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Ein verzerrtes Bild – Replik von Albert Schmelzer zur Osterrieder-Rezension
Obwohl (oder: weil) das Buch von Markus Osterrieder zu Rudolf Steiner und dem Ersten Weltkrieg in den allermeisten anthroposophischen Zeitschriften geradezu hymnisch besprochen wurde, hat meine sehr kritische Rezension eine Reihe von scharfen Reaktionen ausgelöst. „Ein verzerrtes Bild“ sieht Albert Schmelzer: Meine Diagnose verschwörungstheoretischer und antiamerikanistischer Positionen bei Osterrieder werde dessen realen Ausführungen nicht gerecht. Seine Replik stelle ich mit freundlicher Genehmigung des Autors hier zur Verfügung:
Hier zum Artikel von Albert Schmelzer (PDF)
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Georg Klemp: Rezension zu Markus Osterrieder: „Welt im Umbruch“
Peter Staudenmaier: „Nationalist Cosmopolitanism“. Anthroposophen und der Erste Weltkrieg
„Der Hauptfeind ist England“: Rezension zu Markus Osterrieder bei Info3
Während Anthroposophen die sorgfältig recherchierte Verschwörungsschrift Markus Osterrieders zum Ersten Weltkrieg überwiegend positiv aufgenommen haben (vgl. Anthroposophischer Geschichtsrevisionismus), hat mir die Zeitschrift Info3 in ihrer Dezember-Ausgabe Platz für einige kritische Fragen an Osterrieders 1700 Seiten dicke Monographie zum Ersten Weltkrieg gegeben. Der Beitrag ist auch online verfügbar.
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Georg Klemp: Rezension zu Markus Osterrieder: Welt im Umbruch.
Peter Staudenmaier: Nationalist Cosmopolitanism: Anthroposophen und der Erste Weltkrieg (Interview)
„Das Karma der Unwahrhaftigkeit“
Markus Osterrieder: Welt im Umbruch – Rezension von Georg Klemp
Anmerkungen zu problematischen Tendenzen in der anthroposophischen Geschichtsinterpretation
Zu was sich anthroposophische Erinnerungskultur nicht verblenden darf, lässt sich an Markus Osterrieders Buch „Welt im Umbruch“ (Stuttgart 2014) illustrieren. Osterrieder betrachtet Steiners Haltung im Ersten Weltkrieg – aber entweder mit schielendem Blick oder der Absicht, alles andere verschwinden zu lassen. So werden Kontexte verschwiegen, werden die Ergebnisse der Forschungsliteratur zum Ersten Weltkrieg verkürzt und verflacht, bis sie eine problematische anthroposophische Hofgeschichtsschreibung zu decken scheinen. Dies zeigt die folgende kritische Rezension von Georg Klemp, der zentrale Thesen Osterrieders sachlich hinterfragt. Der Betreiber dieses Blogs stimmt nicht mit allen Schlussfolgerungen überein (z.B. zum abgelehnten „Rassismusvorwurf“), der kenntnisreiche Beitrag jedoch ist ein Muss. Klemps Rezension zeigt, dass Osterrieders Steiner-Apologie auch im anthroposophischen Umfeld nicht geteilt, ja überwunden werden kann.
Hier zur Rezension von Georg Klemp (PDF)
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Michael Mentzel bestätigt: „Manch bedenkenswerter Text auf Niederhausens Webseite“
Michael Mentzel („Themen der Zeit“) hat eine merkwürdige Replik auf meine Kritik an Holger Niederhausen geschrieben. Interessant daran ist, dass der fundamentalistische Niederhausen in der anthroposophischen Debattenkultur lange kaum erwähnt wurde. Doch dieser hat 2013 ein Buch wider den Religionswissenschaftler Helmut Zander geschrieben (so ein anthroposophisches Modephänomen). Offenbar bringt ihm das anthroposophischerseits nun plötzlich Aufmerksamkeit und Respekt ein – so die These meines besagten Artikels. Mentzel fühlt sich wohl ungerecht behandelt, schreibt jedenfalls:
Auf die Idee aber, dass jemand ein „frisch gewonnener Fan“ ist, weil er über ein bestimmtes Ereignis berichtet oder weil ein Buch „auf meinem Rezensionstisch liegt“, muss man auch erst einmal kommen.
So weit, so nachvollziehbar. Doch dann schwenkt Mentzel plötzlich um:
Die Suche nach dem Namen Niederhausen bei Themen der Zeit – mit ca. 1700 Beiträgen – blieb jedenfalls, bis auf den oben genannten Hinweis – erfolglos. Was allerdings nicht bedeuten muss, dass nicht auch durchaus manch bedenkenswerter Text auf Niederhausens Webseite zu finden sind, den zu kommentieren sich lohnen würde. Und auch wenn ich kein „Fan“ von Niederhausen bin, was dieser möglicherweise gern bestätigen kann, mag Ansgar Martins demnächst wirklich einen Grund finden, im Hinblick auf diesen Autor etwas von meinem „üblichen Nonsens“ zu lesen. So lange aber wird er sich damit trösten müssen, dass ich vor einiger Zeit einen – nennt man das tatsächlich „Ohrwurm? – Ohrwurm hatte: „Der kleine Ansgar möchte aus dem Phantasialand abgeholt werden.“
Quod erat demonstrandum. Lange herrscht zu Niederhausen völliges Schweigen. Sobald dieser aber ein Buch gegen Zander schreibt, fällt Mentzel auf, dass „durchaus manch bedenkenswerter Text auf Niederhausens Webseite zu finden sind“ [sic]. Und so werde ich hoffentlich in der Tat bald Gelegenheit haben, seinen üblichen Nonsens auch zu Niederhausen zu lesen. Fragt sich also mal wieder, was Mentzel eigentlich will – er bestätigt einerseits meine Thesen explizit, wirft sie mir aber gleichzeitig vor. Seine Ambivalenz bestätigt sich in seinem peinlichen „Ohrwurm“, den er sogar noch stolz mitteilen zu müssen meint: „Der kleine Ansgar möchte aus dem Phantasialand abgeholt werden.“ Tja dann.
Was genau ihn an meinem Artikel stört, dessen These er ja frei heraus bestätigt, erläutert Mentzel nicht. Stattdessen titelt er „The never ending Story. Martins, Zander und der Rest der Welt…“ Genau darum geht es in der Tat: Seit 2007 ist die routinierte und systematische, aber eben sachlich durch nichts begründete, anthroposophische Diffamierungsindustrie gegen Zander im Gange. Im selben Stil werden auch andere kritische Positionen abgehandelt, nicht zuletzt von Mentzel selbst. „Die unendliche Geschichte“ hatte ich bereits 2012 einen Artikel über dessen diesbezügliche Umtriebe genannt. Da er sogar meinen Titel übernimmt, scheint Mentzel auch hier nichts hinzuzufügen zu haben. Um doch noch irgendein Skandalon zu finden, spekuliert er wie üblich munter drauf los:
„Und deshalb erscheint es vielleicht nicht falsch, hier von Anmaßung zu sprechen und dem ‚Sternekoch‚ Martins zu empfehlen, sich nicht nur mit der Suche nach den Haaren in der anthroposophischen Demeter-Suppe, sondern auch einmal mit Stilfragen zu beschäftigen. Im Leser der Martinischen Verse kann allerdings auch der leise Verdacht aufsteigen, dass dem jungen Autor – möglicherweise – Voegeles jüngster Beitrag zum Thema Steiner und der Erste Weltkrieg, nämlich das auch bei TdZ erschienene Interview mit Markus Osterrieder, nicht so recht gefallen haben mag, denn was Martins von diesem und dessen anthroposophischer Rezeption hält, durften wir unlängst in einer von Martins Wortwüsten zum Thema Steiner und der Erste Weltkrieg bewundern. Immerhin ist Voegeles Niederhausen-Rezension schon eine ganze Weile her.“
Mentzels Ideenlosigkeit ist enttäuschend. Tatsächlich war Osterrieder in eine Tagung involviert, der sich eine völkisch-konspirationstheoretische Verharmlosung von Erstem Weltkrieg und Nationalsozialismus nachtragen lässt. (vgl. Anthroposophischer Geschichtsrevisionismus) Dass auch Mentzel an diesem Gedankengut nichts auszusetzen hat und Kritik an Osterrieders Thesen nicht nachvollziehen kann, kann ich mir gut vorstellen. Selbst dann hätte ihm aber auffallen können, dass im erwähnten Interview Vögele zu den anthroposophischen Verschwörungsphantasien kritisch Position bezieht:
„Am rechten Rand der anthroposophischen Bewegung existiert seit langem eine Subkultur mit eigenen Tagungen, Publikationen und Internetpräsenz. Zu ihren Themen gehören Holocaust-Relativierung, Einkreisungsphantasien, mehr oder weniger offener Antisemitismus, Antiamerikanismus usw. Offiziell wird darüber nicht gesprochen. Wäre aber die Anthroposophische Gesellschaft nicht verpflichtet, sich von diesen Kreisen, deren Angehörige größtenteils Mitglieder der AAG sind und sich auf Rudolf Steiner berufen, deutlich zu distanzieren?“
Dass ich Vögele gerade einen Punkt der Übereinstimmung vorwürfe, deshalb aber etwas ganz anderes tun würde, nämlich eine Rezension zu Niederhausen zu schreiben – auf sowas kommt auch nur Michael Mentzel. Das ist keine Polemik, ich wünsche es ihm nicht einmal. Über eine Kritik, die mehr als dadaistische „Ansgar Martins ist ein blöder Klugscheißer“-Assoziationen beinhaltete, wäre ich zu Abwechslung mal sehr erfreut. Doch genau diese Alogik, die alle relevanten Argumente umgeht, um dann an den Haaren irgendeinen Unsinn herbeizuzerren, ist leider typisch für „Themen der Zeit“ (vgl. Entwicklungsrichtung Anthroposophie, Mentzels Traum, Die unendliche Geschichte), aber längst nicht nur: Genauso läuft die anthroposophische Anti-Zander-Industrie, genauso vor allem Nierhausens Buch. Insofern kann ich Mentzel zustimmen, dass für ihn „manch bedenkenswerter Text auf Niederhausens Webseite“ zu finden sei. Genau das hatte ich ja befürchtet: Auf einen Autoren wie Niederhausen und die Möglichkeit, sich seinem Holzhammerdogmatismus anzuschließen, haben Leute wie Mentzel mutmaßlich lange gewartet. Wolfgang Vögele scheint mir von dieser Tendenz aber doch auch deutlich auszunehmen zu sein – dessen Publikationen haben Gehalt und Substanz.
Anthroposophischer Geschichtsrevisionismus: Wie England den Deutschen Volksgeist zerstörte
Rudolf Steiner war vieles, aber kein Freund weltanschaulicher Kompromisse. Im Ersten Weltkrieg lief der esoterische Vollzeitpatriot zur völkischen Höchstform auf: Alle Welt habe sich gegen das ehrliche, freiheitsliebende Deutschland verschworen. Seine völker- und rassentheoretischen Positionen hat der Anthroposoph niemals zu revidiert. Umso bemerkenswerter, dass er nach dem Ersten Weltkrieg die vorher apodiktisch abgelehnte Schuld Deutschlands an diesem Krieg eingestand: „Die Welt will ein ehrliches Wahrheitsbekenntnis des deutschen Volkes … Und diese Wahrheit, sie ergibt, recht gelesen, die restlose Verurteilung der deutschen Politik. Eine Verurteilung, die schärfer nicht sein könnte.“ (GA 24, 387)
Trotz dieser (impliziten Selbst-)Kritik Steiners haben sich seine Gedanken während der Zeit des Krieges in Anthroposophistan bis heute nicht erledigt. Wer denkt, geschichtsrevisionistisches und verschwörungstheoretisches Gedankengut spiele in heutigen anthroposophischen Kreisen keine Rolle mehr, kann sich jedenfalls in der aktuellen Ausgabe von „Anthroposophie weltweit – Mitteilungen Deutschland“ (11/2013, S. 6) eines Besseren belehren lassen. Dort wird über eine Tagung der deutschen Anthroposophischen Gesellschaft berichtet, die vom 3. bis zum 6. Oktober 2013 in Kassel stattfand. Der Pathos, mit dem im Mitteilungsblatt über die Veranstaltung berichtet wird, zeigt, wie sehnsuchtsvoll anscheinend auch viele heutige Anthroposophen am deutschen Wesen genesen möchten:
„Die mit Recht groß angekündigte Kassler Herbsttagung zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges und zu Rudolf Steiners diesbezüglichen Aussagen war nicht nur für die Veranstalter, die AGiD und den Kassler Zweig, ein großartiger Erfolg, sondern auch für die etwa 250 Besucherinnen und Besucher ein einmaliges, unvergessliches Erlebnis.“ (Verlust der Mitte – das tragische Schicksal Mitteleuropas, ebd.)
Zweifellos. Denn die 250 Besucherinnen und Besucher hörten Thesen, die auch Steiner schon im Ersten Weltkrieg von sich gab: Der kosmpolitische „deutsche Geist“ und seine Inkarnationsplattform „Mitteleuropa“ stehen für den universellen Frieden. Der wurde verhindert, und zwar von allerlei Geheimbünden, die sich hinter konkurrierenden esoterischen Fraktionen (namentlich der Theosophie), den USA und England verstecken. Letztere beherrschen die Welt mehr oder weniger vollständig, haben aber zumindest die deutsche Mission (deren wichtigstes Medium natürlich die Anthroposophie ist) erfolgreich an seiner weltumspannenden Sendung gehindert.

„In den geheimen Zirkeln der englisch sprechenden Welt“ ersonnene „Neugestaltung Europas“: Verschwörungstheoretische Karte Steiners, abgedruckt bei dessen Schüler Karl Heise: Entente-Freimaurerei und Weltkrieg (Basel 1918). Heise, Anhänger der Ariosophie, arbeitete später mit Alfred Rosenberg zusammen und wurde auch von Himmler geschätzt.
Vom romantischen Protest gegen die Aufklärung zum reaktionären gegen die Weimarer Demokratie haben einsame deutsche Seelen sich mit solchen Elementen aus dem nationalen Verschwörungsbaukasten die wärmende Brust ihrer „Volksseele“ zusammengezimmert. Solchermaßen vor kritischen Einsichten in Geschichte und Gesellschaft geschützt, ließ sich das Modell auch problemlos ins 20. und 21. Jahrhundert übertragen. Zwar ist in der anthroposophischen Bewegung ständig von „Menschheitsentwickelung“ und einem fortschrittsoptimistischen Konzept der Bewusstseinsgeschichte die Rede. Die Geschichte seit 1918 scheinen die Referenten oder jedenfalls der zitierte Berichterstatter der Tagung zwar abstrakt zur Kenntnis genommen, aber, mit Verlaub, nicht wirklich nachvollzogen zu haben: Wenn im eingangs erwähnten Tagungsbericht die „80er Jahre“ angeführt werden, bezieht sich das auf das 19. Jahrhundert. Wenn Stephan Stockmar (s.u.) in einer Paraphrase des Hauptredners Markus Osterrieder von „den Juden“ spricht, dann, um an deren sog. „Heimatlosigkeit“ zu erinnern – als wäre nicht zwischenzeitlich Israel gegründet worden. Wenn der Flyer der Tagung „die europäische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ erwähnt, ist damit nicht etwa die Shoa oder der Zweite Weltkrieg gemeint, sondern das „geschichtliche Geschehen“ des Ersten, in dem Rudolf Steiner sukzessive ab 1917 seine sog. „Friedensinitiative“ der Sozialen Dreigliederung entwickelte.
Deren faktische Irrelevanz ist natürlich auf das ‚Angloamerikanertum‘ zurückzuführen. Dass der Westen sich gegen „Mitteleuropa“ verschworen habe, ist jedenfalls für den Berichterstatter in „Anthroposophie weltweit“ eine zentrale Botschaft der Tagung gewesen:
„Gehen wir ein wenig in die Details von Osterrieders und Boardmans Darstellungen, dann zeigte sich vor allem Eines: die zielsichere Instinkthaftigkeit derer, die von westlicher, vor allem britischer Seite aus seit den 80er Jahren an der Vorbereitung der Neuordnung Europas durch die Inszenierung nicht nur des Ersten, sondern auch des Zweiten Weltkrieges mitgearbeitet hatten. Fast blieb einem bei manchen Darstellungen Boardmans, die britische Seite betreffend, angesichts der Eindeutigkeit des hier Enthüllten der Atem stehen. Könnte Boardman vor englischem Publikum solche Enthüllungen ungehindert aussprechen? Man war geneigt, solches zu bezweifeln.“ (ebd.)
Nicht nur den Ersten, sondern auch den Zweiten Weltkrieg hatte also die ‚westliche‘, ‚britische‘ Welt zu verschulden. Dies ist Geschichtsrevisionismus in mindestens zwei wohl bekannten Kategorien: Die Verschwörungstheorie einer „Kriegsschuldlüge“ wird ebenso aufgetischt wie eine (gleichwohl implizite, auf Verschweigen beruhende) Relativierung der Alleinschuld der Nazis am Zweiten Weltkrieg. Dazu kommen diverse abstruse Vorstellungen über ‚okkulte Logen‘ auf der Hinterbühne des Weltgeschehens. Der pauschale Ausdruck Geschichtsrevisionismus ist aber schwammig, weil die Geschichte hier auf spezifisch anthroposophische Weise revidiert wird. So werden, und das ist durchaus bemerkenswert, keine klassisch-revisionistischen Argumente angeführt: Zweifellos würden die Referenten solche in ihren vulgären, etwa rechtsradikalen Formen, auch deutlich ablehnen. Vielmehr überlagert eine theosophisch-okkultistische Geschichtsdeutung so gut wie alles, was wir heute über die behandelten Ereignisse wissen. Nationalsozialismus, Kaiserreich, Deutschnationalismus, Antisemitismus, Militarismus usw. usf. werden nicht etwa willentlich einer Apologie unterzogen, sondern schlicht und ergreifend ausgeblendet. In der anthroposophischen Geschichtsmetaphysik ist allem Anschein nach angesichts der Steinerschen Verschwörungstheorien für die reale Geschichte Deutschlands kein Platz.
Erster und Zweiter Weltkrieg sind vielmehr in erster Linie Beiprodukte der englischen Herrschaftspläne, durch die an der sog. „Neuordnung Europas“ „mitgearbeitet“ worden sei. Was genau da „enthüllt“ wurde, liest sich in der Paraphrase von Stephan Stockmar, Chefredakteur der Zeitschrift „Die Drei“, wie folgt: Wikinger und Araber haben den englischen Geist zur Weltherrschaft geführt und dieser hat die Regierung inzwischen an die USA abgetreten. Oder ausführlicher:
„Terry Boardman, Autor und Dozent aus England, zeichnete in seinem Vortrag den Weg »Vom englischen zum amerikanischen Weltreich« nach. Auch er nahm im frühen Mittelalter seinen Ausgangspunkt, als England von Norden her dem Einfluss der rücksichtslos erobernden, seefahrenden Wikinger ausgesetzt war und von Süden her dem der arabischen Welt, der seinen Niederschlag in der Intellektualität von Oxford und Cambridge fand. Über den Hundertjährigen Krieg und die imperiale Epoche, als sich die Engländer als von Gott erwähltes Volk verstanden, die Gründung des englischen Geheimdienstes im 16. Jahrhundert, der über lange Zeit durch die bis heute im Oberhaus aktive Adelsfamilie der Cecils getragen wurde, führte Boardmans Darstellung schließlich in die Zeit des Ersten Weltkriegs, in der England den Stab der globalen Vorherrschaft an die USA abgeben musste. Zum Schluss kam er noch besonders auf die Rolle von Sir Edward Grey zu sprechen: Seiner Auffassung nach hätte dieser den Ersten Weltkrieg verhindern können, wenn er Deutschland über Englands Verhalten im Falle eines Einmarsches in Belgien nicht im Unklaren gelassen hätte.“ (Stockmar: Rudolf Steiner, der Erste Weltkrieg und das Schicksal Mitteleuropas)
Neben Boardman und Osterrieder redete Hartwig Schiller, Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland. Der hat viel Enthusiasmus für die „Mysterien des Nordens“ und (sofern Stockmars Zusammenfassung das Wesentliche trifft) auf der Tagung Thesen wiederholt, die er auch andernorts schon ausführlich ausgebreitet hat, etwa 2007 in der Waldorf-Zeitschrift „Erziehungskunst“. Neben einer Dreiheit von geographisch in Nord, Süd und Ost zentrierten Mysterien geht es unter anderem um eine Urgeschichte der Germanen, in der neolithische Felsenzeichnungen Symbole des Ersten Goetheanums zeigen und gotische Heerführer das Wort dazu gefunden haben sollen: „Ich“. Osterrieder enthüllt andere geschichtsmetaphysische Sepkulationen, die ’nur‘ ins 9. Jahrhundert zurückreichen. Aber fest steht für alle: Der Individualismus und der freie Mensch seien geistig Produkte Deutschlands, d.h. „Mitteleuropas“ – eine Idee, die Fichte und der (von Steiner immer wieder gelobte) völkische Prophet Julius Langbehn auch schon vertraten. Der Wert des Individuums und des Internationalismus wird keineswegs über Bord geworfen, sondern mit dem „Deutschtum“ in eins gesetzt, während England eine kollektivistisch-kapitalistische Schreckensherrschaft verkörpert. Deutschland kommt dem gegenüber nurmehr eine „Mitschuld“ am Ersten Weltkrieg zu, die im „Nichtergreifen“ seiner globalen „Aufgabe“ bestehe. Zwischenzeitlich habe sich immerhin eines geändert: sogar Nichtdeutsche können nun „im eigentlichen Sinne Mensch werden“:
„So stand am Ende dieser vielschichtigen Darstellung der Eindruck, dass gerade im Nichtergreifen einer menschheitlich-geistigen Aufgabe Deutschlands Mitschuld am Kriegsausbruch liegt. Natürlich könne man auch weiterhin das Mitteleuropäische immer wieder beschwören. Doch die Gelegenheit, im eigentlichen Sinne Mensch zu werden, besteht heute allerorten. Und Osterrieder hält es für möglich, dass im Zuge beider Weltkriege eine speziell für Mitteleuropa bestehende Entwicklungschance unwiederbringlich verloren gegangen ist.“ (Stockmar, a.a.O.)
Auf den „Geheimdienst“ Englands und die Überzeugung einer britischen Auserwähltheit wird mit Empörung reagiert, dagegen ist die Auserwähltheit Deutschlands offenbar Selbstverständlichkeit. Es bedurfte anscheinend zweier Weltkriege, um einen anthroposophischen Vortragsredner davon zu überzeugen, es sei auch nur „möglich“[!], dass „Mitteleuropa“ eine „Entwicklungschance“[!] verpasst haben könne. Dass „Mitteleuropa“ dem Rest der Welt besagte Kriege und Auschwitz brachte, wird wieder nicht erwähnt. Und auch das ‚Verpassen‘ der ‚Chance‘ liege selbstverständlich daran, dass man nicht deutsch (denn das heißt ja „menschheitlich“) genug gewesen, sondern dem Vorbild Englands gefolgt sei. Stockmar über Osterrieder:
„Es geht ihm also nicht um ein Volk und seine Kanzlerin, sondern um Kultur und Sprache als innere Heimat. Die Fragen nach der seelischen Mitte Europas und nach dem, was es ausmacht, ein Deutscher zu sein, entwickelte er aus der Stimmung der Heimatlosigkeit, wie sie auch bei den Juden zu finden ist. Allerdings, frei nach Fichte: Als Deutscher ist man nicht geboren! Und genau hier beginnt die Problematik auch im Sinne Steiners: Das Seelische muss aus dem Ich heraus wieder neu geboren werden. Doch gerade das offizielle Deutschland war zu Anfang des 20. Jahrhunderts mit ganz anderen Fragen beschäftigt, die es England nacheifern ließ und dadurch in den Nationalismus trieb.“ (ebd.)
Ob die Erwähnung der ‚heimatlosen‘ Juden den Umstand demonstrieren soll, dass man möglichst schnell über diesen Status hinauskommen müsse, ob damit etwas Glanz vom auserwählten Volk geborgt, eine besondere geistige Flexibilität behauptet oder aber der vermeintliche Opferstatus der Deutschen beschworen werden soll: ich vermag es nicht zu sagen. Klar ist nur, dass die Anthroposophie der von allen anderen verhinderte Nucleus des deutschen Wesens ist, das bestimmt war, den freien, schöpferischen „eigentlichen Menschen“ zu erschaffen: Das Seelische kommt aus dem Ich und das Ich aus Deutschland, das Deutschthum liegt nicht im Geblüthe, sondern im Gemüthe. Die zitierten Positionen sind schlichte, aber konsequente Ergebnisse einer in die Gegenwart verlängerten anthroposophischen Geschichtsdeutung: Alle Augen sind auf Steiner gerichtet, der mit seinem „mitteleuropäischen“ Okkultismus alles ganz anders hätte machen können, wären die Mächte von Ost und West nicht gewesen.
„Denn immer wieder wurde auf eindrückliche Weise deutlich: Der mitteleuropäische Okkultismus eines Rudolf Steiner, das hier in Kassel bereits vor Ausbruch des 30-jährigen Krieges vergeblich wirksame Rosenkreuzertum, die Anthroposophie rechnet mit dem freien Willen des sich entwickeln wollenden Menschen – weder durch Manipulation, noch durch Suggestion, sondern durch das frei angebotene «Erkenne dich selbst» wirkt der mitteleuropäische Einweihungsweg, während von Ost und West mit manipulativen, das freie Erkenntnisvermögen und den freien Willen übergehenden, letztlich unmenschlichen, ja Menschen verachtenden Methoden gearbeitet wurde und weiterhin gearbeitet wird.“ (Bericht in Anthroposophie weltweit, a.a.O.)
Diesen Gedanken hat Lorenzo Ravagli zu seinem zynischen, antihumanen Ende weitergedacht. Bei ihm müssen weniger „Ost und West“, dafür aber die Nazis und nicht näher definierte Linke als „Archonten“, gnostische Schattengötter, herhalten, die den Weg der anthroposophischen Mission blockieren:
„Die alten Mächte, die Archonten dieser Welt, bäumten sich umso mehr gegen das Licht auf, das in ihre Finsternis schien, als dieses Licht in immer mehr Menschen zu leuchten begann … wie auf der einen Seite das Licht einer friedenstiftenden, menschheitsversöhnenden Erkenntnis durch das Wirken Rudolf Steiners aufleuchtete, während sich auf der anderen Seite die individualitätsauslöschende, hasserzeugende Finsternis durch das Wirken von Gegenmächten ausbreitete. Diese geistigen Gegenmächte bedienten sich kollektivistischer und totalitärer gesellschaftlicher Formationen, die sich in offener Feindseligkeit gegen die alles umfassende Generalreformation des Abendlandes stellten, auf welche die Anthroposophie hinzielte und strebten die Auslöschung jener spirituellen Strömung des christozentrischen Individualismus an, die ihre eigene Herrschaft untergrub. In seltener Einmütigkeit verbündeten sich schließlich der autoritäre Konservatismus kirchlicher und nationalistisch-völkischer Provenienz und der kollektivistische Progressismus der Linken, um die einzige geistige Strömung zu vernichten, die den Untergang des Abendlandes hätte verhindern können, den sie durch ihren eigenen Antagonismus am Ende herbeiführten.“ (Ravagli: Peter Selgs Steiner-Biographie)
An dieser Aussage Ravaglis lässt sich einmal mehr demonstrieren, wie anthroposophischer Geschichtsrevisionismus funktioniert: Da der Weltenlauf sich ausschließlich um Steiner dreht, der nicht nur „Geisteswissenschaftler“ ist, sondern (Stichwort: Anthroposophie – eine Religion?) auch das ultimativ erlösende Wissen verkündet, fällt alles Gegenläufige anscheinend unter den Tisch. Jede Katastrophe wird zur „Feindseligkeit gegen die alles umfassende Generalreformation“ Steiners, während dessen Ressentiments akzeptiert und zur Rasterfahndung nach Feinden verwendet werden. Und Steiner hielt die Anthroposophie nicht nur für abendländisch, sondern eben auch primär: für „deutsch“, den Ersten Weltkrieg für „angloamerikanisch“ usw. usf. Dies öffnet Tür und Tor für historische Verdrehungen. So schlimme Sachen wie Krieg können mit dem ‚wahren Deutschtum‘ nichts zu tun haben: Was nicht sein darf, kann nicht sein – ein Spruch, dessen Gegenteil das 20. Jahrhundert mehrfach in schrecklichen Ausmaßen gezeigt hat. Die Realitätsresistenz der Anthroposophie verhindert freilich jeden Zweifel an einer der Geschichte immanenten Vernunft, an die Stelle von Entsetzen tritt eine ultimative kosmische Geschwätzigkeit.
Zum Ersten Weltkrieg und Steiners Ansichten dazu hat Osterrieder, promovierter Historiker, offenbar auch noch ein 1400-seitiges Buch geschrieben, 14 Jahre dafür recherchiert – all das finanziert von der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland. Ob sich darin valide historische Forschung findet oder derselbe Unsinn, wie ihn die zwei zitierten Tagungsberichte nahelegen, sei mal dahingestellt: Ich würde mit ersterem nicht mehr rechnen. Der Tagungsbericht in „Anthroposophie Weltweit“ schließt mit der sorgsam als Frage formulierten Andeutung:
„Das Rosenkreuzertum im Zeichen Michaels wurde hier in seiner ganzen Größe, aber eben auch Tragik sichtbar. Denn was alles hätte verhindert werden können, wenn mehr Menschen sich zum Ersten Goetheanum, dem kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges als Wahrzeichen des in der Äthersphäre der Erde anwesenden Friedensbringers errichteten Menschheitsbaus gefunden und daran mitgearbeitet hätten, diesen Friedensimpuls in Europa auszubreiten?“
Aber bevor wir dazu möglicherweise nicht erst 2033 neue Märchen hören werden, die die Verschwörungstheorien zum Ersten Weltkrieg alt aussehen lassen könnten, steht erst 2014 an, das von weiteren Tagungen dieser Art nicht verschont bleibt. In „Anthroposophie Weltweit“ findet sich direkt unter dem Tagungsbericht ein Aufruf zur Gestaltung einer weiteren, auf der es um Helmuth von Moltke gehen soll. Für die wird das Team Boardman und Osterrieder noch um Thomas Meyer erweitert, Chefredakteur der Zeitschrift „Der Europäer“. Von Osterrieder erfährt man noch, dass er „auch bereit ist, für Schüler ab der 12. Klasse vorzutragen (interessierte Geschichtslehrer mögen sich melden).“ (ebd.) „Erkenntnisse“ ähnlich den zitierten sind also nicht dem Arkanbereich der Anthroposophischen Gesellschaft vorbehalten. Geht es nach deren Aktivisten, sollen sie offensichtlich auch bald an der einen oder anderen Waldorfschule Thema sein. Derweil ist mit einer adäquaten Kritik des universalistisch-nationalistischen „Deutschtums“ nicht zu rechnen: Die üblichen Möchtegernkritiker der Anthroposophie beschränken ihre „Rassismuskritik“ in aller Regel auf das Zitieren von Steiners pittoresken „Neger“-Tiraden.
Aktualisierung: Offenbar gab es auch schon eine kritische inneranthroposophische Reaktion von Ramon Brüll (Info3). Darin wird auch der Name des Berichterstatters für „Anthroposophie weltweit“ genannt: Andreas Neider. Brüll schließt: „Etwa 100 Jahre, nachdem jene „zielsichere Instinkthaftigkeit“ sich formierte, die Neuordnung Europas vorzubereiten, in der Friedensbewegung der 1980-Jahre, tauchte der auf Bertolt Brecht zurückgehende Spruch auf, ‚Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin‘. Denkt man Neiders ‚Geflunker‘ (Steiner a.a.O.) zu Ende, kann es sich dabei nur um eine Umdeutung durch die eine oder andere schwarzmagische Loge handeln. Der Slogan hätte lauten sollen: ‚Stell dir vor, es droht Krieg, und alle gehen nach Dornach!'“