörperungen selbst bildet. Hier muss ich als verantwortlicher Pädagoge allerdings innehalten. Es geht nicht um Inkarnationsforschungen oder dergleichen, sondern lediglich darum, die Freiheit des Menschen konsequent zu denken und dann im eigenen pädagogischen Handeln, dafür einen entsprechenden Entwicklungsraum zu schaffen. Phänomenologie heißt in diesem Zusammenhang, dass der Pädagoge die Kinder und Jugendlichen sehr genau beobachtet und nicht mit vorgefassten Begriffen operiert.

AM Wie hätte in einer solchen Waldorfpädagogik die Entwicklung und Institutionalisierung von pädagogischer Innovation gegenüber Angaben und Annahmen Steiners abzulaufen

JS Viele konkrete waldorfpädagogische Konzepte sind naturgemäß zeitbedingt. Sie sind den politischen und gesellschaftlichen Zeitumständen geschuldet. Gerade in Deutschland gibt es eine starke Waldorftradition und es entsteht schnell der Eindruck, als würde man an den Grundfesten der Waldorfpädagogik rühren, wenn man einmal bestimmte Traditionen wie beispielsweise die achtjährige Klassenlehrerzeit in Frage stellt. Zum Glück hat sich die Waldorfpädagogik auch international sehr breit entwickelt. Ich habe den Eindruck, dass wir von diesen internationalen Entwicklungen, die eben zum Teil unter anderen gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Verhältnissen stattfinden, sehr viel darüber lernen können, welche neuen Wege Waldorfpädagogik beschreiten kann und soll. Besonders das Bemühen um eine interkulturelle Waldorfpädagogik wie sie z.B. in Mannheim und neuerdings auch in Hamburg stattfindet, halte ich für sehr zukunftsweisend.

AM Ist Waldorfpädagogik ohne Anthroposophie möglich? Und was heißt – wenn „ja“ oder „nein“ – in diesem Fall Anthroposophie?

JS Nein, die Anthroposophie bildet unzweifelhaft die Grundlage der Waldorfpädagogik, aber eben nicht wie Klaus Prange, Heiner Ullrich, EhrenhardSkiera und andere Erziehungswissenschaftler behaupten als dogmatisches Gedankensystem, das indoktrinierend und ggf. manipulierend den pädagogischen Prozess kontaminiert. Die Anthroposophie ist im Kern auf das Ideal des freien Menschen ausgerichtet. Diesen denkt sie nicht dualistischer Getrenntheit von den Welterscheinungen, sondern sie in einem monistischen Sinne den Menschen und dessen Freiheitsentwicklung als Teil des Weltgeschehens. Mit dieser Denkform, die an die Tradition des Idealismus und auch an die Romantik anknüpft, steht die Anthroposophie dem Mainstream eines positivistischen und eben auch dualistischen Wissenschaftsverständnisses gegenüber, das den Menschen nicht als autonomes Wesen, sondern letzten Endes alle seelischen und geistigen Qualitäten als Epiphänomene von materiellen Ursachen auffasst. Diese Position der Anthroposophie einer Orientierung an der Freiheitsentfaltung unseres Menschseins ist auch in der Waldorfpädagogik entscheidend. Insofern ist die Anthroposophie und ihr Menschenbild untrennbar mit der Waldorfpädagogik verbunden. Aber diese Position der Freiheit ist ja kein Dogma, sondern lediglich eine Entwicklungsperspektive, dem die Waldorfpädagogik im pädagogischen Handeln den Boden bereitet. Es liegt ja gerade im Begriff der Freiheit, dass sie nicht von außen erzwungen werden kann. Die Waldorfpädagogik schafft lediglich den Entwicklungsraum der Freiheit, aber dies auf sehr praktische Art und Weise. Dabei kommt es entscheidend auf die Lehrerpersönlichkeit an, nämlich ob er/sie im Sinne einer eigenen Schulung und Entwicklung selbst das Beispiel einer freien Persönlichkeitsentwicklung darlebt. Auch hierzu bietet die Anthroposophie zahlreiche Hilfsangebote der inneren Schulung.

AM Im Wissenschaftsbegriff Steiners ist auch ein hellseherischer Schulungsweg als Initiationsvorgang enthalten, der zur Schau höherer Welt- und Wesenszusammenhänge führen soll. Immer wieder beansprucht Steiner – etwa gegenüber der Geschichtswissenschaft und einigen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen – die Superiorität der durch höhere Einsicht in die Dinge gewonnenen Befunde. In diesem Sinne unterstreicht er in der „Allgemeinen Menschenkunde“, die „allein richtige“ pädagogische„Stimmung“ werde das Bewusstsein geben: „Hier in diesem Menschenwesen hast du mit deinem Tun eine Fortsetzung zu leisten für dasjenige, was höhere Wesen vor der Geburt getan haben.“ Wie gehen Sie im Rahmen Ihrer Arbeit mit diesem inner-esoterischen Wissenschaftsanspruch um?

JS Aus Steiners Perspektive ist dies eine nachvollziehbare Haltung. Hier gilt, was ich oben schon ausgeführt habe, dass es bei einer modernen Waldorfpädagogik weder um eine radikale Ablehnung noch um eine dogmatische Vertretung solcher Aussagen Steiners gehen kann, sondern sie müssen in einen angemessenen theoretischen Rahmen diskutiert werden. Die von Ihnen zitierte Aussage bezieht sich ja auf eine bestimmte pädagogische Haltung der Ehrfurcht vor dem Kind. Eine solche Ehrfurcht vor der Entwicklung des Kindes und Jugendlichen und die damit einhergehende Bescheidenheit und Zurückhaltung des Pädagogen hat eine große Tradition, die von Pestalozzi über Korczack bis Buber geht. In dieser Tradition steht die Waldorfpädagogik zweifellos. Hier wird auf eine religiöse Grunddimension des pädagogischen Handelns angesprochen, die für die Waldorfpädagogik sehr wichtig ist, die aber eben niemals argumentativ vertreten werden oder den Anspruch auf Wissenschaft machen kann.

AM Ein anderes Beispiel: Die Waldorf-Zeitschrift „Erziehungskunst“ berichtete 2011 von „Elementarwesen“ als realen Entitäten, die in der Natur wirken, mit Menschen kommunizieren und von ihnen zuweilen erlöst werden. Eine ganze Schar von Zwergen, Elfen und so weiter findet sich in der Tat nicht selten auf den „Jahreszeitentischen“ von Waldorfkindergärten und –grundschulklassen sowie in allerlei dort erzählten Geschichten. Klaus Prange nannte die Waldorfpädagogik deshalb eine „Weihnachtsmannpädagogik“: Wie man kleinen Kindern gegenüber den Weihnachtsmann einführt, arbeite auch die Steiner-Erziehung mit einer Reihe von christlichen Jahreszeitenfesten, Märchen- und Mythenfiguren. Die Frage nach deren realer Existenz bleibe schwammig und beunruhigend unklar bleibe. Wie lässt sich eine solche oszillierende Vorgehensweise wissenschaftlich ausweisen?

JS Man muss wohl unterscheiden, welchen didaktischen Wert auf der einen Seite Bilder, Mythen und Märchen haben und welche Bedeutung in einer religiösen und christlichen Erziehung liegt. Dies kann kurz gesagt ein berechtigter Ansatz sein, die Grundstimmung eines ganzheitlichen Weltbezugs zu pflegen. Auf der anderen Seite gehen mir viele waldorfpädagogische Zwergen- und Engel- und Märchenwelten zu weit, das ist fast so etwas wie Waldorfdisney und ist nicht nur kitschig, sondern auch problematisch. Da kann ich manche Kritiker gut verstehen.

AM An der Alanus-Hochschule kann man Pädagogik, Waldorfpädagogik und Kunstpädagogik studieren. Viele Studienorte für Waldorflehrer dagegen, an denen Fach- und Klassenlehrer ausgebildet werden, haben keinen so stark akademischen Charakter. Nach verschiedenen empirischen Studien wird die fachliche Qualifikation von WaldorflehrerInnen in Zweifel gezogen. Genügt die gegenwärtige Waldorflehrerausbildung den epistemischen Standards, die Sie skizzieren?

JS Eine Waldorflehrerausbildung, die nicht zugleich auch in einem dialogischen Austausch mit der gegenwärtigen Erziehungswissenschaft arbeitet, genügt sicherlich nicht den Kriterien, die für eine gegenwärtige Lehrerausbildung entscheidend sind: hohe Fachlichkeit, ein breiter Rahmen pädagogischen Reflexionswissens, didaktisch-methodische Vielfalt, Diagnostik und die Entwicklung einer pädagogischen Persönlichkeit, die heiter, humorvoll, klar, strukturiert und beziehungsfähig ist, um nur einiges zu nennen.

AM Nach Dirk Randolls empirischer Befragung von Waldorflehrern (2013) scheint sich das Lager der „praktizierenden“ Anthroposophen an den Schulen allmählich zu verdünnen, laut der Studie „Bildungserfahrungen an Waldorfschulen“ von Liebenwein, Barz und Randoll 2012 assoziieren Waldorfeltern „Steiner“ eher negativ. Was bedeutet diese faktische Relativierung der Anthroposophie für die Waldorf-Theorie? Aufruf zum Grundlagenstudium oder Anzeichen für Neuerungsbedarf?

JS Ich vermute, dass die „alte“ Form einer treuen Steinerrezeption und –vertretung im Rückzug begriffen ist und dass es tatsächlich um eine neue, moderne, dialog- und diskursfähige Waldorfpädagogik gehen muss. Ich bin überzeugt, dass eine solche Form „offene“ Waldorfpädagogik auch die Anthroposophie nicht nur als Problemfall, sondern als spannendes Denkangebot begreifen wird.

AM Manche Waldorf-Kreise haben in letzter Zeit deutliche Sympathien für verschwörungsideologische Figuren gezeigt, während die diffuse Sympathie einiger rechter Esoteriker für Waldorfschulen nicht abreißt. Das ganze ordnet sich auch in gesamtgesellschaftliche Entwicklungen ein, in der Verschwörungstheorien oder „Reichsbürger“-Elemente sowohl im rechten als auch im tendenziell linken Spektrum an Salonfähigkeit gewinnen. Wie steht es bei einer Schulbewegung, die lange Zeit gesellschaftlich eher introvertiert war, um die politische Bildung?

JS Dies ist ein wichtiger Bereich einer kritischen Selbstreflexion, wo die Waldorfbewegung aus meiner Sicht inzwischen einiges gelernt hat: Sie agiert sehr viel transparenter, selbstkritischer und auch handlungskonsequenter in politischen Fragen, als es in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. Zudem taucht das Fach „Politik“ bzw. „politische Bildung“, das lange Zeit an der Waldorfschule unter „Geschichte“ subsumiert worden ist, in vielen Curricula inzwischen als eigens Fach auf. Ob dies ausreichend ist oder ob an einzelnen Schulen noch spezifischer Handlungsbedarf besteht, das kann ich nicht beurteilen. Der Bund der Freien Waldorfschulen hat sich in diesen Fragen aus meiner Sicht erfreulich klar und offensiv positioniert: Rechtsextremismus, Rassismus, Diskriminierung und Ausgrenzung haben keinen Platz in der Waldorfpädagogik.

21. März 2016 at 11:07 am 26 Kommentare

Heiner Ullrichs „kritische“ Einführung in die Waldorfpädagogik

Auf socialnet habe ich eine Rezension zu Heiner Ullrichs 2015 erschienenem Buch „Waldorfpädagogik. Eine kritische Einführung“ geschrieben.

Heiner Ullrich ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Mainz und hat seit seiner Dissertation „Waldorfpädagogik und okkulte Weltanschauung“ (1984) eine ganze Reihe von Publikationen zu diesem Thema vorgelegt, auch empirische Forschung dazu betrieben und eine Biographie des Waldorfschulpropheten Rudolf Steiner (1861-1925) geschrieben, der ab 1900 seine anthroposophische Esoterik entwickelte. Weite Teile des neuen Buchs stellen komprimierte Übernahmen aus Ullrichs vorangehenden Publikationen dar. Die Studie begründet ihre Aktualität im ersten Kapitel knapp und treffend: Waldorfschulen expandieren weltweit. ….

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17. März 2016 at 10:01 am 2 Kommentare

Ein Geschenk zum neuen Jahr? Heiner Ullrichs Biographie „Rudolf Steiner“

(von Stephan Geuenich)

Zum 150. Geburtstag Rudolf Steiners erschienen drei kritische und unabhängige Biographien. Eine davon floss aus der Feder des Erziehungswissenschaftlers Heiner Ullrich. Seine Doktorschrift „Waldorfpädagogik und okkulte Weltanschauung“ dürfte in der Diskussion um Steiner und die Waldorfpädagogik bekannt sein. Der Titel des neuen Buches: „Rudolf Steiner – Leben und Lehre“: Es geht um eine Einführung „in das Leben und die Entwicklung der Lehre Rudolf Steiners“, „mit größtmöglicher Fairness“.

Damit wären wir schon beim Inhalt angekommen: Nach einer ersten Darstellung des Lebens Rudolf Steiners versucht Ullrich in einem Rundumschlag, möglichst viele Aspekte von Steiners Wirken aufzuzeigen. Zum Schluss steht, ganz seiner akademischen Provenienz entsprechend, eine Darstellung der Waldorfpädagogik im Zentrum.

Die Ausgangslage von Ullrichs „wissenschaftliche(r) Auseinandersetzung mit Rudolf Steiner“ stellt dessen Autobiographie dar. In die historischen Begebenheiten einordnend, werden die verschiedenen Stationen in Steiners Leben nachvollzieh- und erklärbar. Vor allem der gesellschaftliche und wissenschaftliche Wandel zu Beginn des 20. Jahrhunderts und die damit verbundenen Reaktionen auf die entstandene Unüberschaubarkeit erhellen – wenn auch nicht originell und das erste Mal – gewisse biographische Aspekte. Beispielhaft schreibt Ullrich:

„Die literarischen und weltanschaulichen Kreise, in denen der junge Steiner damals [angesprochen ist hier seine Wiener Zeit, Anmerkung S.G.] … verkehrte, waren überwiegend von einer rückwärtsgewandten idealistischen und spätromantischen Atmosphäre und von katholischtheologischen Orientierungen bestimmt. Und so stand Steiner selbst […] den vielen Gestalten des Fortschritts … höchst skeptisch gegenüber.“ (S. 18)

Damit einher geht das Verhaftetsein Steiners in einem „vordarwinistischen idealistischen All-Einheitsdenken“ (S. 21) vor dem Hintergrund des Wirkens von Ernst Haeckel. Ullrich kratzt abermals an der bevorzugten anthroposophischen Darstellung eines stringenten Lebenslaufs. Das ist zwar nicht neu. Doch die 90 Seiten über Steiners Biographie sind angenehm unaufgeregt, mit wissenschaftlichem Anspruch und mit kleinen Details angereichert – und damit lohnt sich das Lesen sowohl für mit dem Thema Vertraute als auch „Neulinge“.

„fortschreitender Prozess“?

Zur bevorzugten anthroposophische Darstellung von Steiners Leben als fortschreitendem Prozess der Selbsterkenntnis, finden sich in diesem Buch immer wieder zurecht angebrachte Klarstellungen: zum vergeblichen Versuchs Steiners eine Universitätslaufbahn einzuschlagen, zu mitunter amüsanten Aussagen zur Theosophie während seiner Berliner Zeit, den Bekundungen zum Anarchismus, von welchem er sich später distanzierte, oder der Behauptung der inneren Konsistenz und Kontinuität von der naturwissenschaftlich orientierten Weltanschauung hin zur Anschauung einer übersinnlichen geistigen Welt. Ebenso wird dargestellt, dass Steiner mit Erfolg das Bild seines stringenten Lebenslaufs installierte:

„Steiner ist es tatsächlich gelungen, in seiner Anhängerschaft seine Sicht der eigenen Entwicklung als eines kontinuierlichen Bildungsganges vom idealistischen Goethe-Verehrer über den nietzscheanischen Freigeist und individuellen Anarchisten zum Anführer der deutschen Theosophen durchzusetzen.“ (S. 50)

Ullrichs ausgesprochen guter Überblick über das Wirken Steiners, verdient besondere Anerkennung im Hinblick darauf, dass es sich um einen ersten Einstieg in dessen Leben und Werk handelt. In aller Kürze und Prägnanz wird „das Programm für eine umfassende spirituelle Erneuerung des Lebens nicht nur in der Kunst, sondern auch in Politik, Erziehung, Medizin, Religion, Landwirtschaft und Heilpädagogik“ (S. 75) dargestellt. Auch hierbei wird deutlich, dass es sich wohl kaum um ein stringentes Wirken handelte, sondern vielmehr um im Zeitgeist verhaftete Ansätze, Überlegungen und Agitationen. Das Eintreten für die Theorie der „Dreigliederung des sozialen Organismus“ – ein „dritter Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus – mit der er prominente Unterstützer erreichte, kann dafür beispielhaft genannt werden. In der öffentlichen Wahrnehmung dauerhafter und erfolgreicher waren die Gründung der Freien Waldorfschule, die Konzeption einer „geisteswissenschaftlich“ erweiterten Medizin und Pharmazie und vor allem auch die Ideen zur biologisch-dynamischen Landwirtschaft. Auch die von Steiner konzipierte Heilkunst nach „geisteswissenschaftlicher“ Erkenntnis ordnet Ullrich historisch ein. Er zeigt deren Unklarheiten in Bezug zur naturwissenschaftlichen Medizin und Ungereimtheiten auf, auf welche er vor allem in einem späteren Teil seines Buches nochmal zurück kommt.

Ist Goethe drin, wo Goethe drauf steht?

Nun sei mir ein kleiner Ausflug zum Bezug Steiners und seiner Theorie zu Goethe und dessen Darstellung bei Ullrich gestattet. Gerade auf die, bis heute wirkende, eigene Goetherezeption und wie diese als Basis für Steiners „fachphilosophisch unzeitgemäßen mystisch-vorkritischen Idealismus“ (S. 25) diente, geht Ullrich etwas genauer ein:

„Während aber Goethe sich dabei der Begrenztheit seiner Erkenntnis und des Abstandes seines endlichen Geistes vom absoluten bewusst war und aus Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen in der sinnlichen Anschauung der Phänomene verblieb, drängte es Steiner von Anfang an über die von Kant gezogenen Schranken der Verstandeserkenntnis hinaus zur unmittelbaren intellektuellen Anschauung der Ideenwelt. Durch die Konzentration auf die Ideenlehre des frühen Goethe und die Vernachlässigung von Goethes Kant- Rezeption sowie durch die enge Bindung der Metamorphosenlehre Goethes an den Darwinismus nahm Steiner Goethes Vorstellungen für seinen eigenen erkenntnistheoretischen Monismus in Anspruch … .“ (S. 31)

Dass diese Art der Auffassung der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes weitreichende Folgen auf das Konzept seines eigenwilligen Interpreten hatte, wird plausibel erläutert. Diese Erneuerung der mystischen Erfahrung durch Steiner erklärt Ullrich biographisch mit dem Leiden Steiners unter der Entmythologisierung der Welt durch die exakten Naturwissenschaften und die kritische Philosophie. Die hinter Steiners Erkenntnistheorie stehenden Einflüsse und Grundannahmen werden durchaus kritisch wiedergeben und als „im Grunde spekulative Deduktion aus dogmatischer Metaphysik“ (S. 103) charakterisiert. Hierbei wird zurecht auf den Neuplatonismus verwiesen, wobei zwar ideengeschichtlich Autoren wie Jakob Böhmes, Giordano Bruno und Baruch Spinoza genannt werden, jedoch eine Darstellung der diesbezüglich von Steiner verwendeten Quellen ausbleibt.

Vertieft werden die ideengeschichtlichen Analysen auf mehreren Seiten. Dabei bezeichnet Ullrich die Erkenntnislehre Steiners als „rationalisierte Mystik“, welche „weder Mystik im religiösen Sinn einer Selbstaufgabe in die Unsagbarkeit des Einen noch Philosophie im Sinne einer Wissenschaft der sich selbst begreifenden Vernunft“ (S. 108) ist. Damit hat Ullrich sicherlich nicht ganz unrecht, wenn Mystik als das „Bestreben, durch Abkehr von der Sinnenwelt und Versenkung in die Tiefe des eigenen Seins“ (Preußner 2003a) verstanden wird. Im herkömmlichen Sinne ist dieses Streben bezogen auf die Erfahrung des Göttlichen und Wahren, weswegen hier durch die Bezeichnung „rational“ die gewollte und behauptete Wissenschaftlichkeit, gegenüber einer religiösen Suche, Erwähnung findet. Dennoch weist auch Ullrich auf die letztlich religiöse Komponente in der Selbstanschauung und Erkenntnistheorie Steiners durch den Verweis auf die gnostischen Einflüsse in Steiners Denken und die Annahme der Erinnerung an die „ursprüngliche Identität mit der göttlichen Erkenntnis“ (S. 107) hin. Damit sei, zumindest von meiner Seite aus, einem gnostischen Denken und den unter Umständen vorhandenen Bedürfnissen und Verlangen nach tieferer und eventuell übersinnlicher Erkenntnis, gerade im Hinblick auf existenzielle Grundfragen, nicht die Existenzberechtigung abgesprochen.

In einer Beurteilung und Vergleich der drei kürzlich erschienenen Biographien zu Steiner betont Heisterkamp in diesem Zusammenhang, dass derartige Strömungen als wirklich hilfreich und weiterführend für einige Menschen anzusehen seien. Das ist sicherlich richtig. Zu unterscheiden ist ein derartiges Bedürfnis und Bestreben jedoch von wissenschaftlichem Forschen. Dies ist gekennzeichnet durch Falsifizierbarkeit, Überprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit, sowie der generellen Möglichkeit einer Veränderung von Betrachtungsweisen und damit Wahrheiten.

Ein leidiges Thema: Die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie

Damit bereits angesprochen ist Steiners Wissenschaftsverständnis und die Beurteilung des Autors derselben:

„Zwischen der «essentialen» Wissenschaft Steiners … und der Forschungspraxis sowie dem theoretischen Selbstverständnis der modernen Wissenschaften besteht eine unüberbrückbare Kluft. … Im Gegensatz zur bewussten methodischen Selbstbegrenzung, zur Pluralität und prinzipiellen Unabschließbarkeit moderner wissenschaftlicher Forschung wollen Rudolf Steiner und seine Schüler weiterhin die Welt als ein wohlgeordnetes Ganzes gleich einer ewig unwandelbaren Wahrheit erkennen. Sie wollen in der Form der zwingenden Wissenschaft das erkennen, was sich gerade so nicht wissen lässt. Ihre Denkform ist … philosophierende Weltanschauung … .“ (S. 109- 110)

Damit kann wieder der Bogen zur historischen Einordnung und die zeitgenössische Reaktion auf historische Begebenheiten geschlagen werden. Ganz der sogenannten Reformpädagogik entsprechend, will die „Steinersche Erkenntnislehre Kritik an der neuzeitlichen Vernunft sein“ (S. 110). Dem Pluralismus und der modernen Unsicherheit wird remythologisierend und romantisierend begegnet und eine Versöhnung von Wissenschaft, Religion und Kunst angestrebt. Ullrich unterscheidet hier zwei Richtungen in Steiners Lehre, den zuvor erwähnten Goetheanismus, welcher Steiners erkenntnistheoretischem Frühwerk entspräche und die darauf folgende anthroposophische Geisteswissenschaft, die sich u.a. durch die Vision übersinnlich anschaubarer Wesenheiten und kosmisch-geistiger Kräfte auszeichnet und die Basis für die späteren lebensreformerischen Initiativen darstelle. In diesem Zuge wird unter anderem auf die Lehre der Drei- sowie Viergliederung und auf sich aus diesen beiden Konzepten ergebende Widersprüchlichkeiten eingegangen. Statt z.B. entwicklungspsychologischer Ansätze aufzugreifen, griff Steiner u.a. „auf eine antik-mittelalterliche Denk- und Ordnungsform zurück: hier die mythologisch begründete Hebdomadenlehre der frühen Griechen.“ (S. 151) Auch gerade bei diesem Aspekt ergibt sich bezogen auf die durch den Autodidakten entwickelte Pädagogik:

„Doch im Gegensatz etwa zu den zeitgenössischen Ansätzen John Deweys und Maria Montessoris, die ihre Neue Erziehung auf die empirische Kinderpsychologie gründeten, entwarf Steiner den Plan der Erziehung gänzlich aus seiner kosmisch-spiritualistischen Anthropologie“, in seinen eigenen Worten ausgehend „von einer Betrachtung der verborgenen Natur des Menschen“ (S. 152).

Dass Steiners Hebdomaden- sowie Temperamentenlehre als Anachronismus anzusehen ist, ist aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive nicht verwunderlich. Ob der Verweis auf mögliche Ursprünge dieser Ideen Steiners in der zeitgenössischen Ratgeberliteratur und der «Geheimlehre» Blavatskys etwas am Festhalten Steiners an der „alteuropäischen Jahrsiebtenlehre und am hippokratisch-galenischen Viererschema der Temperamente“ (S. 183) ändert, sei dahin gestellt. Die erneute Betonung der angeblichen Unantastbarkeit überzeitlich geltender Wahrheiten, die durch die „Verlagerung der «wahren Erkenntnis» ins Übersinnliche und ihre Bindung an das Absolvieren eines meditativen Schulungsweges“ (S. 184) scheinbar fundiert ist, ist in diesem Kontext richtig. Das Fazit Ullrichs zur Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaft Steiners als „ein Versuch der Rehabilitierung mythischer Denk- und Lebensformen“ (S. 191) wird von anderen, Ullrich kritisierenden, Rezensenten verneint und kann allerhöchstens aus einer begrifflichen Diskussion über den Mythos nachvollzogen werden. So stellen die anthroposophischen „Bilder und Analogien“ nicht eine anschauliche Basis für eine fundierte philosophische Theorie dar (vgl. Preußner 2003b), sondern entsprechen der behaupteten Erkenntnis.

Von Hagiographien und Polemiken

In dem Kapitel Rezeption und Kritik geht Ullrich zuerst auf die Schwierigkeit der Rezeption, bei einer gleichzeitig unüberschaubaren Fülle an Literatur von und über Steiner, ein. Dabei verwendet er u.a. die Begrifflichkeit der Hagiographie, womit die unkritische Darstellung eines Heiligen bezeichnet wird. Der verehrenden Haltung auf der einen Seite werden polemische Kritiken auf der anderen Seite, mit dem leicht spöttisch anmutendem Hinweis, gegenübergestellt:

„Sowohl die anthroposophische Würdigung Steiners als auch die nichtanthroposophische Kritik kranken an einem Übermaß von Betroffenheit und Parteinahme.“ (S. 175)

Die Beantwortung der Frage, ob dieses Übermaß an Betroffenheit tatsächlich auf die Thematik der „«letzten Fragen» nach dem Grund und dem Sinn des Lebens“ (S. 175) zurückzuführen ist, möchte ich den so gerne diskutierenden Leser_innen überlassen. Aber nun weiter zum Thema der Rezeption und Kritik der Lehre Steiners: Vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Bescheidenheit und damit verbunden der Einsicht in die geschichtlich und menschlich bedingten und begrenzten Erkenntnismöglichkeiten, betont Ullrich die Fragwürdigkeit der Steinerschen Erkenntnislehre, welche dem Menschen unbegrenzte Erkenntnismöglichkeit der ewigen Ideen andichtet. Dies steht im Zusammenhang mit dem Begriff der Freiheit, welcher

„sich streng genommen als ein Determiniert-Sein durch die Welt der Ideen [erweist], wenngleich sich diese Determination … weder als ein Müssen noch als ein Sollen, sondern als ein Selber-Wollen dieses Allgemeinen erkennen lassen sollte.“ (S. 177-178)

Einmal mehr stellen derartige Feststellungen keine großartigen Neuigkeiten dar, jedoch werden unmissverständlich mit der Anthroposophie verbundene Probleme aufgezeigt. Z.B. die bereits genannte mangelnde ethische Ausrichtung und die Determiniertheit der Freiheit: Freiheit bedeutet schlussendlich die „Erkenntnis über den Weltzusammenhang“, eine „Freiheit zum vorgegebenen Gesetz“ (S. 179).

Waldorfpädagogik

Bevor hier weiter auf die Darstellung der Waldorfpädagogik bei Ullrich eingegangen wird, sei am Rande ein Aspekt der Waldorfschule erwähnt, die Ähnlichkeit zur Hamburger Lebensgemeinschaftsschule. Auch wenn eine historische Einordnung an der Genialität und Einzigartigkeit des Urhebers rüttelt (darauf kommt Vögele in seiner Rezension immer wieder zu sprechen, z.B. so: „Im historischen Kontextualisieren will er es offensichtlich Zander (2007) gleichtun, indem er kaum eine Schöpfung Steiners als ursprünglich oder originär gelten lässt“) wäre es interessant, diesen Aspekt noch etwas näher zu Beleuchten, ebenso wie die Frage, ob Steiner weitere Anleihen aus reformpädagogischen Schulprojekten seiner Zeit nahm. In einer groben Darstellung der verschiedenen Facetten der Waldorfpädagogik (vom Klassenlehrer, über den Epochenunterricht, die Temperamentserziehung, die Zeugnisgestaltung bis hin zur räumlichen Gestaltung der Waldorfschule) geht Ullrich auch auf das Thema der Waldorfschule als „eine Schule mit einer besonderen pädagogischen Prägung“ (S. 206) im Gegensatz zu einer Weltanschauungsschule ein.

So werde Anthroposophie nicht als Fach und Inhalt gelehrt, sondern es stehe nur das „Wie“, also die anthroposophische Methode im Mittelpunkt. An diesem „Wie“ sind die genannten Aspekte der Waldorfpädagogik ausgerichtet. Allerdings lässt sich damit Fragen, inwieweit nicht doch auch Inhalte und Betrachtungsweisen der Anthroposophie (z.B. vermittelt über die „Behandlung“ der Temperamente, was Waldorfschüler_innen durchaus bewusst ist) vermittelt werden. Ullrich geht in diesem Kontext beispielhaft auf die inhaltliche Nähe der an der Waldorfschule vermittelten Pflanzenseelenkunde zum Geist der Anthroposophie ein. Bei dieser beziehe der_die Waldorflehrer_in „in seine «goetheanistische Naturauffassung» eine spirituelle Dimension mit ein“ (S. 217).

Ähnlich anderen sogenannten reformpädagogischen Konzepten (wie z.B. dem von Maria Montessori), ist auch bezüglich der anthroposophischen Pädagogik und pädagogischen Theorie zu betonen, dass dieses „(spirituell-)naturalistische … Erziehungsverständnis … weder ethisch noch empirisch-psychologisch fundiert“ ist (S. 158). Ganz im Sinne des Pathos vom «heiligen Kinder» erscheint nach Ullrich die Erziehung auf Basis der anthroposophischen Lehre als Inkarnationshilfe und geistige Erweckung. Dabei wird „der Erzieher … zum Priester und Seelenführer des Kindes“ (S. 158). Dass dieses Verständnis von Erziehung und der Aufgabe der Pädagogik die Basis der 1919 gegründeten Freien Waldorfschule ist, betont Ullrich im weiteren Verlauf erneut:

„Die in der pädagogisch interessierten Öffentlichkeit weit verbreitete Ansicht, die Freie Waldorfschule sei eine Schule mit einer besonderen reformpädagogisch-kindorientierten Prägung, greift zu kurz. Sie unterscheidet sich von den anderen Schulen der klassischen Reformpädagogik des frühen zwanzigsten Jahrhunderts – und erst recht von den Alternativschulen der zeitgenössischen Reformpädagogik – durch den hohen Grad der «Spiritualisierung» und Ritualisierung in allen Bereichen ihrer Schulkultur. Ihr Ausmaß an weltanschaulicher Geschlossenheit sucht hierzulande noch ihresgleichen.“ (S. 223)

Empirische Studien

Zu guter Letzt geht Ullrich auf drei empirische Studien von Dahlin, Barz & Randoll, sowie Helsper & Ullrich ein. Nicht verwundern dürfen Ergebnisse, wie die der schwedischen Evaluationsstudie, dass „Waldorfeltern in Schweden eine relativ homogene soziale Gruppe darstellen“ (S. 234). Gekennzeichnet ist diese u.a. durch ein Mittelschicht-Einkommen, eine eher ökologisch linke politische Einstellung und eine mehrheitlich religiös oder spirituell bestimmte weltanschauliche Orientierung. Dadurch trägt die Waldorfschule – auch wenn das nicht Intention sein mag – natürlich zu sozialer und kultureller Segregation bei.

Dieses Ergebnis entspricht auch der Studie von Barz & Randoll, nach der Waldorfschüler_innen auch in Deutschland „überwiegend aus der gehobenen, akademisch gebildeten Mittelschicht stammen“ (S. 236) mit einem hohen Anteil von Akademikerfamilien, was sich auch auf die Anzahl von Waldorfabsolvent_innen mit einer Hochschulausbildung auswirkt (46,8 % gegenüber 12 % der Gesamtbevölkerung). In der erstgenannten Studie wurden auch Schulleistungstests mit einbezogen, wobei der Sinn derartiger Vergleiche meiner Meinung nach generell in Frage gestellt werden kann. Entgegen des Nichterreichens vorgegebener Standards, insbesondere im Fach Mathematik, müssen durchaus die anderen erhobenen Aspekte positiv erwähnt werden: Waldorfschüler_innen fühlen sich wohler an ihrer Schule als Schüler_innen an Regelschulen, ihre sozialen Kompetenzen sind höher, demokratische Leitziele werden eher erreicht und es herrscht vermehrt Offenheit und Toleranz gegenüber Außenseitern. „Insgesamt legen die Antworten die Schlussfolgerung nahe, dass die Waldorfschulen mehr aktive, verantwortungsbereite, demokratische junge Bürger hervorbringen als die Regelschulen.“ (S. 235) Jedoch muss dabei darauf hingewiesen werden, dass derartige Ergebnisse „bei der sozialen Herkunft von Waldorfschülern aus der gehobenen, akademisch gebildeten Mittelschicht kaum erstaunen“ (Widulle) können.

Insgesamt scheint sich nach Ullrich die Waldorfpädagogik en gros ausschließlich auf sich selbst zu beziehen. Entgegen der Rezeption und Übernahme von Anregungen reformpädagogischer Konzepte, wie beispielsweise das Material von Montessori in einigen staatlichen Grundschulen, hat die Waldorfpädagogik demnach kaum einen „Effekt auf die Reform und Entwicklung der staatlichen Schulen gehabt“ (S. 244). Trotz des von ihm genannten Dialoges zwischen Erziehungswissenschaftler_innen und Waldorfpädagog_innen ist diese Möglichkeit, bei dem überwiegend uneingeschränkten und unkritisch verbleibenden Bezug auf Rudolf Steiner durch seine Anhänger_innen, auch nur schwer denkbar. Für einen wirklichen Austausch müsste gerade auch die „Waldorfschule teilhaben, jedoch mit dem Bewusstsein der zeitlichen Bedingtheit und Möglichkeit, auch vermeintlich bewährte Aspekte zu überdenken.“ (Geuenich 2009, S. 152) Wird weiterhin beispielsweise an der kosmisch begründeten Höherentwicklung des Menschen, der Stellung Rudolf Steiners als Eingeweihter esoterischen Wissens, sowie fraglichen Konzepten wie der Einteilung in Temperamente festgehalten, kann meiner Meinung nach „die esoterisch begründete Waldorfschule weiterhin nur neben einer exoterisch zu begründenden öffentlichen Schule stehen“ (ebd). Das sieht ein weiterer Rezensent ähnlich, wenn er schreibt:

„Dialog und Öffnung der Waldorfpädagogik werden … vermutlich prekär bleiben und wie in bereits bekannten Fällen der Kritik an der Anthroposophie, z.B. der Polemik von Ravagli gegen Zanders „Anthroposophie in Deutschland“ (2007) werden sie von den Hütern der reinen anthroposophischen Lehre wohl erschwert werden.“ (Widulle)

Die positiven, auch von Ullrich genannten Beispiele, bieten jedoch Anlass, die Hoffnung nicht aufzugeben.

Ein kurzes Fazit

Das Buch von Ullrich kann sowohl für mit dem Thema Vertraute als auch für „Neueinsteiger“ empfohlen werden. Manch eine_r mag die Polemik vermissen, den anderen ist es wahrscheinlich zu historisch kontextualisierend. Gerade deswegen bietet es aber einen prägnanten, gut lesbaren und ideologisch unabhängigen Überblick über das Leben Steiners, seine theoretischen Konzeptionen und lebensreformerischen Konzepte. Auch wenn nicht viel Neues angeführt wird, stellt Ullrich die genannten Aspekte fundiert dar. Entsprechend der Aussagen von Kiersch, nach denen Ullrich hier „eine ungewöhnlich faire Darstellung gelungen“ sei, – wobei der Rezensent in diesem Fall einerseits den wissenschaftlichen Anspruch Ullrichs selbst in Frage stellt, sowie andererseits auf die Intention Steiners, keine Wahrheiten anzupreisen rekuriert – kann ich nur bestärken, dass er dem Anspruch der „größtmöglichen Fairness“ vor dem Hintergrund seiner eigenen Herkunft gerecht werden kann. Dazu soll Ullrich selbst noch einmal zu Wort kommen:

„Die Rezeption der Anthroposophie war von Steiners Lebzeiten an bis heute äußerst kontrovers. Die Art und das Ausmaß der Kritik und der Anerkennung hängen zum großen Teil vom disziplinären Standpunkt des Betrachters ab. Die Vertreter der akademischen Philosophie akzentuieren vorwiegend die erkenntnistheoretischen und ethischen Begründungsschwächen der Anthroposophie. Die wissenschaftstheoretischen Analysen fokussieren dagegen die unübersehbaren Affinitäten zwischen der anthroposophischen Weltanschauung und Formen des vorwissenschaftlichen, speziell des mythischen Denkens. Religionsphilosophische und theologische Arbeiten betonen schließlich die enge Verwandtschaft der Steinerschen Anthroposophie mit der Mystik und insbesondere mit dem Traditionsstrom der Gnosis. Die vor kurzem vorgelegte monumentale ideengeschichtliche Analyse Helmut Zanders (2007) leistet eine weit ausgreifende historische Kontextualisierung der Gedankenwelt und der lebensreformerischen Initiativen Rudolf Steiners innerhalb der Kulturkritik um 1900“ (S. 201).

Wird eben diese verschiedenartige Betrachtungsweise berücksichtigt, kann das hier rezensierte Buch mit einem Augenzwinkern durchaus als ein Geschenk zum neuen Jahr betrachtet werden.

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Zum Autor: Stephan Geuenich, M.A.-Pädagoge, Lehrbeauftrager am Institut für Allgemeine Pädagogik und Bildungsforschung der Uni München und tätig als Behindertenassistent, Autor des Buches „Die Waldorfpädagogik im 21. Jahrhundert. Eine kritische Dikussion.“

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Quellen:

– Geuenich, S. (2009). Die Waldorfpädagogik im 21. Jahrhundert. Eine kritische Diskussion. Münster: Lit.

– Heisterkamp, J. (2011). Drei neue Steiner-Biographien. Aufgenommen in den Kanon. [27.01.2011].

– Kiersch, J. (2011). Der springende Punkt. Heiner Ullrichs Argument gegen die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie. [26.01.2011].

– Preußner, A. (2003a). Mystik. In: W. D. Rehfuss (Hrsg.), Handwörterbuch Philosophie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

– Preußner, A. (2003b). Mythos. In: W. D. Rehfuss (Hrsg.), Handwörterbuch Philosophie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Ullrich, H. (2011). Rudolf Steiner. Leben und Lehre. München: C.H. Beck.

– Vögele, W. G. (2011). Anthroposophie als Black Box. [26.01.2011].

– Widulle, W. (2011). Heiner Ullrich: Rudolf Steiner. Leben und Lehre. [26.01.2011].

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Zu den anderen beiden neuen Steiner-Biographien: Der Besuch der toten Tante sowie Miriram Gebhardt über die Waldorfpädagogik heute.

2. Februar 2011 at 1:37 pm 31 Kommentare


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Ich bin Ansgar Martins, geb. 1991 und war bis Juni 2010 Schüler an der FWS Mainz. Inzwischen studiere ich Religionsphilosophie, Soziologie und Geschichte in Frankfurt a. M. Dieser Blog ( dessen "Leitbild" ganz oben rechts ) ist mein persönliches Projekt, um die oft einseitigen und selbstgerechten Pro- und Contra-Positionen in der Debatte um die Waldorfpädagogik und Anthroposophie kritisch zu kommentieren. Ich hoffe, das gelingt, und freue mich über Rückmeldungen jeder Art!

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