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Rosa steht ganz oben. Zur Verdummung der Anthroposophiekritik
Kritische Bücher über die Anthroposophie gibt es ja schon. Was bringt Ihres an Neuem?
Irene Wagner: Bei meinem ist neu, dass ich alle drei Praxisfelder verarbeitet habe, auf die sich andere nur einzeln beziehen: Waldorf-Pädagogik, biologisch-dynamische Landwirtschaft und anthroposophische Medizin.
– Irene Wagner: „Die anthroposophische Ideologie ist eine Verdummung der Menschen“ (Interview, telepolis, 26.11.2013)
Mit diesen Worten ist tatsächlich fast alles ausgesprochen, was Irene Wagner, promovierte Pädagogin, ehemalige Lehrerin, kurzzeitige Waldorfkindergartenmutter und: neuester Stern am derzeit ziemlich leeren Himmel der Anthroposophiekritik, über den Gegenstand ihrer Kritik zu sagen hat (sieht man einmal davon ab, dass auch die Behandlung dieser drei Praxisfelder kein Novum ist). Die Kürze des zitierten Interviews verdeckt, dass das von Wagner benutzte Verb – „verarbeitet“ – den traurigen Rest ihrer Möchtegern-Anthroposophiekritik ausmacht. Denn systematisch analysiert wird selten, eher kompiliert.
Munteres Rätselraten
Wer ihr Buch „Rudolf Steiners langer Schatten. Die okkulten Hintergründe von Waldorf & Co“ (Aschaffenburg 2012) aufschlägt, wird darin kein Kapitel über die „anthroposophische Ideologie“ finden, die sie so aufsehenerregend als „Verdummung der Menschen“ ankündigt. Kein Kapitel über kosmische Evolution, okkulte Erkenntnistheorie und esoterische Hintergründe – die zwar in langen Paraphrasen von Steinervorträgen vorkommen, aber Wagners Kommentare und Analysen fallen etwa so aus:
„Eine vorgeburtliche Erziehung lehnt [Stein]er ab, weil sich da die Erziehung auf die Mutter beziehen müsste. ‚Und im Übrigen soll man nicht in das Werk der Götter eingreifen.‘ Vorher hatte er noch erklärt, dass selbstverständlich in das Karma eingegriffen werden müsse … Interessant ist, dass hier von Göttern die Rede ist, obwohl Steiner sich sonst immer auf das Christentum beruft, in dem es nur einen Gott gibt.“ (S. 316)
Steiner hatte zwischen dem unvermeidlichen erzieherischen Eingriff ins „Karma“ der Zöglinge und dessen angeblicher Unangebrachtheit in der Schwangerschaft schlicht unterschieden. Wagners Zusammenfassungen bleiben oft in der exemplifizierten Weise oberflächlich und machen aus Zusammenhängendem Widersprüchliches und umgekehrt. Auch der Bemerkung über die „Götter“ wäre ähnliches beizugesellen: Offenbar hat Wagner sich weder die christologischen noch die kosmologischen noch Emanations- und Hierarchienlehren der Anthroposophie angeschaut, geschweige denn deren evolutionären Zusammenhang. Entsprechend dünn sind auch die „kritischen“ Bemerkungen zu Steiners Rassismen, entsprechend ihre seltsame Literaturauswahl, in der ein Heiner Ullrich, Klaus Prange oder Peter Bierl gar nicht oder nur am Rande auftauchen – zugunsten von Stimmen wie dem Völkischen Jakob Wilhelm Hauer und den befremdlichen Geisteskranke-beherrschen-die-Weltgeschichte-Thesen Wolfgang Trehers. Helmut Zander kommt zwar im Literaturverzeichnis vor, aber nirgends zur (bei Wagner fast immer fehlenden) gesellschafts- und ideengeschichtlichen Rekonstruktion. So begegnet die Autorin den zusammengelesenen Daten zur Anthroposophie nicht selten mit munterem Rätselraten.
Wagner versucht, der anthroposophischen Szene durch die Analyse von allerlei aktuellen Flyern und Internetfundstücken gerecht zu werden – die sie dann einer sehr kreativen Interpretation unterzieht. Dabei stellt sie zum Beispiel fest, dass es interne Veranstaltungen der Anthroposophischen Gesellschaft gibt, zu denen nur Mitglieder dieser Gesellschaft zugelassen sind. Das findet sie unvorstellbar und verdächtig. “Im Veranstaltungskalender”, erklärt Wagner, “steht extra dabei: ‘Nur für Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft (bitte rosa Mitgliedskarte nicht vergessen!)’ Möglicherweise gibt es verschiedenfarbige Mitgliederausweise, rosa steht in der anthroposophischen Hierarchie bestimmt ganz oben.” (S. 33) Eine Google-Recherche hätte hier abgeholfen.
„Anvisierte Weltherrschaft“ und Unterwanderung
Stattdessen drängt die Autorin ihren Lesern immer wieder anekdotisch antiimperialistische Ideologie auf, die derjenigen einiger Anthroposophen ganz genau entspricht:
“Die Devise, immer mehr, immer schneller und individueller, führte bereits in die Sackgasse. Trotzdem wird der Wettlauf um die vorderen Plätze im Weltmarktgeschehen fortgesetzt … Der ehemalige Präsident Horst Köhler hat offen ausgesprochen, was seit Jahren betrieben, aber mit humanitären Motiven bemäntelt wird; nicht unsere Freiheit wird am Hindukusch verteidigt, sondern der Zugang zu Rohstoffen soll durch Bomben gesichert werden. Das gilt gleichermaßen für die anderen von den Westmächten angezettelten Kriege. Hochriskante Technologien wie Atomkraftwerke kommen einer kleinen einflussreichen Minderheit zugute.” (Wagner: Rudolf Steiners langer Schatten, S. 375f., vgl. zum Kontext solcher Überzeugungen Dan Diner: Feindbild Amerika. Von der Beständigkeit eines Ressentiments, München 2002, v.a. 163-206)
Die Autorin kritisiert keineswegs die Logik „des Kapitalismus“ (nur daran, dass jemand „vordere Plätze“ will), noch zieht sie daraus soziologische Schlüsse (etwa zu den Ursachen von Esoterik). All das steht in seltsamer Unverbundenheit zu ihren offensichtlich so bemüht kritischen Spekulationen zur Anthroposophie. Die Marktförmigkeit der Religion im Spätkapitalismus etwa analysiert unsere offenkundig so „kapitalismuskritische“ Autorin nicht. Auch die Funktionsweise der Anthroposophie legt ihr derlei nicht nahe. Warum seit Steiners Zeiten Zehntausende peripheres oder randständiges Interesse an dessen Denkformen entwickelt haben – diese Frage stellt sie gar nicht. Vielmehr sieht sie in den Nachfolgern Steiners, was sie auch hinter den „Westmächten“ und Atomkraftwerken vermutet: eine „kleine einflussreiche Minderheit“. Obwohl Frau Wagner vollmundig von „Irrationalität“ spricht, kann sie mit diesem Konzept allem Anschein nach nichts anfangen. So entgeht ihr die gesellschaftliche Rationalität der „Irratio“ und diese erscheint als schlechthin „Anderes“ zur arglosen Gesellschaft. Und so sehr ihr die breite Rezeption anthroposophischer Theorie und Praxis dunkel bleibt, so sehr argumentiert sie sich um Kopf und Kragen, um dafür eine Erklärung zu finden: Hinter den Kulissen des Weltgeschehens arbeiten Anthroposophen auf die Beherrschung des Planeten hin.
„Nein, ihr anthroposophisches Netz umspannt die ganze Welt. Deshalb gibt es mittlerweile weltweit 1000 Waldorfschulen, das ist immerhin ein Anfang für ihre anvisierte Weltherrschaft.“ (S. 381)
„Alles, was alternativ aussieht, wird von den Anthroposophen unterwandert“ (S. 14)
„Das Imperium der Anthroposophen weitet sich immer stärker aus, natürlich mit Hilfe der Politik … Aber es stecken in vielen Bewegungen Anthroposophen drin, z.B. in der Friedensbewegung und der Ökobewegeung. Vielleicht ist das die neue Strategie, um der anthroposophischen Bewegung mehr Unterstützung zu verschaffen.“ (S. 382)
Dass es spezifisch anthroposophische Gründe gibt, ihre Bewegung und Inhalte genau so und nicht anders zu organisieren wird nicht einmal diskutiert. Bei einer so praxisorientierten wie sozial- und lebensreformerisch engagierten okkulten Bewegung wie der Anthroposophie ist deren Diffundieren in andere „alternative“ Milieus nahezu unausweichlich. Nicht für Wagner, die dahinter vor allem kalt-berechnendes Propagandakalkül, „Pragmatiker im feinen Zwirn“, vermutet: „Die Anthros“ wollen Geld, Macht und alles andere ist Beiwerk, um arme Seelen zu fangen.
„peripheral curiosities“
So entgeht die gesamte anthroposophische Ideologie der Analyse und am Ende kann Wagner ihre Zustimmung zur realen anthroposophischen Praxis, deren ideologische Grundlage sie übersieht oder wegerklärt, doch nicht verhehlen:
„Was Steiner hier als Hineinschauen in das Karma bezeichnet, ist nichts anderes als der Versuch, herauszufinden, ob vielleicht eine Schwäche in der Familie vorliegt, also Vererbungsfaktoren, die er ansonsten ja für unmaßgeblich hält.“ (S. 311)
“Kosmischer Rhythmus und biologisch-dynamische Präparate spielen eine Rolle. Abgesehen von diesem anthroposophischen Hintergrund mit reichlich seltsamen Ritualen hat das Konzept aber durchaus etwas für sich. Es ist nämlich an einen Kreislauf der Herstellung und Verwertung gedacht, so dass die Umwelt weniger belastet wird. Deshalb sind Demeter-Höfe nicht einseitig ausgerichtet. Sie müssen sowohl einen Viehbestand haben als auch Ackerland bearbeiten, denn das Vieh liefert den Dünger, den man für die Felder braucht. Diese Idee ist aber nicht allein bei biologisch-dynamischer Wirtschaft anzutreffen … Trotz mancher Spinnereien muss man zumindest anerkennen, dass die Anthro-Bauern eine andere Einstellung zu ihren Tieren haben als die Betreiber von Massentierhaltung, weshalb bei ihnen das Kupieren verboten ist. Selbst auf Öko-Höfen wird das anders gehandhabt.” (S. 359ff.)
Wo die Kernelemente der Ideologie und ihre Durchdringung der Praxis als „reichlich seltsame Rituale“ abgespalten werden, hat die Anthroposophiekritik ihren Gegenstand verloren, bevor sie begonnen hat. Nicht umsonst hat Peter Staudenmaier seine Dissertation zur Geschichte der Anthroposophie im deutschen und italienischen Faschismus mit den Worten beendet:
„In view of the current popularity of anthroposophical values and practices, it would be a mistake to relegate this problematic history to the margins, safely removed from the mainstream. The temptation to hold both occultism and fascism at arm’s length, to see them as merely eccentric and peripheral curiosities from yesteryear, is a way of avoiding straightforward engagement with the disconcerting persistence of the past within the present. Resisting this temptation, and looking squarely at these phenomena in historical perspective, can yield a more lucid understanding not just of an ill-fated earlier era but of our own time.“ (Staudenmaier: Between Occultism and Fascism, Diss., Connell University 2010, S. 524f.)
Wagner hat Staudenmaier nicht gelesen. Das wäre ihr kein bisschen übel zu nehmen, würde sie sich nicht seitenweise auf zweifelhaftestem Forschungsstand zum Thema Anthroposophie und Faschismus ausbreiten. Fast die gesamte neuere, durchaus auch die kritische Literatur zur Anthroposophie ist an Wagner allem Anschein nach vorbeigegangen (oder umgekehrt). Unsystematisch taucht einiges selektiv auf, so stößt man etwa urplötzlich auf ein Kapitel über die Barz/Randoll-Waldorf-Ehemaligenstudie von 2007 (S. 93-113). Aber weder wird der Informationsgehalt der behandelten Studie wirklich ausgeschöpft noch das inzwischen durchaus breite Spektrum solcher empirischer Untersuchungen auch nur erwähnt.
Kirche im Dorf – Wagner auf dem „Martinsmarkt“
Um die Kirche im Dorf zu lassen: Manches an Wagners Buch ist durchaus vertretbar, aber wenig neu und zu wenig sauber dargestellt. Nicht ganz so abwegig wie die oben zitierten freien Assoziationen ist das Buch, wenn Wagner Steiner zusammenfasst. Sehr detailliert und kritisch gibt sie auf gut fünzig Seiten einige seiner waldorfpädagogischen Vorträge wieder (S. 143-198), etwas kürzer fallen die Paraphrasen zu Landwirtschaft, Medizin und Heilpädagogik aus. Auch die eine oder andere originelle Reformulierung von Kritiken an der Waldorferziehung (etwa zur Frage von Autorität und Antidemokratismus) ist ihr gelungen.
Zwischendurch wird’s auch lesenswert und lustig – Wagner berichtet mit der dem ganzen Buch eingentümlichen Urteilssicherheit von mehreren Besuchen an Waldorfschulen. Offenbar hat sie sich die Oberuferer Weihnachtsspiele, mehrere „Tage der offenen Tür“, etwa einen „Martinsmarkt 2008“ zu Gemüte geführt. Ihre Berichte gehören (manchmal wohl unfreiwillig) in die Kategorie bessere Anthroposophie-Satire. Gemeinsam mit der mutigen Erkunderin fragt man sich, warum Kinder Elfenbilder beschreiben müssen, folgt einem „kompetent wirkenden“ Lehrer durch die Schülerexponate, ärgert sich, weil „jüngere Schüler“ bedienen und an einer Kasse sitzen – noch nicht mal mit Stift und Papier! – und wagt sich sogar in die Nähe der Schulschmiede, wo „Jungen“ an „Kupferschalen“ arbeiten. „Wegen des fürchterlichen Lärms sah ich nur von weitem zu. Die Schüler hatten immerhin Ohrenschützer auf. Mädchen waren in diesen Bereichen nicht zu entdecken.“ (S. 139f.) Wäre das Waldorf-Verbandsmagazin „Erziehungskunst“ mit ein bisschen (Selbst-)Humor gesegnet, man würde Irene Wagner eine Kolumne mit Undercoverberichten über Waldorfevents anbieten.
Erschienen ist das Buch im Aschaffenburger Alibri-Verlag, der als „Forum für Utopie und Skepsis“ eine Menge religions- und esoterikkritischer Publikationen vertreibt. Hausrezensent und Historiker Armin Pfahl-Traughber bescheinigte dem Buch, es zeige die „bedenklichen Folgewirkungen“ Steiners auf, neige „mitunter zu nicht unproblematischen Verallgemeinerungen“ und biete trotz einer vordergründigen „Betroffenheit“ der Autorin eine Fülle an Material.