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„Hat was von Beuys“: Anthroposophie, AfD und die degenerierten Astralleiber der Asiaten

„Steiner hätte den NS-Rassismus mit Bestimmtheit in aller Schärfe abgelehnt, für eine multikulturelle Gesellschaft kann er sich aber ebenfalls nicht erwärmen. Das Kulturkreismodell heutiger europäischer Rechtsparteien kommt den Steinerschen Vorstellungen sehr nahe: Schwarzafrikaner und ihre Kultur gehören nicht nach Europa, ebensowenig chinesische oder heutige indische Kultur. In der Fluchtlinie von Steiners Vorstellungen liegt – das ist das äußerste – gar ein Apartheit-artiges Modell, das die Ungleichbehandlung der Menschen aus ihren je verschiedenen Möglichkeiten und Entwicklungsnotwendigkeiten begründet.“
– Georg Otto Schmid: Die Anthroposophie und die Rassenlehre Rudolf Steiners, in: Joachim Müller (Hg.): Anthroposophie und Christentum, Freiburg (CH) 1995, 191

Überlegungen (naja: Quellen) zu politischen Ausprägungen der jüngeren Anthroposophie, Überschneidungen mit der neuen Rechten und zum Fortleben alter Steinerscher Grundannahmen.

Die ‚rechtspopulistische‘, in weiten Teilen rechtsradikale „Alternative für Deutschland“ ist nicht nur ein Flügel der neueren Explosion irrationaler Ideologien, sondern eines ihrer Sammelbecken. Der viel zitierte AfD-Abgeordnete Franz-Josef Wiese echauffierte sich über die Mitgliederbasis seiner Partei: „Von ehemaligen SED-Genossen über spinnerte Weltverbesserer bis zu Leuten mit Verfolgungswahn war alles dabei“. Ein ehemaliges Vorstandsmitglied glaube an Chemtrails, andere vertrauten „Leuten, die auf heilende Steine, Handauflegen und andere seltsame Heilmethoden schwören“ – „Ich glaube, die meisten AfD-Wähler wissen gar nicht, was für Leute bei uns sind.“ (so Wiese gegenüber der „Bild“) Manche Wähler könnten von Nachrichten über die spirituelle Basis der AfD jedoch erfreut sein. Martin Barkhoff vielleicht, ehemaliger Chefredakteur des anthroposophischen Zentralblatts „Das Goetheanum“, der mittlerweile in Peking lebt. Nachdem Jens Heisterkamp, Chefredakteur der liberalen anthroposophischen Zeitschrift „Info3“, sich jüngst von neurechten „Wut-Denkern“ abgrenzte, schrieb Barkhoff einen empörten Leserbrief. Die in Info3 abgedruckten Zeilen beginnen mit einem Lob der eigenen gelungenen Integration in China:

„…mein Freundeskreis ist weitgehend chinesisch und meine Anthroposophie verwandelt sich in Taoismus. Meine Nachbargemeinde, das Garnisonsdorf Yangfang, ist islamisch … Leuchtende, dem Himmel zugewendete Halbmonde können in mir die Begeisterung für die Hingabe (Islam) an den Willen Gottes wecken. ‚Angst vor dem Fremden‘ ist bei mir nicht das Hauptmerkmal. Aber ich bin AfD-Wähler. Alexander Gauland macht großen Eindruck auf mich. Allein wie freundlich der bleiben kann … Geduld wie die des alten Rabbi Hillel, und die hebt real das Wut-Denken auf. Wenn alle um ihn herum erregt bis voll wütig sind, bleibt er nicht nur kühl, sondern spürbar freundlich … Hat was von Beuys und den Grünen, früher. Der stand auch konsequent gegen die Parteienherrschaft.“ (Martin Barkoff, Leserbrief zu Jens Heisterkamp, in: Info3, Juni 2016, 5)

Nach dieser wirren Begründung passen Taoismus, Anthroposophie, Islam und AfD irgendwie wunderbar zusammen und Gauland als charismatischer, friedlicher Geist verkörpert offenbar mustergültiges Menschentum. Epigonentum ist eben eine anthroposophische Schlüsselkompetenz. Der Künstlerprophet Joseph Beuys, der seine Jugend in Nazideutschland romantisierte, Antiamerikanismus für Antikapitalismus hielt und einen spirituellen Deutschnationalismus vertrat, passt allerdings hervorragend zu Barkhoffs neuem Kurs. (vgl. Kunst und Boden, Bad Beuys) Das bestätigen auch Rechte, die von Beuys wie Steiner fasziniert bleiben. Das NPD-Organ „Deutsche Stimme“ entdeckte in der März-Ausgabe 2016 in der Tat Beuys‘ politische Visionen. In der Online-Ankündigung liest man:

„…nicht nur dessen Biographie weist interessante Details auf. Man muß sich mit seiner Kunst nicht anfreunden, aber man sollte mit diesem Mann, der eine ‚organische Demokratie‘ anstrebte, sich an Rudolf Steiner, dem Begründer der Anthroposophie orientierte und von der ‚Auferstehungskraft des Volkes‘ überzeugt war, ruhig mal näher beschäftigen.“

 

Steiners Werke stehen derweil auch in der Bibliothek des „Instituts für Staatspolitik“. (vgl. Deutschlandfunk) Um das klarzustellen: Eine Mehrheit der Anthroposophen fände das sicher unbehaglich und dürfte eindeutig für die Aufnahme von Flüchtlingen votieren, wie zahlreiche einschlägige Waldorf-Projekte nahelegen. Zu kritischer Reflexion auf die reaktionären Potenziale führt das natürlich auch diesmal nicht. Hier gilt wohl nach wie vor die Vogel-Strauß-Haltung Steiners, der auf Hans Büchenbachers Kritik an anthroposophischen Antisemiten dekretierte: „Das gibt es nicht in der Anthroposophischen Gesellschaft.“ Ausnahmen, wie Michael Eggerts „Egoistenblog“ oder eben „Info3“, stellen nicht gerade einen Trend dar.

Martin Barkhoffs Ausführungen zu China und Gauland wirken auch deshalb so kryptisch, weil er außer Bewunderung für Gauland keine eigentlich politische Begründung für sein AfD-Bekenntnis abgibt. Ein weiterer Leserbrief, verfasst von einem Michael Köhler aus Gödenroth, passt mehr zu den Aussagen, die man aus dem AfD-Dunstkreis kennt: „Seit 9/11“ werde der „Meinungskorridor immer enger“, selbst „im Bekanntenkreis“ gelte er als „neu-rechts“, wenn er „ausgewiesene Antifaschisten“ wie Brandt und Thälmann (!) „zum Thema souveräner Nationalstaat nenne“, so Köhler (ebd.). Hier lässt die neonazistische Reichsideologie grüßen, mit der sich längst andere Anthroposophen eingelassen haben. (vgl. Anthroposophen und „Reichsbürger“-Bewegung, Waldorf Schools and the German Right) Steiner griff im Ersten Weltkrieg die völkische Mär von „okkulten Logen“ hinter dem „Angloamerikanertum“ auf, die „Mitteleuropas“ „Weltmission“ behindern wollen. Bis heute bestimmt sie viele anthroposophische Politikbetrachtungen. (vgl. Anthroposophischer Geschichtsrevisionismus, Nationalist Cosmopolitanism, Ein kosmisches Komplott) 9/11 kann man sich da freilich nicht entgehen lassen.

Wer Steiner sät, wird heute Neurechte ernten. Das legen zumindest die berüchtigten „Einzelfälle“ nahe. (vgl. dazu Bierl: Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister, Hamburg 2005, Einleitung) So hetzte vor einiger Zeit der anthroposophische Heilpädagoge und Faschist Rüdiger Keuler (vgl. Eggert: Volksverhetzung auf anthroposophisch, Liebe deinen Nächsten) gegen  triebhaft-lebensstarke Afrikaner, die von amerikanischen Geheimlogen gesandt würden, um die christusgefärbten Weißen Europas herabzuzüchten. In konstruktiv-kritischen Austausch mit Keuler trat der Anthroposoph Herbert Ludwig (vgl. Eggert: Demokratie in anthroposophischen Gänsefüßchen). Der erregte schon vor Jahren im Rahmen der dubiosen „Freien Anthroposophischen Vereinigung Pforzheim“ Aufsehen, bei der rechte Redner eingeladen wurden. Holger Niederhausen, einer der fundamentalisitischeren Steinerianer, verteidigte Ludwig derweil als „links“, ohne näher auf Keuler einzugehen. (vgl. Niederhausen: Michael Eggerts Rundumschläge) An Steiners Rassismus und Völkerpsychologie hat Niederhausen ohnehin nichts auszusetzen. (vgl. Unwahrheit versus Wissenschaft) Seine gleichzeitige Sympathie für die Partei „Die Linke“ passt zur sog. „Querfront“, man denke an den national-sozialen Kurs Sahra Wagenknechts oder die Phantasien Dieter Dehms. Breiter betrachtet: Linke und rechte Anti-Globalisierer ziehen dem unentrinnbaren Bann des wahrlich kalten Kapitals die falsche Wärme ethnischer oder kultureller Kollektive vor und damit den „Volksorganismus“ (mag er auch diskurstheoretisch artikuliert sein) der prekären bürgerlichen Existenz. Darin kommen auch rechte Ethnopluralisten und linke „Identitäts“-Fanatiker, die Religionskritik für „Islamophobie“ halten, zusammen: Statt Selbstbestimmung für die Individuen und reflexive Freiheit gegenüber allen traditionalen Verhaltensregeln zu fordern, soll je „das Eigene“ oder „das Fremde“ qua Dasein als unbedingt erhaltenswert gelten (anthroposophisch würde das noch durch die Ontologie der „Volksseelen“-Missionen unterfüttert). Die Apologeten des Islamismus und die Fans der AfD argumentieren von einem vergleichbaren Kulturbegriff aus. Am Ende würden demnach vermutlich die Menschen in homogene kulturelle, religiöse und/oder „Volksgemeinschaften“ getrennt sein, die einander inkommensurabel seien, und damit wäre das böse globale „System“ zerstört.  Einmal mehr brachte dies kürzlich Herbert Ludwig auf den Punkt, der im April zum „Widerstand“ gegen die trans- und internationalistische Verschwörung aufrief:

„Aber Kraft und Widerstandspotential der Staaten sind wesentlich in den Nationen, den Völkern und ihren spezifischen Kulturen begründet, in denen die Menschen weitgehend ihre seelische Verankerung finden. Für einen Globalisierer muss daher neben die politische Entmachtung und Aushöhlung der Nationalstaaten als zweites Ziel die Auflösung der Völker treten, die sie umfassen. Nur eine „enthomogenisierte“, durchmischte Bevölkerung, in der sich keine innere Gemeinsamkeit einer Fremdsteuerung widersetzen kann, ist leicht zentral lenkbar.“ (Herbert Ludwig: Globale Planung der Massenmigration, Ein Nachrichtenblatt Nr.8/10. April 2016, S. 3)

Diese eigene Ansicht unterstellt Ludwig auch den okkulten Geheimlogen, die derart die Weltmission Mitteleuropas via Flüchtlings-„Krise“ zerstören wollten. Unter vielen Anthroposophen gilt noch immer die These, „dass nicht nur die ‚Neger‘ nicht nach Europa, sondern auch die Europäer nicht nach Afrika oder Asien gehören…“ (Bader/Ravagli: Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit, Stuttgart 2002, 175) Das ist nicht nur, wie die zitierten behaupten, gegen den Kolonialismus gerichtet. Der noch so indirekte Kontakt unterschiedlicher „Rassen“ kann aus anthroposophischer Perspektive massive physisch-geistige Nachwirkungen haben. Einer vielzitierten Idee Steiners zufolge kann bereits die Lektüre von sog. „Negerromanen“ die Kinder weißer Frauen „grau“ (!) machen. (vgl. GA 348, 189) Direkte Präsenz ist noch folgenreicher. So erklärte Steiner „den Aussatz im Mittelalter“ durch den „Hunnensturm“, da hier „zurückgebliebene“, übersinnlich verwesende „Mongolen“ die europäischen Evolutionsprotagonisten in Angst versetzten:

„Und nun mischte sich der faule Astralstoff der Hunnen mit den von Angst und Furcht und Grauen durchwühlten Astralleibern der überfallenen Völker. Die degenerierten Astralleiber der asiatischen Stämme luden ihre schlechten Stoffe auf diese furchtdurchwühlten Astralleiber der Europäer ab, und diese Fäulnisstoffe bewirkten eben, daß später die physische Wirkung der Krankheit auftrat. Das ist in Wahrheit die tiefe geistige Ursache des Aussatzes im Mittelalter.“ (GA 100, 88, vgl. GA 94, 156, GA 95, 69, GA 97, 254, GA 99, 59)

So viel zu den okkulten Hintergründen. Herbert Ludwigs Artikel erschien in der Online-Zeitschrift „Ein Nachrichtenblatt. Nachrichten für Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft und Freunde der Anthroposophie“, die ein fanatischeres anthroposophisches Publikum bedient. Ein weiterer Artikel in derselben Nummer des „Nachrichtenblatts“ raunte ebenfalls über „Pläne okkulter Bruderschaften“, anschließend wurde ein Text des britischen Schriftstellers Antony Sutton gedruckt – ihm verdanken wir Titel wie „Wall Street und der Aufstieg Hitlers“ oder Thesen über „Skull and Bones“, wo man die Weltherrschaft mittels Hegelscher Dialektik einübe (man denke einen Moment über diesen Quatsch nach: Charakter und Gegenstandsbereiche philosophischer Theorien scheinen hier schlechterdings jenseits des Vorstellbaren zu sein – die vorliegende Einschätzung von Dialektik gleicht der Behauptung, das Keplersche Gesetz eigne sich als Tiernahrung oder das epistemologische Konzept des „Dings an sich“ könne für den effizienten Ausbau von Verkehrswegen von Nutzen sein) Irrational kann aber eben alles in Beziehung gesetzt werden.

Das „Nachrichtenblatt“ ist, wie hinzugefügt werden muss, skeptisch, teilweise feindlich gegenüber der Entwicklung der „Anthroposophischen Gesellschaft“ oder der Steiner-Nachlassverwaltung. Das heutige Dornach ist die Berliner Republik solcher anthroposophischer Wutbürger: Charismatisch schwach, uneins, halb zum eigenen Museumsshop verkommen. Die dogmatische Binde- und Integrationskraft der gegenwärtigen institutionalisierten Anthroposophie nimmt ab. Während die Anthroposophische Gesellschaft schrumpft (vgl. Sergej, du hast dich selbst gegeben) und die Praxisfelder zögerlich ins weitere esoterische Milieu zu diffundieren beginnen (vgl. exemplarisch Zwischen Anthroposophie und Scientology?), suchen auch rechts-anthroposophische Interessenten neue Wege und begründen eigene Foren. Dass der anthroposophische Mainstream sich selbst eher links verorten dürfte, wird durch die ungebrochene Zustimmung zu Steiners nationalistischen Einkreisungsparanoia aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und das organizistische Denken der „Sozialen Dreigliederung“ konterkariert.

6. Juni 2016 at 3:21 pm 24 Kommentare

Anthroposophische Reformation. Dogmen der liberalen Anthroposophie

„Anthroposophie im 20. Jahrhundert ist weit mehr als Traditionsverwaltung. Zu den Innovationen gehört vor allem eine Neudefinition der Rolle Rudolf Steiners: Vielen gilt er heute weniger als der Guru oder der Eingeweihte, der ein System letzter Wahrheiten eröffnet hat, sondern als ein Schlüssel zur Ermöglichung individueller Sinnsuche. Hier sehe ich eine der dramatischen Verschiebungen gegenüber den ersten Jahrzehnten der Interpretation seiner Person und seines Werks.“
– Helmut Zander: Wie kann man mit Rudolf Steiner sprechen?

Das traditionelle anthroposophische Milieu stirbt aus. Überalterung und schwindende Mitgliederzahlen der „Anthroposophischen Gesellschaft“ (vgl. „Sergej, du hast dich selbst gegeben“) sprechen aber nicht dafür, dass die Steinersche Ideologie sich damit endgültig verflüchtigt. Helmut Zander geht zweifelsohne zutreffend davon aus, dass die Steiner-Interpretation individualisiert und pluralisiert werde – in rein selektiver Aneignung, vermischt mit anderen esoterischen Weltanschauungen oder durch die Sprachgrenzen einer sich globalisierenden anthroposophischen Gemeinde. Ich meine zusätzlich, dass man – für den deutschsprachigen Raum – aber durchaus ideologische Konturen sehen kann, in denen sich so manche „Individualisierung“ und „Pluralisierung“ einpendelt. Die Alternative lautet nicht: orthodoxe Anthroposophie oder irgendwie geartete Erosion. Die „liberale“ Anthroposophie, die sich als solche von den traditional-anthroposophischen Dogmen loslöst, ist nicht mit dem Unsichtbarwerden von Anthroposophie identisch. Sondern hier formen sich ganz eigene Dogmen: Betont wird ein verkitschtes Steinersches „Frühwerk“, das als einzige legitime Urteilsgrundlage für die gesamte Steinerdeutung gelten soll. Ferner werden die höheren Wesen und Welten Steiners als Bilder und Veranschaulichungen ins Subjekt hineingelegt. Schließlich werden so auch Steiners Selbstdeutungen relativiert: Aus dem „Mysterium von Golgatha“ werden biographisch-psychologische Phasen des Gurus gemacht. 

„SKA“ 7: In den Einleitungen zu Christian Clements kritischer Steiner-Ausgabe findet sich die reformierte Steiner-Lesart detailliert

Diese Umdeutungen lösen im ortodoxen Lager scharfe, meist unfaire Anfeindungen aus. Denn in der Tat reagieren die liberalen Anthroposophen (bewusst oder unbewusst) auf die Unzugänglichkeit des verquasten Steinerschen esoterischen Werks, und Zweifel an diesem können die Orthodoxen nicht aufkommen lassen. Freilich gehen die Liberalen genauso fehl, wenn ihnen die anthroposophische Esoterik dann nur wieder eine nette, bilderreiche Illustration oder methodische Verlängerung des „Frühwerks“ zu sein scheint. Im Stillen aber bereitet sich so mancherorts eine anthroposophische Reformation vor: Wer Steiners Aussagen über „höhere Welten“ nicht mehr unmittelbar für evident hält, ist in Bezug auf diese offener gegenüber historischen Deutungen oder punktueller Kritik. Im Ganzen freilich ist diese Neo-Anthroposophie nicht minder ideologisch als die orthodoxe Variante, wie sich an ihrem prominentesten Verfechter, dem Germanisten Christian Clement zeigen lässt.

Obwohl die im Folgenden zitierten Autoren sich zweifelsohne nicht als homogene Gruppe sehen würden und jeder Standpunkte einnimmt, denen andere untere den Aufgeführten widersprechen würden, scheinen mir doch die folgenden Punkte geeignet, das Credo eines kleinen, aber wachsenden Flügels von Steiners-Fans zusammenzufassen:

  • Depotenzierung der Inhalte: Was Steiner über Engel, Elementarwesen und Weltzeitalter sagte, sei inhaltlich nicht, jedenfalls nicht ganz ernst gemeint, sondern methodische oder heuristische Veranschaulichung von ganz anderen Philosophemen.
  • Prospektive statt retrospektive Deutung: Beurteilen die Orthodoxen das Leben des vor-theosophischen Steiner durch die Augen des Theosophen, so drehen die Liberalen den Spieß um. Steiners Aussagen nach seiner Kehre um 1902 werden auf das früher liegende Werk reduziert.
  • Radikale Selbstdeutung: Wie jede religiöse Innovation versteht auch diese sich nicht als solche. So behaupten die Neo-Anthroposophen, zum „echten“ Steiner zurückzukehren, „es“ so zu sehen, wie „es wirklich gemeint“ war.
  • Individualisierung: Der klassische Steinerjünger sieht sich in einem sehr festgelegten Kosmos von übersinnlichen Kräften und Welten, der liberale, der an diese nicht glaubt, sucht jene Potenzen im Individuum. Jeder muss sich selbst, neu, kreativ, individuell mit ihnen verbinden.

Nochmal: Steiner-Verkürzung in der „SKA“

Manchmal sieht man sich zu peinlichen Schritten gezwungen: zum Beispiel heute ich und zu dem garstigen Schritt, Lorenzo Ravagli zuzustimmen, jenem Verteidiger der Steinerschen Rassenlehre und Möchtegernkritiker der Anthroposophiekritik, der zu allem Überfluss noch pathetisch einen (Wieder-)“Aufstieg zum Mythos“ predigt. (vgl. Ravagli, die Rassen und die Rechten) Nun hat Ravagli allerdings eine geschwätzige Rezension zu Band 7 der von Christian Clement herausgegebenen Kritischen Steiner-Ausgabe (SKA) geschrieben, die auf das zentrale Defizit in Clements Ansatz hinweist. In diesem Band sind Steiners „Schriften zur Erkenntnisschulung“ ediert worden: Anweisungen, Übungen und Schilderungen für seine „Geistesschüler“, um den Pfad in die „höheren Welten“ anzutreten. Clements meisterlicher Stellenkommentar kontextualisiert viele Äußerungen Steiners, weist ausführlich die Quellen nach, aus denen Steiner (natürlich ohne sie zu nennen) geschöpft hat und geht auf inhaltliche Zusammenhänge ein, die jenseits der herausgegebenen Schriften liegen.

Aber. In Vorwort und besagtem Stellenkommentar nähert Clement sich Steiners Konzept der „höheren Erkenntnis“ in ähnlicher Manier wie Ravagli dem Steinerschen Rassismus: Alles sei irgendwie ganz anders gemeint. Konkret meint Clement offenbar, Steiner kenne keine Objekte höherer Erkenntnis. All die Auren, Wesen und Kräfte, die Steiner da umschreibe seien lediglich Bilder und Symbolisierungen. (vgl. Zu Band 7 der Kritischen Steiner-Ausgabe) Clement: “Muss man nicht, gerade im Sinne seines Frühwerks, die von Steiner beschriebenen ‘Lotusblumen’, ‘Astralleiber’ oder ‘Schwellenhüter’ als Gestalten ansehen, die er selbst, wie Faust seine Helena, aus dem ‘Weihrauchnebel’ seiner eigenen Imagination hervorzauberte?“ (SKA 7, XXVIII) Das wäre vielleicht zu bejahen, wenn man es anthroposophiekritisch in dem Sinne wendete, dass es sich bei Steiners „Hellsichtigkeit“ um idiosynkratische Projektionen und Autosuggestionen gehandelt habe. Das jedoch ist Clements Anspruch nicht. Zwar wirft er dem Guru vor, dass er nicht Philosoph blieb, also dem Steiner nach 1900, dass er sich nicht wie vor 1900 verhalten habe – versucht dann aber doch weitgehend ohne Belege, Steiners esoterisches Programm als bloße mythologische Veranschaulichung seiner vormaligen Philosophie zu verkaufen.

Was Steiner über die “höheren Welten” gesagt hat, sei lediglich “eine bewusstseinsphilosophische Darstellung im Geiste Kants und Fichtes, d.h. … eine Phänomenologie der Inhalte des menschlichen Bewusstseins. Das einzige Wesen, dem der Mensch in der Meditation begegnet, ist nach Steiner letztlich das eigene, und zwar als zugleich individuell-persönliches und universell-absolutes.” (ebd., XXIX) Abgesehen davon, dass man Fichte und besonders Kant vor dieser Zuschreibung zumindest partiell in Schutz nehmen muss, ist auch Steiner gegen diese Verzerrung zu verteidigen: Dass er selbst Meditation bzw. „höheres Forschen“ bloß als Selbstbegegnung eines Universalsubjekts sah, lässt sich nicht nur nicht belegen, sondern Steiner selbst sagt verschiedentlich explizit das Gegenteil. In dieser Hinsicht nun ist auf Lorenzo Ravagli Verlass, der Clements Steinerverzerrung ebenfalls, wenn auch vom orthodox-anthroposophischen Standpunkt, nicht nachvollziehen kann:

„Ich sehe keinen Weg, solche Äußerungen Steiners als mythologisierende Redewendungen wegzuraisonnieren, zu denen er nur gegriffen hätte, weil sein Publikum zu dumm war, die Sprache der Aufklärung zu verstehen. Vielmehr erscheint mir dieser Rationalisierungsversuch seinerseits als eine Art Rückfall in den Feuerbachschen Anthropomorphismus. Die aus dem imaginierenden Bewusstsein hervorgehende bildliche Darstellungsform als Rückfall in ein vorwissenschaftliches Bewusstsein zu bezeichnen, widerspricht der gesamten Logik und Systematik der von Steiner nach 1900 entwickelten Anthroposophie …. Auch in den »Stufen der höheren Erkenntnis«, die Clement ja ebenfalls herausgibt und kommentiert, spricht Steiner deutlich aus, dass es sich bei der durch die Imagination erreichbaren Welt – die deswegen keine dualistisch gedachte metaphysische Hinterwelt sein muss – um eine höhere Wirklichkeit handelt, als jene, die dem gegenständlichen Bewusstsein der gewöhnlichen Wissenschaft zugänglich ist.“ (Ravagli: Die Anthroposophie: ein „Rückfall “ in Mythos?)

Ravagli natürlich hat seinen eigenen Anteil an der Genese des von Clement und anderen vertretenen Steinerbildes (vgl. Ravagli: Der esoterische Schulungsweg im Frühwerk Rudolf Steiners, in: ders. (Hg.): Jahrbuch für anthroposophische Kritik, 74ff.), vertritt, zumindest inzwischen, jedoch selbst seinen ganz dezidierten Remythologisierungsansatz. Seinem Vorbehalt gegen Clement ist zwar nicht im Impetus, aber in der konkreten Kritik an Clements Steinerdeutung zuzustimmen. Clement wiederum hat in einer Replik auf meinen Vorwurf, dass er eine ideologische statt analytische Steinerdeutung vornehme, die letztere als „ideogenetisch“ und wie folgt verteidigt:

„Dabei beziehe ich mich nicht nur auf die erkenntnistheoretischen Argumente Steiners bis 1894, sondern auch und vor allem auf die bewusstseinsphilosophisch geprägten Texte von 1901 und 1902 und dem darin von Steiner formulierten (und dann von mir in der Einleitung zu SKA 5 so genannten) „ideogenetischen Grundgesetz“. In dieser Herangehensweise sehe ich aber nicht eine „ideologische Verkürzung“, sondern eine legitime Methode der Deutung Steiners, welche sich zum einen problemlos von Steiner her rechtfertigen lässt und zudem den Vorteil hat, dass sich anhand seiner ohne Schwierigkeiten eine innere Kontinuität zwischen Steiners philosophischen Frühwerk und seiner späteren Esoterik behaupten lässt. So kann man Steiner durch Steiner auslegen lassen, ohne mit den Anforderungen kritischen Denkens in Konflikt zu kommen.“ (Clement: Ideologische vs. ideogenetische Steinerdeutung)

In der Tat lässt sich Steiner nach 1902 kohärent allein mit seinen vorherigen Schriften auslegen, jedoch wohl (jedenfalls bei Clement) um den Preis, das alle seiner späteren Verlautbarungen nicht ernst genommen bzw. auf frühere reduziert werden. In der Tat versucht Clement, Steiner mit seiner Mystik-Schrift von 1902 zu lesen, nach der die mystischen Inhalte menschliche Projektionen seien, in denen doch ein Universales mitschwingt: „dürfen dann nicht, in Anwendung der Steinerschen Konzeption auf seine eigene Gedankenproduktion,auch seine eigenen philosophischen Vorstellungen wie auch die Inhalte der Steinerschen Esoterik, also die Inhalte des imaginativen, inspirativen und intuitiven Bewusstseins, in eben derselben Weise aufgefasst werden? Was an diesem Deutungsansatz ideologisch sein kann, kann ich nicht sehen…“ (ebd.) Da sich Steiners Auffassungen um und nach 1902 (und bis 1925) in rasendem Tempo immer wieder weiterentwickelten, umlagerten und verschoben, ist es bestenfalls gedankenlos, alles nach 1902 willkürlich auf seine Positionen um 1902 zu reduzieren. Wenn das aber kein legitimer Ansatz sei, müsse ich doch wohl jeden hermeneutischen Ansatz als ideologisch brandmarken, so Clement.

Der ungeheure editorische Wert der „SKA“ bleibt ungemindert – ja, in seinem Vorwort zum Band mit den Mystik-Schriften Steiners erwies sich Clements Interpretationsansatz auch noch als treffend (vgl. Die Mystik im Aufgang), wohl weil glücklicherweise Texte bis 1902 untersucht wurden. Ich habe in meiner Rezension einige Aussagen Steiners zitiert, an der Clements Umdeutungsversuche abprallen, Ravaglis Rezension nennt einige mehr, und mühelos wären weitere zu finden. Steiners Aussagen über „höhere Welten“ auch als solche aufzufassen gelingt Clement nicht, er sähe darin wohl einen Dualismus – dass für Steiner monistisch zusammenhängende geistige Wesen mit unterschiedlichen ontologischen Strukturen und Aufgaben existierten, scheint keine Deutungsoption zu sein, die er auch nur heuristisch durchgedacht hätte.

Zur Ideogenese der reduktionistischen Steiner-Lesart

Ich behaupte, dass Clements hermeneutischer blinder Fleck seinerseits nicht im luftleeren Raum steht. Seine Steiner-Lesart ist jedenfalls keineswegs neu, sondern wurde längst in einem gewissen anthroposophischen Milieu vertreten, das auch zu seinen Ausführungen am lautesten applaudiert hat: dem liberal-anthroposophischen Umfeld von Info3. Dort hat Felix Hau, allerdings als „Arbeitshypothese“ gekennzeichnet, schon 2005 den theosophischen Steiner zur verkleideten Verlängerung des frühen Steiner erklärt, was einen bösartigen Aufschrei im anthroposophischen Mainstream nach sich zog.

„Zu keinem Zeitpunkt“ habe Steiner „Engelshierarchien, zwei Jesusknaben, Ätherleiber und soratische Mächte als Anschauungen“ in sich getragen, so Hau, sondern sich „lediglich später auf diese bestimmte Art“ ausgedrückt. Und nochmal:

„Ich bin im Übrigen nicht der Ansicht – und war es nie –, dass Steiner bei seiner Verbindung mit der Theosophie seine Ideen aufgegeben, wesentlich modifiziert oder erst danach die ihn kennzeichnende Auffassung entwickelt hat; ganz im Gegenteil [nämlich dass die Theosophie] … ein Feld bot, auf dem er in aller Seelenruhe seine ureigensten Auffassungen zu Anschauungen entwickeln und ausarbeiten konnte – lediglich um den Preis, sie in eine bestimmte Ausdrucksform zu gießen…“ (Felix Hau: Rudolf Steiner integral, in: Info3 5/2005, 30)

Ähnliches haben, ausführlicher, Haus Kollegen Christian Grauer und Sebastian Gronbach behauptet. Christian Grauer hat daraus einen eigenen, konstruktivistisch-solipsistischen philosophischen Ansatz geformt, der eine eigene Besprechung nötig machte. (vgl. Grauer: Am Anfang war die Unterscheidung. Der ontologische Monismus, Frankfurt 2007, siehe auf diesem Blog auch Grauer: Die Wunderwaffe jedes Fundamentalisten) Gronbach, der selbst als spiritueller Lehrer missioniert, sieht Steiners Engel usw. als bloße Symbole, die Steiner als Universaldidakt aus pädagogischen Gründen erfunden habe, um die Seele zu kultivieren:

„Die Erzengel, die Widersachermächte Luzifer und Ahriman, die Elementarwesen, am Ende auch Christus (ich komme noch dazu), das sind alles Steiners geniale und poetische Beschreibungen spezifischer Formen und Zustände der menschlichen Innenwelt. Es ist die wissenschaftliche Methode der Versinnbildlichung [!], ein Kunstgriff, um komplizierte menschliche Ideen in eine populäre Form zu gießen, mit denen wir über das Denken hinaus eine lebendige Beziehung eingehen können. Ideen finden so den Weg in unsere Seele. … Ist der Erzengel Michael nur ein Symbol? Er ist ein von Steiner, von mir, von Ihnen erschaffener Repräsentant einer Idee. Er ist Wesen, weil Steiner, ich und Sie es wollen, und er ist nur Symbol, wenn wir diese Beziehung zu beenden. Genau das ist für mich die zweite Wahrheit: Es ist Zeit, diese Beziehung zu beenden. Weil er für etwas steht, aber dieses Etwas, die Idee, dasjenige, was der Träger durch die Zeit trug, muss nun meine Sache werden.“ (Sebastian Gronbach: Missionen. Geist bewegt alles, Stuttgart 2008, 97f)

Mein Artikel wurde nicht ohne jeden Sinn „anthroposophische Reformation“ betitelt: Die protestantische Reformation schrieb Kirche und Konzile als relevante Institutionen zur Bibelexegese ab und gab dem einzelnen Gläubigen die Schrift in die Hand. Die anthroposophische Reformation lässt den Unmittelbarkeitsanspruch der Steinerschen Texte wegfallen und macht radikal den Rezipienten zum Dreh- und Angelpunkt. Der Leser muss die in Steiners Schilderungen niedergelegte Idee finden, verstehen und sich ganz individuell aneignen.

Welch radikaler Bruch zum anthroposophischen Mainstream in dieser Auffassung liegt, mag man behelfshalber an einem weiteren Beispiel illustrieren: Info3-Chefradekteur Jens Heisterkamp. Dessen Anliegen ist “eine Neubesinnung auf eine ursprüngliche, ‘nicht-theosophische’ Anthroposophie“, für die Steiners Entwicklung nach den Mystik-Schriften eine uneigentliche Phase bleibt. (Heisterkamp: Anthroposophische Spiritualität, 124) Heisterkamp begeistert sich zwar für eine spirituelle Evolution der Kultur, aber die läuft in Kapiteln wie „magisch“, „mythisch“, „rational“ und „integral“. Steiners Welten-, Wesen- und Rassen-Evolution wird als heuristischer, aber letztendlich gescheiterter Versuch der „Verbildlichung“ dieser Kulturgeschichte angesehen.

„Steiner hat hier offenbar keinen anderen Weg der Darstellung gesehen, als die Wirkmächtigkeit von Bewusstsein als evolutiver Kraft unter Rückgriff auf die Bildlichkeit ‘höherer Wesen’ zu schildern. Entstanden sind dabei äußerst bilderreiche Erzählungen speziell in seinem Buch Geheimwissenschaft im Umriss, die seiner als Philosoph aufgestellten Maxime eines Verzichts auf ‘außermenschliche’ und ‘außerweltliche’ geistige Kräfte zu widersprechen scheinen.” (ebd., 87f.)

Auch die Vorstellung der Reinkarnation wird zwar ästhetisch bejaht, aber ontologisch depotenziert: ob man nun wirklich und wörtlich wieder geboren wäre, das scheint dem Info3-Chefredakteur nicht so wichtig zu sein. (ebd., 75f.) Heisterkamps Ansatz scheint mir unter allen referierten der sympathischste, denn er verfährt dezidiert ekklektisch: “‘Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden’ – diese von Steiner selbst formulierte Lebensregel gilt es auch im Blick auf sein eigenes Werk zu beherzigen.” (ebd., 36) Hier wird Steiner unter weitgehender Ausklammerung der theosophischen Inhalte (nicht aber aller esoterischen) richtiggehend umgeschrieben. Das hat große Vorteile, weil Heisterkamp etwa Rassismus und Antisemitismus verabschiedet, die in der gegenwärtigen orthodoxen Anthroposophie entweder noch virulent, oder zumindest ein latenter Fundus sind. Das zeigt die empörte Reaktion des Kreuzritters Holger Niederhausen auf Heisterkamps Buch: „Eine konkrete geistige mit realen Wesen wird also einfach nicht mehr ertragen. Ebenso wenig aber eine konkrete Geschichte, die neben der Bewusstseinsgeschichte sehr wohl immer bestimmte Völker kannte, die jeweils spezifische Impulse in die Menschheitsentwicklung einfließen ließen. Aber all dies ist ja „diskriminierend“…“, so Niederhausen.

Interpretative Folgen

Die Parallelen zwischen Clement, Hau, Gronbach und Heisterkamp sind schlagend: Steiners „Erforschung“ geistiger Welten wird zum Bild, zur Metapher, zur Einkleidung für Positionen, die er vor oder um 1900 vertreten hat. Das Spätwerk Steiners wird so radikal depotenziert, dass es nur aufgrund des philosophischen Frühwerks (oder was in dieses so hineingelegt wird) überhaupt noch legitim angegangen werden kann. Alle vier würden es als lächerlich verwerfen, wenn man glaubte, Steiner habe wirklich von Engeln gesprochen. Hinzu tritt ein merkwürdiger Begriff von Monismus, der angeblich mit Engeln unvereinbar sein soll. Tatsächlich ist die „Geistige Welt“, die Steiner ab 1903/4, beispielsweise im ersten Fragment seiner „Geheimwissenschaft“ (vgl. GA 89), entfaltete, kein ontologischer Widerpart zu Materie oder zum menschlichen Bewusstsein, sondern die letzteren können sich als Teil des binnendifferenzierten monistischen Geisterkosmos erkennen.

Diese Umdeutung Steiners ist selbst Anthroposophie. Anthroposophie, der die Widersprüche von Steiners Früh- und Spätwerk bewusst geworden sind und die deshalb letztlich versucht, das Inkommensurable am zugänglichsten Schopf zu packen und den Widerspruch durch eine exegetische Monopolstellung des „frühen“ Steiner auszutreiben. Das orthodoxe Lager steht Steiner zwar näher, insofern es das esoterische Weltbild ernst nimmt, verfolgt aber die liberalen Steinerdeuter mit großer Wut. Die wird psychologisch zu erklären sein, denn an den wie auch immer falschen Pointen Neo-Anthroposophie wird deutlich, dass Steiners Werk Interpretation erfordert – während die Orthodoxen sich im Aberglauben wiegen, dass aus Steiners Worten unvermittelt “die Wahrheit sofort hervorginge.” (Niederhausen: Unwahrheit und Wissenschaft, 29) Gegenüber solchem Unsinn zeigt sich das doch hohe reflexive Niveau, das die reformierten von den traditionalen Anthroposophen scheidet.

Natürlich kaufen die orthodoxen Steinerverehrer sich munter Steiners Rassismus und seine Verschwörungsideologie ein. Christian Clements Steiner-Edition wird in den Augen ihrer anthroposophischen Möchtegernkritiker zum diabolischen Plan mormonisch-jesuitisch-freimaurerischer Weltverschwörungen, die natürlich nichts besseres zu tun haben, als zur Zerstörung der Anthroposophie häretische Steinerinterpretationen auf den Markt zu werfen. (vgl. Willy, Thomas und der Wolf im Schafspelz)

Denkend begreifen statt hellseherisch wahrnehmen

Mögen Info3 und Clement die prominentesten Sprachrohre der neuen Steiner-Leküre sein, so sind die ihr zugrundeliegenden Probleme doch auch einigen anderen Anthroposophen bewusst. David Marc Hoffmann, Leiter des Steiner-Archivs (und vormals des Basler Schwabe-Verlags, dem wir übrigens eine exzellente Untersuchung von Steiners Beziehung zum Nietzsche-Archiv verdanken) versucht ebenfalls, durch das „Frühwerk“ Schneisen ins esoterische Spätwerk zu schlagen. Hoffmanns Ausführungen gehören, das sei klargestellt, zu den besten im anthroposophischen Milieu seit Steiners Zeiten überhaupt. Er erkennt „eklatante Widersprüche“ an und geht methodisch viel sorgfältiger vor als Clement. Auch Hoffmanns Feindbild heißt Dualismus, auch er hält es für nötig, Steiners Monismus zu beweisen, auch er will Steiner aus der esoterischen Ecke holen. Hoffmann sieht jedoch Steiners esoterisches Gedankengebäude nicht unbedingt als „Verbildlichung“ vorher ausgearbeiteter Inhalte, sondern hofft Kontinuität zu stiften, indem er die „höhere Erkenntnis“ des „späten“ Steiner als inhaltliche Erweiterung unter den methodischen Prämissen des „frühen“ ausgibt:

„Die eklatanten Widersprüche zwischen Steiners früherem Atheismus und seinem späteren esoterischen Christentum erscheinen unter dem Aspekt der Methode in einem ganz anderen Licht. Wenn Wahrnehmung und Begriff als Maßstab für die Erkenntnis gelten, dann ist alles bloß eine Frage der Grenzen der Wahrnehmungen und des verwendeten Begriffsinventars des erkennenden Individuums. Bei erweiterten Wahrnehmungen und neuen Begriffen ist plötzlich erkennbare Realität, was vorher unwahrnehmbar und undenkbar war – ohne dass die anerkannte Erkenntnismethode preisgegeben wurde. Unter diesem Gesichtspunkt kann auch die (vermeintliche) Esoterik der Anthroposophie relativiert werden. Wenn die Anthroposophie einem Unvorbereiteten oder naiv Gläubigen als Spiritualismus oder gar Dualismus erscheinen mag, kann sie sich bei näherer Betrachtung als monistisches Verständnis der Welt entpuppen … In diesem Sinne lässt sich die geistige Seite der Welt denkend begreifen statt hellseherisch wahrnehmen.“ (David Marc Hoffmann: Rudolf Steiners Hadesfahrt und Damaskuserlebnis. Vom Goetheanismus, Individualismus, Nietzscheanismus, Anarchismus und Antichristentum zur Anthroposophie, in: Uhlenhoff: Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart, 118)

In gewisser Hinsicht hat man es hier durchaus mit einer anthroposophischen Graswurzelrevolution zu tun. Bereits Steiner selbst betonte notorisch, er wolle verstanden statt gläubig verehrt zu werden. Natürlich würden aber orthodoxe Anthroposophen genau das auch betonen, ohne einen einzigen Buchstaben seines Werks in Frage zu stellen. Das gelingt den Neo-Anthroposophen durchaus glaubwürdiger, weil sie mit der Negation einer objektiv existenten „Geistigen Welt“ nur noch eines haben: das von Steiner gleichfalls beschworene Individuum, dem sich um so mehr annehmen wollen – statt auf die ontologische Struktur der Geistwelt muss der Adept nun auf die methodische Struktur seines Denkens hoffen.

Mysterium von Golgatha

Diese Subjektivierung wird auch auf Steiner selbst übertragen. Der beschreibt in seiner Autobiographie seine geistige Wende nach der Jahrhundertwernde zwar nicht als solche, aber durchaus, wie er sich aus inneren Krisen und dämonischen Kräften durch Vertiefung in’s esoterische Christentum rettete, das er natürlich schon hellseherisch wahrnehmen konnte:

„In der Zeit, in der ich die dem Wort-Inhalt nach Späterem so widersprechenden Aussprüche über das Christentum tat, war es auch, daß dessen wahrer Inhalt in mir begann keimhaft vor meiner Seele als innere Erkenntnis-Erscheinung sich zu entfalten. Um die Wende des Jahrhunderts wurde der Keim immer mehr entfaltet. Vor dieser Jahrhundertwende stand die geschilderte Prüfung der Seele. Auf das geistige Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha in innerster ernstester Erkenntnis-Feier kam es bei meiner Seelen-Entwickelung an.“ (GA 28, 388)

Bei unseren anthroposophischen Reformern wird das visionäre „Gestanden-Haben vor“ zu einer Art psychologischem Hindurchgegangensein-durch das „Mysterium von Golgatha“. Statt dass Steiner nach absolvierter Seelenprüfung die Opferung Christi geschaut habe, ja selbst zum Diener der Christus-„Wesenheit“ geworden sei, wird diese autobiographische Äußerung zum biographischen Narrativ. Steiners geistige Kehre um 1900 kulminiert in dieser Deutung nicht in seiner geistigen Präsenz auf Golgatha. Sondern Kreuzigung, Tod und Auferstehung Christi werden zum Muster psychologisiert, nach dem auch Steiners früher Idealismus durch einen atheistischen „Tod“ hindurchgegangen sei, um als neuer Idealismus nach 1900 aufzuerstehen. Hoffmann bedient sich des auch von Clement zum neuen Kanon erhobenen Buchs „Das Christentum als mystische Thatsache“, um Steiners viel spätere autobiographische Behauptung zu deuten.

„Was Steiner in den beschriebenen ‚Ismen‘ (Monismus, Individualismus, Egoismus, Anarchismus) und seiner Opposition zum Christentum erfahren hat, ist ein vollständiger Verlust aller alten Werte, ein Verlust von Mensch und Welt, ein Moment, ‚wo der Geist für ihn alles Leben für Tod erklärt‘. Steiner hat eine derart beschriebene Hadesfahrt durchlebt. Dass sich ihm eine neue Welt, eine neue Sonne und eine neue Erde aufgetan haben, kann man als eine Art Damaskuserlebnis bezeichnen.“ (Hoffmann: Rudolf Steiners Hadesfahrt, a.a.O., 112)

Auch János Darvas, der Kritik am anthroposophischen Antisemitismus übt und gegen diesen eine supra- oder interreligiöse Anthroposophie zu stellen versucht, sieht das ähnlich:

„Rudolf Steiner hat in seiner Freiheitsphilosophie und den anderen erkenntnistheoretischen Schriften eine völlige Ausklammerung aller vorangegangener Tradition vollzogen. Das geschah nicht bloß im Sinne einer methodischen Voraussetzungslosigkeit intellektueller Art, sondern als ein durchaus existenzielles Abkoppeln … Ist ein solches Abkoppeln in diesem existenziellen Sinn vollzogen, dann ist ein totaler Nullpunkt erreicht, der zunächst Determinationen vorausliegender Prägungen durch die Tradition auslöscht. In der Art indes, wie dieser Nullpunkt erlebt wird, bleibt er von dieser Tradition mitgeprägt … Es [Steiners ‚Mysterium von Golgatha‘] ist selbst als Null und Anfang zu erfahren. Dem spirituellen Todeserlebnis im Hindurchgehen durch die Nacht des agnostischen, existenziell erfahrenen ‚Gott-ist-tot‘ steht das ‚Gott-ist-tot‘ des Gekreuzigten auf Golgatha als Entsprechung gegenüber, freilich so, dass in der Überwindung dieser Situation auch eine Qualität erlebt wird, die im christlichen Sprachgebrauch als Auferstehung bezeichnet wird.“ (Darvas: Gotteserfahrungen. Perspektiven der Einheit. Anthroposophie und der Dialog der Religionen, Frankfurt am Main 2009, 21f.)

Steiner selbst spricht davon, dass er sich aus geistigen Krisen durch Vertiefung ins Christentum rettete, das er in den Bekenntnissen nirgends gefunden, sondern aus der geistigen Welt geholt habe. Sein „Gestanden-Haben“ ist ein punktuelles, aber bahnbrechendes Ereignis: Die Auflösung der Krise und die Frucht der Vertiefung ins Christentum. Darvas und Hoffmann dehnen das Muster von Tod und Auferstehung zur Allegorie für Steiners geistige Biographie aus. Auch damit ist eine Depotenzierung, hier des „Mysteriums von Golgatha“, verbunden. Christus, auf den orthodoxe Anthroposophen nichts kommen lassen, ist nicht mehr der Fluchtpunkt von Steiners geistiger Entwicklung, sondern Tod und Auferstehung sind bloß noch Metaphern für Phasen von Steiners Leben. Steiners Goetheanismus, Nietzscheanismus, Theosophie usw. sind keine ernst zu nehmenden Positionen mehr, die Steiner wirklich vertreten hätte, sondern symptomatische Stufen auf dem Bogen durch Nullpunkt/Hadesfahrt und Auferstehung/Damaskuserlebnis.

Anthroposophische Reformation. Eine erste Zwischenbilanz

Über die Folgen der solcherart reformierten Anthroposophie kann man immer wieder erfreut und erleichtert sein. (vgl. Die Scheidung der Geister) Aus diesem Lager wird man wohl kaum über Wurzelrassen, atlantische Planeten-Orakel und Nazi-Mysterien belehrt werden. Dafür hört man aber immer mehr zur „Philosophie der Freiheit“, die transzendentalphilosophisch entkernt und existenzialistisch gewendet wird. Dass im Info3-Verlag mein Buch zu Steiners Rassenlehre wie die kommentierte Edition von Hans Büchenbachers „Erinnerungen“ erscheinen konnte, liegt auch daran, dass die nationalistischen, konspirationstheoretischen und rassistischen Ideologeme dort als überflüssiger Ballast für die „echte“ Anthroposophie gesehen werden. Dass Christian Clement eine solide kritische Edition von Steiners Hauptwerken herausgibt, wie auch immer entstellt das Steinerbild seiner Vorwörter ist, liegt daran, dass die konkreten esoterischen Inhalte für Clement uneigentlichen Charakter gegenüber der „ideogenetischen“ „Bewusstseinsphilosophie“ Steiners haben, die in ihnen lediglich illustriert würde.

Orthodoxe Anthroposophen, und dort vor allem das „Europäer“-Milieu mit seiner Neigung zu antiamerikanistischen Verschwörungsthesen, halten Clement für einen „Vernichter“ Steiners und haben immer wieder den Ausschluss der Info3-Fraktion aus der Anthroposophischen Gesellschaft gefordert. Die Stoßrichtung ihrer Argumentation gegen Info3 entsprach dabei einem Fazit, das auch der Anthroposophiekritiker Andreas Lichte zu Jens Heisterkamps „Anthroposophischer Spiritualität“ zog: Da werde Steiner zur Unkenntlichkeit verdünnt. Lichte:

„… ‚dann mach ich mir ‘nen Schlitz ins Kleid und find es wunderbar‘: Herr Heisterkamp kann ja gerne versuchen – und sich dabei grossartig fühlen – seine EIGENE Anthroposophie zu erschaffen, nur sollte er ihr dann auch einen EIGENEN Namen geben – mit Rudolf Steiner hat das ganze nichts mehr zu tun.“ (Lichte, Kommentar vom 3.11.2014)

Anthroposophiekritik, die ihre Objekte bloß aufgrund einer mehr oder weniger engen Übereinstimmung mit Steiner zu kritisieren wüsste, wäre blind oder eben allenfalls so hilfreich wie die Kritik traditionaler Anthroposophen an ihren heterodoxen Glaubensgenossen. Natürlich muss Anthroposophiekritik den realen Steiner, soweit er sich quellentechnisch erschließen lässt, im Auge behalten. Aber erforderlich ist darüber hinaus, die Rezeption und Transformation des anthroposophischen Steinerbildes zu analysieren. Ich wage zu prognostizieren, dass Stimmen im Stile Heisterkamps und Clements in den nächsten Jahren lauter werden, jedenfalls am Rand des (bis heute vom traditionellen Lager dominierten und somit schrumpfenden) anthroposophischen Establishments. Das ist mit Blick auf Dogmatismus, Rassismus usf. im anthroposophischen Mileu auch äußerst begrüßenswert. Zugleich hat sich ein Gronbach’sches oder Clement’sches Steinerbild längst zum neuen Dogma aufgespreizt. Weiß der traditionale Steinerjünger sich von einer Beziehung zu den Engeln getragen, so der liberale, dass die Engel für „etwas“ „in mir“ stehen, mit dem ICH mich total radikal selbst, individuell, schöpferisch und in Weiheernst verbinden muss. Den anthroposophischen Reformern wäre gleichfalls nachzutragen, was Marx über Luther schrieb:

„Luther allerdings hat die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Er hat den Menschen von der äußern Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum innern Menschen gemacht hat. Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz in Ketten gelegt. Aber, wenn der Protestantismus nicht die wahre Lösung, so war er die wahre Stellung der Aufgabe.“
(Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, 386)

Das trifft auch auf die reformierte Anthroposophie zu. Der „bilderreiche“ Ballast wird aus den „höheren Welten“ nur noch radikaler ins Individuum verlagert. Aber in zweifacher Hinsicht wird auch hier die Aufgabe richtig gestellt: Anthroposophiekritik darf nicht an Steiners albernen Proklamationen von Atlantis bis Zarathustra hängenbleiben, sondern muss die idealistisch-objektlose Innerlichkeit des Selbst ins Auge fassen, die als deren epistemische Grundlage vorausgesetzt und im ‚anthroposophischen Protestantismus‘ auf einen Sockel gestellt wird.

Auch der historischen Steinerforschung stellt die anthroposophische Reformation eine Aufgabe: Nicht nur, dass Christian Clements Steineredition die Textgrundlage auf eine neue Basis stellt. Vor allem David Hoffmanns Publikationen zu Steiner und dem Nietzsche-Archiv gehören zu den besseren Arbeiten zu Steiner überhaupt, sein zitierter Artikel über Steiners geistige Kehre ist im philologischen Sinne auch letztlich viel steinerkritischer als Clements Kommentare. Die Aufgabe, die ich sehe, besteht aber nicht darin, Texte von Steiner-Fans zur Kenntnis zu nehmen, auch vorher war die anthroposophische Literatur logischerweise Basis für die kritische Auseinandersetzung. Die Aufgabe mag mehr eine Warnung sein: Dass dem verklärten Steinerbild der orthodoxen Anthroposophie nun das gleichfalls verkehrte des „philosophischen“ Bilderbauer-Individualisten Steiner entgegengestellt wird, zeigt einmal mehr die Vielfalt ideologischer Umbrüche in seinem Werk, von denen jeder einzelne esoterisch hypostasiert werden kann. Dem Versuch einer vereindeutigenden Festlegung muss man widerstehen, wie das Beispiel von Clements Verwischung des übersinnlichen Erkenntnisanspruchs zeigt.

12. Januar 2015 at 2:59 pm 18 Kommentare

Zu Band 7 der kritischen Steiner-Ausgabe: Anthroposophische „Erkenntnisschulung“ und Theoriefragen der Esoterikforschung von Christian Clement zu Olav Hammer

„We are not dealing with weird anomalies that conflict with our knowledge of how reality is, so that scholars should refuse to lend credence to them or dismiss them as irrational or crazy delusions. On the contrary, specific types of unusual experiences and bodily phenomena are simply to be expected if one exposes people to specific psychophysiological conditions, for instance in a ritual context or through applying spiritual techniques. Particularly if this happens in the framework of an esoteric worldview or symbolic system that has the capacity of integrating such experiences in a meaningful context … This hiatus will not be filled unless scholars in the field are willing to combine expertise in such domains as anthropology, psychology, neurobiology or cognitive studies, with precise textual study of the source materials of Western Esotericism.“
– Wouter Hanegraaff: Western Esotericism, London u.a. 2013, 97, 101

Bei Fromman-Holzboog erscheint seit 2013 eine Kritische Ausgabe der Hauptwerke Rudolf Steiners (SKA). Band 7 (von acht), Steiners „Schriften zur Erkenntnisschulung“ ist soeben erschienen, nachdem zuerst 2013 Steiners  Schriften zur Mystik (Bd. 5) ediert worden sind. Das Vorwort stammt aus der Feder von Gerhard Wehr, den Helmut Zander den „Vater der kritischen Steiner-Forschung“ genannt hat. Wehr hat auch ein Buch über Steiner und C. G. Jung geschrieben, und der Vergleich der anthroposophischen „Schulung“ mit dessen Tiefenpsychologie zieht sich durch den Band. In einer sehr langen und unglaublich facettenreichen Einleitung führt Herausgeber Christian Clement zu den beiden herausgegebenen Schriften Steiners hin: „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ (1904/5) und „Die Stufen der höheren Erkenntnis“ (1905-1908). Erstere wurde von Steiner vielfach überarbeitet, woran man die kontinuierliche Entwicklung, Ausarbeitung und Veränderung seiner Konzeption übersinnlicher „Erkenntnis“ mitverfolgen kann. Im Anhang der Edition sind Texte Steiners aus seiner persönlichen Tätigkeit als esoterischem „Lehrer“, der Mantren und Meditationen anleitete, sowie aus seiner Adaption maurerischer Riten abgedruckt. Den größten Gewinn bieten die Stellenkommentare: Minutiös werden hier werkimmanente Bezüge herausgearbeitet und ideengeschichtliche Kontexte des Steinerschen „Schulungswegs“ präsentiert, von der deutschen Klassik über Romantik und Mesmerismus zu den unmittelbaren theosophischen Vorlagen Steiners. Clements historische Kontextualisierung blendet wichtige Teile von Steiners Selbstverständnis und spart ganze Segmente der relevanten Sekundärliteratur aus, bewegt allerdings oft die auch dort systematisch relevanten Fragestellungen. Im Folgenden versuche ich daher, eine Diskussion der Thesen Clements mit deren Rückkopplung an theoretische und methodologische Fragen der Esoterikforschung zu verbinden.

Genese des „Schulungswegs“

Steiner folgt in „Wie erlangt man Erkenntnisse“ (im Folgenden: WE) einem theosophischen Erkenntnispfad, der durch allerlei Charakterschulung und meditative Techniken, zunächst auch durch die Anleitung eines spirituellen Lehrers (im Rahmen der „Esoterischen Schule“ der Theosophischen Gesellschaft) beschritten werden sollte. Ziel war die Entwicklung „höherer Organe“, und durch diese dann das Schauen einer realen geistigen Welt, in einem Bewusstseinszustand, der die Unterschiede zwischen Außen- und psychischer Innenwelt aufhebt. Eine stets angekündigte Fortsetzung des Bandes erschien nie. In „Die Stufen der höheren Erkenntnis“ (im Folgenden: SE) arbeitete Steiner ein paralleles, aber in großen Teilen ganz anders konzipiertes Programm aus: Hier tauchen die in der anthroposophischen Steiner-Rezeption und vielen seiner Vorträge weit zentraleren Begriffe „Imagination“, „Inspiration“ und „Intuition“ als drei Stufen der hellseherischen Entwicklung und künftigen Evolution auf.

Vor allem das 1914 und 1918 von Steiner stark überarbeitete „Wie erlangt man…“ zeigt sich als editorisch umfangreiches Unternehmen. Insbesondere, weil, wie Clement zurecht kritisiert, die inhaltliche und genetische Entwicklung dieses Texts, die im vorliegenden Band dokumentiert ist, meist ignoriert wurde. „Vielmehr herrscht die überhaupt in der anthroposophischen Literatur zu findende Tendenz, das Buch als Werk aus einem Guss zu sehen und selbst offensichtliche, aus der sukzessiven Entstehungsgeschichte und der späteren Entwicklung des Textes sich ergebende disparate Elemente zu ignorieren.“ (LXXXIIIf.) Clement zeigt einmal mehr, dass Steiners „Schulungsweg“ ursprünglich aus theosophischen Vorlagen stammt, ebenso seine persönlich formulierten Anweisungen an esoterische Schüler.

„Vor allem Besants Buch ‚The Path of Discipleship‘, das ebenso aus Vorträgen hervorgegangen war wie das Steinersche aus Aufsätzen, muss inhaltlich und formal als direktes Vorbild und Quelle für WE angesehen werden … Für die Schilderungen der Inhalte des seelischen und geistigen Wahrnehmens hingegen, wie schon bei der Abfassung der ‚Theosophie‘ (vgl. SKA 6), war Charles Leadbeater ein weiterer wichtiger Bezugspunkt Steiners… Darüber hinaus stellten, was konkrete Übungsanweisungen und Meditationsinhalte angeht, Blavatskys ‚Voice of the Silence‘ und Mabel Collins ‚Light on the Past‘ wichtige Quellen dar. Aus erhaltenen Briefen und Übungsanweisungen für Schüler lässt sich entnehmen, dass Steiner die in diesen Schriften zu findenden Texte und Übungen zunächst übernahm und dann nach und nach durch eigene ersetzte, wobei jedoch grundsätzliche Motive und Strukturen erhalten blieben.“ (XXXVII)

Clement schaut jedoch noch tiefer, indem er die spiritistischen und mesmeristischen Quellen der theosophischen Meditation bis in ihre sublimierten Spuren in Steiners Werk verfolgt. (vgl. XXXVIII) Steiner verstand die „Einweihung“ anfangs als rituell, personell und örtlich fixiertes Phänomen, während er in späteren Auflagen von WE die Rolle des esoterischen Lehrers immer mehr relativierte und stattdessen einen sicheren, individuell und ohne Lehrerautorität gangbaren Weg zur höheren Einsicht propagierte. (vgl. CXX) Clement weist darauf hin, dass Steiner die der Konzeption esoterischer Initation inhärente Dialektik von Autorität und Autonomie aber niemals ganz auf eine Seite auflösen konnte. Die autoritäre Pose Steiners betrachtet Clement kritisch (vgl. XXVII), dazu mehr unten im Abschnitt Synkretismus als Konstituens esoterischer Epistemologie.

Diesseits der Mystik

Im Vorwort weist Gerhard Wehr auf Parallelen Steiners zur mittelalterlichen christlichen Mystik hin, die schon Gegenstand von Band 5 der SKA waren, besonders hebt Wehr Jakob Böhme und Thomas von Kempen hervor. Clement sieht die Parallelen zur Mystik freilich ebenfalls, seine dichte Kontextualisierungsarbeit macht es jedoch möglich, auch die hintergründige Funktion der Mystiker für Steiners Theosophie zu sehen, statt bloß auf etwaige Ähnlichkeiten und Entsprechungen hinzuweisen. Ein Beispiel: Steiner zitiert (im Übrigen nicht nur in diesem Kontext) den Satz „Wenn die Rose selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten“ (SKA 7, 110), der von Angelus Silesius (i.e. Johann Scheffler) stammt. Clement versteht es, hier sowohl die mystischen Quellen dieser Anspielung als auch deren Parallelen zur Theosophie zu entdecken, dabei aber überdies die spezifischen politisch-weltanschaulichen Hintergründe Steiners zu betonen. Im Stellenkommentar heißt es zum zitierten Silesius-Satz:

„Inhaltlich findet sich der Gedanke auch im theosophischen Schriftgut, vgl. etwa Besants ‚Path‘, wo es vom ‚disciple‘ heißt: ‚Everything that he gains, he gains for all; everything that he wins, he wins for all‘ (Besant [1896], 105). Ein interessantes Licht auf die Frage, warum Steiner immer wieder gerade auf diesen Mystiker zu sprechen kam, obwohl Scheffler keine eigentlichen theoretischen Texte von Bedeutung verfasst hat, wirft ein Brief an Günther Wagner vom 2. Januar 1905: „Unsere E[soteric].S[chool].-Mitglieder sollen zunächst folgendes wissen: ‚Die deutsche theosophische Bewegung ist von besonderer Wichtigkeit. Die Deutschen sind die Avantgarde der sechsten Unterrasse und werden sich dieser ihrer Sendung immer mehr bewußt werden. Das sollen sie in aller Demut. Sie sollen sich vertiefen in ihre eigenen Idealisten.‘ Das ist Meisters Stimme. Und dazu: ‚Lest Euere großen Idealisten: J.G. Fichte, Jacob Böhme, besonders aber Angelus Silesius‘.“ (GA 264, 85) (Clement, 297)

Dies, wie gesagt, nur als Beispiel für die wendige und kluge Kontextualisierungsarbeit, die diese Edition leistet. Selbst wer die unterschiedlichen Auflagen und Überarbeitungsschritte von WE bereits kennt, wird hier manch unerwarteten Hintergrund und manche verborgene literarische Anspielung Steiners entdecken. Immer weist Clement auf die diesseitige Dimension der Steinerschen Jenseitsreisen hin: Es gehe ihm darum, Meditation „in handfeste politische und soziale Projekte umzusetzen“, die „in der meditativen Arbeit erworbene höhere Wachheit“ in „der konkreten Alltagswirklichkeit“ einzubringen. (XXVI) An dieser Stelle referiert Clement nicht zum einzigen Mal auf Anna-Katharina Dehmelt („Institut für anthroposophische Meditation“), von der er auch viele Überlegungen zur Genese des Steiner’schen Schulungswegs übernimmt. Tatsächlich ist auch Band 7 der SKA, was Helmut Zander mit Band 5 initiiert sah: eine „Zeitenwende“. Mit Vorliegen dieses Bandes wird man Steiners Schulungsweg künftig in neuem Licht und mit vertieftem Verständnis lesen. Dies wird bei orthodoxen Anthroposophen zweifellos weiterhin Angst und Schrecken verbreiten. (vgl. Willy, Thomas und der Wolf im Schafspelz)

Facettenreiche Kontextualisierung und ideologische Verzerrung

Clements Einleitung geht in vielerlei Hinsicht über eine rein philologische und editionsgeschichtliche Einordnung der edierten Texte hinaus, stets mit dem zutreffenden Hinweis, „dass das volle Spektrum der anthroposophischen Erkenntnisschulung nicht ins Auge gefasst würde, wenn man nur die in diesem Band abgedruckten Schriften Steiners berücksichtigte und nicht dessen Gesamtwerk.“ (XCIII) Stets werden Steiners Psychologie und Anthropologie eingebunden. Clement gleicht die Inhalte der beiden Bücher zur „Erkenntnisschulung“ mit Steiners Freimaurerei, „Erkenntniskult“ oder Mysteriendramen ab und weist vor allem darauf hin, wie viel hier wissenschaftlich noch offen und zu klären ist. Besonders hervorzuheben sind einige wegweisende Überlegungen zu Steiners Sprachphilosophie (XCVII-CI), denn freilich ist die suggestive Kraft der Sprache im Rahmen esoterischer Unterweisungen einzubeziehen, was hier nur illustrieren soll, auf welch vielfältige Weise psychoinvasive Techniken wie die beschriebenen Meditationen wissenschaftlich untersucht werden müss(t)en.

Diesbezüglich ist Clements Einleitung, die dank der Stellenkommentare stets der ideengeschichtlichen Abhängigkeiten gewahr bleibt, ein mutiger Text, sozusagen am Puls der Zeit gegenwärtiger Esoterikforschung. „Auf der anderen Seite waren … die Gewässer, in denen Steiner da angelte, denjenigen so unähnlich nicht, in welchen die Pioniere der modernen Psychotherapie fischten“, schreibt Clement. (CIII) In Bezug auf einen Vergleich von Psychotherapie Freud’scher und Jung’scher Methode geht Clement noch weiter als Helmut Zander und Miriam Gebhardt in ihren Steiner-Biographien. (vgl. Der Besuch der toten Tante) Zur simplen Identifizierung von seelsorgerisch-therapeutischen Implikationen der Steinerschen „Schulung“ mit der Psychoanalyse kommt er jedoch nicht: „Zwischen neomystischer Esoterik und wissenschaftlich betriebener Tiefenpsychologie als charakteristischen Erscheinungen des europäischen fin de siècle nehmen die Schriften Rudolf Steiners zur Erkenntnisschulung eine eigentümliche Mittelstellung ein.“ (XXXIII) Und das ist nicht der einzige Aspekt: von Schillers „höherem Menschen“ zu den jenseitigen Eskapaden von Faust II sucht Clement nach Parallelen und Vorbildern. Man merkt, dass er Steiner lieber Goethe als Blavatsky zuschieben möchte, trotzdem marginalisiert er die direkte Vorbildfunktion der Theosophie für Steiners „Erkenntnisschulung“ nicht.

Längst nicht alle zentralen Aspekte werden von Clement behandelt: Eine regelrecht entstellende Lücke ist die Vernachlässigung von Steiners primärem Ziel einer empirischen Wissenschaft von der „Geistigen Welt“, Clement versucht Steiner stattdessen als Bewusstseinsphänomenologen und die Inhalte der höheren Welten als rein bildlich-symbolischen Ausdruck für geistig-monistische Selbsterfahrung zu deuten. Peter Staudenmaiers Kritik (in: Between Occultism and Fascism, 21), Clement reproduziere „standard anthroposophical assumptions“, ist schlicht falsch – Anthroposophen haben den empirizistischen Szientizismus Steiners stets überernst genommen. Clement jedoch macht sich zum Anwalt ganz anderer Dinge.

Eine ebenso gravierende Lücke: Steiners Fortsetzung der esoterischen „Schulung“ in der „Freien Hochschule für Geisteswissenschaft“ in den 20er Jahren kommt in Clements Band in einem Maße zu kurz, dass wesentliche späte Positionen Steiners und die Praxis der „Klassenstunden“ bis in die heutige Anthroposophie praktisch ignoriert werden.

Eine auch nur in Umrissen repräsentative Darstellung von Steiners Positionen zur „Erkenntnisschulung“ stellt der Band somit keineswegs dar. Auch die relevante anthroposophische wie religionswissenschaftliche Literatur zum Thema wird nur teilweise zur Kenntnis genommen.

Reduktionistisches Steinerbild

Ein augenscheinlicher Kritikpunkt Clements an Steiner lautet, dass dieser in seiner Phänomenologie der geistigen Welt allzu anschaulich und plastisch verfahre. Dass dies gerade das Ziel eines Hellsehers sein könnte, erwägt Clement nicht, sondern spricht von einer in der esoterischen Tradition (was immer das sein soll) „nicht unübliche[n] Veranschaulichung und Verdinglichung innerer Erlebnisse“. (XXVIII) Ein „kritischer Leser“ müsse fragen, „ob und inwieweit Steiner hier mit seiner eigenen intellektuellen Vergangenheit und mit allen Gepflogenheiten eines kritisch-philosophischen Diskurses gebrochen hat und möglicherweise in eben jenen ’naiven metaphysischen Realismus‘ verfiel, den er selbst zehn Jahre zu vor … leidenschaftlich bekämpft hatte.“ (ebd) Und weiter:

„Muss man nicht, gerade im Sinne seines Frühwerks, die von Steiner beschriebenen ‚Lotusblumen‘, ‚Astralleiber‘ oder ‚Schwellenhüter‘ als Gestalten ansehen, die er selbst, wie Faust seine Helena, aus dem ‚Weihrauchnebel‘ seiner eigenen Imagination hervorzauberte? Und fällt man nicht, wie der goethescher Geisterseher, in grenzenlose Verwirrung und Träumerei, wenn man diese selbstgeschaffenen Nebelgestalten in naiver Weise für ‚Wirklichkeiten‘ hält? … Damit traf Steiner eine Grundsatzentscheidung, die seinen Aufstieg zur führenden Gestalt der modernen abendländischen Esoterik begründete, sich aber fatal auf die akademische und öffentliche Rezeption seiner Schriften nach 1904 ausgewirkt hat.“ (ebd, XXVIIIf.)

Clement formuliert die Konsequenzen dieser Kritikpunkte nicht aus. Und er ist nicht bereit, Steiners intellektuelle Entwicklung zum theosophischen Erforscher der geistigen Welten ernst zu nehmen. Vielmehr wird der späte Steiner überall dort, wo er mit dem philosophischen Frühwerk nicht mehr übereinstimmt, auf das philosophische Frühwerk reduziert. Dass Steiner mit dem „kritisch-philosophischen Diskurs“ tatsächlich gebrochen hatte, ist aber nicht zu leugnen. Stattdessen hatte er sich in einen neuen, von Clement nicht als solchen berücksichtigten Diskurs begeben: den einer quasi-naturwissenschaftlichen Diskussion übernatürlicher Zu- und Umstände, wie in seiner kritischen Diskussion von Leadbeaters „Erforschung“ der Aura und ihrer Farben deutlich wird. Scheinbar kann Clement Steiner den Glauben an Transzendenz nicht zugestehen. Das mag eine legitime Perspektive sein, sofern sie Steiner-kritisch auftritt: Freilich handelt es sich bei Steiners Visionen um „innere Erlebnisse“, die zu real existierenden geistigen Zuständen und Wesen zu hypostasieren eine dogmatische Setzung darstellt.

Daraus geht aber nicht hervor, dass Steiner deshalb selbst nur der Auffassung gewesen sei, es handle sich um lediglich innere Erlebnisse, die ohne spirituell-übersinnliches Objekt auskommen. Tragischerweise leugnet Clement also den Sinn und Zweck von Steiners Geistesschau – mit naturwissenschaftlicher Präzision in geistige Seiten des Kosmos vorzudringen und valide Erkenntnisse mitzubringen, die sich dann z.B. in Pädagogik, Medizin usw. verwirklichen ließen –, und zwar leugnet er ihn per se. Clements Herangehensweise zeigt sich hier als ideologische statt analytische.

Was Steiner über die „höheren Welten“ gesagt hat, sei lediglich „eine bewusstseinsphilosophische Darstellung im Geiste Kants und Fichtes, d.h. … eine Phänomenologie der Inhalte des menschlichen Bewusstseins. Das einzige Wesen, dem der Mensch in der Meditation begegnet, ist nach Steiner letztlich das eigene, und zwar als zugleich individuell-persönliches und universell-absolutes.“ (XXIX) Zur Begründung dafür soll an Ort und Stelle lediglich eine von Walter Johannes Stein überlieferte mündliche Aussage Steiners herhalten. Clement verkehrt Steiners esoterische Epistemologie in ihr Gegenteil: Die Geistige Welt wird in ein einerseits solipsistisches, andererseits zum Absoluten aufgeblähtes menschliches Subjekt verschoben. Auch die großen Namen Kant und Fichte lassen sich dieser Steiner in jeder Hinsicht zu Unrecht untergeschobenen Position nicht eingliedern. Kant sah in der Vernunft zwar das Medium, das subjektiv objektiv gültige Gedanken, Denknotwendigkeiten hervorbringt, doch für ihn war das Intelligible Reich eben zu denken, nicht zu erfahren. Begriffe ohne (sinnliche) Anschauung blieben ihm blind, so dass man hier kaum von einer Bewusstseinsphänomenologie sprechen kann. Hätte ich dagegen Clements Einschätzung, dass die Fichtesche Theorie der Geisterwelt tatsächlich nur bildliche Umschreibung bewusstseinsphänomenologischer Akte sei, früher zugestimmt, musste ich mich inzwischen durch Hartmut Traub eines Besseren belehren lassen:

„Dass sich Fichtes Zugang zur Esoterik und zum Okkulten eher abgeklärt protestantisch als überbordend und bildreich katholisch wie bei Steiner gestaltet, ändert nichts an der Tatsache, dass eine gewisse Nähe, wenn nicht gar Affinität Fichtes zum Okkulten zu konstatieren ist.  Ein Zug, der, wenn man I. H. Fichtes Berichten über sein Elternhaus folgt, auch durch Johanne Marie Fichte, der Gattin des Philosophen, unterstützt wurde. Ein Letztes:  Sie haben auf den Unterschied zwischen der Annahme objektiver okkulter Wesenheiten bei Steiner und den eher subjekttheoretischen Charakter in Fichtes Lehre vom „höheren Sehen“ hingewiesen. Dem kann ich nur bedingt zustimmen. Denn in Fichtes Theorie des Geisterreichs tritt die „ideale Individualität“ (Originalität) des einzelnen Menschen in Beziehung zu anderen, durchaus objektiven Geistern.“ (Die „Optik des Geistes“ und der „Geist“ des Okkulten. Ein Gespräch mit Hartmut Traub)

Clement trifft offenbar die nicht inhaltlich begründete Vorentscheidung, Steiner die Entwicklung nach 1900 abzusprechen und seine meditativen „Anweisungen und Schilderungen im Lichte seiner zuvor erschienenen epistemologischen und bewusstseinsphilosophischen Schriften“ allein zu lesen. (XXX) Dieser reduktionistischen Lesart stehen die eindeutigen Aussagen Steiners zu Legionen entgegen, in knapper Formulierung etwa: „Dabei müssen wir uns immer klar sein, dass das, was der Hellseher sieht, nicht etwa eine allegorisch-symbolische Bezeichnung ist, sondern daß das Wesenheiten sind.“ (GA 121, 161) In WE schreibt Steiner, nachdem er den „Hüter der Schwelle“ beschrieben hat, dessen Auftritt tatsächlich symbolisch bzw. metaphorisch wirkt, um ebendas auszuräumen: „Was hier, in eine Erzählung gekleidet, angedeutet ist, hat man sich nicht etwa als etwas Sinnbildliches vorzustellen, sondern als ein im höchsten Grade wirkliches Erlebnis des Geheimschülers“ (SKA 7, 145) Zurecht deutet Clement an, dass Steiner in der Neuauflage von WE ab 1914 Hinweise darauf verstärkte, seine Schilderungen „nicht im naiven Sinne als Objekte oder Dinge misszuverstehen.“ (ebd., CXV) Daraus zu schließen, Steiner habe Objekte der höheren Erkenntnis abgelehnt, ist aber falsch. Steiner wies stattdessen auf die qualitative Differenz von sinnlichen und übersinnlichen Erkenntnisobjekten hin.

Clements Lieblingsbeispiel zur Illustration seiner Theorie ist Steiners Darstellung von Farben des Astralleibs, der er meistens hinterherschiebt, dass etwa eine „blaue“ Färbung nicht wirklich im optischen Sinne blau sei. Denn schließlich zeichnet der Astralleib sich gegenüber allen blauen physischen Gegenständen zunächst durch seine Unsichtbarkeit aus – der uneigentliche Charakter von Steiners Schilderung höherer Welten, den Clement kontrafaktisch suggeriert, wird damit keineswegs belegt. Ein anderes Beispiel. Steiner behauptet in WE (S. 150f.), „daß in der höheren Anschauung das menschliche Innere, die eigene Trieb-, Begierden- und Vorstellungswelt sich genauso in äußeren Figuren zeigt wie andere Gegenstände und Wesenheiten.“ Dazu schreibt Clement, dass hier laut Steiner „Jenseitsvorstellungen“ ein „Spiegel der eigenen seelisch-geistigen Tätigkeit“ seien. (298) Steiner stellt jedoch gleich fest, dass die „Vorstellungswelt“, der das Subjekt wie einer Außenwelt entgegentrete, nicht schon die geistige Welt sei, sondern letztere erst nach Bewältigung dieser subjektiven Welten sichtbar werde: „Es ist durchaus notwendig, daß der Geheimschüler durch den geistigen Anblick seiner eigenen Seele hindurchgehe, um zu Höherem vorzudringen … Nicht etwa bloß im bildlichen, sondern im ganz wirklichen Sinne hat man es mit einer Geburt in der geistigen Welt zu tun.“ (WE, 155)

Durch seine Verzerrungen fügt Clement dem Wert der Edition schweren Schaden zu. Im Gegensatz zu Jens Heisterkamps ähnlich gelagerter Rücknahme von Steiners metaphysischem Weltbild, die allerdings als dezidiert selektive Interpretation gekennzeichnet ist (vgl. Jens Heisterkamps „Anthroposophische Spiritualität“) ist diese wie auch immer originelle Umdeutung Steiners in einer kritischen Edition allenfalls als Interpretationshypothese legitim, auch wenn es eine schwache wäre.

Clement und die jüngere Diskussion um eine kritische Geschichte der Anthroposophie

Zentrale Referenz Clements ist über weite Strecken die von Helmut Zander (Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, 580-615, 696-721) vorgelegte erste historische Kontextualisierung von Steiners „Schulungsweg“ im Rahmen der theosophischen Literatur und der „Esoterischen Schule“, dem spirituellen Arkanbereich der Theosophischen Gesellschaft. Im Gegensatz zu Band 5 der SKA, in deren Einleitung Clement Zanders Position zur esoterischen Konversion Steiners recht apologetisch abfertigte (vgl. „Die Mystik im Aufgang“, Die Farbe des Astralleibs ist Privatsache), findet sich im aktuellen Buch eine kongeniale Diskussion. Clement widerspricht zwar, dass SE einen völligen epistemologischen „Neuansatz“ gegenüber WE darstelle, wie Zander behauptet hatte. Die Kontinuitäten werden in Clements Vorwort und in den textkritischen Stellenkommentaren ersichtlich und zurecht schreibt der Herausgeber der SKA, man werde „der Eigenheit dieser Schrift wohl besser gerecht werden, wenn man es sich zur Aufgabe macht, zu untersuchen, wie und warum Steiner trotz tiefgehender inhaltlicher Übereinstimmungen in SE einen begrifflich, stilistisch und methodisch durchaus anderen Weg gewählt hat als in WE.“ (SKA 7, CXXV)

Zugleich verweist Clement die anthroposophische Anti-Zander-Polemik auf ihren Platz: trotz z.T. überzeugender Beispiele seien die Schriften eines Karen Swassjan und Lorenzo Ravagli „von heftiger Polemik geprägt und offenbaren auch ihrerseits ideologische Voreingenommenheit, indem sie auf die von Zander zurecht aufgezeigten formalen und inhaltlichen Probleme der steinerschen Texte kaum je eingehen…“ (LXXIII) Vielfach ist Zanders Diskussion der Heterogenitäten und Entwicklungen in Steiners Texten detaillierter, das ist jedoch nicht verwunderlich, weil die textlichen Veränderungen, die Zander diskutiert, in der kritischen Edition ohnehin alle abgedruckt und beim Lesen der Texte unübersehbar sind. Teilweise lässt Clements Einleitung Zanders Pionierstudie weit hinter sich, wenn zum Beispiel gezeigt wird, dass sich auch in der Neuauflage von WE 1918 starke inhaltliche Eingriffe Steiners fanden, was Zander, der sich auf die Sprünge in der Auflage von 1914 konzentriert hatte, schlicht nicht untersucht, ja abgestritten hat. (vgl. CIV) Clement stellt jedoch klar fest, dass auch mit seiner Einleitung die Text- und Ideengeschichte des Steinerschen Schulungswegs noch in einer Pionierphase steckt. Eine hinreichende Rechtfertigung für die angedeuteten massiven Lücken und Verzerrungen, die Clements Kontextualisierung enthält, ist dies freilich nicht, aber dennoch eine Teilerklärung. Hier gilt, dass wer viel erarbeitet hat, sich auch Fehler leisten darf.

Kiersch, Heindel, Hanegraaff. Vernachlässigung der relevanten Literatur und Theoriediskussion (I)

Schlicht irritierend ist, dass Johannes Kierschs monumentale ideogenetische Rekonstruktion der „Freien Hochschule für Geisteswissenschaft“ und von Steiners Rolle als esoterischem Lehrer bei Clement nicht vorkommt. Die vernachlässigte Darstellung der „Hochschule“ hätte wenigstens durch den Hinweis auf diese Arbeit abgeschwächt werden können! Hinter Kierschs Darstellung fallen Clements Bemerkungen zu Steiner als esoterischem Lehrer immer wieder zurück. (vgl. Johannes Kiersch: Steiners individualisierte Esoterik einst und jetzt. Zur Geschichte der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, 2. Auflage, Dornach 2012) Auch Clements blasses Kapitel zur Rezeptionsgeschichte der „Erkenntnisschulung“ hätte hier reiches Material gefunden, jedenfalls für die inneranthroposophische Rezeption. In diesem Kapitel erwähnt Clement auch die jüngeren anthroposophischen Meditationsbewegungen (von Anna-Katharina Dehmelt über Robin Schmidt zur „Bildekräfte“-Bewegung) nicht, geschweige denn nichtanthroposophische Rezipienten: Max Heindel etwa, der hier Steiner so nahe steht wie dieser der Theosophie oder das Lectorium Rosicrucianum, das sich wiederum von Heindels „Rosicrucian Fellowship“ abspaltete. Vor allem jedoch Heindels Steinerrezeption (die dieser wie Steiner seine Theosophierezeption nicht als solche gedeutet haben wollte) wäre eigentlich unumgänglich gewesen, weil hier wichtige Bezugspunkte auftauchen (Rosenkreuzer, Erkenntniskult, konkrete Meditationstechniken). Das führt dazu, dass auch Clements Bemerkungen zur Rezeption Steiners Schulungsweg an der realen Situation einfach vorbeigehen. Wieder: schade!

Hinzufügen muss man auch, dass Clements Analyse auf dem religionswissenschaftlichen Auge, mit Verlaub, beinahe blind bleibt. Obwohl er mit großer Prägnanz auf die praktischen, psychologischen, rituellen und ästhetischen Dimensionen des „Schulungswegs“ hinweist, die sich u.a. in Freimaurerei, Mysterientheater und Esoterischer Schule manifestierten, finden die hier eigentlich unentbehrlichen Ritualtheorien bei Clement keine Resonanz. (vgl. zur Einführung Jens Kreinath/Jan Snoek/Michael Strausberg (Hg.): Theorizing Rituals. Issues, Topics, Approaches, Concepts, Leiden 2006) Die Einleitung und Kommentierung von Steiners Texten ist auch im Kontext der neueren wissenschaftlichen Esoterikforschung relevant. Die SKA wird auch auf der Webseite der „European Society for the Study of Western Esotericism“ (ESSWE), deren Mitglied Clement ist, präsentiert. Schade, dass er die materialen Beiträge der Esoterikforscher nur in Ausnahmefällen (bzw. in einem: Karl Baiers großartige Studie „Meditation und Moderne“ [2009]) zur Kenntnis genommen hat!

Die Literatur zur für Steiner denkbar relevanten Theosophie wird beispielsweise nicht hinreichend berücksichtigt. (vgl. für einen ersten Überblick Olav Hammer/Mikael Rothenstein: Handbook of the Theosophical Current, Leiden 2013) Clements ausführlicher Vergleich von Steiners Vorstellungen mit deren theosophischen Quellen (v.a. Blavatsky, Besant, Leadbeater…) in den Stellenkommentaren und eine so ausführliche wie permanente Auseinandersetzung mit Baier, der hierzu viel Material auswertet, führt trotzdem zu einer recht umfangreichen Offenlegung der theosophischen Kontexte Steiners.

Trotz allem bewegt sich Clement auf der Höhe von aktuellen Fragestellung der „Esoterikforschung“. Der derzeit prominenteste Verterter dieses Feldes, Wouter Hanegraaff, wies erst kürzlich auf das Desiderat von Analysen zur esoterischen „Praxis“ hin. (vgl. Hanegraaff: Western Esotericism. A Guide for the Perplexed, London u.a. 2013, 102-118) Unter anderem sei da „the Problem of (crypto)Protestant bias. Classical approaches to the study of religion have been heavily influenced by Protestant assumptions … resulting in a structural over-emphasis on doctrine and belief and a corresponding lack of attention to ritual and other forms of practice.“ (ebd, 103) Er zählt folgende typische Dimensionen und Ansprüche esoterischer Praktiken dar, die freilich alle miteinander verknüpft oder auch isoliert vorkommen könnten und die sich alle bei Steiner finden: 1. Control, 2. Knowledge, 3. Amplification, 4. Healing, 5. Progress, 6. Contact, 7. Unity, 8. Pleasure. (ebd, 104) Neben vielem anderen weist Hanegraaff auf die Probleme mit Quellen und Methoden der Erforschung esoterischer Praxis hin, die auch eins zu eins auf die Anthroposophie zutreffen, nur unter anderem die „Esoterische Schule“, Steiners mauererische Rituale sowie die inzwischen etablierten Konventionen anthroposophischer Meditation:

„There is often no great need to describe religious practice in detail: in most cases, religious practioners learn by oral instruction, daily experience or observation and imitation of ‚how things are done‘, and have very little need of written reminders about what everybody knows. As a result, we are usually better informed about religious or esoteric beliefs than about practices … even if we have sources …, they tend to be incomplete … Finally, there is a problem of method. Even if the importance of practice is acknowledged in principle, it is not easy to decide on appropriate methodologies for studying it. Anthropologists have built up much experience with participant reasearch, and have become increasingly interested in contemporary forms of esotericism, but attempts to apply anthropological approaches to historical materials remain a relative exception.“ (ebd, 102f.)

Clements Ansatz geht nicht in diese Richtung, dennoch haben ihn dieselben methodischen Probleme umgetrieben: Dass meditative, kontemplative, psychoaktive und rituelle Praktiken in der Anthroposophie sich nicht rein ideengeschichtlich abhandeln lassen, darin ist er sich mit Hanegraaffs Ansatz offenbar einig. Er plädiert dafür, die pädagogisch-didaktischen, ästhetischen und psychotherapeutischen Konsequenzen und Dimensionen der Anthroposophie als zentrale Zugänge zum Verständnis der Absichten, Gehalte und Konkretionen von Steiners „Geistesschulung“ zu betrachten. Clement geht sogar noch einen Schritt weiter, „nicht nur die Historiker, Philologen, Philosophen und Theologen, sondern auch und vielleicht mehr noch die Künstler, Psychologen, Therapeuten und Pädagogen“ seien gefragt, ob die „Anschauungen und Praktiken, die Steiner von den Theosophen übernahm und … in den anthroposophischen Erkenntnisweg verwandelte, auch heute noch Relevanz … haben.“ (SKA 7, CIII)

Freilich wäre das zu klären in einer eben doch philologischen Edition zu viel verlangt. Überdies wäre, so nähme man an, nicht nur der Praxisaspekt, sondern auch dessen faktisches Ziel, wissenschaftlich ‚objektive‘ Erkenntnis übersinnlicher Welt- und Wesensbereiche, in einer Edition zur „Erkenntnisschulung“ Steiners, zu berücksichtigen. Clement jedoch deutet Steiners diesbezügliche Schilderungen (was ebenso aufschlussreich ist wie in dieser Einseitigkeit verfälschend) als bildliche Umschreibung einer Bewusstseinsphänomenologie, deren Gegenstände irgendwo zwischen deutschem Idealismus, C. G. Jung und Fausts Gang ins Reich der Mütter zu suchen seien.

Synkretismus als Konstituens esoterischer Epistemologie. Vernachlässigung der relevanten Literatur und Theoriediskussion (II)

Mit Blick auf letzteres wäre ein anderer materialreicher Band aufschlussreich gewesen: Olav Hammers „Claiming Knowledge. Strategies of Epistemology from Theosophy to New Age“ (Leiden 2004). Hier wird eine ganz andersartige Kontextualisierung von Steiners „Erkenntnisschulung“ vorgelegt, die den Vorteil hat, Steiners empirischen Wissenschaftsanspruch als solchen ernst zu nehmen, obwohl sie teilweise zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt wie Clement. Hammer versteht es im Rahmen seiner breit angelegten Geschichte von Meditationsauffassungen, die Geistesschulung Steiners komplexer geistig zu situieren, und zwar neben Alice Bailey und Edgar Cayce als „post-theosophischen“ Typus esoterischer Epistemologie. (63ff.)

Steiners Standpunkt wird in seinen Übereinstimmungen und Differenzen zur Theosophie und zum New Age deutlich, siehe etwa die Ausführungen zur Reinkarnation. (474-477) Auch weitere Bezüge und Parallelen der Anthroposophie zum New Age (vgl. 77f.), zu esoterischen Farbtherapien (93), theosophischen und New Age-Deutungen des Christentums (151ff.) oder Figurationen alter Hochkulteren, namentlich Ägyptens (114f.) und Indiens (126f.) helfen, Steiner auch innerhalb esoterischer Epistemologien des weiteren 20. Jahrhunderts zu sehen. Gerade im unmittelbaren esoterischen Kontext lässt sich so Steiners Position komplexer bestimmen als im Abhängigkeitsverhältnis zur Theosophie allein, worum Clement ja ebenfalls bemüht ist. Denn hier zeigt sich, an welchem Punkt esoterischer Theorieinnovation Steiner stand, welche bei ihm angelegten (post-)theosophischen  Vorstellungen auch im New Age zur Entfaltung kamen, aber auch, welche Elemente Steiner und die Theosophie von der jüngeren Esoterik trennen. Clements Versuch, Steiner abgesehen von der Theosophie nur im besser beleumundeten Teil der Geistesgeschichte von Goethe zu Freud zu kontextualisieren, reproduziert implizit die anti-esoterische Polemik (vgl. zur apologetisch-polemischen diskursgeschichtlichen Dynamik, in der sich „Westliche Esoterik“ überhaupt erst formierte Wouter Hanegraaff: Esotericism and the Academy. Rejected Knowledge in Western Culture, Cambridge 2012, dazu auch „Die Pythagoräische Wende“: Esoterikforschung auf der Suche nach ihrem Gegenstand), die er in Bezug auf Steiner überwinden möchte, hinsichtlich anderer Traditionen. Sieht man Steiner dagegen in einer epistemologischen Kontinuität von Blavatsky zum New Age, wird sein innovativer Standpunkt innerhalb struktuell und/oder materialiter ähnlicher Weltanschauungen besser erkennbar.

Clement weist auf disparate Elemente der Genese und Inhalte von „Wie erlangt man…“ hin, nimmt dies auch als Kohärenzproblem wahr, kommt aber nicht darauf, dass ähnliches auf viele esoterische Epistemologien zutrifft und nicht bloß ein merkwürdiger genetischer Umstand der anthroposophischen Initationsvorstellung ist. Überhaupt ist ein Moment von Synkretismus bei retrospketiver Dogmatisierung der theosophischen Esoterik wesenhaft eigen, die das Herz von Steiners christologisch ummantelter Esoterik bildet. (vgl. dazu u.a. Siv Ellen Kraft: „To Mix or Not to Mix“. Syncretism/Anti-Syncretism in the History of Theosophy, in: Numen, 2/2002, 142-177) Hammer zeigt dies auch für Konzeptionen esoterischer Epistemologie:

„The most eclectic constructions are presented as a logically coherent structure culled from a single source. This study will amply demonstrate that Esoteric doctrines can indeed be seen as a form of bricolage, but that they appear so only from the scholar’s, not the adherent’s, perspective.“ (Hammer: Claiming Knowledge, 10)

Als mustergültiges Beispiel dafür nennt Hammer die Anthroposophie: „As an example, few modern revelations draw on as many and as diverse sources as Rudolf Steiner’s anthroposophy. Nevertheless, his followers adamantly insist that his entire teachings are perfectly consistent and have sprung directly from Steiner’s spiritual insights.“ (ebd, 10f.) Mit Katharina Brandt hat Hammer dies 2013 vertieft und gerade in der Dialektik von doktrinärer Heteronomie und rhetorischer Eigenständigkeit ein Konstituens der Steinerschen Esoterik herausgestellt. Ja, Steiners empirischer Wissenschaftsanspruch wird hier erst in der subversiven Dynamik von Annäherung an die Theosophie und Abgrenzung von ihr verständlich. Auch die Ravagli’sche Polemik gegen Helmut Zanders Historisierung wird hiermit als rhetorischer Reflex ersichtlich, der der Anthroposophie seit ihrer Begründung eingeschrieben ist.

„Anthroposophy developed partly by adopting concepts current in the occultist and Theosophical milieus around 1900, and partly by dissociating itself from these same concepts. In this respect, Steiner followed a mode of pursuing identity politics well known in the history of religions … Claude Lévi-Strauss coined the nearly untranslateable term ‚bricolage‘ to describe how mythical innovation takes place. The ‚bricoleur‘ is a handyman who arranges various preexistent elements into a new configuration. In the world of religion, ‚bricolage‘ is ubiquitous … New religions therefore tend to resemble their predecessors … Nevertheless, similarity with competing organizations is also a problematic trait. The success of a schismatic group depends on striking a balance between continuity with one’s predecessors and drawing boundaries against them … A key element in what we could call a rhetoric of dissociation, is the fact that Steiner positions his views on world history, anthropology, and Christology as the result of a quasi-scientific visionary method, resulting from a carefully controlled epistemological process. Steiner presents the details of this method in several of the century, and up to the present day the existence of such a visionary technique is highlighted by commentators sympathetic to the Anthroposophical perspective as a key argument for understanding Anthroposophy as a unique spiritual path … One recent example … of this rhetoric of dissociation is a volume by Lorenzo Ravagli … Ravagli rejects any suggestion of doctrinal links to Theosophy as ’nicht näger geprüfte Vermutung‘, whereas a more profound understandig of Anthroposophy purportedly will show that Steiner’s texts are the result of ‚Erfahrung und Selbsterlebtem'“ (Katharina Brandt/Olav Hammer: Rudolf Steiner and Theosophy, in: Hammer/Rothstein: Handbook of the Theosophical Current, Leiden 2013, 128ff.)

Diese Untrennbarkeit von Ähnlichkeit und Differenzproklamationen ist nicht die einzige dialektische Kontraktion, auf die eine Theorie der anthroposophischen „Erkenntnisschulung“ eingehen muss. Eine andere ist die von Clement sehr wohl differenztiert dargestellte Spannung zwischen Steiners Autorität und dem Freiheitsversprechen seiner Theorie sowie der komplizierten Rechtfertigungsbestrebungen seiner Anhänger, die permanent beides, die eigene Autonomie und gleichzeitig die alles garantierende Autorität Steiners absichern müssen. (Hammer: Claiming Knowledge, 348, 376) Dies führt nicht selten zu Tautologien und Zirkelschlüssen: „The implicit goal of the anthroposophical path to knowledge is to reproduce the doctrinal statements already presented by Steiner.“ (ebd, 418) Clement schreibt zwar auch:

„Anders als in seinen frühen philosophischen Schriften, und auch noch anders als in den bewusstseinsphilosophisch geprägten Texte der Jahre 1901 und 1902, hatte Steiner in ‚Wie erlangt man Erkenntnisse‘ den argumentativen und analytischen Stil seiner früheren Publikationen ganz aufgegeben. Hier spricht nicht mehr eine Stimme, die ein kritisches Publikum durch Argumentation von der eigenen Position zu überzeugen sucht, sondern eine solche, welche die Autorität eines Wissenden für sich in Anspruch nimmt und als Lehrer zu Schülern spricht, d.h. zu Menschen, die den ‚Pfad der Erkenntnis‘ schon beschritten und dadurch für sich eine Vorentscheidung  über die Validität des Vorgebrachten getroffen haben.“ (SKA 7, XXVII)

Zwar ist dies richtig, aber nur unter der Prämisse, dass eine autoritäre unhinterfragte spirituelle Lehrerfigur keineswegs wünschenswert ist. Diese Prämisse teile ich und sie findet sich durchaus in Steiners Frühschriften. Trotzdem kann man letztere nicht heranziehen, um quasi immanent-kritisch Steiner vorzuwerfen, er sei seinem eigenen Anspruch nicht gerecht geworden. Denn dieser Anspruch hatte sich umgedreht: Steiner sprach nun tatsächlich als wissenschaftlicher Hellseher, dessen Erkenntnisse zu teilen seine Schüler ja gerade suchten. Die Vorentscheidung der Schüler ist zwar ein Zirkel, es wird etwas gesucht, das bereits vorausgesetzt wird, aber dies ist, obwohl es freilich gegen sie spricht, ein Teil, keine Ausnahme esoterischer Erkenntnissuche.

Im Gegensatz zu Clement hebt Hammer auch einen wichtigen Aspekt von Steiners Vorstellung der Erlangung höheren Wissens hervor: die geschichtsmetaphysische Konstruktion, zur Entwicklung bestimmter Bewusstseinseigenschaften habe die Menschheit lange Jahrhunderte ohne übersinnliche Erkenntnis auskommen müssen, was sich nun nach dem Ende des Kaliyuga 1899 ändere. (Hammer: Claiming Knowledge, 166) Clement legt so viel Wert darauf, Steiners Konstruktionen in Analogie zu Mystik, Deutschem Idealismus und Tiefenpsychologie zu setzen, dass diese evolutionäre Komponente nicht genügend deutlich wird.

Vor allem aber legt Hammer Wert auf die bei Clement weitgehend ausgeblendete empirisch-‚wissenschaftliche‘ Dimension von Steiners Epistemologie der „Höheren Welten“. (vgl. ebd, 225-228, 418-428) Dabei wären viele Ausführungen Hammers zur Untermauerung von Clements Kontinuitätsthese bezüglich Steiners intellektueller Entwicklung geeignet: Auch Steiners Konzeption des Denkens in der „Philosophie der Freiheit“ wird bei Hammer zur Genese seines esoterischen Wissenschaftsverständnisses herangezogen. In der Tat liegt in diesem (theosophischen) Wissenschaftsanspruch Steiners auch eine wesentliche Differenz zu anderen „posttheosophischen“ Meditationsformen. (vgl. ebd, 237, 496) Gefolgt wird das Kapitel über Steiner von einem über „Do-it-yourself Channeling“:

„As we have seen, Rudolf Steiner set out the details of a spiritual do-it-yourself project, but in reality, only Steiner’s own “spiritual science” is truly valid within anthroposophical circles. Several New Age positions have taken the next step: the writer gives detailed instructions on how to open up for channeled messages, but there is no organization with the authority to silence and exclude those who channel the “wrong” messages.“ (427f.)

Ein weiteres Element nennt Hammer „invention of tradition“, was ein weiteres Reflexionsfeld der Esoterikforschung aufmacht (ebd, 497, vgl. auch Egil Asprem/Kenneth Granholm: Constructing Esotericism. Sociological, Historical and Critical Approaches to the Invention of Tradition, in: Asprem/Granholm: Contemporary Esotericism, Sheffield/Bristol 2013, 25-48). Phantasievolle Traditionskreation findet sich bei Steiner vor allem, indem östliche Bezüge zurückgedrängt und ein genuin westliches, „rosenkreuzerisches“, oder eben „modernes“ Wissenschaftsverständnis hervorkehrt. Ironischerweise reflektiert Clement diese gegen die Theosophie konstruierte Traditionskonstruktion der Anthroposophie nicht, sondern hält das Identitäts- für ein materiales Argument, als dessen glühender Anhänger er argumentiert.

Trotz aller Lücken und Entstellungen ist Clements Einleitung als mutig zu bezeichnen. Noch niemand hat eine so umfassende Kontextualisierung von Steiners „Schulungsweg“ gewagt. Dass sie in vielerlei Hinsicht zu kurz greift, darf nicht über die wesentlichen Leistungen hinwegtäuschen. Besonders im Stellenkommentar zeigt sich Clements große handwerkliche Leistung. Für die Kommentierung der nächsten Bände hofft man, dass Clement seine ideologische Herangehensweise an die Texte hinter sich lässt.

17. November 2014 at 5:13 pm 5 Kommentare


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