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Vidars Gefolgschaft: Antisemitismus in der norwegischen Anthroposophie. Ein Interview mit Prof. Jan-Erik Ebbestad Hansen
Jan-Erik Ebbestad Hansen ist Professor (em.) für Ideengeschichte der Universität Oslo und Rezensent für die Abendzeitschrift „Aftenposten“. Wir sprachen über die Anthroposophie in Norwegen, in der sich, wie in Deutschland, völkisch-antisemitische Denkmotive mit einer aggressiven Polemik gegen Kritiker, die darauf hinweisen, verbinden.
Ansgar Martins: Sie haben sich intensiv mit Theorie-Traditionen wie der christlichen Mystik, der Faust-Literatur und der Romantik beschäftigt. Sehen Sie hier Parallelen zur Anthroposophie oder sogar Gemeinsamkeiten? Wie stehen Sie zur Konstruktion einer „esoterischen“ Ideengeschichte?
Prof. Hansen: Ja, hier gibt es Gemeinsamkeiten und Parallelen. Bekanntermaßen hatte die christliche Mystik, oder jedenfalls was er als Mystik verstand, eine entscheidende Rolle für Steiner. Er erzählt ja selber, dass er in der christlichen Mystik wichtige Begriffe für sein eigenes Denken gefunden habe. Und die Christologie, die er entwickelt hat, befindet sich in der Nähe einer johanneischen Christus-Logos Mystik. Auch die Faust-Literatur war für Steiner wichtig. Alle Steiner-Kenner wissen ja, welche Bedeutung er Goethes Faust zugemessen hat. Faust ist sozusagen ein anthroposophisches Thema. Auch von der deutschen Romantik gehen deutliche Linien zu Steiners Anthroposophie. Ich denke an die spiritualistisch orientierte Natur- und Geschichtsphilosophie Schellings und Steffens´, die Volksseelen-Idee, Schellings Theosophie, die Revolte gegen ein mechanistisches Weltbild, gegen den Intellektualismus, die französische Aufklärung usw. Wichtig ist auch die Esoterik, die wir in der Romantik finden, z. B. bei Franz von Baader, der Jakob Böhme und Claude de Saint Martin vermittelt hat. Schelling ist ja vom Idealismus zur Theosophie Böhmes und Silesius’ gekommen wie Steiner von einem fichteschen Idealismus in die Theosophie Blawatskys. Diese Theosophien sind ja sehr unterschiedlich, aber dennoch: Eine Ideengeschichte der Esoterik finde ich sehr wichtig, da sie ja in der ideengeschichtlichen Forschung sehr unterbelichtet ist. Ich bin überzeugt davon, dass die allgemeine Ideengeschichte gezwungen sein wird, diese Ideen und Denkweisen zu integrieren. In den zwei letzten Jahrzenten sehen wir, dass die Esoterikforschung ein neues Forschungsgebiet geworden ist, und sie tritt offensiv auf. Ich denke an Antoine Faivre und besonders an Hanegraaff und sein Umfeld in Amsterdam. Und ich denke an wichtige Übersichtpublikationen wie Dictionary of Gnosis and Western Esotericism (2006), Hanegraaffs Esotericism and the Academy (2012), Western Mysticism and Esotericism (2016) und Western Esotericism in Skandinavia (2016). Und was die Anthroposophie angeht, sind ja Helmut Zanders, Peter Staudenmaiers und Ihre eigene Forschung von entscheidender Bedeutung.
Was können Sie über die Entwicklung und Verbreitung der Anthroposophie in Skandinavien, speziell in Norwegen erzählen?
Steiner war ja mehrmals als Theosoph und Anthroposoph in Norwegen, seine Anhänger unter den Theosophen haben 1913 die anthroposophische Vidar-Gruppe und 1923 eine Anthroposophische Landesgesellschaft gegründet. Man hört oft, dass die Anthroposophie in Norwegen im Unterscheid zu anderen Ländern, einen relativ großen Einfluss unter Schriftstellern bzw. Intellektuellen ausgeübt habe. Dies darf nicht übertrieben werden, aber einige Schriftsteller und Intellektuelle versuchen Steiners Ideen zu verteidigen und vermitteln. Heute gibt es sonst mehr als 30 Waldorfschulen in Norwegen, ein Bank, einige Ärtze, Kirche (die Christengemeinschaft), Camp Hill communities, biodynamische Landwirtschaft und einige Zeitschriften.
Wie wird die Anthroposophie in Norwegen heute öffentlich rezipiert und (wie) wird sie wissenschaftlich wahrgenommen?
Die Anthroposophie ist durchaus der wichtigste spirituelle Alterntivimpuls in Norwegen. Die Steiner-Schulen haben Anerkennung gewonnen und bekommen eine öffentliche finanzielle Unterstützung. Wissenschaftlich, in der Akademie, spielt die Anthroposophie kaum eine Rolle. Es gibt aber einige akademische Arbeiten die anthroposophische Aktivitäten thematisieren. Neulich haben wir eine PhD-Abhandlung über die norwegischen Steinerschulen erhalten. Selber habe ich mehrere Masterarbeiten über norwegische anthroposophische Zeitschriften von 1915 bis heute initiiert.
Vor einiger Zeit wurde Kaj Skagens 1000-seitige Biographie des jungen Rudolf Steiner hymnisch in einigen deutschsprachigen anthroposophischen Medien besprochen. Das klingt natürlich nach viel Material oder zumindestnach aufwendiger Interpretation des Bekannten. Wie beurteilen Sie das Buch?
Anthroposophische Hymnen sind meistens Hymnen auf Rudolf Steiner, und von geringem sachlichen Interesse. Skagen ist ein bekannter Schriftsteller, der an der öffentlichen Debatte teilnimmt, oft ziemlich polemisch. Er meint viel und lautstark. Er ist ein Autodidakt, will aber mit seinem Buch über den jungen Steiner zur Forschung beitragen. Es dreht sich nichtsdestowenigerum Vermittlung des schon Bekannten. Man kann aber sagen, dass er in Norwegen der beste Kenner des jungen Steiners ist. Skagenwar seit seiner Jugend ein fanatischer Anthroposoph (er nennt sich selber einen Fanatiker), aber schreibt, dass er jetztaus der Anthroposophie hinaus will. Er hat offensichtlich mit seinem eigenen Dogmatismus und der anthroposophischen Vorstellungswelt Probleme bekommen. In seinem Buch gibt es Ansätze zu einer selbständigen kritischen Darstellung. Das sind aber nur Ansätze. Wir werden sehen, ob er es schafft, sich frei zu machen.
Auch in Norwegen hat es eine Debatte über die Rassentheorien, Völkerstereotype und den Antisemitismus Rudolf Steiners und prominenter Anhänger gegeben. Sie publizieren demnächst eine Monographie zum Thema. Wie kam es dazu?
Vor einigen Jahren hat Professor Tore Rem eine große Biographie über den Schriftsteller Jens Björneboe publiziert, der auch einige Zeit lang von der Anthroposophie inspiriert wurde. Sie hat meistens glänzende Rezensionen bekommen, aber unter den Anthroposophen hat sie heftige Reaktionen hervorgerufen. Kaj Skagen und sein Freund Peter Norman Waage, auch ein loyaler Steiner-Apologet, haben das Buch verrissen. In diesem Streit ereignete sich ein bizarres Beispiel dafür, was passieren kann, wenn man Anthroposophen kritisiert. Skagen veränderte unter einem Pseudonym Rems WIKIPEDIA-Eintrag in eine negative Richtung. In der Debatte wurde auch ich von Kaj Skagen angegriffen, weil ich einer der Lektoren des Verlags war. Die Debatte drehte sich hauptsächlich um das Verhältnis norwegischer Anthroposophen zum Nationalsozialismus. Dann habe ich an den Schriftsteller und Anthroposophen Alf Larsen gedacht, der oft von Anthroposophen als einer der Großen in der Bewegung hervorgehoben wird. Ich habe in seinem Archiv in der norwegischen Nationalbibliothek gesucht und ganz schnell ein großes, unbekanntes Manuskript gefunden, das Das Judenproblem betitelt war. Das war wirklich eine Überraschung. Es war kaum zu glauben, was da geschrieben stand. Ich wusste ja, dass er ein Antisemit war, aber dass er so extrem und grob war, wusste ich nicht. Ich hatte den größten Antisemitender norwegischen Literatur entdeckt. Ich habe sofort verstanden, dass ichmit diesem Material weitergehen musste, und es hat nicht lange gedauert, bis ich auch verstanden habe, dass Larsen nicht der einzige Antisemit unter den norwegischen Anthroposphen war.
Ihr Artikel betont besonders einen Aspekt von Steiners Antisemitismus: Die Vorstellung vom speziellen Charakter des jüdischen Blutes. Bei norwegischen Anthroposophen war das offenbar ein zentrales Thema. In der deutschsprachigen Literatur ist es irritierenderweise meines Wissens kaum ausführlicher untersucht worden. Hier dominiert, von einigen harten anthroposophischen Rassisten abgesehen, m. E. ein anderes Motiv: Steiners Kontrastierung von christlichem und „mitteleuropäischem“ Universalismus mit dem ethnozentrisch-vorchristlichen „Jahwe-Bewusstsein“, das er auch im Ersten Weltkrieg am Werk sah. Allerdings überzeugt Ihr Argument, die Bedeutung der Blutsvorstellung in seinem Bild des Judentums höher einzuschätzen. Der gesamte „internationalistische“ Anspruch seiner Christologie richtet sich gegen die überlebte Rolle der angeblich blutshomogenen Juden: „Sein erstes Auftreten hätte der Christus nicht haben können innerhalb der jüdischen Gemeinde selber, wohl aber in Galiläa, an demjenigen Orte, wo gemischt waren die verschiedensten Völkerstämme und Völkergruppen.“ ([1909] GA 112, 162) Das hätte ich in meinen Büchern stärker pointieren müssen.Wie entwickelte sich in Norwegen der anthroposophische Antisemitismus? Welche Rolle spielte die blutsmaterialistische Dimension von Steiner Völkermythologie?
Der Kontext ist ja auch wichtig, gerade in diesen Jahren wurde die Dichotomie von „Deutschtum“ und des Judentum entwickelt. Auf der einen Seite die Germanen, die Individualismus und Universalismus repräsentieren, auf der andren Seite die Juden, die an Rasse, Blut und Kollektiv gebunden sind. Conrad Englert sagt explizit, dass die Juden ans Blut gebunden seien, dass die jüdische Rasse die Rasse sei, die am stärksten durch das Blut repräsentiert werde. Und Alf Larsen weist mehrmals auf das besondere Blut der Juden hin. Er sagt deutlich, so lange es ein kleines Tröpfchen Judenblut in einem Jude gebe, könne er nicht restlos in ein anderes Volk aufgehen, was ihm eine ideale Notwendigkeit war. Auch Hohlenberg (er war ein Däne, der mehrere Jahre in Norwegen wohnte und wirkte) hebt die Einheit vom Geist und Körper als eine Selbstverständlichkeit hervor.
In welcher Hinsicht galten „die Juden als Lehrer der Nazis“, wie Sie schreiben?
Die anthroposophischen Autoren meinten, dass die Nazis ihre Vorstellungen von Rasse, Volk und Kollektiv von den Juden übernommen haben. Der Nazismus wurde also nicht nur als eine Parallele zum Judentum betrachtet, sondern die Nazis hätten von den Juden gelernt. Larsen sagt zum Beispiel, dass die Rassegesetze der Nazis eine direkte Nachahmung des Alten Testamentes seien.
Wie präsent waren solche Motive bei den leitenden norwegischen Anthroposophen jener Jahre?
Sie haben mehr oder weniger dasselbe gesagt, Johannes Hohlenberg, Conrad Englert und Alf Larsen: Die Juden waren die Lehrmeister. 1941 schrieb Larsen, dass der Nazismus der endgültige Sieg des Judentums auf der Welt sei. Die Juden waren also nicht nur Kommunisten und Kapitalisten, sie waren auch für den Nazismus verantwortlich! Dies muss die endgültige Bestätigung von Adornos These sein, der Antisemitismus sei ein flexibler Mythos.
Änderte sich diese Haltung nach 1945?
Bei Alf Larsen ist sie explodiert, ins Extreme entwickelt. Das Judenproblem wurde in den 1950er Jahren geschrieben. Interessanterweise ist diese Denkweise unter norwegischen Anthroposophen noch möglich. 2009 hat der Rechtsanwalt (höchstes Gericht) und Großanthroposoph Cato Schiötz in einer Diskussion über Larsens Antisemitismus und die Anthroposophie folgendes gesagt: „Larsen kritisiert Juden aus demselben Grund, aus dem er zu den Nazis kritischist. Sie bauen auf einen veralteten Begriff von Rasse und Blut. Dies dreht sich um das Rassenverständnis der Juden, nicht um die Christologie Rudolf Steiners.“
In welchem Verhältnis standen die Anthroposophen zu völkischem Gedankengut in Norwegen?
Hier gibt es ein nahes Verhältnis. Viele Anthroposophen haben die norwegische, germanische Volksseele betont. In der Zwischenkriegszeit gab es beinahe einen Kultus der Volksseele. Es gab eine starke Germanophilie und einen Glauben an die besondere Bedeutung der nordgermanischen, skandinavischen Länder. Sie sahen auch eine Kontinuität zwischen Heidentum und Christentum. Das heißt, dass sie an die heidnischen Götter, wie zum Beispiel Balder und Vidar, glaubten. Das tun norwegische Anthroposophen übrigens noch immer. Die Götter werden als geistige Realitäten aufgefasst. Mit ihrer starken Vidar-Anbetung strebten sie eine Art Synthese von Germanentum und Christentum an. Dies sieht man heute bei einem wichtigen Anthroposophen wie Frode Barkved, er meint, dass es notwendig sei, dass der heidnische Gott Vidar ein Leib für Christus werde.
Hans Büchenbacher schreibt in seinen „Erinnerungen“:
„Der dänische Generalsekretär Johannes Hohlenberg (ein in Dänemark bekannter und anerkannter Schriftsteller und Maler) und ein alter naher Freund von mir seit der Weihnachtstagung, an der er als dänischer Generalsekretär teilgenommen hatte, war Herausgeber der Monatsschrift „Vidar“, in der er auch Vorträge von Dr. Steiner übersetzt veröffentlichen durfte. Nachdem aus dem Titel unserer Wochenschrift „Das Goetheanum“ die Bezeichnungen „international“ und „Dreigliederung“ gestrichen worden waren, druckte er in einer Nummer des „Vidar“: „das sei nun die einzige Zeitschrift, die Anthroposophie „uafkortet“ (unverkürzt) vertrete“. Daraufhin entzog ihm Frau Dr. Steiner die Möglichkeit, Vorträge von Herrn Doktor in seiner Monatsschrift zu veröffentlichen. Nach der Besetzung Dänemarks im Weltkrieg konnte Hohlenberg nach Norwegen fliehen und wurde mit Hilfe unseres gemeinsamen Freundes Otto Morgenstierne auf einer Insel in Sicherheit gebracht.Ende der 50er Jahre ist Hohlenberg in Kopenhagen verstorben.“
Wie beurteilen Sie Büchenbachers Einschätzung und Beschreibung Hohlenbergs und dessen Kritik der Nationalsozialismus?
Vidar war eine norwegische anthroposophische Zeitschrift, die 1915 gegründet wurde. 1926 wurde Hohlenberg der Herausgeber Vidars, eine Stelle, die er bis 1940 hatte. 1933 wurde er auch ein Mitarbeiter in Alf Larsens Zeitschrift Janus. Er war mit einer norwegischen Frau verheiratet und hat eine zentrale Rolle für die norwegische Anthroposophie gespielt. Hohlenberg nahm wie sein Freund Larsen früh Stellung gegen Hitler und den deutschen Nazismus. Wegen seiner Hitler- und Nazismus-Kritik hat er aber große Schwierigkeiten mit der Leitung in Norwegen und Dornach bekommen. Es wurde ihm, wie Büchenbacher sagt, u.a. verboten Texte von Rudolf Steiner zu veröffentlichen. In der norwegischen anthroposophischen Gesellschaft gab es in der Zwischenkriegszeitvöllig absurde Streitigkeiten und Konflikte. Leitende Personen wie Helga Geelmuyden und Conrad Englert waren Freunde von Marie Steiner-von Sievers und sehr Dornach-loyal. Sie waren beide sehr kritisch gegen Hohlenbergs Hitler- und Nazismus-Kritik. In einem Brief an Marie Steiner-von Sievers empörte Geelmuydensich über Hohlenbergs „Hitler-Hass“ und über seine Nazismus-Kritik. Auch Larsen wurde wegen seiner Kritik der politischen Entwicklung in Deutschland in den 30er Jahre kritisiert. Die „offizielle“ Erklärung dieser Opposition gegen Hohlenberg ist, dass die Gesellschaft politisch neutral sein solle und dass die Leitung wegen der schwierigen Lage der Anthroposphen in Deutschland vorsichtig sein müsse. Nach Staudenmaiers und Ihrer eigene Forschung sieht das etwas anders aus. Nach dem Kriege haben norwegische Anthroposophen Hohlenbergs und Larsens Nazismus-Kritik hervorgehoben. Ihren Antisemitismus haben sie aber verschwiegen.
In Ihrem Artikel ist nachzulesen, ausgerechnet Steiners Vortragszyklus „Die Mission einzelner Volksseelen…“ (in Deutschland 2007 von der „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien“ unter Kommentarzwang gestellt, weil „in Teilen als zum Rassenhass anreizend bzw. als Rassen diskriminierend anzusehen“), sei unter norwegischen Anthroposophen viel rezipiert worden. Immerhin wurden die Vorträge 1910 in Oslo gehalten. Welche Botschaften und welche Ausgabe zog man daraus?
Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhange mit der germanisch-nordischen Mythologie ist sehr wichtig, will man norwegische Anthroposophen verstehen. Hier hat Steiner ihnen die große, entscheidende Bedeutung Vidars und der eigenen heidnischen Mythologie beigebracht. Sie erfuhren, dass es eine Kontinuität zwischen Heidentum und Christentum gebe, und dass sie eine große Bedeutnung für der Entwicklung der Welt haben können. Und NB, von hier haben sie auch die esoterische Begründung des Steinerschen Antisemitismus bekommen.
Ein weiteres Beispiel, das ebenfalls in Ihrem Artikel auftaucht: Für Rudolf Steiner war es „reizvoll zu verfolgen“, was „die nordischen Götter“, (Erz-)Engel mit bestimmten Zuständigkeitsbereichen, auf ihren „Wanderungen“ erschaffen. Ihm zufolge kommt „der Mensch … aus geistig-seelischen Welten herunter“ und so ist es „nicht gleichgültig, ob er als Norweger oder als Schwede geboren wird“: Ostskandinavier werden beim Inkarnationsvorgang „wie abgelenkt“ und entwickeln „einen passiven Charakter“: „Sie können nicht widerstehen demjenigen, was sich vom Osten herüber“, u.a. „durchmongolisch-tatarische Völkerschaften“ aufdrängt, bewahrten dafür aber in Vorzeiten eine „mystisch-orientalische“ Götterlehre. Die „norwegischen Menschen“ bzw. diejenigen, die „in der richtigen Weise ihr Norwegerleben“ verwirklichen, haben dagegen die Mission, ihren „Mitseelen“ in nachtodlichen Daseinszuständen „von den Geheimnissen der Erde“ zu berichten. Das sei für die postmortalen Menschen so wichtig wie die anthroposophischen Berichte aus der „geistigen Welt“ auf der Erde. ([1921] GA 209, 59ff.) Dieser Vortrag wurde ebenfalls vor norwegischen Zuhörern gehalten. Hatte diese spirituelle Völkerpsychologie Skandinaviens Folgen für die nationalistische Steiner-Rezeption in Norwegen und Schweden?
Ganz klar! Man kann sicher annehmen, dass Steiners Worte einen großen Eindruck gemacht haben. Sie haben sich als Vidars Gefolgschaft oder Kampfgruppe aufgefasst. Sie waren die Avantgarde der Entwicklung! „Nordland“ und Norwegen haben jetzt die Initiative. Der Leuchter, der früher in Mitteleuropa stand, steht jetzt in Skandinavien. Diese Ideen führten zu einer Huldigung der germanischen, norwegischen Volksseele. Eigentlich wollten sie wohl keine Nationalisten sein, aber im Nationalen haben viele die große Zukunft gesehen, haben sie einen Weg gefunden, der sie mit Vidar zu Christus gehen konnten.
Welchen Stellenwert nehmen rassentheoretische und nationale Spekulationen insgesamt in den Schriften norwegischer Anthroposophen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein – also auch im Verhältnis zu den sonstigen Aktivitäten?
Man kann schon sagen, dass der Nationalismus wichtiges Thema war, nicht dominierend, aber wichtig. Die Rassentheorien standen mehr in der Peripherie. Hohlenberg hat aber den anthroposophischen Rassentheoretiker Richard Karutz hervorgehoben. Und sie waren selbstverständlich „Germanen“.
Wie gehen heutige norwegische Anthroposophen mit Steiners Rassen- und Völkertableau um?
Selber haben sie nicht mit dem Antisemitismus oder den Rassentheorien Steiners abgerechnet. Sie sind im Grunde genommen überzeugt davon, dass es keinen Rassismus oder Antisemitismus in dessen Schriften gibt. Erst wenn andere, wie zum Beispiel Staudenmaier, auf problematische Seiten in der Anthroposophie oder der Bewegung zeigen, reagieren sie. In dieser Hinsicht sind sie ausgesprochen reaktiv. Und sie reagieren oft mit einer Apologetik, die ziemlich aggressiv sein kann. Wenn man sich historisch-kritisch mit der Anthroposophie beschäftigen will, muss man auf eine oft unangenehme apologetische Polemik vorbereitet sein. Seriöse Wissenschaftler wie Helmut Zander und Peter Staudenmaier sind ja bekanntlich fast Hassobjekte geworden. Wenn Anthroposophen Kritik aufnehmen, geht es um Bagatellisierung. Und sie heben einige Aussagen Steiners hervor, die den Rassismus verurteilen. Einige, die nicht so dogmatisch sind oder sein wollen, können auch auf die Untersuchung der holländischen anthroposophischen Gesellschaft hinweisen. Eine Stellungnahme zu Ihrem Buch über den Steinerschen Rassismus habe ich nicht gesehen. Der Steinerkult bei den norwegischen Anthroposophen ist zentral, und die meisten orientieren sich offensichtlich an deutschen Dogmatikern wie z. B. Lorenzo Ravagli. Seine Texte werden übersetzt und er hält Vorträge in Oslo.Sie haben auch Baders und Ravaglis Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit. Anthroposophie und der Antisemitismusvorwurf übersetzen lassen, damit glauben sie offensichtlich das letzte Wort über Anthroposophie und Antisemitismus gesagt zu haben. Die Übersetzung hat ein Nachwort von Cato Schiötz, der, ohne die Sache untersucht zu haben, behauptet, dass Alf Larsens Antisemitismus eine Privatsache war. Es geht immer um Apologetik, Bagatellisierung und Wegerklärung. Es gibt aber Lichtpunkte. Kaj Skagen sieht den assimilatorischen Antisemitismus beim jungen Steiner. Hier hat er sich offensichtlich von Ralf Sonnenbergs kritischer Erörterung von Steiners Aussagen über die Juden beeinflussen lassen. Den Antisemitismus bei dem Theosophen und Anthroposophen Steiner kommentiert er nicht, es ist ja auch nicht sein Thema. Wie dies in der Bewegung aufgenommen wird, weiß ich nicht.
Einer der vitalsten Aspekte aus Steiners Zeitbetrachtung, der ebenfalls implizit antisemitisch aufgeladen ist, sind seine Verschwörungsideologien. Sie drehen sich primär um eine übersinnlich manipulierte okkulte Geheimlogen hinter der englischsprachigen Welt gerichtet waren. Wie verhielten oder verhalten sich norwegische Anthroposophen zu seinen im Ersten Weltkrieg formulierten Feindbestimmungen gegenüber dem „Angloamerikanertum“ ?
Auch ein Interessantes Thema! Hier kann ich aber leider nicht viel sagen, dies ist auch eine Untersuchung wert. Generell gilt, dass die große mitteleuropäische Kultur als ein Gegensatz zur angloamerikanischen Kultur gesehen wurde. Alf Larsen war hier sehr deutlich. Und Johannes Hohlenberg warnte vor der englischen Sprache, die eine ahrimanische Sprache sei.
„Erbitterte Schuldzuweisungen“: Die soziale Unterseite des Rassismus-Problems
„Erfreue dich dessen, was dir gewährt ist; entbehre gern, was dir nicht beschert ist! Dann kann Ahriman nicht an uns heran … das gibt die rechte Stimmung für den Esoteriker.“
– Rudolf Steiner, GA 266c, 177
Im letzten Artikel ging es um jüngere anthroposophische Sympathien für AfD und Co und die Kohärenz, mit der sich solche Positionen von den rassistischen und nationalistischen Phantasien Rudolf Steiners herleiten. Wie üblich gab es einige Reaktionen und selbstverständlich kreisten sie beinahe ausschließlich um meine Person, meine Motivation und die Gemeinheit, mich über diesen Zusammenhang auch nur zu äußern. Obwohl es inzwischen wirklich langweilig klingt, die uralte Gewissheit mitzuteilen: Bis heute wird die Verbindung von Anthroposophie und menschenfeindlichen Vorstellungen am liebsten denen zum Vorwurf gemacht, die sie aussprechen. Wie könne man nur sowas sagen? Das ist nicht verwunderlich (sofern die Anthroposophie als ultimative und unüberbietbar gute Position gesetzt ist), weist aber einmal mehr darauf hin, dass die eigentlichen Abstrusitäten dieses Milieus im Sozialen stattfinden. Rassismus, Nationalismus und Verschwörungswahn hin oder her. (vgl. Dass er Individualität und Freiheit fördert) Das letzte Urteil über die Steiner-Bewegung, ihren Erfolg und ihr Identifikationspotenzial wird sozialpsychologisch zu fällen sein, dieses wird die politischen Feindbilder der Anthroposophie jedoch einbeziehen müssen.
„Kritik ist ein schwieriges Feld im Waldorfbereich. Sie muss konstruktiv sein, Kritik um der Erkenntnis willen, um Missstände zu markieren, das gilt als wenig hilfreich, da es nicht unmittelbar Anleitungen für eine andere Praxis gibt. Wer also kritisiert, setzt sich dem Verdacht aus, nicht der gemeinsamen Sache dienen zu wollen und ungeheuer schnell greift die Unterscheidung in innen und außen, Freund und Feind, für uns und dagegen.“ (Valentin Hacken)
Die narzisstische Kränkung durch die Diagnose rechter Potenziale führt dementsprechend bloß dazu, die Diagnose abzuspalten und bequem mit dem Etikett „dagegen“ zu versehen. Diese Einordnung jeder beliebigen Aussage nach einem feindsematischen Schema hat ihr Gegenstück in der anthroposophischen Ideenpolitik: Geisteswissenschaft vs Materialismus, Erzengel Michael vs Ahriman, Mitteleuropa vs Angloamerika. Die „gemeinsame Sache“ ist der Volksorganismus, ihr Manichäismus die Urgeste des Antisemitismus (wobei Steiner eben nicht die Juden, sondern die englischsprachige Welt als das ganz Andere der eigenen Herrschaftsphantasien konzipierte, welche er bloß im imaginierten Feindbild zum Ausdruck brachte). Genau diesem bipolaren Reflex- und Reaktionsschema verdankt sich auch die Subsumierung von Anthroposophieforschern wie Christian Clement und Helmut Zander unter konspirationsideologische Geschichtspunkte. (vgl. Willy, Thomas und der Wolf im Schafspelz) Solche Schuldabwehr, die immer bloß 0 oder 1, immer bloß Angriffe oder aber konstruktive Beiträge zur eigenen Sippschaft zu registrieren in der Lage ist, ist zumindest so weit funktional, dass man sich die Fähigkeit zur politischen Reflexion abschneidet und eben beispielsweise bequem über diesen blöden Blog diskutiert statt über neurechte Anthroposophen und das Fortleben allzu alt-rechter Anthroposophie in der Gegenwart.
Im Sozialleben der anthroposophischen Institutionen sind natürlich komplexere Verdrängungs- und Projektionsmechanismen nötig, um mit den realen Problemen umzugehen, an Waldorfschulen zum Beispiel: Einerseits arbeiten fast alle professionellen Akteure aufgrund der Prämisse, dass man es mit der besten aller möglichen Schulen zu tun und sich im Zweifelsfall nicht genug in „die Menschenkunde“ Steiners vertieft habe, was die nüchterne Feststellung der tatsächlichen Lage erschwert. Der Schulspsychologe und Waldorf-Vater Gerhard Vilmar berichtete von einem Szenario, dass beinahe jeder Waldorf-Insider kennt, wie „sich Lehrer und Eltern … erbitterte Auseinandersetzungen mit wechselseitigen Schuldzuschreibungen“ liefern. Heiner Ullrichs jüngste Waldorf-Einführung erklärt die vorprogrammierten Konflikte als solche zwischen hochgradig „bildungsorientierten“ Eltern und dem gänzlich anders ausgerichteten anthroposophischen Habitus der Lehrkräfte. Hinzukommen dürften allerdings die üblichen Lagerbildungen, Machtkämpfe und ein gewisser Hang zur Selbstausbeutung mit den entsprechenden nervlichen Folgen, der für die ältere Waldorflehrergeneration geradezu sprichwörtlich ist.
Passend dazu hatte ich am 9. Juni 2016 das Vergnügen, in Minden einen Kurzvortrag zu Rudolf Steiners Rassenlehre zu halten. An der Mindener Waldorfschule wurde im letzten Jahr ein rechter Waldorflehrer vor die Tür gesetzt – aber erst, als der Waldorf-Dachverband („Bund der Freien Waldorfschulen“) drohte, die Schule andernfalls auszuschließen. Seine Kinder besuchen, wie mir erzählt wurde, die Schule wohl noch immer, was kein Argument für Sippenhaft sein soll, sondern anschaulich machen, wie akut die Konflikte und Konfliktlinien vor Ort weiterbestehen. Seit einem Jahr ist die Schule mit einer örtlichen Beratung gegen Rechtsextremismus im Gespräch, welche die gestrige Veranstaltung organisiert hatte. Nach zwei Vortrags-„Inputs“ standen zwei Vertreter der einschlägigen Waldorf-Landesarbeitsgemeinschaft vor einem schäumenden Saal von farbenfroh gekleideten Waldorfeltern Rede und Antwort und waren um Antworten teilweise durchaus verlegen.
Im Vergleich zu früheren Veranstaltungen konnte ich einmal mehr feststellen (vgl. Die Scheidung der Geister), dass sich die Rhetorik einiger (eben zumindest der anwesenden) Anthroposophen und Waldorf-Vertreter verschoben und transformiert hat. Früher hätte man nach dem ausführlichen Vorlesen auch noch der widerlichsten Steiner-Stelle diskutieren müssen, ob das nicht „aus dem Kontext gerissen“ sei oder sich diversen der erwähnten Feindbestimmungen ausgesetzt gesehen. Die in Minden kommunizierte Haltung war defensiv, man gestand, hier müsse „noch gearbeitet“ werden, ja man sei natürlich schon längst am arbeiten, verwies etwa auf die „Stuttgarter Erklärung“ und die „Reichsbürger“-Broschüre, interne Arbeitsgruppen seien gebildet worden, usw. Dieser status quo sagt zwar noch gar nichts, wie zahlreiche der Anwesenden mit Recht monierten, die sich konkretere Aussagen und Schritte wünschten. Diskutiert wurde sehr kontrovers, durch welche Strukturen man sich wenigstens rechte Lehrer vom Leib halten könne, ob Gesinnungstests für Lehrer überhaupt geboten oder nicht selbst Ausweis jenes Konformismus seien, den die Völkischen sich ja am sehnlichsten wünschen.
Doch überlagert wurde der Abend vom Schulklima: Eine ehemalige Schülerin meldete sich und erzählte mit scharfer Stimme, sie habe vorab auf den Hintergrund des Neonazi-Lehrers aufmerksam gemacht. Doch das Vertrauen der Kollegen war offenbar stärker. Eine Mutter meldete sich an anderer Stelle – laut eigener Aussage „mit geschwollenem Kamm“ – und erzählte, das sei doch alles Teil größerer Probleme: Eine Lehrkraft habe ihr als Alleinerziehender die Fähigkeit abgesprochen, ein Kind wirklich vollwertig erziehen zu können. Eine weit nicht auf einen rechten Lehrer reduzierbare Unzufriedenheit brach sich Bahn, und wieder die wechselseitigen Schuldzuweiseungen. Im Nachgang erzählte mir ein Elternpaar, das jüngste Kind hätten sie eben auf ein Gymnasium statt bei der Waldorfschule angemeldet. Hier wird deutlich, dass die Form der waldorfinternen Diskussionen das größte Problem darstellt, größer jedenfalls als der philologische Befund zu Steiners Rassebegriff. Die Formen der anthroposophischen Gemeinschaftsbildung und ihre Tücken werden dadurch jedoch nicht politisch progressiver. Ein Diskutant aus dem Publikum sprach gar von sich aus an, dass die ideologischen Probleme sich nicht auf Steiners Rassenlehren beschränken lassen: „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“, die Rhetorik des „ganzen Menschen“ und das organizistisch-romantische Denken sind starke und bislang recht zuverlässige Verbindungen von Anthroposophie und völkischen Sehnsüchten. Das alles sind Fragen, mit denen ein Klärungsprozess anheben müsste – die gestrige Veranstaltung jedoch war als Abschluss eines solchen Prozesses vorgesehen, wurde jedenfalls anfangs als solche vorgestellt, so dass man nicht so naiv sein sollte, anzunehmen, hier würden sich irgendwann Lösungen für die angerissenen Probleme ergeben. Wie auch – sie würden die Waldorfpädagogik sprengen: Sich kritisch mit dem ganzheitlich-organischen Ansatz zu befassen und die regressiven Implikationen zu realisieren, zu denen er (wie unfreiwillig auch immer) hintreibt, hätte die konzeptionelle Selbstzerstörung der Waldorfschulen zur Folge. Es sei denn, deren esoterische Subjektivität erlangte die Fähigkeit, die sie am meisten verabscheut: Die Widersprüche und deren Hässlichkeit auszuhalten und kritisch ins Bewusstsein zu tragen, ohne die Illusion, dass man das angestrebte heile Ganze bereits vor sich habe.
Allerdings zeigt sich, dass sich die Waldorfszene entwickelt, dass an wunden Punkten die alte apologetische Rhetorik nicht mehr funktioniert und eine der unumgänglichen Vergangenheitsbewältigung an ihre Stelle tritt. Die hat noch ganz andere Probleme, welche die deutsche Gesamtgesellschaft wiederum seit Jahrzehnten beschäftigen, aber immerhin. Waldorf-immanent betrachtet scheint ein gewisser Fortschritt stattzufinden. Konsens ist er nicht. Nachdem Henning Kullak-Ublick, Pressesprecher der Waldorfschulen, die Schulen im Juli 2015 davor warnte, rechte Demagogen einzuladen (das war akut mehrfach vorgekommen, vgl. Ein kosmisches Komplott, Hinter dem Mond hervor), erhob sich ein Sturm der Empörung – freilich nicht über rechte Demagogen, sondern Kullak-Ublick. Der berichtete kurz darauf von einem Treffen mit dem Verschwörungspabst Ken Jebsen, den er als engagiert, aber ein bisschen fanatisch erlebt haben will. Das zeigt, vor welchem Konsens sich eine Verschwörungsideologie-kritische Position im Waldorfbereich rechtfertigen muss, also: woher hier der politische Wind weht. Aber. In Minden und an einigen anderen Orten sieht das anscheinend etwas anders aus. Wer kein Zyniker ist, muss den aufschreienden Stimmen in dieser Bewegung Glück wünschen. Vorläufig lässt sich an der anthroposophischen Vergangenheitsbewältigung aber höchstens eines lernen: dass, wer sich den Problemen der Geschichte am weitesten enthoben glaut, umso unbewusster zu ihrem Vollstrecker macht.
Nachtrag: Einen weiteren Bericht zur Veranstaltung in Minden schrieb Michael Mentzel („Themen der Zeit“), und zwar mit einer nach meiner Erfahrung ganz ungewöhnlichen Sachlichkeit. Dort gibt er ausführlich die Positionen der beiden Waldorfvertreter wieder und geht auch auf den Vortrag von Karl Banghard („Freilichtmuseum Oerlinghausen“) ein, der am selben Abend sehr anschauliches Material zum „Germanen“-Kult von Nazis und Neonazis präsentierte. Mentzels Bericht gibt allerdings dem Publikum und der eigentlichen Diskussion wenig Raum, während er sich u.a. ausführlich zu meinem Vortrag ausbreitet. Das Vortragsthema, zu dem ich von den Organisatoren eingeladen worden war – Steiners Rassenlehre–, wird unter Mentzels Bearbeitung natürlich zu meiner ganz persönlichen Angelegenheit, die er deplatziert findet: „Martins wäre aber nicht Martins, wenn er nicht auch auf die Steinersche ‚Rassentheorie‘ zu sprechen käme und an dieser Stelle wird er vermutlich für die meisten Anwesenden recht kryptisch.“ Als wäre Steiner, der jeden Satz dreimal in unterschiedlichen Formulierungen wiederholt und jede Beschreibung öfter phänomenologisch umformt, unfähig, sich auszudrücken, als wäre es entsprechend unmöglich, ihn vorzulesen. Ebenso „kryptisch“ findet Mentzel aber auch, dass einer der anwesenden Waldorf-Vertreter die Wesensglieder-Lehre und die drei Körper-Systeme Steiners ansprach. Mentzel scheint also weniger die Rassentheorie als jeden klar angesprochenen Steinerschen Gedanken für kryptisch zu halten. Die Versuche des besagten Waldorfaktivisten und meiner Wenigkeit, Steiner zu paraphrasieren, belegt Mentzel mit dem Wort „salopp“. Vielleicht ist das ein weiteres Problem im oben angesprochenen Sinne: Steiner ist für viele Anthroposophen jemand, den man ausführlich und langsam im Hinterzimmer liest, mit gedämpfter Stimme bespricht, im Herzen trägt und tastend im Alltag bewährt. Er bleibt somit Arkanwissen, dessen öffentliche Diskussion gilt als heikel bzw. eben „kryptisch“ und „salopp“. Auch hier werden Anthroposophen andere Lösungen finden müssen. Steiners Zitate (so Mentzel über diejenigen, die ich in Minden vorlas) seien „schwer verständlich“, „hochproblematisch“ könnten „Missverständnisse auslösen“. „Aus dem Kontext gerissen“ lässt grüßen. Doch selbst Mentzel verteidigt die entsprechenden Vorstellungen Steiners nicht. Selbst bei „Themen der Zeit“, wo Verschwörungsideologie boomt, will man die Rassenanthropologien offenkundig nicht mehr rechtfertigen. Das scheint mir das beste Argument dafür zu sein, Steiners Gedankengut weiter öffentlich darzustellen.
„Löffelchen voll Zucker“. Impfschäden, Mary Poppins und die Geister der Finsternis
„…man muß nicht unbedingt von Kretins sprechen, wo man es mit Trotteln zu tun hat.“
– Karl Kraus: Hier wird deutsch gespuckt
Mit verstörender Regelmäßigkeit tauchen im Waldorfmilieu Masernfälle auf (im März 2015 gab es bestätigte in Erfurt, Sankt Augustin und Ludwigsburg). [Aktualisierung vom 18.03.2015: inzwischen noch die Waldorfschule Dresden] Wer aber einen Zusammenhang zwischen Masern und Waldorf postuliert, wird von Anthroposophen für gewöhnlich beleidigt zurückgewiesen: „pauschale“ Vorwürfe seien das. Parallel plädiert man aber für „individuelle Impfentscheidung“, was, sofern es keine Tautologie sein soll (natürlich entscheiden faktisch Individuen darüber, sich bzw. ihre Kinder impfen zu lassen), ja wohl heißt, dass man sich „individuell“ auch gegen Impfungen und dann im Zweifelsfall eben für Masern (bzw. eventuell tödliche Folgeerkrankungen) entscheiden solle. Die offizielle Begründung für diese „individuelle Impfentscheidung“ sind reale und/oder vermeintliche „Impfschäden“ und „Nebenwirkungen“.
In der Anthroposophischen Medizin freilich gibt es zusätzliche Gründe: „Karma“ zum Beispiel oder der (gegenläufige, weil nicht wie „Karma“ retrospektive, sondern proskeptive) Glaube, dass Kinderkrankheiten ganz wunderbare Reifungs- und Entwicklungschancen darstellen. Es sei daran erinnert, dass um’s kosmische Kindeswohl bemühte Eltern zumindest früher einmal regelrechte „Masernpartys“ abhielten – wie ja auch Dr. Michaela Glöckler, Leiterin der Medizinischen Sektion am Goetheanum, ausführt, der Kranke erlebe „in der Krankheit unbewusst die Schritte zu seiner Höherentwicklung“, wozu sie gleich ein Beispiel beisteuert: „Die Hunderttausende [sic], ja Millionen, die in Afrika von der AIDS-Epidemie hingerafft werden, bereiten sich vor, der Menschheit von morgen, die am Egoismus zu zerbrechen droht, die notwendige Hilfe und Inspiration für lebensfreundlichere Kulturgewohnheiten zu bringen.“ (Glöckler: Sexualität und Menschenkunde, in: Bart Maris/Michael Zech: Sexualkunde in der Waldorfpädagogik, Stuttgart 2006, S. 62) Wozu Masern gut sein sollen, gilt es gleich zu diskutieren.
Krankheit und Tod wären also, wie alles, tolle Chancen für die Weltenentwickelung, wären da nicht wieder jene „materialistischen“, von schwarzmagischen Geheimlogen und -lobbys gesteuerten Bösartigkeiten Ahrimans, die den Menschen perfiderweise selbst noch an der Krankheit den Spaß verderben wollen.

„Wenn ein Löffelchen voll Zucker bitt’re Medizin versüßt…“ Mary Poppins, eine Agentin der Geister der Finsternis? (Bild: Wikipedia)
Rudolf Steiner entnahm seine (aber nicht kategorische) Impfkritik wohl von seiner theosophischen Initiatorin (und späteren Gegnerin) Annie Besant, bettete sie während des Ersten Weltkriegs aber in seine eigenen politisch-okkultistischen Vorstellungen ein. (vgl. dazu Peter Staudenmaier) Der norwegische Religionswissenschaftler Asbjørn Dyrendal erklärt, was die Impfungen aus manch anthroposophischer Sicht mit den schwarzmagischen Materialistenmedizinern des Bösen zu tun haben:
„While many anthroposophists follow ordinary vaccine programs, others clearly do not, and Waldorf schools seem to have been the fulcrum of vaccine-preventable diseases more often than should be their due. Some are generally negative towards vaccines and vaccine programmes. This seems to have been the case with anthroposophical doctor Philip Incao, a prominent promoter of alternative medicine … he places his articles within a generally vaccine-critical position, and posits a conspiracy theory he grounds in Steiner and anthropocophical cosmology: ‚Rudolf Steiner’s comments leave no doubt about the ‚hidden agenda‘ behind the plan to vaccinate all the world’s children with as many vaccines as possible, thus devastating their spiritual development.‘ … Incao builds his theory by first finding fault with the scientific backing behind vaccines, misrepresenting along the way the state of research in standard conspirationist manner. Since he finds no good medical rationale behind vaccines, there must be another explanation … This he finds by going to Steiner, which reveals to him a more sinister ‚hidden agenda‘ behind vaccines … Thus the apparently random is made to make sense: secret ways of knowledge reveal the secret brotherhoods, the evil spirits influencing them, the deeper tendencies of tme, and their connection to minute details of history.“ (Dyrendal: Hidden Knowledge, Hidden Powers, in: Egil Asprem/Kennet Granholm: Contemporary Esotericism, Sheffield/Bristol 2013, S. 204ff.)
Dyrendal erklärt nach zahlreichen weiteren Fallbeispielen aus anderen esoterischen Subkulturen die strukturelle Harmonie von Verschwörungs- und esoterischem Denken. Er stellt auch klar, dass Steiner zwischen seiner gewöhnlichen ‚Impfkritik‘ und den beschriebenen Impfungen gegen das Spirituelle differenzierte, die Incao schlicht zusammenwirft.
Zu den jüngsten deutschen Masernvorfällen erschien am 11. März ein Userkommentar von Christian Kreil auf derStandart.at. Kreil zitierte aus einem Merkblatt der „Gesellschaft anthroposophischer Ärzte in Deutschland“ von 2009 (gibt’s hier als PDF), dass „aufmerksame Eltern“ „gerade bei den Masern“ „eine Verwandlung“ ihres Kindes bemerkten und „unter diesem Aspekt die Masern ihres Kindes als sinnhaft erleben, als eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Leib, aus der das Kind gestärkt hervorgehen kann.“ Zumindest nachvollziehbar, dass Kreil seinen Kommentar mit „Die Masern – ein Esoterikschaden“ betitelte. Die zitierte Broschüre selbst erklärt allerdings, Steiner sei kein „Impfgegner“ gewesen. Man erfährt, „dass bei Kindern die Folgen einer Impfung durch spirituelle Erziehung ausgeglichen werden können“, weil eine solche spirituelle Erziehung „Krisenerscheinungen“ anerkenne und deshalb „ähnlich wirken [könne] wie eine Kinderkrankheit und ihre Überwindung“, soll wohl heißen: Waldorferziehung ist genauso förderlich wie eine Maserninfektion. Na dann.
Während man Kreil also vorwerfen könnte, das volle Ausmaß des Unsinns gar nicht dargestellt zu haben, war sein Kommentar ein willkommener Anlass für eine der gewohnten Selbstdarstellungen des anthroposophischen Bloggers Michael Mentzel („Themen der Zeit“). Mit der auf „Themen der Zeit“ üblichen Recherchesorgfalt präsentiert Mentzel den Userkommentar kurzerhand als regulären „Artikel“ von derStandart.at und verschweigt dessen Inhalt. Nur, dass die Anthroposophie als Hauptschuldige für Masernepidemien und als „rassistisch“ bezeichnet werde, erfährt man bei Mentzel. Beides stimmt nicht: Die Anthroposophie wird von Kreil als eine von vielen möglichen esoterischen Quellen von Impfkritik angeführt und Steiner nicht als rassistisch bezeichnet. Kreil verweist vielmehr auf seine Vorstellung vom „abstrakten Jehova-Dienst“, der nicht nur der „materialistischen“ Medizin vergleichbar sei, sondern durch den sich Juden auch in größerem Maße, als es „natürlich“ wäre, zu dieser Medizin „hingezogen“ fühlten. (GA 353, 200) Steiner belegt also „den Materialismus“ einmal mehr mit „jüdischen“ Attributen. Mentzel geht darauf selbstredend nicht ein. Ihm geht es um einen einzigen Leserkommentar zu Kreils Text:
„Ein Leser kommentierte dies so: „Impfung gegen Esoterik müsste gesetzlich verordnet werden.“ Ist aber eine solche Forderung nach einer Zwangsimpfung für „Esoterikgläubige“ wirklich so utopisch? 1917 hat Rudolf Steiner eine solche Forderung und deren praktische Umsetzung vorausgesehen.“ (Michael Mentzel: Impfen gegen Esoterik?)
Dass Steiner den Inhalt des Kommentars zu einem Kommentar aus dem Jahr 2015 vorausgesehen habe, zeigt, wie verzweifelt man suchen muss, um seine schäbigen Prophezeiungen bestätigt zu finden: Man muss sich bis in Leserkommentare zu Leserkommentaren wühlen, bis in das wirre idiosynkratische Gelaber der üblichen Kommentarspaltendiskussionen. Den von ihm zitierten und freilich in mehrerer Hinsicht blödsinnigen Kommentar stilisiert Mentzel wiederum hurtig zur „Forderung“ nach einer „Zwangsimpfung“ für „‚Esoterikgläubige“. Es folgen die auch von Incao und bei Dyrendal zitierten Aussagen Steiners über die „Geister der Finsternis“, die durch von ihnen besessene Menschen Impfungen gegen die Seele entwickeln und verabreichen wollen. (GA 177, 237) In anderen Zusammenhängen spricht Steiner über noch tiefere esoterische Hintergründe: „schwarze Magier“ bzw. „okkulte Brüderschaften“ versuchten, gelenkt von den Geistern der Finsternis, die menschlichen Krankheitsprozesse materialistisch zu kontrollieren und so das Spirituelle auszutreiben. (GA 178, 89) Mentzel lässt natürlich solche Bemerkungen weg, so dass die verschwörungstheoretische Dimension außen vor bleibt und die Vorstellung von „Impfungen“ gegen Geist und Seele als bloßes Ressentiment gegen wissenschaftliche Medizin erscheinen mag. Mentzel erläutert die Zitate auch nicht weiter, wahrscheinlich weil er sie für so prophetisch und zutreffend hält, dass sie keiner Erläuterung bedürfen. Aber bevor dann der Artikel mit einem Karl Kraus-Zitat ausklingen darf, erfährt man doch noch kurz, worum es ihm geht, und er spricht selbst die verschwörungstheoretische Dimension klar aus:
„Vor dem Hintergrund der aktuellen Krisen in der Welt und den oft aussichtslos erscheinenden Versuchen, diesen mit den „konventionellen“ Methoden begegnen oder sie sogar heilen zu können, erscheinen solche Worte[also diejenigen Steiners über die impfenden Geister der Finsternis – A.M.], wenngleich sie wohl auch manchen „aufgeklärten Geistern“ als verschwörungstheoretisch daherkommen mögen, geradezu prophetisch. Denn bei der Zusammensetzung der „Impfstoffe“, die uns heute von Lobbyisten, Think-Tanks, Regierungen und Medien – gleich welcher Couleur – verabreicht wird, scheint es sich um eine besonders perfide Form einer – von vielen allerdings als angenehm empfundenen – Schluckimpfung zu handeln. Sollte Mary Poppins (mit ´nem Teelöffel Zucker…) recht behalten haben?“
Die Erwähnung Mary Poppins‘ (man sollte meinen, wenigstens ein Anthroposoph würde hier noch hinzufügen, dass es sich um die zwar süße, aber doch recht ideenlose Verfilmung eines überaus empfindungstiefen Kinderbuches handelt) offenbart einen interessanten Blick auf die Binnenwelt anthroposophischer Logik. Mary Poppins singt tatsächlich davon, wie „ein Löffelchen voll Zucker bitt’re Medizin versüßt“, weil sie dann „gleich nochmal so gut“ rutscht. Sie singt von fröhlichen Vögelchen und Bienchen: „Denn was man voller Freude tut, schmeckt uns wie Kuchen gut.“ Natürlich mag die Botschaft des Liedes sowohl bei unwilligen Kindern didaktisch nützlich als auch (und eben deshalb) unwahr sein: „Arbeit“ wird hier fetischisiert, soll zur „Lust“ werden.
Das steht einem elementaren Grundsatz der Waldorfpädagogik übrigens nah, den die Schüler der vier unteren Klassen jeden Morgen wie folgt aufsagen müssen. Es geht hier um „…Die Menschenkraft, die Du [Gott] In meine Seele mir So gütig hast gepflanzt, Daß ich kann arbeitsam Und lernbegierig sein.“ bzw. in der Formulierung für die Klassen Fünf bis Zwölf: „Zu Dir O Gottesgeist Will ich bittend mich wenden, Daß Kraft und Segen mir Zum Lernen und zur Arbeit In meinem Innern wachse.“ Während die armen Waldorfschüler Gottes müdes Ohr mit der Bitte um Lern- und Arbeitskraft belasten müssen, die typisch deutsch als Selbstzweck dastehen, bzw. sogar die Pointe der „Menschenkraft“ sein sollen, hat Mary Poppins wenigstens den Vorzug, dass sie diese Arbeit versüßen will, ja: sie verkündet letztlich auch den akzeptablen Grundsatz, dass Spaß an der Sache gut ist.
Auch Steiner war nicht grundsätzlich gegen Spaß, nur sein Humor war freilich ein „Weltenhumor“, der mit der Verdauung zu tun hat, bzw. ein aus „innerer künstlerischer Notwendigkeit“ geschaffenes Elementarwesen, dessen Folgen nicht ausbleiben konnten: „Spaß gibt es auch an Waldorfschulen. Und er wird auch gutgeheißen – aber nur im Dienste der Pädagogik und keinesfalls nur zum Spaß! Das ist das Problem“, brachte das Problem Christian Grauer in „Endstation Dornach“ auf den Punkt. Wenn Mentzel Mary Poppins paraphrasiert, repräsentiert sie ihm aber die Fürsten und Gewalten und Weltherrscher der Finsternis: Löffelchen voll Zucker, die Medizin, am Ende materialistische ‚Schulmedizin‘ oder gar dämonische Impfungen versüßen. Mir wäre unbekannt, dass Mentzel irgendwo Arbeitsfetischismus kritisiert (ich freue mich freilich über gegenteilige Hinweise), was ihn zu stören scheint, ist das Löffelchen Zucker dazu. Dass sowohl das Waldorf-, als auch das Poppins-Credo zwei unterschiedliche Ausprägungen des üblichen bürgerlichen Arbeitsethos darstellen, ist ihm entgangen, und wenn er überhaupt kritisch dazu steht, dann weil er glaubt, dass uns die bösen Medien- und Meinungsmacher mit irgendetwas von außen infiltrieren, das aber mit Zucker versüßen, so dass manche Infiltrierten („Materialisten“ vermutlich) das auch noch toll finden. Er kritisiert nicht die (Re-)Produktionsweise der Gesellschaft oder Ökonomie, sondern sieht das Böse lediglich in einer abstrakten Konsumsphäre.
Es ist bezeichnend, dass Mentzel von den „aktuellen Krisen“ redet, als wäre nicht deren Permanenz festzustellen. Als hätten „konventionelle Methoden“ die Menschheit irgendwie früher einmal aus dem selbstbereiteten Abgrund geführt. Aber schon in älteren Artikeln war Mentzel sich für Kritik der politischen Ökonomie zu schade, stattdessen polemisierte er lieber gegen die USA. Die „Impfstoffe“ Steiners sieht er längst verwirklicht: Sie werden uns freilich ‚von oben‘, von „Lobbyisten“ oder „Medien“ eingetrichtert. Dass die perennierende „Krise“ dagegen Ideologien ‚von unten‘ immer neu hervorbringt – ob das nun szientistische Hoffnung auf den ‚Fortschritt‘ ist, der angeblich den Aberglauben zum verschwinden bringen werde oder aber die esoterische, dass man Szientismus und Kapitalismus, die sowieso aus der bösen englischsprachigen Welt kommen sollen, durch den Kurzschluss mit höheren Welten exorzieren könne – wird freilich nicht bedacht. Denn das brächte auch zum Vorschein, dass die von Mentzel so abgelehnten „aufklärerischen Geister“ mit denen, die sich, wie er selbst, dann doch lieber für verschwörungstheoretisches Geheimwissen über die ‚wahren Schuldigen‘ unseres unhaltbaren Zustands entscheiden, letztlich eines Sinnes sind. Beide glauben, dass alles wunderbar wäre, wenn nicht die blöden Rückständigen oder die bösen Eliten (bzw. die sie inspirierenden Dämonen) alles verderben würden. Im Hinblick auf Impfungen behalten freilich die Aufklärer gegenüber den Technikfeinden Recht, nicht nur im Sinne von Krankheitsvorbeugung. Denn wer das Problem einer „materialistischen“ Gesellschaft nicht in der Gesellschaft, sondern im Materialismus sucht, und dem durch Sinn aus den Überwelten beikommen will, bereitet sich nur selbst seinen bittersüßen Schlaftrunk, statt reale Probleme anzugehen. Er impft sich am Ende noch selbst mit dem bösen Willen, Krankheit als „Verwandlung“ des Kindes auch noch gut zu finden, oder aber „spirituelle Erziehung“ als deren Substitut anzupreisen.
„Reichsbürger“ – Waldorf Schools and the German Right: Past and Present
by Peter Staudenmaier
Twenty years ago, in an interview with the German newspaper die tageszeitung, anthroposophist Arfst Wagner warned against the influx of far-right currents within the anthroposophical movement. Though his comments raised some eyebrows among Rudolf Steiner’s followers, there was little noticeable effect on anthroposophy and its institutions or worldview. Two decades later, in January 2015, the official leadership of the German federation of Waldorf schools seems to have suddenly started paying attention. A new brochure has appeared offering an analysis of the appeal that Waldorf education, biodynamic agriculture, and other anthroposophist endeavors continue to have for segments of the far right. Although it is a welcome step in the right direction, it is a small step, and there is a long way still to go.
The twenty-four page brochure has already attracted attention from Der Spiegel and other media; a number of sarcastic commentaries have appeared online. Its focus is on the so-called Reichsbürgerbewegung or “Reich citizens movement,” an amorphous collection of disaffected Germans who claim that the old empire or Reich – dismantled in 1918 and destroyed in 1945 – still exists. Thus the current German state, in the eyes of these would-be “Reich citizens,” is illegitimate. In this old-new ideology of the Reich, as the brochure points out, esoteric beliefs and right-wing radicalism go hand in hand.
Why would Waldorf officials care? A few months ago there was a minor media scandal when the principal of a Waldorf school in northern Germany was fired because of his involvement in the Reich citizens movement. The incident led to headlines announcing “Nazi suspicions at Waldorf school.” This is by no means the first such case at a Steiner school, but this time Waldorf leaders have responded differently: They have offered a substantive critical engagement with the ideological roots of the affair, attempting at last to discern the latent affinities between anthroposophy and the far right. From this perspective, the brochure is an encouraging if overdue departure from previous practice.
Delineating the Reich citizen ideology is no simple task. The newspaper Die Zeit has captured it aptly as a mixture of “conspiracy theory and antisemitism in the name of peace.” The new brochure provides the following description: “a marketplace of mismatched ideological components” combining “antisemitism, vegetarianism, belief in UFOs, conspiracy theories, and feel-good esotericism,” in which “proclamations of humanist sentiment and populist nationalism can merge together.” This is not a uniquely German phenomenon. In a US context, the movement is comparable in some ways to the “sovereign citizens” subculture with its anti-government resentments, who dream of “freedom from taxes, unlimited wealth, and life without licenses, fees or laws,” in the words of the Southern Poverty Law Center. Its more extreme versions, such as Posse Comitatus organizations or the notion that Americans live under a “Zionist Occupation Government,” are often intertwined with regional and ethnic-racial separatism.
In Germany, beliefs like these fit readily with anti-American antipathy. The historical reasons for this are important to keep in mind. Purveyors of Reich ideology mix these elements with Nordic mythology and invocations of Atlantis, with enthusiasm for alternative currencies, skepticism toward globalization, and a longing for peace and harmony in a world marked by violence and upheaval. It is an unsurprisingly inconsistent worldview. While much of the Reich citizens’ literature is obsessed with the Allies (above all the US) as supposed occupying powers in Germany, their ire is largely reserved for the European Union. Nebulous denunciations of the evils of global capitalism rub elbows with hymns to the inviolability of private property.
Like its counterparts elsewhere, the Reich citizens movement is a classic instance of left-right crossover and a symptom of profound political confusion. Its adherents recycle hoary antisemitic legends and even anti-Masonic conspiracy myths from the era after the First World War. There are numerous esoteric connections. Waldorf schooling as well as biodynamic farming remain especially attractive within this segment of the far-right milieu. Perhaps the most important part of the brochure is thus the section on Waldorf, anthroposophy, and Nazism.
Here the brochure makes a clear call for taking history seriously, for understanding the past in order to understand the present. Even if this is framed self-interestedly as the far right posing a danger to the Waldorf movement, it represents a notable advance over the usual anthroposophist strategy of avoiding the issue. Still, the brochure’s version of the history of Waldorf schooling in Nazi Germany continues the familiar line, strongly emphasizing Nazi persecution of Waldorf while neglecting the many points of collusion between Waldorf leaders and the Nazi regime. Though the brochure cites the important research of Karen Priestman, Ida Oberman, and Wenzel Götte on Waldorf education in the Nazi era, it fails to include the critical findings these studies helped bring to light. And when the brochure does mention Waldorf cooperation with Nazi officials, it is solely under the rubric of “compromise”; there is no mention whatsoever of the enthusiasm within the Waldorf movement for Nazism’s new order.
Beyond these historical inadequacies, the brochure suffers from a myopic perspective on the current salience of right-wing themes within the Waldorf world. As a striking example, it does not mention former Waldorf teacher and neo-Nazi leader Andreas Molau by name (though it does refer to him obliquely and defensively), despite the fact that Molau’s career as a Waldorf teacher who was simultaneously active in the radical right – for eight full years, from 1996 to 2004 – perfectly embodies the very problem the brochure is meant to confront. Nor is there any mention of the role of Lorenzo Ravagli, a current prominent Waldorf leader and editor of the major Waldorf journal, in nursing such links to the far right, whether in the case of Molau or of anthroposophist Holocaust denier Gennadij Bondarew.
Needless to say, there is no examination anywhere in the brochure of Steiner’s own considerable contributions to the same myths propagated by the Reich ideology. Conspiracy narratives loom large in Steiner’s works, as well as in the publications of his follower such as Karl Heise, and there is a lengthy and unfortunate history of anthroposophist antisemitism. Although the brochure makes appreciable strides toward a more historically informed and politically aware treatment of the topic, the aversion to a full and honest reckoning persists, reflecting the longstanding Waldorf allergy against tracing these dynamics back to Steiner himself.
These failings are hardly peculiar to anthroposophy. Similar critiques have been lodged, with reason, against followers of Silvio Gesell and of C. H. Douglas and social credit. Steiner was not the only would-be world savior to draw on dubious sources, and his latter-day disciples are not the only ones to ignore their own troubled legacy and blithely disregard its ongoing repercussions. But the standing of Waldorf schools within the broader field of alternative education indicates why such concerns arouse greater attention. The problem is not one of potential embarrassment. The problem is not that Waldorf’s carefully cultivated image might be damaged. It is not a matter of image at all. The problem is that the underlying partial compatibility between Waldorf values and the ideals of the far right has gone unnoticed and unaddressed for far too long.
However fitfully, that has begun to change. A younger generation of anthroposophists and Waldorf supporters is starting to challenge the traditional historical complacency of their forebears. New perspectives are opening up in which a sober assessment of anthroposophy’s unsettled past no longer induces anxiety and hostility. The new approach faces intense opposition, and a lot of difficult work lies ahead if the Waldorf movement is ever going to deal straightforwardly with its own history. A brochure like this one demonstrates that such an approach is possible, while also showing how much more still needs to be done.
Peter Staudenmaier (Foto: privat) ist Juniorprofessor für Neuere deutsche Geschichte an der Marquette University (Milwaukee, Wisconsin). 2010 promovierte er an der Cornell University zum Thema “Between Occultism and Fascism: Anthroposophy and the Politics of Race and Nation in Germany and Italy, 1900-1945.”, erschienen bei Brill.
Siehe auch:
Anthroposophen und „Reichsbürger“-Bewegung. Annäherungen und Abgrenzungen
Die Scheidung der Geister. Zwischenbilanz zur anthroposophischen Erinnerungskultur
Anthroposophischer Geschichtsrevisionismus. Wie England den deutschen Volksgeist besiegte
„Der Hauptfeind ist England“: Rezension zu Markus Osterrieder bei Info3
Während Anthroposophen die sorgfältig recherchierte Verschwörungsschrift Markus Osterrieders zum Ersten Weltkrieg überwiegend positiv aufgenommen haben (vgl. Anthroposophischer Geschichtsrevisionismus), hat mir die Zeitschrift Info3 in ihrer Dezember-Ausgabe Platz für einige kritische Fragen an Osterrieders 1700 Seiten dicke Monographie zum Ersten Weltkrieg gegeben. Der Beitrag ist auch online verfügbar.
Weiteres zum Thema auf diesem Blog:
Georg Klemp: Rezension zu Markus Osterrieder: Welt im Umbruch.
Peter Staudenmaier: Nationalist Cosmopolitanism: Anthroposophen und der Erste Weltkrieg (Interview)
„Das Karma der Unwahrhaftigkeit“
Die Pythagoräische Wende: Esoterikforschung auf der Suche nach ihrem Gegenstand
„Ein deutscher Arzt (Hr. Grimm) hält sich in seinen Bemerkungen eines Reisenden etc. über die französische Allwissenheit, wie er sie nennt, auf; aber diese ist lange nicht so geschmacklos, als wenn sie sich bei einem Deutschen eräugnet, der gemeiniglich daraus ein schwerfällig System macht, von dem er nachher nicht leicht abzubringen ist, indessen da eine Mesmeriade in Frankreich einmal eine Modesache ist und bald darauf gänzlich verschwindet … Wider diesen Unfug ist nun nichts weiter zu thun, als den animalischen Magnetiseur magnetisiren und desorganisiren zu lassen, so lange es ihm und andern Leichtgläubigen gefällt…“
– Immanuel Kant an Ernst Ludwig Borowski (1790), AA XI, S. 141f.
Der deutsche Begriff Esoterik („Esoterismus“) wurde im 18. Jahrhundert ausgeprägt: Im religionsphilosophischen Disput über die Deutung der antiken Mysterienkulte, der Frage nach deren Verhältnis zur Freimaurerei sowie in einer damit verknüpften Pythagoras-Interpretation. 1815 schließlich war beides ins Selbstverständnis von Freimaurern eingewandert. Mit dieser Entdeckung der Aufklärungsforscherin Monika Neugebauer-Wölk (Halle) sind erstmals begriffshistorische Belege für eine Vorstellung von Esoterik vor 1828 bekannt geworden (im Englischen allerdings gab es das Wort um 1660). Vor allem aber lassen die Themen, die unter diesem Begriff verhandelt wurden, sich schlüssig auf solche der Rennaissance zurückführen. Das verursachte ein kleines Beben für die Esoterikforschung. Dies und anderes dokumentiert ein 2013 erschienener Tagungsband „Aufklärung und Esoterik: Wege in die Moderne“.
Heute findet sich vor allem unter dem Dach der „European Society for the Study of Western Esotericism“ (ESSWE) eine Fülle von Projekten zusammen, die sich irgendwie mit dem Feld „Esoterik“ beschäftigen. Nur: was gehört in dieses Feld? Noch immer arbeitet die sog. „Esoterikforschung“ sich an den Thesen ihres Gründers Antoine Faivre ab. Kann man heutige Esoterik aus neuplatonischen Texten der Rennaissance herleiten? Oder ist sie ein rein „modernes“, im 19. Jahrhundert entstandenes Phänomen?
„Denkform“ oder „Diskurs“?
Der Pariser Religionswissenschaftler Faivre verstand Esoterik als „Denkform“, die sich seit der Rennaissance auf einen Kanon bestimmter Texte und Autoren gründe. Aus den frühneuzeitlichen Quellen dieses Esoterischen Korpus leitete Faivre vier Denkformen ab, die bis heute der Esoterik zugrundelägen: das Denken in symbolischen Entsprechungen; Imagination und Mediation als Möglichkeiten, die verschlüsselten Symbole der Welt zu erkennen; die Vorstellung einer lebenden Natur sowie eine Erfahrung der Transmutation: Die Möglichkeit, sich auf qualitativ neue, höhere Daseinsebenen zu heben.[1] Faivres Definitionsvorschlag traf aber auf eine Religionswissenschaft, die sich mehr und mehr von derlei idealtypischen oder „essentialistischen“ Ansätzen entfernte. Was man für das „Wesen“ der Religion halte, sei, so mag man die Kritik verkürzt darstellen, meist nur die eigene fehlbare Vorstellung davon.
Der Berliner Religionswissenschaftler Hartmut Zinser schrieb entsprechend 2009 gegen „Faivre und seine Anhänger“ an, diese machten sich zu „Theologen der Esoterik“. Die Annahme eines Esoterischen Korpus der Frühneuzeit sei selbst nichts anderes als esoterisches Wunschdenken. Erst 1828 habe, führte Zinser in völliger Übereinstimmung mit dem damaligen, auch Faire bekannten Stand der Forschung, aus, Jacques Matter den Begriff „Esoterismus“ benutzt – also über zwei Jahrhunderte nach der Rennaissance.[2] „Esoterik als Gegenstand gibt es nicht“, schrieb 2004 Kocku von Stuckrad. Sie „existiert nur in den Köpfen von Wissenschaftlern, die Gegenstände in einer Weise ordnen, die ihnen sinnvoll erscheint, um Prozesse europäischer Kulturgeschichte zu analysieren.“ Stuckrad schlug vor, unter „Esoterik“ all jene „diskursiven Transfers“ zusammenzufassen, in denen irgendjemand Ansprüche auf absolutes oder „höheres“ Wissen erhebt – von der antiken Gnosis zum Chanelling. Ironischerweise fasste er materialiter allerdings all jene Traditionen darunter zusammen, die auch Faivre als esoterisch aufgezählt hatte. Ja, Stuckrad dehnte seine „Kleine Geschichte des geheimen Wissens“ bis weit vor die Frühneuzeit bis zur spätantiken Gnosis aus. [3]
Michael Bergunder vertrat 2008 eine noch schärfer diskurstheoretisch liminierte, letztlich nominalistische Eingrenzung des „esoterischen Feldes“, als er wortreich ausführte, dass „Esoterik“ nicht mehr als ein „Name“ für einen „Diskurs über Religion und Wissenschaft sei“. Es handle sich um einen „leeren Signifikanten“ „ohne autonome Essenz“, der in der „Diskursgemeinschaft“ all derer bestehe, die das Wort „Esoterik“ in den Mund nehmen. [4] Aber was soll ein „esoterischen Diskurs“ sein, wenn man nicht sagen darf, was ihn zu einem esoterischen macht? Diese Form von Diskurstheorie behauptet per se, dass Erkenntnis objektiver historischer Zusammenhänge nicht einmal asymptotisch möglich sei und überlässt, ohne die Frage zu stellen, ob unter dieser Voraussetzung historische Forschung nicht eo ipso sinnlos wäre, sich damit einem voluntaristischen Konstruktivismus. Im Sumpf der sprachidealistischen Beliebigkeit wird Esoterik zum „Container“, in den Wissenschaftler alles mögliche schmeißen können, wie Bergunder offenherzig schreibt.
Polemische Ausgrenzung?
Wouter Hanegraaff, der prominentester Vertreter der munteren Esoterikforscher-Szene, hat dagegen versucht, einen speziellen neuzeitlichen Diskurs zur Grundlage einer Bestimmung zu machen.[5] Er spricht von „Western Esotericism“ als „Rejected Knowledge in Western Culture“, heißt: Esoterik sei im Prozess der Modernisierung ausgegrenztes, zurückgewiesenes Wissen. Protestantische Denker hätten, so Hanegraaff, die in der Rennaissance erfolgende Synthese aus Neuplatonismus, Hermetik und Katholizismus angegriffen, während die Kirchenväter noch zur Apologie des Christentums vor der griechischen Philosophie angetreten seien und damit den Grund jener Synthese gelegt hätten. Damit entsteht Esoterik an der Schnittfläche des Disputs um das Verhältnis des „wahren“ Christentums zum (griechischen) „Heidentum“. Im 18. Jahrhundert schließlich sei im Licht der (nicht zuletzt protestantisch aufgeladenen) Aufklärung manch Anderes auf dem Müllhaufen der Geistesgeschichte geworfen worden: Die Alchemie durch die Chemie oder die Verbindung von Metaphysik und Wissensgewinn (Kant). Esoterische Naturphilosophen mussten sich im 15. Jahrhundert noch vor religiösen Autoritäten als christlich rechtfertigen. In der Moderne dagegen versuchten esoterische Strömungen zu zeigen, dass ihre Methoden „modern“ und „wissenschaftlich“ seien. Darauf reagierten Pietismus und Romantik, sie wandten sich von der „bürgerlichen Kälte“ ab und dem geheimen Leben von Seele und Natur zu. Im 20. Jahrhundert sei auf den Eranos-Tagungen, auf denen Mircea Eliade, C. G. Jung oder Gershom Scholem verkehrten, im Protest gegen die vermeintlich nihilistischen Konsequenzen moderner Geschichtsschreibung die Suche nach einer esoterischen Tiefendimension des Historischen aufgenommen worden. Soweit Hanegraaff: Aber was wurde da ausgegrenzt oder aufgenommen? Welches Objekt war das der von Hanegraaff freigelegten polemischen „Ausgrenzungs“-Geschichte? Der Status als „Rejected Knowledge“ in einem „polemischen Diskurs“ bleibt dem Gegenstand des Diskurses noch äußerlich.
Jenseits des 19. Jahrhunderts: Aufklärung und Esoterik
Indem Neugebauer-Wölk nun dem Esoterikbegriff des 18. Jahrhunderts auf den Grund geht, zeigen sich viele der referierten Überlegungen in neuem Licht.
„Der Begriff Esoterismus wird … eingeführt, um eine Religiositätsform des 18. Jahrhunderts zu bezeichnen, deren Spektrum sich vom Vernunftglauben bis zur neuplatonischen Theurgie erstreckt und die sich hinter den Geheimnissen der Freimaurerei verbirgt … Die Tradition der Debattenkontexte, in denen das Wortfeld des Esoterischen in der Neuzeit begegnet, bewegt sich in den positiv bis negativ bewerteten Auslegungen der Philosophia perennis, wie sie um 1500 in ihrer Basiskonzeption entstand. Das ist keine esoterische Konstruktion, sondern eine empirisch abgesicherte Feststellung … Das esoterische Wortfeld gelangt durch die Rezeption griechischer Schriften in der Rennaissance spätestens um 1500 ins Lateinische. Durch die Pythagoräische Wende in der Mitte des 17. Jahrhunderts gelangt die lateinische Adaption in die Nationalsprachen.“[6]
„Schon während ich sprach“, schreibt Neugebauer-Wölk, „spürte ich eine bemerkenswerte Aufmerksamkeit des Publikums, eine Resonanz, die ich bei diesem doch eher trockenen und kleinteiligen Thema nicht erwartet hatte.“ Christoph Meiners, der 1772 seine „Revision der Philosophie“ veröffentlichte, reklamierte in seiner Inhaltsübersicht für Abschnitt 2 „esoterische Logik“, Abschnitt 4 beginnt mit „was man jetzo esoterische Philosophie nennen kann?“ und verhandelt im dazugehörigen Kapitel „Pythagoräische Gesellschaften“ und ihre „esoterische Philosophie“, gemeint sind philosophische Lehren im Kontext der Freimaurerei. „Die Sonne wärmt den Erdkreis auch dann, wenn sie wann sie hinter den Wolken verborgen ist: ebenso kann die Art zu denken und das Publicum aufklären, wenn der Esoteriker gleich die ersten Principia, auf welche er sich gründet, nicht sehen lässt.“ Es schloss sich eine ganze Debatte an:
1776 legte Meiners mit einem Bericht „Ueber die Mysterien der Alten“ nach. Hier beschrieb er, das religiöse Wissen der Priester in der Antike (esoterisch) habe sich von der gemeinen Volksreligion (exoterisch) unterschieden. „Schließlich“, so Neugebauer-Wölk, „bindet er das gesamte Inventar der Lehre von den alten Theologen aus der Philosophia perennis der Rennaissance an über den spätantiken Neuplatonismus an die Arkansphäre der Mysterien an.“ (ebd., S. 54) Johann Georg Hamann war 1779 der Überzeugung, „die ganze neu aufgerichtete Scheidewand des Ex- und Esoterismus“ „verschwindet“, wenn man in den antiken Mysterien „gewisse auf die Religion des Volks sich beziehende Lehren“ sehe. Dagegen übernahm der prominente Freimaurer August Starck in eine Neuauflage seiner „Apologie der Freimaurerei“ die Mysterien auf. Da er gewisse Ähnlichkeiten von antiken Mysterien und solchen der Freimaurerei sah, betonte er energisch, dass das Christentum („zu dem wir uns alle bekennen“) „keine irrige Volksgeligion“ brauche. Die Behauptung, die Maurer verfügten über einen esoterischen Mehrwert gegenüber den christlichen Konfessionen, wäre aber auch eine damals ehrenrührige Abwertung des Christentums gewesen.
Neugebauer-Wölk datiert noch weitere Funde und stellt diese in zeitgenössische religiöse Verbindung: Insbesondere sind hier Fragen zum (Selbst-)Verständnis der Freimaurerei wichtig. Deren Lehren wurden, zunächst in der Fremdzuschreibung, als „esoterische“, aber mit dem ganzen Korpus der platonischen und hermetischen Literatur identifiziert. Die praktizierenden Esoteriker übernahmen diese Vorstellung. Neugebauer-Wölk hat damit, auch wenn sie dies nicht anspricht, damit erneut Antoine Faivres Postulat eines kanonisch-neuzeitlichen „Esoterischen Korpus“ ins Spiel gebracht. Neugebauer-Wölk mahnt, zu klären,
„…was die Worte zu Begriffen macht, d.h. [man muss] dem jeweiligen Sprachgebrauch die damit bezeichneten Inhalte zu[zu]ordnen. Denn mit einer Wortfindungsstrategie allein ist es nicht getan. Man hätte damit zwar die Klippe des Essentialismus umschifft, wäre aber auf den trügerischen Grund eines abstrakten Nominalismus aufgelaufen. Historische Kontextualisierung ist die zwingende Folge Historischer Semantik. Dabei lässt … [das] Material erkennen, dass der rein formale Kontext der einfachen Esoterischen Unterscheidung, nämlich der Trennung einer Schülerschaft in eine äußere exoterische Gruppe und einen privilegierten esoterischen Kreis, schon seit der Antike mit Aussagen über die im inneren Kreis vermittelte Lehre angereichert wurde.“ (S. 72)
Gesellschaftlich pejorativ war der Esoterikbegriff bei seinem Aufkommen nach 1770 nicht. Das ist auch interessant, weil Wouter Hanegraaff Esoterik als „Rejected Knowledge“ gefasst hat. Die Aufklärung habe ‚esoterische‘ Lehren diskursiv ausgegrenzt, in der Folge protestantischer Polemiken gegen „heidnisch“-griechische Lehren im Katholizismus wie in der katholischen Philosophie.
Die „Mysterien der Alten“ bei Rudolf Steiner
Dass Rudolf Steiner in mancher Geschichte zur Entwicklung der Esoterik im 20. Jahrhunderts mehr Raum gebührte, kann man nicht anzweifeln – wobei die wirkliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihm gerade erst beginnt. Der Germanist, ehemalige Waldorflehrer und Steiner-Herausgeber Christian Clement hat im ersten erschienen Band seiner kritischen Steineredition („SKA“) 2013 darin die Steineriana „Die Mystik im Aufgang“ (1901) und „Das Christentum als mystische Thatsache und die Mysterien des Altertums“ (1902) textkritisch publiziert. Für den um 1900 erfolgten karrieristischen Wandel Steiners vom prekären Philosophen zum Religionsstifter sind beide zentral. Steiners esoterisches Weltbild nahm nicht zuletzt in der (auf einem ziemlich kleinen Spektrum von zeitgenössischen Sekundärwerken beruhenden) Beschäftigung mit den antiken Mysterien Kontur an. Über Clements Behauptung, Steiners Mystikdeutung an der Schwelle seiner philosophisch-individualistischen und seiner evolutionär-theosophischen Phase sei eine „zweite methodische Grundlegung“ der Anthroposophie, mag man streiten. Dass die antiken Mysterien jedoch für Steiners esoterische Konversionsbiographie eine wichtige Rolle spielen, ist unbestreitbar, und stellt eine interessante Parallele zum Themenfeld her, das Neugebauer-Wölk diskutiert. Zu Steiners „Christentum als mystische Thatsache“ schreibt Clement:
„Zentrale These des ersten und umfangreichsten Teils ist, dass sowohl die Bilderwelt des antiken Mythos wie auch die Anschauungen wichtiger Vertreter der antiken Philosophie auf Erkenntniserlebnissen beruhten, die ursprünglich in den Mysterien gemacht worden seien. Mythen, so Steiner, seien letztlich nichts anderes als aus dem naiven Volksbewusstsein heraus entsprungene bildhafte Objektivierungen derjenigen seelischen und geistigen Gesetzmäßigkeiten, nach deren Bewusstmachung man in den Mysterien systematisch gestrebt habe. Und eben diese Mysterienweisheit habe auch den Kern der Philosophie eines Heraklit, Pythagoras und Platon ausgemacht … da diese Philosophen selbst Eingeweihte gewesen seien. Mythologie, Philosophie und Mysterienwesen erscheinen so in Steiners Deutung als drei formal verschiedene, inhaltlich aber identische Gestaltungen mystischer Selbst-Erfahrung im antiken Bewusstsein.“ (SKA 5, XLVIII)
Es ist wohl kaum die Frage, ob Steiners Werk esoterisch ist. Vielmehr hat Steiner selbst den Begriff Esoterik nachhaltig geprägt, oder – essentialistisch: – die moderne Esoterik idealtypisch repräsentiert, popularisiert und fortgebildet. Mit dem deutschen Esoterikbegriff vor 1800 teilt er nicht nur die Beschäftigung mit den Mysterien wie mit der Freimaurerei und deren Verhältnis zur eigenen Geistigkeit, sondern auch die Frage nach der Regelung von Arkanraum und bürgerlicher Öffentlichkeit oder den Bezug auf Neuplatonisches und, nicht zuletzt, die Verankerung in einer bürgerlichen Normalität.
Esoterik, Monismus und das Beispiel Steiner
Im zitierten Sammelband Monika Neugebauer-Wölks findet sich auch ein neuer „materialer Diskussionsvorschlag“ zur Definition von Esoterik. Dessen Autor ist Helmut Zander, der mit Pionierforschung zur Ideengeschichte der Anthroposophie neidbeißerische Verachtung von allerlei Anthroposophen (inklusive Clement) auf sich gezogen hat. Zander schreibt mit einer ganzen Reihe von Belegen und in dichter Auseinandersetzung mit Hanegraaffs Ausführungen, „monistisches, identitätsphilosophisches Denken“ stehe im Zentrum „esoterischer“ Vorstellungen. [7] Ein Denken also, das eine höhere Identität von Welt und Gott, von Geist und Materie behaupte. Die christlich-jüdische Gegenüberstellung von Gott und Mensch werde in esoterischen Konzepten monistisch in eine Einheit rückgebunden, die die Grenze von Göttlichem und Menschlichem für überwindbar halte. Zander versteht seine Definition als Mittelweg zwischen Diskurstheorie und idealtypischer Rekonstruktion in der Tradition Faivres: Jede konkrete esoterische Weltanschauung präsentiert die identitätsphilosophische Grundhaltung in ganz eigener Weise, nicht bei allen steht sie im Zentrum. Aber: „Das monistische Paradigma ermöglicht es, eine Traditionsgeschichte der Esoterik zu schreiben: ausgehend von der Rennaissance über die Invention des Begriffs ‚Esoterik‘ am Ende des 18. Jahrhunderts bis zu dessen Popularisierung im 19. und 20. Jahrhundert, wohlwissend um die … massiven Veränderungen des Verständnisses von ‚Esoterik'“, so Zander.
Die Idee einer Einheit von Mensch und Göttlichem enthält potentialiter jene einer Selbsterlösung. Der Mensch kann die Schwelle zum Geistigen überschreiten und sich zum höheren Wesen transformieren. Dies war das Skandalon für Protestanten und Aufklärer. Es nimmt nicht wunder, dass dieser Vorschlag ausgerechnet von dem Steinerforscher Zander kommt. Steiners Denken repräsentiert das ganze Spektrum des Monismus. Ausgehend von seiner 19-jährigen Selbsterfahrung der Schellingschen Anschauung des Ewigen im eigenen Inneren hatte er in seiner Goethedeutung die Beziehung von Denken und Idee als Verschmelzung „mit dem Urgrunde des Weltendaseins“ beschrieben. Kurz vor 1900 erklärte er das Denken jedoch weltimmanent: Die Mystiker schauten „nur“ ihr eigenes Ich und hielten es für Gott. Nach seiner Auseinandersetzung mit der Theosophie schließlich sah Steiner in Welt und Mensch die evolutionäre Entfaltung eines in sich mannigfaltig differenzierten, spirituellen Kosmos. Steiners wechselhafte Weltanschauung lässt sich als biographisches Experiment über den Monismus verstehen, als Suche nach dem Beziehungsgrund von Geist und Welt. Die Kontinuität seines Denkens stünde so nicht antagonistisch gegen seinen Wandel, sondern zeigte sich vielmehr in der stetigen Metamorphose des Steinerschen Monismus. Diese monistische Fragestellung wäre schließlich die motivische Grundlegung von Steiners Esoterik. In seiner Steiner-Biographie (2011) schrieb Zander noch:
„War Steiners Konversion zur Theosophie ein Ausdruck von Kontinuität (so letztlich Steiner in seiner Autobiographie und mit ihm die orthodoxe anthroposophische Tradition) oder Dokument eines Bruchs (so ein Großteil der kritischen Steiner-Deutung). Ich schlage vor, von einer Transformation zu sprechen, in der die Entscheidung für eine dieser beiden Optionen eine Frage der Perspektive ist. An Steiners Monismus lässt sich diese Ambivalenz exemplarisch ablesen: Monismus kann sowohl materialistisch (vortheosophisch) als auch idealistisch (in Steiners goetheanischer Phase und seit seiner theosophischen Zeit) gedacht werden, kann auf Atheismus oder Spiritualismus hinauslaufen.“ (S. 477)
Im zitierten „Diskussionsvorschlag“ zur Definition von Esoterik wird dieses Spezifikum Steiners als Ausdruck identitätsphilosophisch-esoterischer Tradition verstanden:
„Rudolf Steiner …[hat] das Konzept sowie Lexem ‚Selbsterlösung‘ benutzt und positiv besetzt. Sein Ausgangspunkt war eine Kosmologie, die er expressis verbis als monistisch verstand und in der er die Identität von Geist und Materie unter dem Primat des Geistgen postulierte … Steiner ist in doppelter Hinsicht für die Fragestellungen dieses Aufsatzes interessant: Er vertritt eine monistische Weltanschauung bis in die Konsequenz einer Selbsterlösungsvorstellung hinein, und er gehört zu den wichtigen Popularsatoren des Konzeptes der ‚Esoterik‘, für das er in seinem Textkorpus eine Vielzahl der um 1900 immer noch leidlich seltenen Belege bringt.“ (S. 113)
Das letzte Wort ist mit den hier paraphrasierten Ansätzen noch nicht gesprochen: Neugebauer-Wölks Fund braucht weitere begriffsgeschichtliche Klärung. Neue kritische Einwände und historische Entdeckungen werden zu neuen Definitionen der Esoterik führen. Das ist kein Nachteil empirischer Wissenschaft, sondern Ausdruck des andauernden Bemühens, begrifflich und methodisch einem heterogenenen und wechselhaften Gegenstand gerecht zu werden. Mit den Beiträgen der Historiker Neugebauer-Wölk und Zander zeigt sich allerdings, dass das Primat des Objekts (das vielbeschworene ‚Vetorecht der Quelle‘) gegenüber konstruktivistisch-diskurstheoretischer Sprachmagie durchaus seine Vorteile hat – jedenfalls, wenn es das Ziel sein soll, historische Esoterikforschung zu betreiben.
[1] Antoine Faivre: Was ist Esoterik? Geheime Geschichte des abendländischen Denkens (1992), Freiburg 2001.
[2] Hartmut Zinser: Esoterik. Eine Einführung, München 2009.
[3] Kocku von Stuckrad: Was ist Esoterik? Kleine Geschichte des geheimen Wissens, München 2004.
[4] Michael Bergunder: Was ist Esoterik? Religionswissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Esoterikforschung, in: Monika Neugebauer-Wölk/Andre Rudolph: Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Transformation, Tübingen 2008, S. 477-507.
[5] Wouter Hanegraaff: Esotericism and the Academy. Rejected Knowledge in Western Culture, Cambridge 2012; ders.: Western Esotericism. A Guide for the Perplexed, London u.a. 2013.
[6] Monika Neugebauer-Wölk: Historische Esoterikforschung, oder: Der lange Weg der Esoterik in die Moderne, in: Monika Neugebauer-Wölk/Renko Geffarth/Markus Meumann (Hg.): Aufklärung und Esoterik: Wege in die Moderne, Berlin/Boston 2013, S. 37-72.
[7] Helmut Zander: Das Konzept ‚Esoterik‘ im Bermudadreieck von Gegenstandsorientierung, Diskurstheorie und Wissenschaftspolitik. Mit Überlegung zur konstitutiven Bedeutung des identitätsphilosophischen Denkens, ebd., S. 113-135.