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Die Rache des Steiner-Verlags

Still und leise ist die lang erwartete Neuauflage von Rudolf Steiners Buch „Geisteswissenschaftliche Menschenkunde“ erschienen. 2007 hatte die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien dieses Buch (und ein weiteres aus Steiners Feder) unter Kommentarzwang gestellt, weil sich darin diskriminierende Aussagen über vermeintliche „Rassen“ finden. Doch die Kommentierung des nun neu erschienenen Buchs irritiert mehr, als sie erklärt: Es werden Entlastungsargumente bemüht, die altbekannt und längst widerlegt sind, es werden Zitate angeführt, um Steiners „Antirassismus“ zu beweisen, die sinnentstellend aus dem ursprünglichen Aussagekontext gerissen sind – überdies wurde der Vortrag umbenannt, ohne, dass dies kenntlich gemacht wurde.
Neu Interessierte Leser_innen finden in den folgenden zwei Abschnitten alle nötigen Informationen – wer die Vorgeschichte schon kennt, kann ab der Überschrift „Sonderhinweis zum Vortrag vom 9. Mai 1909“ weiterlesen.

Ein Urteil…

„Man mag dazu stehen, wie man will – die Anthroposophen gehören zur Sorte jener Idealisten, für die das Allgemein-Menschliche und die Überwindung jedweder Form des Nationalismus zu den höchsten Maximen gehört, für deren Realisierung de facto unendliche Opfern gebracht werden.“, schrieb 2001 Dr. Walter Kugler, Leiter des Rudolf Steiner Archivs in Dornach (Feindbild Steiner, Stuttgart 2001, S. 54). Für eine gesellschaftliche Bewegung mit diesem Selbstbild – und verständnis, egal, ob zurecht oder zu Unrecht, ist es schockierend, mit dem Vorwurf des Rassismus und Nationalismus belegt zu werden, und der Vorwurf wird mit allen Mitteln abgeblockt. Und dennoch: 2007 beriet die BPjM, die „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien“, zwei Bücher aus dem stupend umfangreichen Vortagswerk des berühmten Esoterikers Rudolf Steiner (1861-1925) auf den Index zu setzen.

Walter Kugler (Foto von Barbara Klemm)

Walter Kugler, Leiter des Rudolf Steiner Archivs: „Zweifellos, es gibt Äußerungen im dreihundertbändigen Werk Steiners, die treiben uns Veteranen der Anti-Vietnam-Generation den Schweiß aus allen Poren und mitten auf die Stirn … Und dennoch … dürfte deutlich werden, dass Steiner nicht nur dem Rassenbegriff einfach ausgewichen ist, sondern dessen Anachronismus erkannt und ihm seinen Platz in der Geschichte zugewiesen hat.“ (Feindbild Steiner, a.a.O., S. 15, 27). (Auch) das ist im Folgenden zu diskutieren. (Das Foto verdanke ich dem Steiner-Archiv, Fotografin ist Barbara Klemm, FAZ)

Rudolf Steiner, Begründer des esoterischen Weltanschauungskosmos‘ der „Anthroposophie“, Ideengeber der Waldorfpädagogik sowie diverser anderer alternativkultureller Konzepte und Unternehmen, hat heute begeisterte Epigonen und überwiegend minder begeisterte Kritiker_innen. Zwei davon, die Kulturwissenschaftlerin Jana Husmann, sowie der Grafik-Designer mit Waldorflehrer-Fortbildung Andreas Lichte hatten 2006 zwei Gutachten beim Familienministerium eingereicht, um eine Indizierung der Bücher anzuregen. Das Ministerum seinerseits stellte auf deren Grundlage einen Antrag an die BPjM. Gegenstand waren die seit den 90ern in jeder Diskussion um die Anthroposophie obligatorisch diskutierten Äußerungen Steiners über „Rassen“. Steiner, wissenschaftlich sozialisiert im Zeitalter von Eugenik und Sozialdarwinismus, breitete ab 1902 in seinen zahlreichen  esoterischen Schriften und Vorträgen die Vision einer allumfassenden, „kosmischen“ Evolution aus, die auch verschiedene Menschen“rassen“ hervorgebracht habe:

„Unter Theosophen stritt man sich allenfalls noch – aber das nach Kräften -, ob nun der deutschen oder britischen oder amerikanischen Rasse die Zukunft gehöre … In diesem Evolutionsrahmen hat er [Steiner] dann wie beiläufig, aber ohne Augenzwinkern, Äußerungen getätigt, die bis heute als Erbstücke des Rassismus aus dem 19. Jahrhundert gallig aufstoßen: Indianer als ‚degenerierte Menschenrasse‘ ‚im Hinsterben‘, schwarze Afrikaner mit dem Stigma der ‚zurückgebliebenen‘ Rasse, das ‚alte jüdische Volk‘ mit einem kollektiven ‚Gruppen-Volks-Ich‘. So brachte Steiner eine Top-down-Ordnung in die Geschichte von Völkern und Rassen … Mit seiner Konsequenz hat Steiner der Anthroposophie ein bitteres Erbe aufgebürdet, dessen Schlagschatten bis in die Gegenwart reichen.“ (Helmut Zander: Rudolf Steiner – die Biographie, S. 185f.)

In der Tat: Die BPjM hörte den Bund der Freien Waldorfschulen, die Rudolf-Steiner-Nachlassverwaltung und den (eben zitierten) Religionswissenschaftler Helmut Zander an – und kam bei beiden zur Diskussion stehenden Büchern zu folgendem Urteil:

„Der Inhalt des Buches ist nach Ansicht des 12er-Gremiums in Teilen als zum Rassenhass anreizend bzw. als Rassen diskriminierend anzusehen … Das 12er-Gremium hat jedoch aufgrund der Erklärung desVerlages, zukünftig das benannte Buch nicht mehr in der vorliegenden Form zu veröffentlichen, gemäß  18 Abs. 4 JuSchG, und damit wegen Annahme eines Falls von geringer Bedeutung, von einer Listenaufnahme abgesehen … Die in Vorbereitung befindliche Neuauflage wird, in Anlehnung an die Verfahrensweise bei den niederländischen Ausgaben [von Steiners Werken: die niederländische Anthroposophische Gesellschaft hat bereits Ende der Neunziger reagiert – A.M.], eine kommentierte Ausgabe sein. Damit ist nach Auffassung des Gremiums gewährleistet, dass die Rassen diskriminierenden Äußerungen auch von Jugendlichen eingeordnet und kritisch betrachtet werden können.“ (Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, Pr. 783/06, Entscheidung Nr. 5506 vom 6.9.2007, S. 5-8)

Unter Kommentarzwang gestellt und jetzt wieder aufgelegt: Band 107 der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe

…und seine Folgen

Damit wären die Essentials geklärt: Der Rudolf-Steiner-Verlag sicherte eine kommentierte Neuauflage zu, durch die sichergestellt würde, dass auch für so naiv-dumme Jugendliche wie mich verständlich wird, dass Steiners Rassismus Rassismus ist.

Bevor ich das kürzlich erschienene Resultat bespreche, will ich noch einige Reaktionen innerhalb der Anthroposophischen Szene auf das BPjM-Verfahren schildern, wo im Folgenden Stellung zum Verfahren und zu Steiners Rassentheorie genommen wurde.

Die Redaktion der „Flensburger Hefte“  hatte bereits 1993 zugestanden: „Es gibt sie wirklich, jene angeblichen Äußerungen Rudolf Steiners … im Dickicht der über dreihundert Bände“ (Thomas Höfer: Der Hammer kreist, Flensburger Hefte, 41, Nr. 6/1993, S. 4). Auch eine eigens zusammengerufene „Kommission“ der Anthroposophischen Gesellschaft in den Niederlanden hatte in den Neunzigern immerhin zugestanden, dass sich nach heutigem Recht strafbare Äußerungen über „Rassen“ in Steiners Oeuvre finden – eine systematische Rassenlehre jedoch abgestritten. Ende 2007, nach dem Urteil der BPjM, wich nun der „Bund der Freien Waldorfschulen“ einer Distanzierung aus und postulierte, es gebe „Formulierungen“, die, allerdings nur „aus heutiger Sicht … diskriminierend wirken“ (Stuttgarter Erklärung). Auch inneranthroposophisch wurde diese Auffassung widerlegt: Anfang 2008 legte die Zeitschrift „Info3 – Anthroposophie im Dialog“ ein „Frankfurter Memorandum“ vor. Dessen Unterzeichner  bestritten zwar weiterhin die Existenz einer expliziten Rassentheorie in Steiners Werk (vgl. dazu kritisch Peter Staudenmaier sowie Stephan Geuenich, in der Fußnote 2), aber sie kamen überein:

„Die niederländische Kommission identifizierte 16 ernsthaft diskriminierende oder rassistische Äußerungen; die Verfasser dieses Memorandums neigen dazu, einige weitere Zitate zu der schwerwiegenderen Kategorie I. zu zählen. …

Auf diese Äußerungen trifft eine der maßgeblichen Rassismus-Definitionen zu, wonach Rassismus durch die „verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers entsteht, mit der seine Privilegien oder Aggressionen gerechtfertigt werden sollen“ (Albert Memmi). Belege für eine Rechtfertigung von rassistischen Aggressionen finden sich bei Steiner zwar nicht. Dennoch ist es sehr bedauerlich, dass solche im weiteren Sinne (A. Memmi folgend lässt sich ein Rassismus im engeren und im weiteren Sinne differenzieren) rassistischen Äußerungen von Steiner gemacht wurden. Auch der zuweilen unternommene Versuch, diese Zitate kontextuell einzuordnen, macht sie nicht annehmbarer. Das dritte Zitat [Steiner: „Die Negerrasse gehört nicht zu Europa und es ist natürlich nur ein Unfug, dass sie jetzt in Europa eine so große Rolle spielt.“] ist z.B. auch dann nicht hinnehmbar, wenn man annimmt, Steiner habe mit dem abschätzig klingenden Wort „Negerrasse“ die schwarz-afrikanische Kultur gemeint. Bei den Zitaten dieser Kategorie handelt es sich auch nicht mehr um ein bloß sprachhistorisches Problem, dem mit einer „Übersetzung“ des Gemeinten in eine „zeitgemäße“ Sprache beizukommen wäre. …“ (Ramon Brüll/Jens Heisterkamp: Frankfurter Memorandum, S. 9)

Keine weitere anthroposophische Zeitschrift oder Organisation legte Vergleichbares vor, im Gegenteil wurde das Memorandum von der waldorfpädagogischen Zeitschrift „ErziehungsKUNST“ empört zurückgewiesen, die rechtsanthroposophische Zeitschrift „der Europäer“ witterte geheimen Steiner-Hass in der Steiner-Nachlassverwaltung, weil sie die inkriminierten Bücher zurückhielt (Marcel Frei: Rudolf Steiner am Dornacher Pranger, in: Der Europäer, September 2010, S. 9, vgl. Bilder und Sachen, Abschnitt „Grabenkämpfe“), die Wochenschrift „Das Goetheanum“ drehte die Aussage der BPjM um und behauptete fälschlich: „Gerade erst gelang es den Vertretern des Dornacher Rudolf-Steiner-Verlages die deutsche ‚Bundesstelle für jugendgefährdete Medien‘ zu überzeugen, dass Steiner in der Tat kein Rassist war.“ (Das Goetheanum). Von der Rudolf-Steiner-Nachlassverwaltung wissen wir, dass sie sich immerhin zu den Ergebnissen der Niederländischen Kommission bekannte. Seit 2005 sei man ohnehin dabei, Neuauflagen von Steiners Werken mit entsprechenden Kommentaren zu versehen, hieß es im Oktober 2007 (ebd.).

„Sonderhinweis zum Vortrag vom 3. Mai 1909“

Die kommentierte Neuauflage, die sicherstellen sollte, „dass die Rassen diskriminierenden Äußerungen auch von Jugendlichen eingeordnet und kritisch betrachtet werden können“ (BPjM, a.a.O.) liegt nun seit Kurzem vor. In der „Einführung“ zu dem Band schreibt Urs Dietler:

„Einer besonderen Erwähnung bedarf der Vortrag vom 3. Mai 1909 … Steiners gelegentliche Ausführung zum Thema der Rassen, das auch in diesem Vortrag erörtert wird, haben verschiedentlich zu Irritationen und der Frage geführt, ob hier eine Form des Rassismus vorliege.“ (Urs Dietler: Zur Einführung, in: Rudolf Steiner: Geisteswissenschaftliche Menschenkunde. Neunzehn Vorträge (1908-1909), GA 107, Dornach 2011, S. 16)

…mit keinem Wort erwähnt Dietler, dass die BPjM letzteres sehr wohl bejahte, er verschweigt auch, dass nur deswegen Neuauflage und Kommentar nötig waren, und fährt fort:

„Dass dies in keiner Weise der Fall ist, zeigen der Gesamtduktus seines Denkens und Wirkens und eine Kontextualisierung der in Frage stehenden Ausführungen. In einem Sonderhinweis wird auf diesen Fragenkomplex näher eingegangen (siehe dort Seite 340).“ (ebd.)

Aber auch auf Seite 340 fällt kein Wort über das BPjM-Verfahren, es wird nichts gesagt über die genauen Vorwürfe, die Aufforderung an Jugendliche (oder irgendwen sonst), Steiners Ausführungen zum Rassenthema „kritisch“ zu betrachten, fehlt ebenso. Die Leser_innen erfahren nur: „Dieser Vortrag bedarf in Bezug auf die darin angesprochene Thematik der sogenannten ‚Rassen‘ einer Erläuterung.“ (ebd., S. 340).

… die auf den Fuß folgt, nachdem festgestellt wurde, dass „sich der Herausgeber“ von Steiners Aussagen über „Rassen“ „distanziert“, „insoweit sie heute in irgendeiner diskriminieren [sic!] Art verstanden oder verbeitet werden sollen.“ (ebd.). Dass eine Diskriminierung nicht nur durch Instrumentalisierung von Steiners „Rassen“-Passagen, sondern durchaus in diesen Passagen selbst vorhanden sein könnte, wird nicht eigens erwähnt.

Reichlich schwammige Positionierungen also. Zu dem eben zitierten „Sonderhinweis“ ist überdies negativ anzumerken, dass er nur eine einzige Seite lang ist – und auf dieser einen Seite Text sahen die Herausgeber_innen  sich offensichtlich nicht in der Lage, auf die Inhalte des Vortrags zum 9. Mai 1909 näher einzugehen. Das ist bemerkenswert, da doch der Kommentar bei Einordnung und kritischer Orientierung helfen sollte. Stattdessen legen die Herausgeber zwei vorgeblich anti-rassistische Zitate Steiners und einige relativierende Bemerkungen zum gesamten Stellenwert des „Rassen“-Themas in Steiners Werk vor und erwecken den Eindruck, sie wüssten selbst nicht genau, warum sie all das schreiben (müssen).

Der umbenannte Vortrag und sein Inhalt

Ich gebe im Folgenden kurz die Darstellungen Steiners im inkriminierten Vortrag vom 3. Mai 1909 wieder, diskutiere anschließend die von den GA-Herausgeber vorgebrachten Ausführungen, die den Rassismusvorwurf zurückweisen sollen, um schließlich die mitgelieferten „antirassistischen“ Zitate zu besprechen. Aber nun endlich zum konkreten Inhalt des entsprechenden Vortrags. Im ausführlichen Inhaltsverzeichnis ist der stichwortartig zusammengefasst:

„Verschiedenheiten der Menschenrassen im Zusammenhang mit der Erdentwicklung. Der Zusammenhang zwischen der Sonneneinwirkung auf die Erde und der Menschheitsentwicklung. … Die Auswanderung der besseren Teile der lemurischen Bevölkerung nach Atlantis. Unterschiedlich entwickelte Menschen in der atlantischen Zeit: «Riesen» und «Zwerge». Die Normalmenschen als das entwicklungsfähigste Volk. Die anderen, ausgewanderten Völker und die Auswirkung ihres Ich-Gefühls auf ihre Hautfarbe: Das nach Westen ausgewanderte Volk mit zu stark entwickeltem Ich-Trieb und seine letzten Reste in der roten indianischen Bevölkerung Amerikas. Das nach Osten ausgewanderte Volk mit zu schwach entwickeltem Ich-Gefühl und seine letzten Reste in der schwarzen Negerbevölkerung Afrikas. Der Zug des Manu und seines kleinen um ihn versammelten Häufleins der für die Weiterentwicklung der Erde ausersehenen Normalmenschen. Die Bevölkerung Europas mit einem stärkeren Ich-Gefühl und die asiatische Bevölkerung mit einer passiven, hingebenden Natur. Die verschiedenen Gottesvorstellungen. (Hervorhebungen – A.M)“ (GA 107, 2011, S. 13)

Steiner schildert also die Entstehung der angeblichen „Rassen“, wobei die „Normalmenschen“ zwischen falsch entwickelten „Negern“ und „Indianern“ stünden. In concreto schildert Steiner das so:

„Diejenigen Völker, bei denen der Ich-Trieb zu stark entwickelt war und von innen heraus den ganzen Menschen durchdrang und ihm die Ichheit, die Egoität aufprägte, die wanderten allmählich nach Westen, und das wurde die Bevölkerung, die in ihren letzten Resten auftritt als die indianische Bevölkerung Amerikas.
Die Menschen, welche ihr Ich-Gefühl zu gering ausgebildet hatten, wanderten nach dem Osten, und die übriggebliebenen Reste von diesen Menschen sind die nachherige Negerbevölkerung Afrikas geworden. Bis in die körperlichen Eigenschaften hinein tritt das zutage, wenn man die Dinge wirklich geisteswissenschaftlich betrachtet.“ (ebd., S. 304)

Und daraufhin begründet Steiner nochmals, warum das Bewusstsein der verschiedenen „Rassen“ zur Bildung unterschiedlicher Hautfarben geführt habe:

„Wenn der Mensch sein Inneres ganz ausprägt in seiner Physiognomie, in seiner Körperoberfläche, dann durchdringt das gleichsam mit der Farbe der Innerlichkeit sein Äußeres. Die Farbe der Egoität ist aber die rote, die kupferrote oder auch die gelblichbraune Farbe. Daher kann tatsächlich eine zu starke Egoität, die von irgendeinem gekränkten Ehrgefühl herrührt, auch heute noch den Menschen von innen heraus sozusagen gelb vor Ärger machen. Das sind Erscheinungen, die durchaus miteinander zusammenhängen: die Kupferfarbe derjenigen Völker, die nach Westen hinübergewandert waren, und das Gelb bei dem Menschen, dem die „Galle überläuft“, wie man sagt, dessen Inneres sich daher bis in seine Haut ausprägt.
Diejenigen Menschen aber, die ihre Ich-Wesenheit zu schwach entwickelt hatten, die den Sonneneinwirkungen zu sehr ausgesetzt waren, sie waren wie Pflanzen: sie setzten unter ihrer Haut zuviel kohlenstoffartige Bestandteile ab und wurden schwarz. Daher sind die Neger schwarz.

– So haben wir auf der einen Seite östlich von Atlantis in der schwarzen Negerbevölkerung, auf der andern Seite westlich von Atlantis in den kupferroten Völkern Überreste von solchen Menschen, die nicht in einem normalen Maße das Ich-Gefühl entwickelt hatten. Mit den Normalmenschen war am meisten zu machen. Sie wurden daher auch dazu ausersehen, von dem bekannten Orte in Asien aus die verschiedenen anderen Gebiete zu durchsetzen.“ (ebd.)

Diese „Normalmenschen“ werden im Folgenden als „Grundstock der weißen Bevölkerung“ identifiziert (S. 306).

Rudolf Steiner (1861-1925), „Doktor“ der „Geheimwissenschaft“

Es ist inzwischen geklärt, woher diese Motive in Steiners Denken kommen. Die Kulturwissenschaftlerin Jana Husmann, Mit-Initiandin und Gutachterin im BPjM-Verfahren, schlug beispielsweise eine historische Einordnung der von Steiner aufgegriffenen Rassenklischees vor:

„In dieser Struktur von ‘Balance’ und ‘Extremen’ klingen die Traditionen von ‘extremos’ und ‘medios’ an, wie sie Leibniz’ frühe Rassenspekulationen beispielhaft kennzeichnen. Der Dreiklang als solcher korrespondiert wiederum mit Steiners Struktur der ‘Dreigliederung’ …

In seinen weiteren Erläuterungen aktiviert Steiner zudem die ‘chemischen‘ Erklärungsmuster zur schwarzen Haut, wie sie schon bei Kant zu finden sind und von [Carl Gustav] Carus modifiziert werden. Auch hier schreibt Steiner Carus buchstäblich um, wenn es heißt: „Diejenigen Menschen aber, die ihre Ich-Wesenheit zu schwach entwickelt hatten, die den Sonneneinwirkungen zu sehr ausgesetzt waren, sie waren wie Pflanzen: sie setzten unter ihrer Haut zuviel kohlenstoffartige Bestandteile ab und wurden schwarz. Daher sind die Neger schwarz.”

Sowohl Carus’ Erklärung der schwarzen Haut über den Kohlenstoff als auch das von ihm angeführte Sinnbild des ‘Aushauchens’ der Pflanzen von Kohlenstoff bei Nacht, wird demnach von Steiner verarbeitet … ‘Erklärt’ in Carus’ Rassensystematik die schwarze Haut der Nachtvölker ihren Mangel an Bewusstsein (als einen Mangel an Licht), so erscheint Steiner der Mangel am (Licht-)Ich und zu viel Sonne die schwarze Haut zu erklären.“ (Jana Husmann: Schwarz-Weiß-Symbolik, S. 302)

Auf eine historische Kontextualisierung lassen die GA-Herausgeber sich allerdings nicht ein (obwohl Urs Dietler genau das gefordert hat, um Steiners angebliche Unschuld zu beweisen, vgl. GA 107, S. 16), sondern bemühen (überdies bekannte) Strategien, um eine explizite Distanzierung von jeder noch so rassistischen Äußerung Steiners zu umgehen. Das beginnt beim Titel des Vortrags:

Wer den Vortrag vom 3. Mai 1909 in einer älteren Ausgabe der GA 107 nachschlägt, findet ihn unter dem Titel „Die Ausprägung des Ichs bei den verschiedenen Menschenrassen“ (vgl. GA 107,  5. Auflage 1988, S.  7, S. 335). In der Neuausgabe ist der Vortrag umbenannt und heißt jetzt „Die Ausprägung des Ich-Gefühls bei den verschiedenen Menschenrassen“. In beiden Ausgaben aber wird behauptet, dass die Titel der Vorträge von Steiner selbst stammten (sowohl GA 107, 1988, S. 319 als auch in der Neuauflage von 2011, S. 340). Die Umbenennung ist nicht kommentiert oder als solche kenntlich gemacht. Die Stoßrichtung der Änderung ist allerdings  auch so offensichtlich: Das „Ich“ als Sanktissimum der Persönlichkeit schilderte Steiner meist als unabhängig von angeblichen „Rassenmerkmalen“. Hätte Steiner also nur von Selbstwahrnehmung und „Ich-Gefühl“, aber nicht vom „Ich“ selbst gesprochen,  so ließe sich argumentieren, Steiner habe mit seinen Rassentypologien niemals „das Ich“ angreifen und Personen diskriminieren wollen. Dass Steiner also im vorliegenden Vortrag das Gegenteil tut und von der „Ausprägung des Ichs bei verschiedenen Menschenrassen“ spricht, passt den Herausgebern folglich nicht ins Konzept. Ähnlich argumentierte die Rudolf-Steiner-Nachlassverwaltung gegenüber der BPjM 2007 in einer Stellungnahme zum Indiziderungsverfahren:

„Das ‚Ichgefühl‘ darf nicht mit dem ‚Ich‘ verwechselt werden. Das ‚Ich‘ ist der geistige Wesenskern, der jedem Menschen eignet. Dieses ‚Ich‘ konnte nach den Ausführungen des Vortrags in der atlantischen Zeit unterschiedlichen stark ‚empfunden‘ werden. Die unterschiedlich starke ‚Ichempfindung‘ prägte sich in der atlantischen Zeit wegen der damals noch bestehenden Plastizität oder Formbarkeit der Menschenleiber in unterschiedlichen körperlichen Formen (Hautfarben) aus. … Die Seele ist der Ort, wo die ‚Ichempfindung‘, das ‚Persönlichkeitsgefühl‘, das ‚Bewusstsein vom Ich‘ seinen Sitz hat, während das Ich selbst geistiger Natur ist.“ (Rudolf-Steiner-Nachlassverwaltung, Stellungnahme zum BPjM-Verfahren, Az.: 504-2334-01/804, Schreiben vom 23.04.2007, S. 41)

Diese Argumentation ist falsch: Steiner spricht im Vortrag durchaus vom fehlentwickelten „Ich“ der „Roten“ und „Schwarzen“ „Rasse“, und „Aus allen Völkern, die das Ich in irgendeinem Grade zu stark oder zu schwach entwickelt hatten, konnte nichts besonderes werden.“ (GA 107, 2011, S. 309). Die Umbenennung des Vortrags erweist sich als vergeblicher Versuch, den rassentheoretischen Äußerungen Steiners über 100 Jahre später die Spitze abzubrechen. Dazu werden noch ein paar weitere argumentative Figuren bemüht:

Entlastungsargumente

Die Entlastungsargumente der GA-Herausgeber_innen lauten wie folgt (sie stammen ebenfalls von S. 341f.):

1. Steiners Vorträge seien „von ihm nicht durchgesehen oder autorisiert worden“, die Textstellen stammten also eventuell gar nicht „wortwörtlich“ von ihm. Das ist zwar grundsätzlich richtig: Bei den inkriminierten Texten handelt es sich um Vortragsmitschriften. Und bei den Vortragsmitschriften handelt es sich um Stenogramme, die in Einzelheiten oder Wortwahl  möglicherweise nicht immer zur Gänze mit dem übereinstimmen mögen, was Steiner „wortwörtlich“ noch so gesagt haben könnte. Aber das ändert nichts an dem offensichtlichen und überdeutlichen Gesamtduktus des Vortrags: Es ging Steiner deutlich um Ausführungen zu „Rassen“ und „Ich“ bzw. „Ich-Gefühl“ – was die Herausgeber auch keineswegs ernsthaft bestreiten. Auch die BPjM hat in ihrer Entscheidung zu dem Indizierungsverfahren festgestellt:

„Dass es sich bei den Vortragstexten, wie von den Verfahrensbeteiligten ausgeführt, um so genannte unsichere Textquellen handelt, weil diese möglicherweise nicht wörtlich die von Rudolf Steiner gehaltenen Vorträge wiedergegeben, ist für die Annahme einer Jugendgefährdung unerheblich. Das Buch ist Teil der Gesamtausgabe der Werke von Rudolf Steiner; die Vortragsnachschriften sind von ihm, zumindest kursorisch, autorisiert worden.“ (BPjM-Entscheidung Nr. 5506 vom 6.9.2007, a.a.O, S. 8)

2. Steiner habe zwischen 1905 und 1909 in vier Einzelvorträgen „eine Gliederung der fünf menschlichen ‚Hauptrassen‘ entworfen, die sich alle mit der Frage nach der Entstehung der physischen Rassenunterschiede beschäftigen. Der vorliegende Vortrag stellt einen dieser Entwürfe dar.“ Davon stimmt lediglich der letzte Satz: Es zielt am Kern des Problems vorbei, lediglich zu sagen, dass Steiner die Entstehung von sogenannten „physischen Unterschieden“ beschreibt – problematisch ist, wie er sie beschreibt. Wenn das angebliche schwache Ich der „Neger“ zu schwarzer Haut und das angebliche zu starke Ich der Indianer zu roter Haut, in beiden Fällen aber zu evolutionärer Dekadenz geführt haben soll, sind das eben nicht nur Beschreibungen von physischen Zuständen: Es sind auch Beschreibungen und Wertungen von (vermeintlichen) psychisch-spirituellen Verfasstheiten. Zu behaupten, Steiner habe am 3. Mai 1909 lediglich über „physische Unterschiede“ gesprochen, ist schlicht irreführend.
Übrigens ist in dem besagten Vortrag keineswegs die Rede von „fünf Hauptrassen“, sondern von drei (möglicherweise vier, da kurz „passive“ „Asiaten“ erwähnt werden): Nämlich von „Schwarzer“ und „Roter“ „Rasse“ als fehlentwickelten Extremen und europäischen „Normalmenschen“.

3. „Die hier von Rudolf Steiner angewandten Gesichtspunkte sind im Zusammenhang mit Aspekten der Entwicklungslehre seiner Zeit zu sehen, in der die Anpassung an unterschiedliche Umweltbedingungen und anschließende Vererbung der entstandenen ‚Rassen’unterschiede diente.“
Anpassung und Vererbung sind auch heute noch Basis der Evolutionstheorie, ohne, dass daraus „Rassentheorien“ entstehen. Dennoch: Tatsächlich stammen Steiners Rassismen aus dem Evolutionskonzept des 19. Jahrhunderts, speziell in seiner Modifikation durch Ernst Haeckels „biogenetisches Grundgesetz“ und dessen esoterischer Form in der evolutionären Spiritualität von Helena Petrowna Blavatskys Theosophie: „Blavatsky showed how esotericism could assimilate evolution. She acepted the idea of evolution, but only in the spiritual terms of an emanationist cosmology, which informed and effected all the varied material forms of creation. … Blavatsky effectively subsumed the material and physical aspects of evolution into a grand, overcharging, divine plan.“ (Nicholas Goodrick-Clarke: Helena Blavatsky, Berkeley, California 2004, S. 175).  Doch der Verweis auf diese Vorbilder für Steiners Evolutions- und Rassentheorie ist keine Salvierung, sondern das beste Argument dafür, zu bekennen: Steiner übernahm mit seinem Evolutionskonzept auch die Rassentheorien des 19. Jahrhunderts, und das war ein schlichter Irrtum. Die Tatsache, dass sich die Herkunft von Steiners Rassenlehre historisch erklären lässt, lässt sich nicht als Entlastung instrumentalisieren. Das haben auch Ramon Brüll und Jens Heisterkamp festgestellt:

„Das mitunter bemühte Argument, jene Zitate seien in einer anderen Zeit geäußert worden, gilt auch dann nicht, wenn es sich um Auffassungen handelt, die zwar vor etwa 100 Jahren in unserem Kulturkreis verbreitet, aber deshalb nicht weniger diskriminierend waren. Grobe absichtliche oder fahrlässige Diskriminierungen waren bereits verletzend, bevor das Diskriminierungsverbot etwa durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 kodifiziert wurde.“ (Ramon Brüll/Jens Heisterkamp: Frankfurter Memorandum, S. 9)

4. Steiner habe das alles nicht so richtig ernst gemeint und durchdacht (oder so), denn: „Die vorliegenden Ausführungen besitzen durchaus einen aphoristischen und vorläufigen Charakter.“
Tatsächlich hat Steiner seine Vorträge fast immer frei gehalten, sich allenfalls im Vorfeld Notizen gemacht und herausgerissene Buchseiten auf das Vortragspult gelegt, deren Inhalte er in das von ihm Gesagte einflocht. Insofern waren seine Vorträge tatsächlich „vorläufig“ und unverbindlich. Aber hier gilt dasselbe wie zum 1. Punkt: Steiner hat das Rassenthema im vorliegenden Vortrag zu ausführlich und systematisch erörtert, als dass die diskriminierenden Äußerungen als missverständliches Geplapper eingeordnet werden könnten. Und auch hier gilt: Die anti-rassistischen Aussagen Steiners sowie das gros der von ihm angeregten „Praxisfelder“ basieren dann ebenfalls auf solchen „aphoristischen und vorläufigen“ Vorträgen – die Grundlagen von Waldorfpädagogik, biodynamischer Landwirtschaft, anthroposophischer Medizin, Heilpädagogik, Eurythmie oder Architektur würden, wenn ihnen plötzlich nurmehr „vorläufiger Charakter“ zugestanden würde, zusammengeschnippt wie ein Kartenhaus.

5. Äußerungen Steiners nach dem Jahr 1909 präsentierten keine evolutionär hierarchisierte Rassentheorie mehr, denn „er änderte in späteren Jahren die Darstellung dieses Themas, insbesondere ist im Jahre 1910 (siehe GA 121) der weißen oder kaukasischen ‚Rasse‘ keine Sonderstellung mehr eingeräumt (Hervorhebung – A.M.).“
Auch dieses Argument eignet sich schlecht für eine Entkräftung von Steiners rassentheoretischer Argumentation im Mai 1909. Richtig ist, dass Steiner ab 1910, tatsächlich u.a. in den Vorträgen, die in Nummer 121 seiner Gesamtausgabe (GA) veröffentlicht sind, die „Rassen“ nicht mehr in Stufen anordnete. Früher hatte Steiner etwa „die Neger“ als Überbleibsel der „lemurischen Wurzelrasse“, „die Gelben“ als Überreste der „Atlantier“ und die „Weißen“ als Akteure der gegenwärtigen „Arischen Wurzelrasse“ eingeführt (vgl. BGA 60, d.h. Band 60 der „Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe“). Er parallelisierte sie dadurch mit verschiedenen Bewusstseinsstufen in seiner evolutionären, teleologisch konzipierten Geschichtsphilosophie. 1910 dann hatte Steiner „Rassen“ und Bewusstseinsstufen auseinandergespalten: Laut den Ausführungen in GA 121 entstanden die „Rassen“ nicht mehr nacheinander, sondern parallel, sie waren keine einander beerbenden Stufenordnungen der Weltgeschichte mehr, sondern im Prozess dieser Weltgeschichte wie nebenbei entstandene „Typen“. Nichtsdestominder stellte die „kaukasische“ oder „Weiße“ „Rasse“ den privilegiertesten, „geistigsten“ dieser „Typen“ dar. Noch 1923 spitzte er zu: „Die weiße ist die zukünftige, die am Geist schaffende Rasse.“
Und wenn die GA-Herausgeber formulieren, 1910 werde der „weißen Rasse“ „keine Sonderstellung mehr eingeräumt“, gestehen sie implizit zu, dass diese Sonderstellung zumindest bis dahin behauptet wurde. Somit müssten sie sich immernoch von Steiners Rassentheorie bis 1910 distanzieren – auch das allerdings unterbleibt.

Die Argumente der Herausgeber sind somit schlecht begründet und wurden bereits an früherer Stelle angeführt und kritisiert (vgl. Jana Husmann-Kastein: Schwarz-Weiß-Konstruktionen im Werk Rudolf Steiners, in: Berliner Dialog 29, Juli 2006, S. 23; Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung, gesellschaftliche Praxis, Göttingen 2007, S. 633 ff.; Ders.: Rudolf Steiners Rassenlehre. Plädoyer, über die Regeln der Deutung von Steiners Werk zu reden, in: Uwe Puschner/ G. Ulrich Großmann (Hg.): Völkisch und National – Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 148).
Mehr ins Eingefleischte geht es bei zwei weiteren Entlastungsversuchen der GA-Herausgeber, zwei dem Anschein nach anti-rassistische Zitate Steiners gegen den Rassismusvorwurf ins Feld zu führen:

„Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit“

„Wie fern Rudolf Steiner jegliche Art rassistischer oder nationalistischer Denkungsweisen stand, verdeutlicht u.a. die folgende Passage aus seinem Vortrag vom 26. Oktober 1917:

‚Ein Mensch, der heute von dem Ideal von Rassen und Nationen und Stammeszusammengehörigkeiten spricht, der spricht von Niedergangsimpulsen der Menschheit. Und wenn er in diesen sogenannten Idealen glaubt, fortschrittliche Ideale vor die Menschheit hinzustellen, so ist das die Unwahrheit. Denn durch nichts wird sich die Menschheit mehr in den Niedergang hineinbringen, als wenn sich die Rassen-, Volks- und Blutsideale fortpflanzen.‘ (GA 177, S. 220)“ (Kommentar in GA 107, 2011, S. 341).

Hier hält Steiner die Berufung auf „Rassen-, Volks- und Blutsideale“ offenbar nicht nur für illusionär, sondern gar für außerordentlich schädlich. Dieses Zitat ist ein altbekanntes in der Debatte um Steiners Rassismus. Nach ihm hatten Hans-Jürgen Bader, Manfred Leist und Lorenzo Ravagli ihr zweibändiges Machwerk „Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit“ (Stuttgart 2000f.vgl. dazu kritisch: Ravagli, die Rassen und die Rechten; Rudolf Steiners Rassenlehre sowie Ralf Sonnenberg: Vergangenheit, die nicht vergehen will) benannt, das nicht nur jeden Rassismus bei Steiner leugnete, sondern auch seine Rassentheorie als progressiv und humanistisch interpretierte.

Das vollständige Zitat aus Steiners Vortrag lautet allerdings (die vom GA-Herausgeber ausgelassenen Satzteile grün markiert):

Ein Mensch noch des 14. Jahrhunderts, der gesprochen hat von dem Ideal der Rassen, von dem Ideal der Nationen, der hat gesprochen aus den fortschreitenden Eigenschaften der menschlichen Entwickelung heraus; ein Mensch, der heute von dem Ideal von Rassen und Nationen und Stammeszusammengehörigkeiten spricht, der spricht von Niedergangsimpulsen der Menschheit. Und wenn er in diesen sogenannten Idealen glaubt, fortschrittliche Ideale vor die Menschheit hinzustellen, so ist das die Unwahrheit. Denn durch nichts wird sich die Menschheit mehr in den Niedergang hineinbringen, als wenn sich die Rassen-, Volks- und Blutsideale fortpflanzen.“ (GA 177, Dornach 1999, S. 220)

Im Original ist’s also scheinbar komplizierter: Steiner meint, zwar sei es „heute“ unwahr und destruktiv, sich auf „Rassenunterschiede“ zu berufen, im 14. Jahrhundert sei dies aber noch Ausdruck der „fortschreitenden Eigenschaften der menschlichen Entwicklung gewesen“. Nur eine ausführlichere Lektüre des zitierten Vortrags kann diese paradoxe Aussage aufdröseln:

Steiner schildert hier, wie so oft, seine Vorstellungen von spiritueller Evolution. Ziel des Ganzen sei die Entwicklung des menschlichen Geistes. Zu dessen Förderung ließen sich göttliche Geister, Engel, Überengel und kosmische Hierarschien – ein ganzer Reigen an „Geistern des Lichts“ herab. Und natürlich versuchten böse „Geister der Finsternis“ nach Kräften, diesen übersinnlichen Evolutionsweg zu blockieren. Die Erschaffung von Menschen“rassen“ sei, so Steiner, eine Erfindung der „Geister des Lichts“ gewesen: Da der Mensch in archaischen Epochen der Weltgeschichte (Lemuria und „Atlantis“) noch nicht individuierungsfähig war, mussten die guten Geister ihn offensichtlich in praktische „Rassen“-Gruppen einteilen:

„Dem Menschen ist gewissermaßen ein Gewicht angehängt worden, durch das er verbunden wurde mit dem Erdendasein … In diesen Zeiten, in denen also sozusagen die Geister des Lichtes sich haben angelegen sein lassen, die Menschenzusammenhänge nach den Blutsbanden zu ordnen, haben es sich die mit den Menschen vom Himmel zur Erde verstoßenen Geister der Finsternis angelegen sein lassen, gegen alles, was Blutsvererbung ist, zu arbeiten. Und alles … was da pocht auf die individuelle Freiheit, was Gesetze geben will aus der individuellen Freiheit des Menschen heraus, das rührt eben von den herabgestoßenen Geistern her.“ (GA 177, 1999, S. 215f.)

Insofern bestreitet Steiner also keineswegs die Existenz von „Rasse, Volk und Blut“, er hält sie für reale Potenzen der Weltgeschichte, einst erschaffen von „den Guten“ und bekämpft nur von den irgendwie „Bösen“. Mit dem Ende des Mittelalters und dem Heraufdämmern der Neuzeit sieht Steiner allerdings eine Zäsur: Nun sei der Mensch in den Augen der „Geister des Lichts“ reif genug, um individuelle Freiheit zu erlangen:

„…in der Entwickelung hat alles seine bestimmte Zeit. Dasjenige, was gefestigt worden ist in der Menschheit durch die Blutsbande, dem ist genug geschehen in der allgemeinen gerechten Weltenordnung. So daß seit dieser neueren Zeit die Geister des Lichtes sich so wandeln, daß sie jetzt den Menschen inspirieren, freie Ideen, Empfindungen, Impulse der Freiheit zu entwickeln, daß sie es sind, die den Menschen auf die Grundlage seiner Individualität stellen wollen.“ (ebd., S. 218)

Umgekehrt versuchten jetzt die „Geister der Finsternis“, dies zu verhindern und den Menschen in den „Blutsbanden“ festzuhalten:

„Das, was gut war in alten Zeiten, oder besser gesagt, was in der Sphäre der guten Geister des Lichtes war, das wird abgegeben im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an die Geister der Finsternis.“  (ebd.)

Und damit macht auch die oben zitierte Aussage Sinn: Im 14. Jahrhundert, so Steiner, sei die Bildung von „Rassen“ noch im Sinne der übersinnlichen Weltlenkung gewesen, mittlerweile sei aber die Entwicklung von „Freiheit“ an der Reihe. Wer sich auf „Rassen-, Volks- und Blutsideale“ berufe, opponiere demnach gegen den spirituellen „Weltenplan“ bzw. arbeite für die „Geister der Finsternis“. Dementsprechend fällt ein fahles Licht auf diesen Steinerschen „Anti-Rassismus“: Offenbar distanzierte er sich von den völkischen Kreisen seiner Zeit und wollte keine „Rassenpolitik“, hielt diese im Gegenteil für ein „Niedergang“ssymptom (und das unterscheidet ihn von der völkischen Rechten). Aber er ging davon aus, dass es „Rassen“, „Rassenunterschiede“, und damit, seinem eigenen Rassenbegriff gemäß: auch evolutionär höher- und minderpriveligierte „Rassen“ gebe. Und folglich klingt der Kommentar in der GA 107 durch ein weiteres „antirassistisches“ Steiner-Zitat ähnlicher Couleur aus, in dem sich wieder eine Auslassung findet (die von den GA-Herausgebern weggelassenen Zeilen markiere ich grün):

„Es hat zum Beispiel schon gegenüber der heutigen Menschheit keinen rechten Sinn mehr, von einer bloßen Rassenentwickelung zu sprechen. Von einer solchen Rassenentwickelung im wahren Sinne des Wortes können wir nur während der atlantischen Entwickelung sprechen. Da waren wirklich in den sieben entsprechenden Perioden die Menschen nach äußeren Physiognomien so sehr voneinander verschieden, daß man von anderen Gestalten sprechen konnte. Aber während es richtig ist, daß sich daraus die Rassen herausgebildet haben, ist es schon für die rückliegende lemurische Zeit nicht mehr richtig, von Rassen zu sprechen, und in unserer Zeit wird der Rassenbegriff in einer gewissen Weise verschwinden, da wird aller von früher her gebliebene Unterschied nach und nach verwischt. So daß alles, was in bezug auf Menschenrassen heute existiert, Überbleibsel aus der Differenzierung sind, die sich in der atlantischen Zeit herausgebildet hat. Wir können noch von Rassen sprechen, aber nur in einem solchen Sinne, daß der eigentliche Rassenbegriff seine Bedeutung verliert.“ (GA 105, Dornach 1983, S. 183f.)

Hier ist die Aussage noch eindeutiger. Steiner spricht davon, dass die „Rassen“ als Medium der Evolution überholt seien, aller Unterschied werde „allmählich verwischt“ – aber es bleibt die falsche Annahme, es habe überhaupt jemals „Rassen“ gegeben (vgl. Wichtige Hinweise – falsche Prämissen)! Und mit der Behauptung, dass der Rassenbegriff seine Bedeutung „verliert“, impliziert Steiner auch, dass seine – rassistischen – Charakterisierungen von „Roten“, „Schwarzen“ und „Weißen“ auch in der Gegenwart eine (wenn auch schwindende) Geltung besäßen: „In Steiners These der zukünftigen Auslöschung der ‚Rassen‘ liegt zugleich die These ihrer Existenz und Bedeutsamkeit bis dahin begründet.“ (Jana Husmann: Schwarz-Weiß-Symbolik, S. 276). Hier hätte nur ein klärendes Wort im Sinne einer unzweideutigen Distanzierung seitens der Steiner-Herausgeber geholfen: Steiners Rassismen sind im Prinzip lächerlich simpel: von „triebgesteuerten“ Schwarzen, dekadenten Indianern und kulturschöpferischen „Weißen“ fabulierten zu seiner Zeit nicht Wenige. Es wäre auch leicht zu erklären, warum Steiner, der diese Ressentiments teilte, sich genötigt sah, „esoterische“ Erklärungen für deren Entstehung zu finden. Und schließlich könnte, daran anknüpfend, ausgeführt werden, dass und warum Steiner fand, dass „der Rassenbegriff seine Bedeutung verliert“ und daher andere Ziele anpeilte. Aber diese klärende Darstellung unterbleibt, wie ausgeführt.

Positiv ist den Kommentator_innen vom Steiner-Verlag an dieser Stelle immerhin zugute zu halten, dass sie nicht versuchen, Steiners rassentheoretische Aussagen selbst als philanthrop und antirassistisch zurechtzudeuten (wie die Autoren der Schriften „Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit“ das taten). Aber stattdessen bleiben die genauen Theoreme Steiners schlicht unkommentiert.

Max Heindel, Rudolf Steiner und warum eine Indizierung trotz allem falsch gewesen wäre

Es ist, auch in der Esoterikszene, keineswegs schimpflich, solche offenbar zeitbedingten, aber nichtsdestominder diskrimierenden Äußerungen eben auch als zeitbedingt zu erklären und aktuell zurückzuweisen. Zwar sind hier selten Leistungen erbracht worden, die die Anforderungen einer kritischen Edition erfüllen, aber es ist doch bemerkenswert, dass sich bei Anthroposoph_innen so lange nichts in diese Richtung bewegt hat.
Da wäre beispielsweise Steiners zeitweiliger Schüler und späterer Konkurrent Max Heindel (d.i. Carl Louis-Grasshoff; 1865-1919). Er übernahm um 1908 Steiners Ideengebäude ebenso, wie Steiners seines aus den theosophischen Handbüchern. Entsprechend finden sich in Heindels Oeuvre Rassentheorien, die auf dem Stand der Rassenlehre Steiners aus dem Jahre 1908 sind. Diese Rassentheorien wurden nirgens öffentlich diskutiert, es gab an keiner Stelle Rügen von Behörden und keinerlei wissenschaftliche Literatur, die Heindel Rassismus vorwarf. Auch Anthroposophiekritiker_innen haben Heindel übergangen oder allenfalls am Rande erwähnt. Nichtsdestominder gab es innerhalb der von Heindel gegründeten „Rosicrucian Fellowship“ offenbar genügend Diskurse, dass die Herausgeber seines Werks von selbst einen Kommentar beifügten, der dem der Steiner-Nachlassverwalter ähnelt – mit einem Unterschied: Die Heindel-„Rosenkreuzer“ waren sogar bereit, zeitbedingte „Formulierungsschwächen“ zuzugestehen, und das tun im anthroposophischen Lager allenfalls „liberale“ Geister. Da heißt es:

„Die Rosenkreuzer-Philosophie wurde 1909 veröffentlicht. Die von Max Heindel angeführte Beispiele [sic!] wurden aus dieser Ära entnommen. Die im Text benutzten Worte und dort angeführten Definitionen stammen aus dem frühen 20. Jahrhundert. Aus diesem Grund riefen Aussagen aus diesem Kapitel XIII Unbehagen hervor (und stießen sogar auf Ablehnung). Als ein Resultat der Entstehungszeit sollten uns diese Formulierungsschwächen aus heutiger Sicht jedoch nicht von der eigentlichen Botschaft ablenken…“ (Addendum C, Fußnote zu Kapitel XIII, in: Max Heindel: Die Weltanschauung der Rosenkreuzer oder Mystisches Christentum (1909), Sils-Maria 2003, S. 704ff.)

Max Heindel (1865-1919)

…die freilich humanistisch sei und sich ähnlich liest wie diejenige Steiners. In den deutschen Neuausgaben der Werke Helena Blavatskys, der bedeutendsten Gestalt der modernen Esoterik überhaupt, finden sich ebenfalls solche Anmerkungen, sogar in sehr ausführlicher Form (vgl. Hank Troemel: „Zur Sprache der Theosophie: Missverständnis und Missbrauch“, in: Helena Petrowna Blavatsky: „Die Geheimlehre“, Neuübersetzung, Adyar Theosophische Verlags-GmbH, Satteldorf 1999 – auch dieser Aufsatz trägt aber unübersehbar apologetische Züge).

Ein solch erlösendes Wort fehlt von seiten der GA-Herausgeber, es fehlt von seiten der Verantwortlichen in den Anthroposophischen Landesgesellschaften ebenso wie von Seiten des „Bundes der Freien Waldorfschulen“. Einzig von seiten der Anthroposophischen Gesellschaft in den Niederlanden, der „Flensburger Hefte“ und der Zeitschrift „Info3“ liegt wenigstens irgendeine Distanzierung vor.  Stattdessen finden sich in dem  besprochenen Kommentar bekannte Formen anthroposophischen Personenkults: Es fällt auf, dass im Kommentar kein einziges Mal die Rede von „Steiner“ ist, es wird durchgängig der volle Name „Rudolf Steiner“ genannt. Dazu hat sich auch Taja Gut, selbst Mitarbeiter des Rudolf-Steiner-Verlags, in seiner epochalen Streitschrift geäußert, und eine religiös inbrünstige Steiner-Ehrfurcht vermutet:

„Eine bestimmte, zeitbedingte Art von Ehrfurcht. Ich meine das keineswegs sarkastisch … Die sich beispielsweise in solchen Absurditäten äußert, dass selbst weltoffene Anthroposophen es nicht übers Herz bringen, einfach Steiner zu sagen oder zu schreiben. Stets: Rudolf Steiner, Rudolf Steiner – und wenn der Name zehnmal hintereinander genannt wird.“ (Taja Gut: Wie hast du’s mit der Anthroposophie?, Dornach 2010, S. 52)

Ein zusammenfassendes Urteil der Kommentierung kann leider nicht anders lauten als: unzureichend. Vereinbart mit der BPjM war ein Kommentar, der sicherstellt, „dass die Rassen diskriminierenden Äußerungen auch von Jugendlichen eingeordnet und kritisch betrachtet werden können.“ (BPjM, a.a.O.). Ich persönlich halte es, nebenbei gesagt, entweder für beleidigend oder albern, zu glauben, Jugendliche seien für eine so hochgradig verstiegene und auf über hundert Jahre alten okkultistischen Prämissen gebaute Rassenlehre besonders empfänglich. Ich würde auch im Gegenteil fordern, solche Stellen keineswegs von Waldorfschulen fernzuhalten, ganz im Gegenteil: Waldorfschulen sollten sich mit diesen Rassentheorien auseinandersetzen und dies durchaus auch im Geschichtsunterricht o.ä. diskutieren. Anders lässt sich ein kritischer Umgang in meinen Augen nicht herstellen. An meine (damaligen) 11.-Klässler-Ohren gelangte das Indizierungsverfahren 2007 übrigens, als ein Lehrer (der offenbar kein Anthroposoph war) am Ende seiner Stunde Kopien des (im Grunde schlechten) Spiegelartikels „Die Lehre von Atlantis“ austeilte. Auf meine Bitte hin besprachen wir diesen Artikel und die beiden von der BPjM unter die Lupe genommenen Bücher daraufhin immerhin eine Stunde lang im Ethik-Unterricht. Das war für mich eine der ersten kritischen Auseinandersetzungen mit Steiners Rassenlehre, die ausführlicher 2008 stattfanden. Von diesem Standpunkt aus hielte ich ein eventuelles Verbot der BPjM für destruktiv,  es würde eine solche Auseinandersetzung im Waldorf-Umfeld blockieren bis verhindern. An Waldorflehrer_innen und -eltern in der Leserschaft kann ich nur apellieren, diese Texte wahrzunehmen und zum Thema zu machen!

Nichtsdestominder ist die Kommentierung der neu erschienenen GA 107 inhaltlich (leider!) schlicht falsch und gewährleistet keineswegs, dass Jugendliche oder irgendjemand anderes Steiners Rassentheorien auf ihrer Basis einordnen oder gar „kritisch“ betrachten können oder werden.
Noch steht das Erscheinen des zweiten von der BPjM unter Kommentarzwang gestellten Buchs, Band 121 der Steiner-Gesamtausgabe, aus. Von dessen Kommentierung erhoffe ich mir inzwischen reichlich wenig, jedoch wäre es förderlich, wenn die Verantwortlichen wenigstens nicht dieselben offensichtlichen Fehler machen: Die fünf oben angeführten „Entlastungsargumente“ sind seit Jahren bekannt (und problematisiert worden), Vortragstitel sollten nicht ohne Begründung umbenannt werden, wenn nebenan überdies steht, dass dieser Titel von Steiner stamme.

21. Juli 2011 at 7:53 pm 11 Kommentare

„Licht, mehr Licht!“ – zu Jana Husmann…

… und ihrem Buch „Schwarz-Weiß-Symbolik: Dualistische Denktraditionen und die Imagination von ‚Rasse'“

Die meisten Bücher, die zum Thema Anthroposophie und Waldorfpädagogik erscheinen, veranlassen mich emotional zu einem relativ schlichten „Ja“ oder einem ebenso schlichten „Nein“, sie sind entweder gut oder schlecht, leicht abzulehnen oder eben nützlich. Das vorliegende Buch erweckt in mir das Bedürfnis nach einem langen, langen „JA – aber…“, und was wäre besser, um eine weitere Riesenrezension zu starten? Zuerst gebe ich in den Abschnitten I – III eine Übersicht über die in dem Buch diskutierte These, soweit ich sie erfasst habe, gehe anschließend (IV.) auf Jana Husmanns Aktivitäten als Anthroposophiekritikerin und (V.) ihre Darstellung der anthroposophischen Rassenlehre ein. Dann erlaube ich mir, an vier Stellen verschwenderisch pedantische Ergänzungen zu dem Buch vorzunehmen: VI. Antike Philosophie, VII. Geschichte des esoterischen Rassismus, VIII. Ahriman und Luzifer: Steiners okkulte Typologie „des Bösen“, IX. Husmanns Bedenken gegenüber der Möglichkeit einer „ent-rassistierten“ Anthroposophie. Die Abschnitte sechs bis neun sollten auch einzeln lesbar sein.

I. Das Gespenst

„Ein Gespenst geht um in der westlichen Wissenschaft…“ beginnt der slowenische Philosoph Slavoj Žižek sein Buch „Die Tücke des Subjekts“ (dt. Frankfurt a.M, 2001, S. 7) und fährt fort:

„…das Gespenst des cartesianischen Subjekts. Um es auszutreiben, haben sich alle wissenschaftlich-akademischen Mächte zu einer heiligen Allianz zusammengschlossen: der Obskurantist des New Age … der postmoderne Dekonstruktivist … der habermasianische Kommunikationstheoretiker … der Kognitionswissenschaftler … der Fundamentalökologe … der kritische (Post-)Marxist … und die Feministin (die betont, dass das angeblich geschlechtslose Cogito in Wirklichkeit eine männlich-patriarchale Bildung ist). … Obgleich alle diese Parteien offiziell in erbitterte Kämpfe verwickelt sind (die Habermasianer gegen die Dekonstruktivisten, die Kognitionswissenschaftler gegen die Dunkelmänner des New Ade…), sind sie sich doch alle in der Ablehnung des cartesianischen Subjekts einig.“

Žižeks brilliant formuliertes – und natürlich an Marx angelehntes – Projekt, das autonome Subjekt vor den Auflösungs- bzw. Verleugnungsversuchen besagter Parteien zu retten, kommt aber gleichzeitig einer nicht minder beliebten Stimmung entgegen, die Postmodernismus, große Teile feministischer Theorie, Ökologie usw. zusammen mit dem New Age einer prämodernen Gesinnung bezichtigt, oder sie, mit Adornos Worten, theatralisch verdächtigt, nicht weniger als “das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie” (Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, 556) zu sein.

Dabei wird gern übersehen (um beim gewählten Gespensterbeispiel zu bleiben), dass etwa das cartesianische Subjekt, die res cogito, traditionell keineswegs Žižeks psychoanalytische Vorstellung vom „exzessiven, nicht anerkannten Kern des Cogito“ (Žižek, a.a.O.) stützt. Es sollte ursprünglich tatsächlich „männliche“ Attribute tragen und dualistisch von der Natur abgespalten sein – mit der Kritik an diesen Programmpunkten hat eine postmoderne Philosophie also durchaus auch viele richtige Punkte angepeilt. In diesem Sinne möchte ich die vorliegende Dissertationsschrift von Jana Husmann, „Schwarz-Weiß-Symbolik“ verstehen und würdigen, die sich eines klassischen Gegenstandes postmodern-poststrukturalistischer Kritik annimmt, ihn historisch bearbeitet und dabei tatsächlich auf eine neue Ebene hebt: Sie untersucht die Entstehung eines Selbstbildes des „vernünftigen“, „logozentrischen“ „Abendländlers“, der sich mit ehemals göttlichen Attributen versieht und meint, sich ontologisch über „die Natur“, den außereuropäischen „Anderen“ und – natürlich – „die Frau“ zu erheben. Claudia von Werlhof hat diese ideelle Grundlegung und Gemeinsamkeit von Sexismus und Rassismus in den frühen Achtzigern pathetisch-plakativ „Hausfrauisierung“ genannt, Husmann spricht von „Säkularisierung, Naturalisierung und Respiritualisierung“ schwarz-weiß-symbolischer Mythen. Ihr Buch diskutiert die „abendländische“ Philosophiegeschichte chronologisch durch, legt aber einen klaren Schwerpunkt auf eine Figur, die auf diesem Blog Dauergast ist: den Okkultisten, Philosophen und Lebensreformer Rudolf Steiner (1861-1925). Dessen Deutung der Weltgeschichte als Spielplatz geistig-geistlicher Mächte, die sich zur festen Erde verdichteten und in ferner Zukunft wieder vergeistigen werden, passt schließlich idealtypisch in ihr Untersuchungsfeld. Auch Steiners esoterisch überbaute Rassentheoreme passen zu der These, dass neuzeitlicher Rassismus letztlich eine verweltlichte, biologisierte Form religiös-geschichtstheologischer Vorstellungen darstellt.

Um eines vorwegzunehmen: Das Buch lohnt Lektüre und Anschaffung, sowohl für anthroposophi(ekriti)sch als auch für historisch Intererssierte, allerdings stehen auch große Teile online zur Verfügung, so eine Leseprobe und die Möglichkeit, das Buch nach Stichwörtern zu durchsuchen.

II. Ursprung im „Reich des Wortes“

Husmann untersucht also die Geschichte abendländischer Dualismen, ausgehend von der griechischen Antike über christliche und gnostische Diskursfelder bis in die Neuzeit. Ein Schwerpunkt liegt auf Farbmetaphern von Schwarz und Weiß in diesen verschiedenen Konzepten. Genuin mythisch-mythologische Licht-/Finsternissymbolik habe sich in der Neuzeit ungebrochen in philosophische und Wissenschaftskonzepte übertragen, namentlich in der Konstruktion von schwarzen und weißen „Rassen“ Gestalt angenommen.

Nach Horkheimer/Adornos „Dialektik der Aufklärung“ schlägt die Illusion einer rationalen Verfügbarkeit der Welt erneut in Mythologie um („Je weiter aber die magische Illusion entschwindet, um so unerbittlicher hält Wiederholung unter dem Titel der Gesetzlichkeit den Menschen in jenem Kreislauf fest, durch dessen Vergegenständlichung im Naturgesetz er sich als freies Subjekt gesichert wähnt.“ Dialektik der Aufklärung (1944), Frankfurt a.M. 1988, S. 18). Die verwandte These, dass das Erbe eines „christlich-abendländischen Dualismus“ auch den Rationalismus der Aufklärung negativ geprägt habe, dass schließlich aus beider Drang, zu ordnen und zu kategorisieren, auch die ersten Rassenspekulationen hervorgegangen seien, ist verbreitet, aber selten ausführlich ausgeführt.

Husmann zitiert zunächst aus relativ aktuellen Symbollexika, die den symbolischen Bedeutungen der Farben Schwarz-Weiß erstaunlich oft noch heute „rassische“ Assoziationen zuordnen. Ein Lexikon der Traumsymbole von 2005 führt etwa noch das Stichwort „Neger“  mit der Erklärung „Widerstreit des Hellen gegen das Dunkle, meist negatives Innenleben.“ (Husmann-Kastein, 61). Sie diskutiert des Weiteren im Kapitel „Angst vor der schwarzen Republik“ die Erkennungsfarben verschiedener politischer Parteien durch, die etwa im Sommer 2009 in eine rassistische Wahlwerbungder Grünen mündeten.

Es stellt sich bald die Frage, wie das dualistische Denken, dessen Dominanz sich in den alten Gegenüberstellungen Gott-Welt, Mensch-Tier, Kultur-Natur, Geist-Materie, Mann-Frau etc etc ausdrückt, geistesgeschichtlich entstanden ist. Hier widmet sich Husmann unter Ausklammerung der iranisch-zoroastrischen Ideenwelt der griechischen Antike. Sie postuliert unter Berufung auf Gerburg Treusch-Dieter und lustigerweise in Übereinstimmung mit Jaspers oft kritisierter These von der „Achsenzeit“ einen geistesgeschichtlichen Umschlag um 800/600 vor Christus (S. 64). Das vorherige mythische Weltbild (Ernst Cassirer und Jean Gebser würden sich freuen) sei mit der „Vorstellung vom ‚Heiligen Paar‘ verbunden“, matriarchalisch geprägt und „vom zyklischen Kult der Wiedergeburt“ bestimmt (ebd.) gewesen. Das ab 800 v. Chr. einsickernde Weltbild sei dagegen das dualistisch-anti-zyklische Postulat eines „geistigen, symbolisch männlichen Schöpfungsprinzip“ gewesen (spaßigerweise setzte Rudolf Steiner, was Husmann leider nicht analysiert, exakt an diesem Punkt den Wechsel von der „Kulturepoche der Empfindungsseele“ zu der der „Verstandesseele“ an). Husmann enthält sich trotz ihrer offenbar kritischen Sicht auf die Entwicklung von der Polarität zur Dualität glücklicherweise der politischen Forderung eines Harald Strohm nach „mythischer Rücktransformation“ in vor-antiken Mythos.

Anders aber als Strohm schildert sie, diesmal unter Berufung auf Jan Assmann und Christina von Braun, allerdings, wie diese geistesgeschichtliche Revolution zustandegekommen sein könnte. Die Entwicklung der griechisch-phonetischen Schrift habe erstmals zu einer „atomisierten“ Darstellungsmöglichkeit für Vokale und Konsonanten geführt und es, so Assmann, damit zuerst ermöglicht, „mündliche Rede unverkürzt, vollständig und fließend wiederzugeben“ (zit. auf S. 63). Auf Grundlage dieses Schriftsystems habe sich ein „körperunabhängiges, abstraktes Reich des Wortes“ entwickelt – und der logische Schluss: Die konzeptionelle Trennung von Körper und Intellekt. Nach dieser Trennung, die die antike Philosophie prägte, sei es, so Husmann unter Berufung auf C.v. Braun, zur Identifikation des „Geistigen“ mit Männlichkeit und des „Körperlichen“ mit Weiblichkeit gekommen. Punkt. Die Leser_innen (zumindest solche, die, wie bedauerlicherweise ich, nur oberflächlich Ahnung von Geschlechterforschung haben) bleiben im Unklaren darüber, woher diese Verbindung stammen könnte. Zwar weiß auch ich seit Judith Butler, dass die Trennung von gender und sex, also: „kulturell konstruiertem“ und biologischem Geschlecht, hinfällig ist (weil auch die Wahrnehmung von sex niemals authentisch, sondern auf Grundlage kultureller Eigenschaftszueschreibungen stattfindet), aber: wie kommt es zur Assoziation von „Geist“ und Männlichkeit bzw. „Körper“ und Weiblichkeit?

Wie auch immer. Nach Diagnose der dualistischen Symboliken eilt Husmann hurtig die verschiedenen antiken Philosophien durch. Dabei lässt sie Kyniker, Skeptiker und Epikureer unerwähnt, führt aber als Beispiel für Vertreter dualistischer Weltbilder Platons Konzept von ewigen „Ideen“ und schattenhafter Materie sowie die Stoiker an. Natürlich ist auch Aristoteles unvermeidlich bzw. sein Hylomorphismus, der die Platonischen Urtypen verwirft und den Fokus auf das konkret existente Ding („ousia“) als Hybriden seiner spezifischen geistigen „Form“ (morphe) und von dieser gestalteter materieller Grundlage (hyle) legt. Aristoteles‘ berühmte Stereotypisierung, dass der Mann vornehmlich den geistigen Part, die Frau dagegen den Materiellen verkörpere, hat Geschichte gemacht.

III. „Weißwerden“

Karriere des Dualismus in Kirche, Gnosis und Aufklärung

Diese dualistischen Geist-Materie-Spekulationen prägten auch die christliche Weltsicht, etwa die „Logostheologie“ (S. 91), in der der jungfräulich-reine Körper Marias nicht von der Sünde „befleckt“, sondern vom göttlichen Wort buchstäblich beschrieben wird (hier fällt wieder die These des Zusammenhangs zwischen Dualismus und griechischer Schrift ein). Husmann diskutiert die Beschreibung Christi als „weißes“ Lamm, überhaupt Schwarzweißssymbolik im Neuen Testament und natürlich die Darstellung Christi als des Ehegatten seiner weltlichen „Gemeinde“: Hier werde die mythisch-zyklische Symbolik des Heiligen Paares einer dualistischen Wertung unterworfen.

Und schließlich wird, als Vollendung altertümlichen Schwarz-Weiß-, Licht- und Finsternisdenkens, die spätantike synkretistische Religiosität Gnosis behandelt. Die Gnostiker der verschiedenen Schulen hatten eines gemeinsam: Den Glauben an einen unendlich lichten Himmel und an eine davon nach allen Regeln der Kunst hermetisch abgeschottete Hölle. Unglücklicherweise, so glaubten die Gnostiker, sei diese Hölle nichts anderes als unsere Erde mitsamt der menschlichen Nöte und Leiden. Die Schöpfung sei entsprechend ein großer kosmischer Unfall und der Sturz des Menschen aus dem Licht in Finsternis, Sünde und Materie gewesen. In einem komplizierten Weg der Askese und der Frömmigkeit müsse jeder Mensch seinen demütigen Rückweg ins Lichtreich antreten. Auf diesem Weg wurden des Öfteren drei Gruppen von Menschen, gewissermaßen drei Tauglichkeitsgrade unterschieden: Die Pneumatiker, geistig und dem lichten geistigen Dasein schon am nächsten, die Psychiker, noch der irdischen Seele verhaftet, und die gänzlich trostlosen Hyliker, der irdisch-dämonischen Materie verfallen. Auch und gerade hier finden sich die Zuordnungen von schwarz und weiß – zu den beiden antagonistischen Daseinsebenen, aber auch zu „weißen“ Erleuchteten und „Lichtgewändern“ bzw. „schwarzen“ Erdverhaftungen. Besonders ungünstig kommen bei Husmann die Manichäer weg, deren verästelte Kosmogonie und Heilsgeschichte sie (offenbar inspiriert von Harald Strohms irritierend gnadenloser Antimanichäismus-Polemik) zusammenfasst. Am Ende bringt sie allerdings auch einen Fall positiv konnotierter gnostischer „Schwärze“ („Das erste schwarze Wort Gottes“): In der Kabbalah.

„Demiurgischer Humanismus“?

Das Mittelalter und die höfische Dichtung umschifft Husmann elegant und lässt so leider (wenn ich es nicht überlesen habe) auch nicht durchblicken, was sie von dem als „Höllenmohr“ bezeichneten Teufel bei Walther von der Vogelweide oder von der Schwarz-Weißsymbolik in Wolframs „Parzival“ (vom Elsterngleichnis bis zur Hautfärbung des Feirefiz) hält. Stattdessen erklärt sie, die Übertragung der schwarzweißsymbolischen Codierung von „Licht“ und „Geist“ bzw. „Finsternis“ und niedriger Materie auf ethnische Gruppen („Rassen“) habe erst in der Neuzeit stattgefunden. Das knapp 60 Seiten umfassende Kapitel „Weißwerden: Historische Vorläufer und Anfänge rassentheoretischer Farbgebung“ stellt dann auch das  Herzstück der Untersuchung und deren mit Abstand fesselndsten Teil dar. Husmann dokumentiert den „demiurgischen Humanismus“ (Sloterdijk) der Rennaissance und Aufklärung, bei dem sich der Mensch (bzw.: primär „der Mann“) den vormals Gott zugedachten Part des lichten und v.a. schöpferischen Prinzips zuordnete. Erst allmählich und in kleinen Schritten (Husmann analysiert v.a. die Stellung der galenischen Viersäfte- und Temperamentenlehre) wurde allerdings das Konzept verschiedener Hautfarben, „Rassen“ und schließlich Charakterunterschiede dieser „Rassen“ ausgebrütet. Husmann kann zeigen, dass Hautfarben als Unterscheidungskriterium überhaupt erst durch die unterschiedlich attributierten Farbsymboliken von lichtem Weiß und niederem Schwarz relevant wurden. Das hat auch Auswirkungen auf den Rassismusbegriff: Schon historisch lässt sich so nachweisen, dass bereits der „Rassenbegriff“ fiktiv aus protorassistischen symbolischen Wertungen hervorgegangen ist. Nicht zuletzt sind in diesem Kapitel die Rassentheorien Immanuel Kants und Carl Linnés übersichtlich dargestellt. Ein eigenes Kapitel widmet Husmann dem romantischen Esoteriker Carus und seiner Rassenlehre, in der die Menschheit in Tag-, Nacht- und Dämmerungsvölker eingeteilt wird.

Aber nun endlich zu dem Grund, der mir das Vergnügen verschafft, das Buch hier vorzustellen.

IV. (K)eine Liebesgeschichte: Husmann und die Anthroposophie

Die Autorin hat sich nämlich bereits mehrfach zur Anthroposophie bzw. zu „Schwarz-Weiß-Konstruktionen im Rassebild Rudolf Steiners“ zu Wort gemeldet und war in einen der jüngeren anthroposophischen Eklats verwickelt:

Am 21.06.2006 stellte das Bundesfamilienministerium einen Antrag an die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, zwei Bücher Rudolf Steiners nach § 18 des Jugendschutzgesetzes auf den Index zu setzen. Es handelte sich um die Bände 107 und 121 seiner Gesamtausgabe, Mitschriften von zwei Vortragsreihen Steiners, die bereits mehrfach in der Kritik waren, weil er darin seine evolutionär hierarchisierte Rassentheorie ausbreitet (ich komme unten noch inhaltlich auf sie sprechen).

Im dadurch eingeleiteten Verfahren nahmen die Steiner-Nachlassverwaltung sowie der „Bund der Freien Waldorfschulen“ Stellung, es gab ein gewaltiges Medienecho und an den nach Steiners Pädagogikvorstellungen arbeitenden Waldorfschulen einiges aufgeregtes Getuschel in den Gängen und hinter verschlossenen Türen, bevor die BPjM am 06.09.2007 erklärte, die Bände seien tatsächlich in der Lage, Jugendliche zu „Rassenhass“ anzuheizen. Da der Steiner-Verlag aber zugesichert hatte, kritisch kommentierte Neuauflagen auf den Weg zu bringen, entschied die Bundesbehörde, es handle sich um einen Fall „von geringer Bedeutung“ und sah von einer Indizierung ab. Noch im letzten Sommer erlebte der Vorfall ein Nachbeben, als eine rechtsanthroposophische Zeitschrift kreativ beschloss, da die zwei Bücher inzwischen immernoch nicht wieder aufgelegt würden, müsse eine skandalöse Verschwörung vorliegen.

„Die bei uns eingegangenen Reaktionen gehen von ‘geistigem Verrat’ über ‘Skandal’ bis zur ‘Katastrophe’ etc.“ (Marcel Frei: Rudolf Steiner am Dornacher Pranger, in: Der Europäer, September 2010, S. 9, vgl. Bilder und Sachen, Absatz „Grabenkämpfe“).

Und wie zuverlässig jedes Mal, wenn Anthroposoph_innen Verschwörungstheorien aus dem Hut zaubern, glauben diverse Kritiker_innen der Anthroposophie schon lange dieselbe Geschichte: Natürlich sind die aber überzeugt, dass das Ausbleiben der Neuauflage nicht aus anti-, sondern proanthroposophischen Motiven geschehe. Das ganze entbehrt, wie Ralf Sonnenberg resümmierte, einer gewissen Komik nicht:

„Die Annahme …, theosophische Insider-Literatur aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gehöre zu den bevorzugten Freizeitlektüren heutiger Teenager, zielt, sofern sie überhaupt ernst gemeint ist, an der Lebensrealität von Jugendlichen vorbei.“ (Hagalil)

Natürlich hatte das Familienministerium den Antrag auf Indiziderung der beiden Bände auch nicht gestellt, weil dort jemand spontan Lust bekam, Steiners Nachlass-Verwaltung zu mobben. Zwei Anthroposophiekritiker_innen hatten ein diesbezügliches Empfehlungsschreiben sowie entsprechende Gutachten eingereicht, als „ultima ratio, doch noch eine wirkliche Diskussion zur Anthroposophie und damit zur Waldorfpädagogik in Gang zu setzen“ (Stern): Eines von dem Berliner Grafik-Designer Andreas Lichte, der 2001 in einer Fortbildung zum Waldorf-Werklehrer die aktuelle Präsenz anthroposophischer Kulturchauvinismen festgestellt hatte. Das andere stammte von Jana Husmann (damals noch mit dem Doppelnamen Husmann-Kastein) und enthielt in vielen Punkten ihre auch online zu findenden sowie gleich noch einmal zusammengefassten Darlegungen über Steiners Rassenlehre.

Jana Husmann hatte Kulturwissenschaften und Gender Studies an der Universität Bremen und der Humboldt-Universität Berlin studiert. Nachdem sie 2003 ihre Magisterarbeit mit dem Titel „Schwarz-Weiß-Konstruktionen im Kontext des Rassismus – Zur Bedeutung von Farbsymbolik in den historischen Anfängen der Rassentheorie und sozio-politischer Identität“ vorgelegt hatte, veröffentlichte sie einige Aufsätze im Themengebiet „Kritische Weißseinsforschung“, soweit ich behaupten darf, sie zu überblicken, mit einem Schwerpunkt auf Geschlechterkonstruktion in den jeweiligen Rassen- bzw. Hautfarbekonzepten. 2007 erschien etwa ein zum Thema Anthroposophie relevanter Aufsatz mit dem Titel „Rassisierte Lichtgestalten – dunkle Krisen: Christus, Karma und Erlösung bei Rudolf Steiner“. Nachdem sie 2003-2006 Promotionsstipendiatin der Rosa-Luxemburg-Stiftung gewesen war, legte sie 2008 die nun überarbeitet in Buchform erschienene Dissertation vor. 

V. Dualistische Rassentheorie bei Steiner

Husmann grenzt Steiners esoterische Anthroposophie zunächst deutlich vom völkischen Okkultismus seiner Zeit ab…

„Gegenüber dem eugenisch inspirierten Rassenmystizismus eines Lanz von Liebenfels und den zeitgenössisch empiristischen Rassen- und Entartungstheorien ist die Anthroposophie des Okkultisten und selbst erklärten Hellsehers Rudolf Steiner ihren formulierten Grundsätzen nach durch eine Rhetorik der Egalität und Ganzheitlichkeit geprägt. So proklamiert Rudolf Steiner 1906: Das ‚anthroposophische Christentum‘ verheiße einen ‚Bürger des Geistes‘ – ‚ohne Unterschied von Rasse und Geschlecht.'“ (S. 232f.)

…um anschließend klarzustellen, dass dieser egalitäre Anspruch keineswegs erfüllt werde. Strukturell parallel zu Steiners Kosmologie und Wissenschaftsanspruch ist mit geringem Aufwand eine sehr explizite Rassentheorie (wenn auch nicht von „ariosophischen“ Ausmaßen) zu finden. Husmann betont zunächst, dass Steiner damit kein Einzelgänger war, sondern die von ihr so ausführlich beschriebene Verweltlichung und Verwissenschaftlichung von Schwarz-Weiß-Symboliken fortschrieb:

„Versteht Zander die Anthroposophie gegenüber der ‚hegemonialen Wissenskultur‘ des institutionalisierten Christentums und der institutionalisierten Wissenschaft als ‚minoritäre Kultur‘, so werde ich im Folgenden herausstellen, dass jedoch bereits die anthroposophische Erkenntniskonzeption … substantiell … als Bestandteil der zeitgenössischen hegemonialen Weißen Wissenskultur zu begreifen ist.“ (S. 251)

Die Ausführungen zu diesem Punkt sind interessant, aber anders als Helmut Zander in seiner Geschichte der Anthroposophie in Deutschland übergeht Husmann – trotz sehr gewissenhafter Darstellung – weitestgehend Steiners okkultistischen Kontext. Der Mesmerismus, der aus ihm erwachsene Spiritismus und die aus diesem entstandene Theosophie verbanden religiöse Sehnsucht angesichts einer scheinbaren wissenschaftlichen Sinnentleeung mit dem Projekt, nun Religiöses wissenschaftlich zu erforschen. Parallel dazu ging Steiner, auch wenn er spiritistische Methoden polemisch als Quacksalberei zurückwies.

„Mehr Licht!“ – die Esoteriker_innen des 19. Jahrhunderts fühlten sich in einer finsteren, sinnentleerten Welt des Materialismus, der sie durch wissenschaftlich-moderne Methoden das Licht der Gotteserkenntnis wiedergeben wollten*

Allerdings folgt auch in Husmanns Buch eine Darstellung der anthroposophischen Kritik an der „materialistischen“, „ahrimanischen“ Wissenschaft der Neuzeit sowie Steiners Versuch, eine „christliche Wissenschaft“ vorzulegen. Darauf werde ich unten im Absatz VIII zu „Ahriman und Luzifer“ noch eingehen. Indem sie diese beiden Typen von (guter und böser) Wissenschaft aus dem Steinerschen Oeuvre herausdestilliert, gelangt Husmann zu einem sehr klaren Dualismus in der anthroposophischen Weltsicht. Analog dazu sei Steiners Rassentheorie konzipiert. Hier wiederholt Husmann teils nahezu wörtlich Formulierungen und Thesen aus ihren früheren Kritiken an Steiners Rassentheorie, weshalb ich der Einfachheit halber eine Zusammenfassung aus einer dieser Schriften heranziehe:

„Erstens versteht Steiner ‘Rasse’ als eine der heutigen Menschheit übergeordnete Kategorie, ‘Rasse’ erscheint hier als Bezeichnung für verschiedene Zeitalter und ‘Menschheitsstadien’. Dafür steht das sogenannte ‘Wurzelrassensystem‘, das Steiner weitgehend von der Theosophin und Okkultistin Helena P. Blavatsky übernimmt. In diesem (neognostischen) Evolutionsmodell entwickelt sich der Mensch nach Steiner überhaupt erst zu seiner heutigen physischen und seelischen Gestalt. Es beinhaltet einen Prozess vom Geistkörper zum gegenwärtig physisch festen Körper, zum sog. „Knochenleib“, in der fernen Zukunft komme es zu einer erneuten Vergeistigung.

Neben dem, der heutigen Menschheit übergeordneten Evolutionsmodell der „Wurzelrassen“ versteht Steiner ‘Rasse’ zweitens jedoch zugleich als eine Strukturkategorie der gegenwärtigen Menschheit. Hierbei entwickelt er drei bis fünfgliedrige Modelle … Außereuropäer werden durch die dunkle Materie, durch ‚Verhärtung’, Verknöcherung’ und den Begriff der Degeneration gekennzeichnet, die als weiß beschriebenen Europäer stehen für geistige Potenz und die Entwicklung hin zu einer zukünftigen lichten Vergeistigung. In diesem Sinne lässt sich auch Steiners viel zitierte Aussage verstehen: „Die weiße Rasse ist die zukünftige, ist die am Geiste schaffende Rasse.“ Vor dem Hintergrund der abendländisch geistesgeschichtlichen Tradition der Codierung des Geistes als männlich und der irdischen Materie als weiblich lassen sich diese Verknüpfungen der ‘weißen Rasse‘ mit Geist und der nicht-weißen ‘Rassen‘ mit der verhärteten Materie immer auch als symbolisch geschlechtlich codiert begreifen.“ (Schwarz-Weiß-Konstruktionen…)

Während sich die früheren Publikationen weitestgehend auf eine Darstellung von Steiners Rassenmodellen beschränkten, geht Husmann in ihrer Dissertation nun auch ausführlicher auf Steiners theosophisches Frauenbild ein (S. 259-256), das letztlich wenig originelle Polaritäten passiv-phantasievoller Weiblichkeit und aktiv-zielgerichteter Männlichkeit mit esoterischen Theorien ummantelt. Interessant ist, dass Steiner diese simplen Zuordnungen teilweise erkannte und kritisierte, ohne aber selbst davon loszukommen.  Bedauerlicherweise unterlässt es Husmann vollständig, auf die aufschlussreiche Geschichte Steiners persönlicher Frauenbeziehungen einzugehen.

Ein mit „Egalität?“ übertiteltes Unterkapitel stellt die Frage, wie der anthroposophische „Grundsatz, den Kern einer allgemeinen Brüderschaft zu begründen ohne Rücksieht auf Rasse, Farbe, Stand und so weiter“ (Steiner, GA 54, 1966, 153f.), mit dieser evolutionär hierarchisierten Rassentheorie in Einklang steht. Hier verweist Husmann auf den Reinkarnationsglauben: Das geistige „Ich“ des Menschen verkörpere sich in verschiedenen Leben in verschiedenen „Rassen“:

„So können wir also gewiß sein, wenn wir auf diesen Kern unseres Wesens schauen, daß wir mit ihm teilnehmen werden nicht nur an den Sonnen- oder vielleicht auch Schattenseiten aller Rassen, aller Volkstümer, sondern wir können gewiß sein, daß wir in unserem innersten Wesen aufnehmen Beitrag auf Beitrag der Segnungen aller Rassen und Volkstümer, indem wir einmal da, einmal dort inkarniert werden.“ (Steiner, GA 121, 1982, S. 86)

Allerdings: Die negative Wertung „außereuropäischer“ „Rassen“ in Steiners Weltbild wird so eben nicht aufgehoben, sondern durch die Behauptung, immerhin auf „geistiger“ Ebene herrsche Egalität, im Gegenteil noch zementiert. Ein eigenes Kapitel widmet sich schließlich heutigen anthroposophischen Versuchen, mit Steiners Rassentheorie umzugehen. Dabei streift Husmann länger die unglücklichen Versuche eines Lorenzo Ravagli, Steiners Rassentheorien u.a. unter Bezugnahme auf die vorgeschaltete Reinkarnationslehre als „humanistisch“ zu reinterpretieren (vgl. Ravagli, die Rassen und die Rechten, Leitmotiv Zertrümmerung, Rudolf Steiners Rassenlehre). Aber auch das „Frankfurter Memorandum“ der dialogoffenen anthroposophischen Zeitschrift „info3“, das immerhin einzelne rassistische Stellen thematisiert, wird zitiert und zurecht als „Minimalkritik“ (S. 328) kritisiert. Es wird an einem Beispiel gezeigt, dass der eurozentrische Blick anthroposophischer Rassentheorien auch noch in aktuellen Waldorfschulbüchern auftaucht. Dass das entsprechende Buch heute noch als Unterrichtsgrundlage aufgelegt wird, ist umso erstaunlicher, als sogar ein überschwenglich positiver anthroposophischer Rezensent die darin Kulturchauvinismen zumindest am Rande feststellte:

„Die meisten Kapitel erschienen schon in früheren Jahren (zwischen 1954 und 1997 in den Zeitschriften ‘Erziehungskunst’ und ‘Die Drei’), vier von insgesamt vierzehn Beiträgen sind Originale und damit Erstveröffentlichungen. Beim Lesen bemerkt man durchaus den zeitbedingten Sprachhorizont, der manche Wendung heute auch kritischer bewerten läßt als zur Zeit der Erstveröffentlichung … Wenn Suchantke von Tieren kategorisierend spricht, kann man gut folgen. Unangenehm berührt jedoch kann man von dieser Sprache werden, wenn sie sich auf Menschengruppen und -rassen bezieht (‘der Indio, der Weiße, der Schwarze’ (S. 38)).“ (Creyaufmüller, Rezension)

Husmanns Darstellung ist natürlich ungleich detaillierter und kritischer. Behandelt wird von ihr natürlich auch das oben erwähnte BPjM-Verfahren. Als relativ krasser Schnitzer ist hier festzuhalten, dass sie allerdings nicht beschreibt, dass und wie sie in dieses Verfahren involviert war. Weder auf ihr Gutachten (das wird nur in einer Fußnote „der Vollständigkeit halber“ erwähnt, S. 321) noch auf ihre Motivation oder irgendeine persönliche Position geht sie ein, sondern erhält die hier fiktive Position der neutralen Außenperspektive aufrecht. Auf Husmanns Fazit für dieses Kapitel, eine um diese Rassentheorien bereinigte Anthroposophie sei kaum vorstellbar, werde ich unten (unter 4.) noch behandeln.

Was fehlt

Im Folgenden will ich an vier Punkten aufzeigen, wo die Untersuchung einseitig ist bzw. welche Themenbereiche eine Analyse farbsymbolischer Dualismen besonders mit Blick auf die neuzeitliche Esoterik noch beachten könnte. Diese Exkurse ändern nichts an der Qualität von Jana Husmanns Untersuchungen, denen großenteils schlicht zuzustimmen ist, sie stellen einzig meine eigenen Gedanken und Anmerkungen zum Thema dar und sind vielleicht für die einen oder anderen interssant.

Husmann beruft sich in ihrem Buch oft und gern auf das Buch „Die Gnosis und der Nationalsozialismus“ (Harald Strohm), das der Religionswissenschaftler Holger Nielen in einer durchaus positiven Rezension als „Kaperfahrt durch die Philosophiegeschichte“ bezeichnete. Diese Beschreibung mag auch auf ihr Buch in Teilen zutreffen. Zwar ist Strohms Buch durch weitläufige Exkurse und einen assoziativen Stil ganz anders als Husmanns nüchtern-wissenschaftliche Untersuchung, aber beide durchschreiten die abendländische Geschichte mit einem etwas mehr als nur thematisch bedingten Tunnelblick. Vom Beginn des dualistischen Denkens im alten Griechenland bis zum rassen- und geschlechtertheoretischen Schwarzweißdenken in aktuellen Symbollexika scheint sich eine kontinuierliche, ungebrochene und – in sich – logische Beziehung aufzubauen. Die beurteilt Husmann durchweg kritisch. Aber statt zu zeigen, wo und an welcher Stelle Irrtümer diese Konstrukte aufbauten und verstärkten, präsentiert sie scheinbar nur lauter Plausibilitäten: Vom Anfang eines abstrakten, körperunabhängigen „Reich des Wortes“ durch die Erfindung der „atomisierten“ Konsonanten- und Vokalschrift im Alten Griechenland bis zu Steiners befremdlicher Vorstellung, der vergeistigte Mensch zukünftiger kosmischer Perioden werde Nachkommen ebenfalls körperlos aus den Sprechorganen (er)zeugen – nach der Lektüre des Buches scheint zwischen alledem eine zwar unendlich bedrückende, aber existenziell mit abendländischer Philosophie, aufklärerischem Humanismus und neuzeitlicher Wissenschaftsgeschichte verflochtene Traditionskette zu stehen.

VI. Antike Philosophie

Dem ist aber keineswegs so – schon zu Beginn von Husmanns Darlegung ließen sich auch zahlreiche Gegenentwürfe finden: In der griechischen Philosophie. Sie führt Platon und dessen Zwei-Welten-Theorie an – zweifellos dualistisch, doch ging es Platon in seiner Ideenlehre auch um die erkenntnistheoretische Überwindung der „Kluft“ zwischen abstrakten, ewigen, unentstandenen „Ideen“ und konkreter, in ständiger Veränderung begriffener Materie: Im „Liniengleichnis“ (Politeia VI, 509-510) führt Platon aus, dass nicht nur durch abstrakte Schau begnadeter Philosophen die „Ideenwelt“ zu erreichen sei, sondern auch empirisch durch analoge Bildungen der Natur. Auch hat Platon in seinem Dialog „Theätet“ immerhin einmal den Vorschlag gemacht, Ideen nicht als ontologisch höhere Strukturen von Wirklichkeit, sondern als mentale Strukturen zu erfassen. Und Husmann vergisst drittens zu erwähnen, dass Platon, anders als sein Schüler Aristoteles, von einer gleichen mentalen Befähigung bei Männern und Frauen (zumindest in seinem utopischen „Philosophenstaat“) ausging. Und wenn auch Aristoteles Urheber oder zumindest erfolgreicher Propagandist jenes leidigen Philosophems von den erkenntnisfähigen, „geistigen“ Männern und irgendwie unschöpferischen, da rein materiell-irdisch dominierten Frauen war, so war er doch auch der wahrscheinlich erste, der die  Bedeutungslosigkeit unterschiedlicher Hautpigmentierungen aussprach:

„…zum Beispiel befußt und beflügelt bringt Artverschiedenheit hervor, weiße und schwarze Farbe dagegen nicht. Vielleicht liegt der Grund darin, dass jenes eigentümliche Affektionen der Gattung sind, dieses aber weniger. Und indem nun etwas teils Begriff [logos] ist, teils Stoff [hyle], so bringen die den Begriff treffenden Gegensätze Artunterschiedenheit  [diaphorà eídei] hervor, die mit dem Stoff zusammengefassten dagegen nicht. Daher bringt weiße und schwarze Farbe keine Artverschiedenheit hevor, und der weiße Mensch steht zu dem schwarzen nicht in einer Unterschiedenheit der Art nach, auch dann nicht, wenn man für jeden einen Namen setzt. Denn der Mensch ist hier nur als Stoff genommen, der Stoff aber bewirkt keinen Unterschied; deshalb sind ja auch die einzelnen Menschen nicht Arten des Menschen … also ist der Mensch nur in akzidentellem Sinne weiß. … zwischen dem weißen Menschen und dem schwarzen Pferd besteht eine Verschiedenheit, und zwar eine Artverschiedenheit, aber nicht insofern, als der eine weiß, das andere schwarz ist; denn sie würden ebensogut der Art nach verschieden sein, wenn beide weiß wären.“ (Aristoteles: Metaphysik,  Buch 10, IX, 1058a ca.35 – 1058b ca.22; Übersetzung von Hermann Bonitz)

Aristoteles – nicht gerade Antisexist, aber auch Urheber der „ersten antirassistischen Sätze in der Geschichte“ (Christian Delacampagne)

Auch die an einer Stelle (S. 70) erwähnten Stoiker waren nicht die Propheten einer körperlosen, „samenhaltige[n] Weltvernunft“ [Hans Leisegang], sondern fassten die Welt in einem materialistischen Monismus als geschlossenen Mechanismus auf, in dem die „Weltvernunft“ mit einem periodisch wiederkehrenden „Weltenbrand“, einer Art „Urfeuer“, aus dem alles besteht und in das sich auch alles allenthalben aulöst, in Eins gesetzt wird. Auch das ist alles andere als eine dualistische Konstruktion, wenngleich das Feuer auch als „logos“, „Zeus“ oder „Seele“ bezeichnet wird. Gänzlich unerwähnt bleibt bei Husmann auch der Atomismus Epikurs.

Husmanns Diagnose ist insgesamt völlig richtig, doch weder die antike Philosophie noch Gnosis oder frühes Christentum sind derart kontinuierlich und bruchlos dualistisch und von Schwarzweiß-Motiven durchtränkt, wie es ihre Untersuchung suggeriert. Andererseits: Hätte Husmann jeden Pfad der Geistesgeschichte auch auf ihrer These widersprechende Gedankengebäude abgeweidet, wäre eine mehrbändige Geschichte der Philosophie entstanden und eben nur partiell eine Analyse der nunmal präsenten Schwarz-Weiß-Symboliken. Und an einigen Stellen nennt Husmann auch Farbsymboliken, die einer durchweg negativen Wertung der Farbe Schwarz widersprechen, wie die Schöpfungsvision der Kabbala oder den Kult der „Schwarzen Madonna“. Dass Husmann im Zusammenhang mit dem Letzteren schreibt, „die Templer und Katharer verbanden die schwarzen Madonnen schließlich mit dem Gralskult“ (S. 92), womit sie selbst esoterischen Traditionskonstrukten des 19. Jahrhunderts auf den Leim geht, ist eine ungewollt komische Pointe.

VII. Kontexte

Esoterischer Rassismus

Nach ihrer Darstellung von verschiedenen Explikationen der Steinerschen Rassenmodelle folgert Husmann:

„Steiner war – verglichen mit selbst erklärten ‚politischen‘ Antisemiten und Rassisten seiner Zeit – kein antisemitischer und rassistischer ‚Scharfmacher‘ [Zitat Helmut Zander – AM], seine problematischen Thesen zum Judentum und zu ‚Menschenrassen‘ werden aber nicht durch den historischen Zeitgeist erklärt, sondern lediglich ansatzweise erklärbar. Eine historische Auseinandersetzung mit Steiners Rassentheorie/n verdeutlicht dabei einerseits die Spezifik spiritualistisch-biologistischer Rassismen, zeigt andererseits aber auch, dass eine absolute Trennung zwischen Rationalität und Irrationalität, zwischen Wissenschaft und Religion, die historische Genese des ’naturwissenschaftlichen‘ Rassenkonzepts verkennt.“ (S. 354 – Hervorhebung AM)

Der letzte Satz gehört sicher zu den „spannenderen“ des gesamten Buches, die vorangehende Bemerkung aber, Steiners „spiritualistisch-biologistischer“ Rassismus werde in seiner spezifischen Form historisch allenfalls ansatzweise erklärbar, verdient, finde ich jedenfalls, eine längere Ausschweifung meinerseits. Übrigens steht Helmut Zander, auf den Husmann sich hier beruft, auf einem anderen Standpunkt:

„Steiner ist ein Kind seiner Zeit, nicht nur hinsichtlich der Evolutionstheorie. Was und wie er dachte, ist dem Horizont der Jahrzehnte um 1900 verhaftet, seine Rassenlehre ist dafür nur ein Beispiel. Aber die Konsequenzen sind, potentiell dramatisch, partiell durchaus entlastend: Steiners Rassenvorstellungen sind kein Sondergut der Anthroposophie, sondern fluidaler Zeitgeist, den Steiner mit vielen teilte. Und schaut man genau hin, realisiert man, daß er nicht zu den Scharfmachern seiner Zeit gehört. In Rassenfragen gibt es um 1900 weit Übleres. Wenn man also anthroposophischerseits anerkennen würde, daß Steiner seiner Zeit verhaftet war, könnte man seine Vorstellungen historisieren, dadurch relativieren und hätte sie entschärft – und hätte einen schweren Stein von der Anthroposophie genommen. Seine Rede von den ‚degenerierten‘ und ‚zukünftigen‘ Rassen könnte man als Positionen lesen, die um 1900 plausibel waren und sogar ,progressive‘ Dimensionen beinhalteten, etwa in der Kritik an den deterministischen Vererbungslehren. Aber das aktuelle Werturteil müßte anders lauten: Steiner hat Positionen vertreten, die wir heute für nicht mehr akzeptabel halten – Steiner hat insoweit geirrt.(Zander: Rudolf Steiners Rassenlehre, in: Uwe Puschner/ G. Ulrich Großmann (Hg.): Völkisch und National – Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 151)

Von den Quellen, aus denen Steiner seine Rassentheorien bezog, hat Husmann den Mediziner Carl Gustav Carus neu ins Spiel gebracht, der religionstypologisch übrigens selbst als Esoteriker und Propagandist einer romantischen, „stark spekulative[n] und weniger prophetische[n] Theosophie“ des 18. Jhdts einzuordnen wäre (vgl. Kocku von Stuckrad: Was ist Esoterik? Eine kurze Geschichte des geheimen Wissens, München 2004, S. 156, 168, 178f.). Sie erwähnt im Anschluss an Quellenbelege Zanders außerdem William Scott-Elliot, dem Steiner seine Details über Rassen auf „Atlantis“ verdankt (The Story of Atlantis) sowie das „Wurzelrassenmodell“, das Steiner von der Okkultistin Helena Blavatsky übernommen, „jedoch um einigen Detailreichtum ergänzt“ habe (S. 267 – eigentlich hat Steiner es erheblich verkürzt und systematisiert). Außerdem wird mehrfach auf „zeitgenössische Deszendenztheorien“, den Darwinisten Ernst Haeckel etc. verwiesen. Aus diesen Quellen ist, wie sie schreibt, das deutlich dualistische Muster tatsächlich nur zum Teil erklärbar: Degenerierende „Rassen“ gibt es auch bei Haeckel, aussterbende Indianer und die Trias von „Weißen, Gelben, Schwarzen“, auch bei Blavatsky. Die Vorbilder Steiners bei der Zuordnung von Christus zum „Weiß-Sein“ und dämonischer Mächte zu dunklen Hautfarben findet Husmann bei beiden aber trivialerweise deshalb nicht, weil Steiner sie weder von Blavatsky noch von Haeckel hat. Eine Vortragsreihe Steiners, die Husmann in diesem Zusammenhang zitiert, ohne aber ihrem Entstehungsumfeld nachzugehen, weist die Spur: GA 113: „Der Orient im Lichte des Okzidents – Die Kinder des Luzifer und die Brüder Christi“.

In dieser Vortragsreihe weiß Steiner von zwei Auswanderungsströmen zu berichten, die von dem untergegangenen mythischen Kontinent „Atlantis“ nach Indien führten: Ein „nördlicher Völkerstrom“ ging durch Europa, ein „südlicher“ durch Afrika. Der Nördliche wird von Steiner mit Christus assoziiert, der Südliche – wer ahnt es schon? – mit der Widersachermacht „Luzifer“, die auch ihr Scherflein zur Evolution beizutragen habe (und deren Rolle der nächste Abschnitt gewidmet ist). Steiner hielt diesen Vortragszyklus im schicken Prinzensaal des Café Luitpold in München. Zuvor war unter großem Brimborium das „Mysteriendrama“ „Die Kinder des Luzifer“ aufgeführt worden, auf das Steiner im Titel seines Vortragsreihe anspielte. Das Stück hatte der französische Esoteriker Edouard Schuré (1841-1929) geschrieben, der Steiners Leben und Werk auf mehrfache Weise beeinflusste. „Schurés Schrift über die Großen Eingeweihten aus dem Jahr 1889 hatte für Steiners Denken eine ebenso große Bedeutung wie dessen spirituelle Dramen für seine künstlerische Tätigkeit.“ (Heiner Ullrich: Rudolf Steiner, S. 62f.)

Schuré hatte nicht nur Steiners zweite Frau Marie von Sivers zur Theosophie gebracht, er sollte auch Werke Steiners ins Französische Übersetzen, während umgekehrt Marie Sivers diejenigen Schurés ins Deutsche übertrug. Für Schurés „Die Großen Eingeweihten“ schrieb Steiner selbst mehrermals Vorwörter, bevor sich Schuré im Ersten Weltkrieg wegen Steiners deutschnationaler Positionen von ihm abkoppelte. In den „Großen Eingeweihten“ fand Steiner einen „Masterplan der esoterischen Religionsgeschichte“ (Helmut Zander: Rudolf Steiner, S 155) vor, der „Eingeweihte“ und sich historisch ablösende kulturschöpferisch „Rassen“ enthielt. Aktuell war selbstverständlich die „weiße Rasse“ bedeutsam, die die Weltherrschaft „den Schwarzen“ abgerungen hatte. Schuré stellt nicht nur eine Schlüsselfigur für Steiners Werk dar, sondern schließt auch einen, neben der Theosophie Blavatskys, zweiten und Jahrzehnte vor Blavatskys Lehren zurückreichenden Traditionsstrang esoterischer Rassentheorien auf. Anders als Steiner, der seine Quellen wo möglich vertuschte – worüber sich schon Theosoph_innen zu seinen Lebzeiten beschwerten (Norbert Klatt: Theosophie und Anthroposophie, Göttingen 1993, S. 82ff.) – führte Schuré in Fußnoten mit Quellenangaben Bücher des Okkultisten und Martinisten Antoine Fabre d’Olivet an.

Fabre d'Olivet (1767-1825)

Fabre d’Olivet (1767-1825)

Der Linguist und Fälscher Fabre hatte 1822, 66 Jahre vor Blavatskys Secret Doctrine, sein Buch „De L’etat social d’homme“ veröffentlicht. Als das sich schlecht verkaufte, legte er es unter dem Titel „Histoire Philosophique du genre humain“ neu auf – und landete einen gewaltigen Erfolg. In dem zweibändigen Werk wird beschrieben, dass die Kulturgeschichte von sich nacheinander verdängenden „Menschenrassen“ dominiert werde. Das von Linné erfundene Schema der vier Hautfarben (Husmann, S. 154ff.) transponierte er in ein evolutionäres Muster. Begonnen habe alles mit der „Roten Rasse“, die mit dem Untergang der mythischen Insel Atlantis vernichtet wurde. Anschließend herrschte die „schwarze Rasse“, während am Nordpol die lichte „weiße Rasse“ aus dem Kosmos herabstieg. Auf wenigen Seiten schreibt sich Fabre die Kulturgeschichte und die abendländischen Mythologien so zurecht, als habe er Husmanns Theorien darüber präzise als Konstruktionsvorlage genommen: Kulturelle Menschwerdung Gottes in der „weißen“, Verkörperung des Schlechten, Niederen in der „schwarzen Rasse“.

„La race noir a pris certainement naissance dans le voisinage de la ligne équatoriale, et s’est répandue de là sur le continent africain d’ou elle a étendu ensuite son empire sur la terre entière et sur la Race blanche elle- même, avant que celle-ci eût la force de le lui disputer. Il est possible qu’à une époque très reculée, la Race noire se soit appelée sudéenne ou suthéenne, comme la Race blance s’est nommée borénne, ghiboréenne ou hyperboréenne [die Hyperboräische Wurzelrasse der Theosophen deutet sich an – AM]; et que delà soit venue l’horreur qui s’est généralement attachée au nom de Suthéen, parmi les nations d’origine blanche. On sait que ces nations ont toujours placé au sud le domicile de l’Esprit infernal, appelé par cette raison Suth ou Soth par les Egyptiens, Sath par les Phéniciens et Sathan ou Satan par les Arabes et les Hébreux.“ (Fabre d‘ Olivet: Histoire philosophique du genre humain ou L’homme Considéré sous ses rapports religieux et politiques dans l’État social, à toutes les époques et chez les différens peuples de la terre, Paris 1824, Tome II, S. 70f.)

Und für alle, die Französisch noch weniger verstehen, als ich (wobei ich die pseudolinguistischen Verballungen von sud und nord in der Originalformen lasse):

„Die schwarze Rasse wurde sicherlich in der Nähe der Äquatorlinie geboren und verbreitete sich von dort über den afrikanischen Kontinent, von dem aus sie anschließend ihre Macht über die ganze Welt ausbreitete, ja sogar über die weiße Rasse selbst, bevor diese die Kraft hatte, sie ihr streitig zu machen. Es ist möglich, dass die schwarze Rasse in einer sehr weit zurückliegenden Epoche sudéenne oder sutéenne hieß, so wie die wie die weiße Rasse sich boréenne, ghiboréenne oder hyperboréenne nannte; und dass daher das Grauen kommt, das dem Namen des Suthéen unter den Nationen weißen Ursprungs anhaftet. Man weiß, dass diese Nationen im Süden immer die Wohnstätte des höllischen Geistes darstellten, weshalb sie von den Ägyptern Suth oder South genannt wurden, von den Phöniziern Sath und Sathan oder Satan von den Arabern und Hebräern.“

Sogar der nicht eben steinerkritische anthroposophische Journalist Lorenzo Ravagli erwähnte Fabre d’Olivets Schinken negativ, allerdings behauptete er fälschlich, dass dieser „den Ariermythos in Form eines ewigen Kampfes der weißen gegen die schwarze und gelbe Rasse erzählt“ (Ravagli: Unter Hammer und Hakenkreuz, Stuttgart 2004, S. 376) und übersah damit offenbar die evolutionäre Dimension dieses Unterfangens in Fabres Schriften.

Fabres Zuordnung des Teufels zur schwarzen „Rasse“ und die umgekehrte Vergottung der „Weißen“ findet sich en detail, wenn auch in abgeschwächter Form und ihrer pseudo-etymologischen Herleitung entkleidet, bei Schuré wieder:

„In prähistorischer Zeit eroberten die Schwarzen den Süden Europas und wurden durch die Weißen von dort vertrieben. In den Volksüberlieferungen erinnert nichts mehr an sie. Dennoch haben sie zwei Spuren hinterlassen: Den Schrecken vor dem Drachen, dem Attribut ihrer Könige, und die Vorstellung, dass der Teufel schwarz ist. Sie erwiderten diese Schmähung, indem sie den Teufel weiß machten…. Trotz seiner körperlichen Widerstandskraft  und … Bindungsfähigkeit bedeutete Religion für dieses Volk die Herrschaft der Macht durch Furcht.“ (Edouard Schuré: Die Großen Eingeweihten (1889), Grafing 2010, S. 28, Übersetzung von Dr. Edith Zorn)

Und wiederum abgeschwächt findet sich Schurés Vorstellung in Steiners erwähntem Vortragszyklus. Schon in dessen von Schurés Theaterstück angeregten Untertitel – „Die Kinder Luzifers und die Brüder Christi“ – schwingt die rassische Schwarz-Weiß-Polarität deutlich mit, auch in Steiners auch bei Husmann (auf S. 282) zitierten Zeilen:

„So war Luzifer sozusagen eingezogen in der südlichen Völkerströmung in die Menschheit, so war Christus eingezogen in der nördlichen Völkerströmung, beide in Gemäßheit [sic] des Charakters dieser Völkerströmungen. Und wir leben in der Zeit, in der sich diese beiden Völkerströmungen miteinander verbinden müssen, wie die männlichen und weiblichen Befruchtungssubstanzen…“ (GA 113, 1982, S. 107 – vgl. Steiners drastischere Formulierungen in GA 174b, 1. Vortrag. Anzumerken ist, dass Steiner Luzifer allerdings nicht durch schwarz, sondern durch Licht bzw. allenfalls eine rote Farbe symbolisiert sah. Der dualistische Ursprung dieser Luzifer – Christus-Polarität wird also verwischt.)

spirituell überbaute Völkerwanderungskonzepte: die Anthroposophie steht hier in der Tradition des französischen Martinismus

Nicht nur Schuré und Steiner übernahmen Fabres Thesen, auch Helena Blavatsky, auf die die Deutung der Weltgeschichte als Staffellauf diverser schöpferischer (Wurzel-)“Rassen“ heute meist fälschlicherweise zurückgeführt wird, kannte seine Bücher nachweislich, lobte ihn bei mancher Gelegenheit (vgl. Blavatsky: The Kabalah and the Kabalists) und hat sich offenbar daraus bedient: Auch bei Blavatsky sind „die Roten“ Überbleibsel der Atlantier und sterben aus, auch bei ihr sind „Gelbe, Schwarze, Weiße“ die Rassentypen unserer Tage – und unter ihnen „die Weißen“ entwicklungstechnische Avantgarde.

Von Blavatsky und Fabre gleichermaßen bediente sich Joseph-Alexandre Yves d’Alveydre, ebenfalls Martinist, vergessener Erfinder der von Steiner propagierten „Sozialen Dreigliederung“ und ebenfalls zuhauf in den Fußnoten von Schurés Großen Eingeweihten zu finden. Dieser arbeitete neben der evolutionären Rassentheorie den bis heute in völkischen Kreisen attraktiven Mythos des tibetischen Unterweltreichs „Agartha“ aus (Nicholas Goodrick-Clarke: Im Schatten der Schwarzen Sonne (2005), Wiesbaden 2009, S. 231f.). Ein Schüler D’Alveydres wiederum, Steiners Zeitgenosse und zeitweiliger Leiter der Französischen Theosophischen Gesellschaft, Papus (i.e. Gerard Encausse), von dem Steiner Schriften in seiner Bibliothek hatte, widmete sich dem Studium der Kabbalah und wird in diesem Zusammenhang in Husmanns Buch zitiert. Eine erstaunliche und erfreuliche Wahl, da die Martinistische Tradition in der Esoterikforschung scheinbar bisher fast konsequent übersehen wurde. Husmann zitiert aus Papus‘ Version der Kabbala und zeigt auf, wie er diesem im gnostisch-esoterischen Diskursfeld ungewöhnlichen Text nachträglich idealistische und geschlechtssymbolische Züge verstärkt einschrieb (S. 116ff.). Irritierenderweise übergeht Husmann allerdings, dass Papus in der von ihr zitierten Einführung in die Kabbala ebenfalls die Rassentheorie Fabres wieder aufwärmt, was für ihre Arbeit auch deshalb relevant gewesen wäre, weil er sie in Beziehung zu Kabbalah setzt. Zwei Kostproben:

„Als die Katastrophe, die Atlantis verschlang, sich vorbereitete, eine Katastrophe, die in allen Religionen als allgemeine Sintflut bekannt ist, ging raschen Schrittes die Zivilisation auf die schwarze Rasse über, der auch die Überlebenden der roten Rasse ihre Geheimlehre [die der Kabbala – AM] übermittelten. Als endlich die Schwarzen die höchste Stufe ihrer Zivilisation erreicht hatten, entstand ein neuer Kontinent (Eurasien) und mit ihm die weiße Rasse, die ihrerseits die Suprematie über den Planeten erwerben sollte.“ (Die Kabbala von Papus, übersetzt von Julius Nestler, Wiesbaden 2004[Husmann zitiert eine Ausgabe von 1994 – AM], S. 169)

„Aber mehr noch – gewisse heute noch dunkle Probleme der Entwicklungstheorie unter ihnen die Farbenverschiedenheit der Menschenrassen, können hier wertvolle Aufklärungen  finden, die heute noch der offiziellen Wissenschaft unbekannt sind.“ (ebd., S. 170 – kursiv bei Papus)

Papus stellt hier das in der jüdischen Kabbala gesammelte „Wissen“ als von „Rasse“ zu „Rasse“ überliefertes und jeweils aktualisiertes Erbe dar, ähnlich wie die „Meister“ Blavatskys und die „Eingeweihten“ Schurés und Steiners.

Wie weit Steiner die martinistischen Theoreme verinnerlichte, ist noch unklar, er hatte allerdings mehrere einschlägige Schriften in seiner Bibliothek (Das Mysterium des Bluthügels). Außerdem ließ er  Schriften des Namensgebers der martinistischen Freimaurerei, Louis-Claude de Saint-Martin (1743-1803), den er mehrfach positiv erwähnte, 1921/22 im anthroposophischen Verlag „Der Kommende Tag“ neu auflegen (Gerhard Wehr: Jakob Böhme: Ursprung, Wirkung, Textauswahl, Wiesbaden 2010, S. 186f. – der Esoterikforscher und lutheranische Theologe Wehr, den Zander, S. 476, den „Vater der kritischen Steinerforschung“ nannte, ist in der Quellenarbeit mit erstaunlicher Zuverlässigkeit auch hier immer eine Spur voraus).

Hervorgehoben sei, dass Edouard Schurés Buch Die großen Eingweihten sich nicht nur auf Literaturlisten für Waldorflehrer_innenseminare befand (vgl. dazu kritisch Die Atlantis-Debatte), sondern in einem bis heute von der Pädagogischen Sektion am Goetheanum und der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen in einer Publikation „Zur Unterrichtsgestaltung im 1. bis 8. Schuljahr an Waldorf-/Rudolf Steiner Schulen“ (Dornach 1996) an einer Stelle als Unterrichtsgrundlage empfohlen wird. Und zwar für den Geschichtsunterricht in der 5. Klasse, in der „durch das Erzählen von Krishnas Leben … etwas von der Stimmung“ des vedischen Indien vermittelt werden soll (S. 138). Und dafür wird auf Schurés Charakterisierung Krishnas in den „Großen Eingeweihten“ verwiesen. Dort wird Krishna als „erste[r] Messias, der älteste der Söhne Gottes“ (Schuré, a.a.O., S. 63) gefeiert, der das „arische“ Erleuchtungslicht in Indien entzündete, wohin es der Held „Rama“ (aus dem hinduistischen „Ramayana“) aus Atlantis gebracht und gegen eine schwarzhäutige Urbevölkerung von Halbaffen verteidigt habe.

http://vamg.ch/shop/index.php/padagogik/grundlagen/zur-unterrichtsgestaltung-im-1-bis-8-schuljahr-an-waldorf-rudolf-steiner-schulen.htm

Relevant wäre im Kontext theosophischer Neognosis auch das 1902 erschienene Buch „Die Gnosis“ von Blavatskys engem Mitarbeiter George R.S. Mead, der er sich freilich auch nicht nehmen ließ, die theosophische Rassenlehre in aller Deutlichkeit in seinem Werk anzuführen und zur Herleitung der historischen spätantiken Gnosis zu nutzen. Auch Steiners Schüler und Plagiator Max Heindel (i.e. Carl-Louis Grasshoff) sowie dessen Schüler Jan v. Rijckenborg (i.e. Jan Leene), der die theosophische Kosmogonie dezidiert gnostisch-weltfeindlich umschrieb, wären ergiebige Forschungsgegestände. Schließlich ließe sich auch in den symbolisch-kosmischen Personifizierungen der frühneuzeitlichen „Rosencreutzer-Manifeste“ so einiges an einschlägigen Motiven finden: Etwa die Rolle des mordenden „Mohren“ in der Chymischen Hochzeit Christiani Rosencreutz

Die Geschichte des Esoterischen Rassismus ist noch ungeschrieben. Es stünden allenfalls die Schlusskapitel, betreffend Blavatsky und die Prominenten unter ihren Nachfolger_innen (zu denen ich hier auch Steiner zähle), sowie die aggressiven „ariosophischen“ Rassist_innen des späten 19. und des 20. Jahrhunderts (vgl. die Arbeiten von Nicholas Goodrick-Clarke) und die Wirkungen in lebensreformerischen und New Age-Kreisen in eben diesem Zeitraum. Husmann hat mit ihrer Untersuchung von Carus und ihrer Thematisierung v.a. geschlechtssymbolischer Wertungen in Steiners Rassentheorie wichtige Details kartiert, aber leider andere der deswegen hier erwähnten Diskursfelder nicht einmal angeschnitten, obwohl sie die betreffenden Personen (z.B. Papus) durchaus erwähnt. Andererseits: Wäre, wie oben schon gesagt,  jeder verzweigte Nebenpfad, der zu dichotomen, mythologisch aufgeladenen Rassebildern führte, von ihr kartiert worden, hätte die Druckfassung der Dissertation wahrscheinlich mehrere Bände umfasst. Vielleicht dürfen wir uns aber irgendwann auch über eine ergänzende Habilitationsschrift freuen.

VIII.Ahriman und Luzifer:

Zu Steiners „Typologie des Bösen“

Husmann beschreibt die anthroposophische Evolutionslehre als eine „neognostische“ und entsprechend selbst als dualistisch. Der böse Dämon „Ahriman“ stehe als finsterer Pol, als „Herz des Materialismus“ Christus, dem lichten Geist der Weisheit und durchgeistigten Wissenschaft entgegen. Die Tendenz deutet sich an, aber de facto präsentierte Steiner den Dämonen Ahirman erst 1909, nachdem er schon neun Jahre Theosophie mit dem Anspruch auf spirituelle Wissenschaftlichkeit getrieben hatte.

Vorher trieb „nur“ ein böser Geist in Steiners Kosmologie sein Unwesen, und der hieß Luzifer. Steiner hatte ihn, tatsächlich in der Tradition neognostischer Betrachtungen, ursprünglich nur als „Lichtbringer“ (und nicht als finstere Gestalt) eingeplant. Er gab in seinen frühen theosophischen Jahren sogar eine Zeitschrift heraus, die Luzifer hieß, erst später erklärte Steiner diesen zum bösen Geist: „So weit war damals der Inhalt der Anthroposophie noch nicht ausgebildet“ (Steiner, GA 28, Dornach 2000, S. 315). Und nicht als vollständiger Bösewicht, sondern als „notwendiges Gegenprinzip“ zu Christus erschien auch der zum Dämon degradierte Luzifer anfangs. Steiner fabulierte über ihn als denjenigen, der die Menschen in der Bewusstseinsgeschichte vom Göttlichen abgelenkt und damit die evolutionäre Grundlage von „Freiheit“ geschaffen habe. Erst allmählich deutete sich in Steiners Denken die Rolle an, die später dem von Husmann so zentral gestellten Ahriman zufiel: 1905 erschien Jehova, den Steiner mit deutlich antijüdischer Konnotation als Herrscher eines „Vor-ich-haften“, „alttestamentarischen“, aber evolutionär notwendigen „Gruppenbewusstseins“ beschrieb, welches erst durch den liebenden, „ich-haften“ Christus abgelöst worden sei. Vor dem Kommen Christi seien allerdings Jehova und Luzifer Antagonisten und „in einem fortwährenden Kampfe“ gewesen: Ohne das korrigierende „Luziferprinzip“ wäre die Menschheit mit Jehova „der Erde verfallen“ und letztere zu „einem versteinerten Planeten“ geworden (GA 93a, Dornach 1987, S. 188f.).

1908 tauchte ein neuer böser Geist aus der babylonischen Mythologie, „Sorat“, diesmal als ernstzunehmender Widerpart Christi auf (GA 104), verschwand aber schnell wieder von der Bildfläche. 1909 dann installierte Steiner plötzlich den zoroastrischen „Erzverpester“ Ahriman und präsentierte ihn als Gegenspieler zu dem luftigen, somnambulen Lichtdämonen Luzifer – die beiden stünden sich gegenüber wie Tag und Nacht, Fühlen und Denken, „Philistertum“ und Schwärmerei, Geist und Materie, erklärte Steiner religiös verzückt. Christus, fleischgewordenes Wort und geistgewordener Leib, sei quasi die dialektische Aufhebung und Ergänzung der beiden. Steiner präsentierte jedenfalls „den“ Christus als den Überwinder des Dualismus:

„Der Mensch hat fortwährend die Gleichgewichtslage zwischen diesen beiden Mächten anzustreben, zwischen demjenigen, das ihn hinausführen möchte über sich selbst, und demjenigen, das ihn herabziehen möchte unter sich selbst. … Dieser Dualismus, der in Wirklichkeit ein Dualismus ist zwischen Luzifer und Ahriman, dieser Dualismus spukt im Bewußtsein der modernen Menschheit als der Gegensatz zwischen Gott und dem Teufel. Und das ‚Verlorene Paradies‘ müßte eigentlich aufgefaßt sein als eine Schilderung des verlorenen luziferischen Reiches, es ist nur umgetauft.“ (GA 194, Die Sendung Michaels – die Offenbarung der eigentlichen Geheimnisse des Menschenwesens (1919), Dornach 1994,  S. 164f.)

„Der Mensch muß den Weg finden zwischen dem Lichte und der Schwere, zwischen Luzifer und Ahriman, und deshalb müssen wir die Möglichkeit haben, nicht in irgendeinem Dualismus zu denken, sondern in der Trinität zu denken. Wir müssen die Möglichkeit haben zu sagen: Die persische Dualität Ormuzd und Ahriman ist heute Luzifer und Ahriman, und der Christus steht in der Mitte drinnen, der Christus ist derjenige, der das Gleichgewicht bewirkt. – Nun hat alle religiöse Entwickelung bisher, insbesondere die theologische, eine sehr verderbliche Gleichung aufgestellt, sie hat die Christus-Figur so nahe als möglich an die Luzifers herangebracht. Es ist fast ein Wiederauferstehen des altpersischen Ormuzd, wenn man erlebt, wie heute von Christus gesprochen wird. Man denkt nur immer die Dualität, also das Böse im Gegensatz zum Guten.“ (GA 342, Vorträge und Kurse über religiöses Wirken (1921), Dornach 1993, S. 160f.)

Für Husmanns Darstellung der nichtsdestominder vorhandenen Dualismen bei Steiner, wäre es durchaus zumutbar gewesen, auch diese komplexere Mythologie zu berücksichtigen. Luzifer taucht zwar an drei oder vier Stellen in ihrem Buch auf, u.a. wird Ahriman in einer Fußnote als „Ausdifferenzierung des luziferischen Prinzips“ beschrieben (S. 249), was auch immer das heißen soll, aber es wird an keiner Stelle gerechtfertigt, warum Husmann diesen Komplex aus ihrer Analyse vollständig ausklammert. Sie zitiert in ihrem Kapitel „Ahriman: Geist der materialistischen Wissenschaft“ zwar lediglich Quellen ab 1909, also nach Steiners Etablierung von Ahriman in seiner Theosophie, behauptet aber fälschlich, Steiner habe „bereits 1907“ von ahrimanischen Geistern gesprochen (S. 250), die Quellenangabe dazu nennt einen Vortrag Steiners „vom 09.10.1907“ – tatsächlich stammen die Zitate aber aus einem Vortrag vom 09.10.1918 (GA 182, S. 151), als Steiner das Paar Luzifer-Ahriman schon länger in Gebrauch hatte.

Aquarell Rudolf Steiners mit dem Titel „Licht und Finsternis (Luzifer und Ahriman)“

Warum diese Umdisposition zu einer trinitarischen Vorstellung für Husmanns Untersuchung relevant gewesen wäre, zeigt sich bei einer der Lektüre von Steiners rassentheoretischen Ausführungen um das Jahr 1909. Denn diese durchlaufen denselben konzeptionellen Transformationsprozess. In das Zeitfenster 1909/10 fallen just die beiden Steiner-Bücher, die im erwähnten BPjM-Verfahren relevant waren. Beide werden von Husmann ausführlich analysiert und interpretiert, ich empfehle dazu deshalb ihren Text und begnüge mich damit, die Parallele zur erläuterten Trias Ahriman-Christus-Luzifer aufzuzeigen:

–  In einem Vortrag am 03.05.1909 plauderte Steiner über den Untergang von Atlantis und die Menschen-„Rassen“, die diese Katastrophe überlebten. Dabei gab es seiner Vorstellung nach grob drei Gruppen: Erstens solche mit zu starkem Ich-Gefühl, die so egoistisch waren, dass das im Blut wirkende Ich sich rot auf ihrer Haut ausgeprägt habe – sie waren daher entwicklungsunfähig und degenerieren seitdem als „rote Rasse“ der „Indianer“. Umgekehrt seien nach Osten Menschen mit zu schwachem Ich-Gefühl ausgewandert. Sie hatten ihren Umwelteinflüssen nichts entgegenzusetzen, waren ganz an die „äußere“ physische Umgebung hingegeben und absorbierten so viel Sonne, dass sie schwarz wurden: Die „Neger“. Zwischen beiden Extremen, den Dualismus ausgleichend, standen die weißen Europäer: „Nur diejenigen, welche im­stande waren, die Balance zu halten in bezug auf ihr Ich, das waren die, welche sich in die Zukunft hinein entwickeln konnten.“ (Steiner: Geisteswissenschaftliche Menschenkunde, GA 107, 1973, S. 292)

–   In einem Vortrag vom Juni 1910, Steiner befand sich gerade in einem Konkurrenzkampf mit der Theosophin Annie Besant (Beide schlugen sich in halbmonatigem Abstand komplexere okkulte Theoreme, v.a. Christus betreffend, um die Ohren) verkomplizierte Steiner strategisch auch seine Rassenlehre. Er erweiterte sie um in seinem Buch „Geheimwissenschaft im Umriss“ eingeführte Planetenspekulationen und seitenweise Übernahmen aus dem „Geheimbuddhismus“ (1883) des Theosophen A.P. Sinnet. Der hatte behauptet,

„es giebt Ähnlichkeiten zwischen dem Leben eines Volkes und dem des Einzelnen“. Der einzelne durchlaufe Kindheit, Jugend, Erwachsenen- und Greisenalter und „Das Gleiche gilt für die Völker … Es giebt eine Geometrie, welche auf die Völker die Gleichung ihrer Entwicklungskurve anwendet. Daran kann kein Sterblicher rütteln.“ (Sinnet: Esoterische Lehre oder Geheimbuddhismus, dt. Leipzig 1884, S. 76).

Steiner grenzte sich zwar im Vortrag vom 10.06.1910 von Sinnet ab, reproduzierte aber im selben Vortrag genau dessen „Völkergeometrie“: Von Afrika durch Asien und Europa nach Amerika ziehe sich eine „Linie“, an der die Altersstufen sortiert seien, mit Afrika am Kindheits-, Amerika am Vergreisungspol. Sprich: Schwarze und Asiaten sind kindlich-jugendlich und „Indianer“ gingen zugrunde, weil sie an dem Ende der geographischen Linie sitzen, die den Todespol darstellt. Europa liege in der Mitte und sei folglich im Kräfteausgleich – „auffrischende“ Jugendkräfte und leibliche „Bildsamkeit“ im Osten sowie ersterbende „Rassenkräfte“, aber dafür hohe mentale Leistungen im Westen (vgl. GA 121, S. 83).

Auch in diesen Schilderungen zeigt sich die triadische Struktur: „Falsche“ Dichotomien in Ost und West würden untergehen, wenn sie nicht in der Mitte zu dem Maß haltenden „Europäern“ zusammenfließen würden Diese stehen nicht an oberster Stelle einer rassischen Stufenordnung (wie in Steiners frühtheosophischem Werk), sondern sind als Ausgleich auf „mittlerer“ Stufe gedacht. Bei Husmann lautet das Fazit (zuletzt kam sie auf die vergreisenden „Indianer“ zu sprechen):

„Über die spezifische Konstruktion des ‚Indianers‘ hinaus verweist die anthroposophische Formulierung einer physiologischen ‚Verknöcherung‘ auf eine übergeordnete Grundstruktur, die Steiners Rassenmodelle dem Konstruktionsmodus nach als Schwarz-Weiß-Struktur durchzieht. Diese Grundstruktur beschreibt eine Polarisierung von ‚weiß‘ versus ’nicht weiß‘ als neognostische Polarisierung Geist/Licht versus finstere, ‚verhärtete‘ Materie.“ (Husmann, S. 290)

Das stimmt zwar im Prinzip, wäre aber, um das konkrete Rassenmodell Steiners wiederzugeben, wie dargestellt durchaus zu ergänzen. Dadurch nämlich, dass „die Europäer“ das Gleichgewicht zwischen verknöchernden „Indianern“ und kindlich-weichen, nicht fertig verkörperten AsiatInnen und AfrikanerInnen darstellen sollen. Nicht zuletzt geht Husmann mit der Annahme, es gebe ein heterogenes Weltanschauungsgebäude Steiners sowie mit ihrem Anspruch „Wiederholungen und widersprüchliche Aussagen“ desselben zusammenfassend „zu glätten“ (S. 239), der 90jährigen anthroposophischen Dogmenausbildung und dem Versuch, Steiner widerspruchsfrei auslegen zu können, auf den Leim. Allerdings – und das muss ebenfalls gesagt werden – hat Steiner sehr wohl dualistische Zuordnungen in seiner Rassentheorie getroffen, etwa die oben länger behandelte in GA 113, als er Luzifer den afrikanischen Völkern und Christus Europa zuwies, und zwar in direkter historischer Abhängigkeit von Quellen, in denen ein dualistisches Konstruktionsmuster von Rassentheorien vorlag. Es dürfte schwer sein, dieses Dilemma aufzulösen. „Steiners Œuvre ist letztlich von einer nicht systematisierten oder hermeneutisch integrierten Ambivalenz gekennzeichnet, in der Unvereinbares und Widersprechendes stehengeblieben ist.“ (Zander: Sozialdarwinistische Rassentheorien) Husmanns Analyse ist demnach vielleicht um den Themenkomplex Ahriman-Luzifer und deren Relevanz für die Untersuchung von Steinerschen Dualismen zu ergänzen, aber das ändert nichts an der Richtigkeit ihrer sonstigen Darstellungen.

IX. Steiner umschreiben?

Bleibt nurnoch ein vierter Punkt. Eine Forderung Husmanns, die sie am Ende ihrer Kapitel, die die Anthroposophie betreffen, expliziert:

„Hierin liegt das grundlegende Dilemma Anthroposophie-interner Rassismus-, Eurozentrismus- und Nationalismus-Kritik, das sich letztlich nur durch erhebliche Umschreibung der Steinerschen ‘Geistesschau’ kosmologisch-geschichtlicher Abfolgen enthierarchisieren ließe…“ (Husmann, S. 355f. – Hervorhebung AM)

Ja, Steiners Kosmogonie hierarchisiert, und ab dem Punkt, wo in ihr „Rassen“ ins Spiel kommen, teilen auch diese sich flugs in entwicklungstechnisch „fortgeschrittene“ und „zurückgebliebene“ (wenn auch, wie gerade erläutert, mit Einschränkungen 😉 ). Aber wäre es sinnvoll, wenn Anthroposoph_innen sich auf eine überarbeitete Neuversion dieser kosmischen Geschichte einigten? Problem scheint mir auf anthroposophischer Seite vielmehr der Unwille zu sein, überhaupt Fehler im Steinerschen Theoriegebäude zuzugestehen und vor allem: auszuhalten. Eine Umschreibung seiner Schriften würde den einen universellen Offenbarungsapparat nur durch einen anderen, „netter“ zu Lesenden ersetzen, ohne den religiösen Dogmatismus aufzuweichen. Sofern das Festhalten an Steiners Rassismus das Festhalten aus Angst ist, weil das Gegenteil „den Einstieg in die Kritik von Steiners ‚höherer Einsicht‘ bedeuten würde.“ (Zander: Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, Bd. I, S. 637), würde am Grunddilemma durch diese „Umschreibung“ nicht gerüttelt. Authentischer sind Zeugnisse von Anthroposoph_innen, die in der Lage sind, trotz ihrer Wertschätzung Steiners (oder deswegen) seine rassistischen Theoreme ehrlich erschüttert zurückzuweisen.

Der Anthroposoph Ralf Sonnenberg, den auch Husmann des Öfteren in den Fußnoten führt, hat in Abgrenzung zu apologetischen Unternehmungen in einem Aufsatz (der erstmals 2003 in der anthroposophisch-tombergianischen Zeitschrift „Novalis“ erschien) ziemlich ungeniert das evolutionäre Dilemma zugestanden:

„Die Tatsache, dass Steiner bisweilen auch anerkennende Worte über den Animismus der Indianer, die »Naturgeistigkeit« der Afrikaner oder die »Tao-Religion« der Chinesen verlor, wie die Autoren Bader und Ravagli nicht müde werden zu betonen, markiert eine entscheidene Schwachstelle der sich geschichtsevolutionären Denkmustern verpflichtet fühlenden Anthroposophie: Folgt deren historisches Verständnis doch einer zutiefst eurozentrischen Binnenlogik, derzufolge außereuropäische Kulturen, selbst wenn sie über spirituelle Ressourcen beträchtlichen Umfangs verfügen, fast grundsätzlich »atavistisch« seien und sogar noch unter der materialistisch geprägten Zivilisation des modernen Europa rangierten, die immerhin eine Vorbereitungs- und Durchgangsstufe zur Entwicklung der »Bewusstseinsseele« darstelle. Die »arische« oder europäische hielt Steiner, der hieraus allerdings keine imperialen oder kolonialistischen Zielsetzungen ableitete, denn auch für die »zukünftige, da am Geiste schaffende Rasse«. Sie repräsentiert innerhalb seines Weltanschauungskosmos die »fünfte nachatlantische Kulturepoche«, deren Anfang er auf den Beginn der frühen Neuzeit datierte.“ (Sonnenberg: Vergangenheit, die nicht vergehen will)

Und auch ein Steiner-Herausgeber und Mitarbeiter des Rudolf Steiner-Verlags und -Archivs kann heute ausrufen:

„Ich begreife es nicht … Ich begreife ebenso wenig den Siebenundzwanzigjährigen, der dem ‚Judentum als solchem‘, dem ‚Geist des Judentums‘, der ‚jüdischen Denkweise‘, die Berechtigung ‚innerhalb des modernen Völkerlebens‘ abspricht, wie den Dreiundsechzigjährigen, der vor Arbeitern am zweiten Goetheanum daherplappert: ‚Derjenige, der ein Kenner ist, weiß in einem Satze, den ein Jude spricht: Da ist eine jüdische Stilisierung drinnen […].‘ In solchen Äußerungen fällt Steiner weit hinter sich selbst zurück und reiht sich in die graue Schar vorurteilsbehafteter Biedermänner, die maßgeblich dazu beitrugen, dass Theodor Herzl nach allen ‚Assimilierungsversuchen‘ entnervt feststellen musste: ‚Der Fluch haftet. Wir kommen nicht aus dem Getto heraus‘ und mit seiner Schrift Der Judenstaat den Grund zum Staat Israel legte.“ (Taja Gut: Wie hast du’s mit der Anthroposophie?, Dornach 2010, S. 127f., Auslassung und Kursivierung im Original)

Eine Steiner-Rezeption müsste her, die die eurozentristische Konstruktionslogik und deren rassistische Konkretionen in dieser Weise realisiert, zu benennen und zurückzuweisen weiß. Dass die möglich ist, haben jüdische Rezpient_innen der Anthroposophie, die in der zionistischen Bewegung, v.a. im Prager Zionismus um Martin Buber und die Ideen von Achad Haam engagiert waren, bereits vor Jahrzehnten gezeigt. Schmuel Hugo Bergman etwa, der sich in seinen religionsphilosophischen Überlegungen auf Steiner bezog, einige von dessen Schriften ins Hebräische übersetzte und eine Veranstaltung zu Steiners 100. Geburtstag an der Hebrew University Jerusalem organisierte (kritisch dazu Wolfgang Treher: Hitler, Steiner, Schreber – Gäste aus einer anderen Welt. Die seelischen Strukturen des schizophrenen Prophetenwahns (1966), Emmendingen, 1990, S. 40). In einem Tagebucheintrag vom vom 24. 5. 1965 – er hatte gerade die Zeilen gelesen, auf die der Autor des letzten Zitats, Taja Gut, bezugtnimmt  -„regelrecht verstört“ vermerkte:

„Nur freilich bleibt immer die Frage, wieso sich Steiner später als Seher gar nicht mit der Judenfrage befasste und bei der assimilatorischen Schablone der Wiener Durchschnittsjuden stehen geblieben ist. Muss uns das nicht skeptisch machen, gegen alles, was er sagt? Wo endet der Seher und wo beginnt der wirkliche Mensch Steiner mit seinen Vorurteilen?“ (zit. n. Ralf Sonnenberg: „…ein Fehler der Weltgeschichte“?)

Das war das richtige Wort der richtigen Person zur richtigen Zeit.

Möge diese Beunruhigung um sich greifen und die Zahl der Anthroposoph_innen wachsen, die eine Kontextualisierung und auch grundsätzlichen Hinterfragung Steiners nicht als „Verrat“, sondern als Chance begreifen (vgl. Robin Schmidt: Rudolf Steiner – Skizze seines Lebens, Dornach 2011, S. 111, 117f.). Bis dahin ist Husmann in ihrem Fazit unumwunden zuzustimmen:

„Fasst man Rassismus nicht nur als eine ‚Idee‘, die schnell ad acta gelegt werden kann, sondern als nach wie vor sozio-kulturelles Phänomen, so müsste die Rassismuskritik ihren Ausgangspunkt in einer dekonstruktivistischen Perspektive nehmen, welche kulturell und individuell verinnerlichte schwarz-weiß-symbolische Struktur von Weißsein hinterfragt … Allein die Frage, ob, wann und wie eine kritische Historisierung Steiners von offizieller anthroposophischer Seite möglich sei, muss vor diesem Hintergrund wohl derzeit offen bleiben.“ (Husmann, S. 356)

Zusammenfassend würde ich sagen: Husmanns Buch ist wahrscheinlich keines für einen Einstieg in Rassismus- oder Anthroposophiekritik, Thesen und Sprache sind sehr „akademisch“. Mit Gewinn wird es allerdings jede_r lesen, der oder die sich mit den geistesgeschichtlichen, mythischen und philosophischen Motiven auseinandersetzen will, die zu den großen rassistischen und sexistischen Vorstellungen auch unserer Tage beitrugen.

Jana Husmann: Schwarz-Weiß-Symbolik. Dualistische Denktraditionen und die Imagination von „Rasse“. Religion – Wissenschaft – Anthroposophie, transcript-Verlag, Bielefeld 2010.

19. Mai 2011 at 10:30 am 14 Kommentare


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Ich bin Ansgar Martins, geb. 1991 und war bis Juni 2010 Schüler an der FWS Mainz. Inzwischen studiere ich Religionsphilosophie, Soziologie und Geschichte in Frankfurt a. M. Dieser Blog ( dessen "Leitbild" ganz oben rechts ) ist mein persönliches Projekt, um die oft einseitigen und selbstgerechten Pro- und Contra-Positionen in der Debatte um die Waldorfpädagogik und Anthroposophie kritisch zu kommentieren. Ich hoffe, das gelingt, und freue mich über Rückmeldungen jeder Art!

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