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„Löffelchen voll Zucker“. Impfschäden, Mary Poppins und die Geister der Finsternis

„…man muß nicht unbedingt von Kretins sprechen, wo man es mit Trotteln zu tun hat.“
– Karl Kraus: Hier wird deutsch gespuckt

Mit verstörender Regelmäßigkeit tauchen im Waldorfmilieu Masernfälle auf (im März 2015 gab es bestätigte in Erfurt, Sankt Augustin und Ludwigsburg). [Aktualisierung vom 18.03.2015: inzwischen noch die Waldorfschule Dresden] Wer aber einen Zusammenhang zwischen Masern und Waldorf postuliert, wird von Anthroposophen für gewöhnlich beleidigt zurückgewiesen: „pauschale“ Vorwürfe seien das. Parallel plädiert man aber für „individuelle Impfentscheidung“, was, sofern es keine Tautologie sein soll (natürlich entscheiden faktisch Individuen darüber, sich bzw. ihre Kinder impfen zu lassen), ja wohl heißt, dass man sich „individuell“ auch gegen Impfungen und dann im Zweifelsfall eben für Masern (bzw. eventuell tödliche Folgeerkrankungen) entscheiden solle. Die offizielle Begründung für diese „individuelle Impfentscheidung“ sind reale und/oder vermeintliche „Impfschäden“ und „Nebenwirkungen“.

In der Anthroposophischen Medizin freilich gibt es zusätzliche Gründe: „Karma“ zum Beispiel oder der (gegenläufige, weil nicht wie „Karma“ retrospektive, sondern proskeptive) Glaube, dass Kinderkrankheiten ganz wunderbare Reifungs- und Entwicklungschancen darstellen. Es sei daran erinnert, dass um’s kosmische Kindeswohl bemühte Eltern zumindest früher einmal regelrechte „Masernpartys“ abhielten – wie ja auch Dr. Michaela Glöckler, Leiterin der Medizinischen Sektion am Goetheanum, ausführt, der Kranke erlebe „in der Krankheit unbewusst die Schritte zu seiner Höherentwicklung“, wozu sie gleich ein Beispiel beisteuert: „Die Hunderttausende [sic], ja Millionen, die in Afrika von der AIDS-Epidemie hingerafft werden, bereiten sich vor, der Menschheit von morgen, die am Egoismus zu zerbrechen droht, die notwendige Hilfe und Inspiration für lebensfreundlichere Kulturgewohnheiten zu bringen.“ (Glöckler: Sexualität und Menschenkunde, in: Bart Maris/Michael Zech: Sexualkunde in der Waldorfpädagogik, Stuttgart 2006, S. 62) Wozu Masern gut sein sollen, gilt es gleich zu diskutieren.

Krankheit und Tod wären also, wie alles, tolle Chancen für die Weltenentwickelung, wären da nicht wieder jene „materialistischen“, von schwarzmagischen Geheimlogen und -lobbys gesteuerten Bösartigkeiten Ahrimans, die den Menschen perfiderweise selbst noch an der Krankheit den Spaß verderben wollen.

„Wenn ein Löffelchen voll Zucker bitt’re Medizin versüßt…“ Mary Poppins, eine Agentin der Geister der Finsternis? (Bild: Wikipedia)

Rudolf Steiner entnahm seine (aber nicht kategorische) Impfkritik wohl von seiner theosophischen Initiatorin (und späteren Gegnerin) Annie Besant, bettete sie während des Ersten Weltkriegs aber in seine eigenen politisch-okkultistischen Vorstellungen ein. (vgl. dazu Peter Staudenmaier) Der norwegische Religionswissenschaftler Asbjørn Dyrendal erklärt, was die Impfungen aus manch anthroposophischer Sicht mit den schwarzmagischen Materialistenmedizinern des Bösen zu tun haben:

„While many anthroposophists follow ordinary vaccine programs, others clearly do not, and Waldorf schools seem to have been the fulcrum of vaccine-preventable diseases more often than should be their due. Some are generally negative towards vaccines and vaccine programmes. This seems to have been the case with anthroposophical doctor Philip Incao, a prominent promoter of alternative medicine … he places his articles within a generally vaccine-critical position, and posits a conspiracy theory he grounds in Steiner and anthropocophical cosmology: ‚Rudolf Steiner’s comments leave no doubt about the ‚hidden agenda‘ behind the plan to vaccinate all the world’s children with as many vaccines as possible, thus devastating their spiritual development.‘ … Incao builds his theory by first finding fault with the scientific backing behind vaccines, misrepresenting along the way the state of research in standard conspirationist manner. Since he finds no good medical rationale behind vaccines, there must be another explanation … This he finds by going to Steiner, which reveals to him a more sinister ‚hidden agenda‘ behind vaccines … Thus the apparently random is made to make sense: secret ways of knowledge reveal the secret brotherhoods, the evil spirits influencing them, the deeper tendencies of tme, and their connection to minute details of history.“ (Dyrendal: Hidden Knowledge, Hidden Powers, in: Egil Asprem/Kennet Granholm: Contemporary Esotericism, Sheffield/Bristol 2013, S. 204ff.)

Dyrendal erklärt nach zahlreichen weiteren Fallbeispielen aus anderen esoterischen Subkulturen die strukturelle Harmonie von Verschwörungs- und esoterischem Denken. Er stellt auch klar, dass Steiner zwischen seiner gewöhnlichen ‚Impfkritik‘ und den beschriebenen Impfungen gegen das Spirituelle differenzierte, die Incao schlicht zusammenwirft.

Zu den jüngsten deutschen Masernvorfällen erschien am 11. März ein Userkommentar von Christian Kreil auf derStandart.at. Kreil zitierte aus einem Merkblatt der „Gesellschaft anthroposophischer Ärzte in Deutschland“ von 2009 (gibt’s hier als PDF), dass „aufmerksame Eltern“ „gerade bei den Masern“ „eine Verwandlung“ ihres Kindes bemerkten und „unter diesem Aspekt die Masern ihres Kindes als sinnhaft erleben, als eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Leib, aus der das Kind gestärkt hervorgehen kann.“ Zumindest nachvollziehbar, dass Kreil seinen Kommentar mit „Die Masern – ein Esoterikschaden“ betitelte. Die zitierte Broschüre selbst erklärt allerdings, Steiner sei kein „Impfgegner“ gewesen. Man erfährt, „dass bei Kindern die Folgen einer Impfung durch spirituelle Erziehung ausgeglichen werden können“, weil eine solche spirituelle Erziehung „Krisenerscheinungen“ anerkenne und deshalb „ähnlich wirken [könne] wie eine Kinderkrankheit und ihre Überwindung“, soll wohl heißen: Waldorferziehung ist genauso förderlich wie eine Maserninfektion. Na dann.

Während man Kreil also vorwerfen könnte, das volle Ausmaß des Unsinns gar nicht dargestellt zu haben, war sein Kommentar ein willkommener Anlass für eine der gewohnten Selbstdarstellungen des anthroposophischen Bloggers Michael Mentzel („Themen der Zeit“). Mit der auf „Themen der Zeit“ üblichen Recherchesorgfalt präsentiert Mentzel den Userkommentar kurzerhand als regulären „Artikel“ von derStandart.at und verschweigt dessen Inhalt. Nur, dass die Anthroposophie als Hauptschuldige für Masernepidemien und als „rassistisch“ bezeichnet werde, erfährt man bei Mentzel. Beides stimmt nicht: Die Anthroposophie wird von Kreil als eine von vielen möglichen esoterischen Quellen von Impfkritik angeführt und Steiner nicht als rassistisch bezeichnet. Kreil verweist vielmehr auf seine Vorstellung vom „abstrakten Jehova-Dienst“, der nicht nur der „materialistischen“ Medizin vergleichbar sei, sondern durch den sich Juden auch in größerem Maße, als es „natürlich“ wäre, zu dieser Medizin „hingezogen“ fühlten. (GA 353, 200) Steiner belegt also „den Materialismus“ einmal mehr mit „jüdischen“ Attributen. Mentzel geht darauf selbstredend nicht ein. Ihm geht es um einen einzigen Leserkommentar zu Kreils Text:

„Ein Leser kommentierte dies so: „Impfung gegen Esoterik müsste gesetzlich verordnet werden.“ Ist aber eine solche Forderung nach einer Zwangsimpfung für „Esoterikgläubige“ wirklich so utopisch? 1917 hat Rudolf Steiner eine solche Forderung und deren praktische Umsetzung vorausgesehen.“ (Michael Mentzel: Impfen gegen Esoterik?)

Dass Steiner den Inhalt des Kommentars zu einem Kommentar aus dem Jahr 2015 vorausgesehen habe, zeigt, wie verzweifelt man suchen muss, um seine schäbigen Prophezeiungen bestätigt zu finden: Man muss sich bis in Leserkommentare zu Leserkommentaren wühlen, bis in das wirre idiosynkratische Gelaber der üblichen Kommentarspaltendiskussionen. Den von ihm zitierten und freilich in mehrerer Hinsicht blödsinnigen Kommentar stilisiert Mentzel wiederum hurtig zur „Forderung“ nach einer „Zwangsimpfung“ für „‚Esoterikgläubige“. Es folgen die auch von Incao und bei Dyrendal zitierten Aussagen Steiners über die „Geister der Finsternis“, die durch von ihnen besessene Menschen Impfungen gegen die Seele entwickeln und verabreichen wollen. (GA 177, 237) In anderen Zusammenhängen spricht Steiner über noch tiefere esoterische Hintergründe: „schwarze Magier“ bzw. „okkulte Brüderschaften“ versuchten, gelenkt von den Geistern der Finsternis, die menschlichen Krankheitsprozesse materialistisch zu kontrollieren und so das Spirituelle auszutreiben. (GA 178, 89) Mentzel lässt natürlich solche Bemerkungen weg, so dass die verschwörungstheoretische Dimension außen vor bleibt und die Vorstellung von „Impfungen“ gegen Geist und Seele als bloßes Ressentiment gegen wissenschaftliche Medizin erscheinen mag. Mentzel erläutert die Zitate auch nicht weiter, wahrscheinlich weil er sie für so prophetisch und zutreffend hält, dass sie keiner Erläuterung bedürfen. Aber bevor dann der Artikel mit einem Karl Kraus-Zitat ausklingen darf, erfährt man doch noch kurz, worum es ihm geht, und er spricht selbst die verschwörungstheoretische Dimension klar aus:

„Vor dem Hintergrund der aktuellen Krisen in der Welt und den oft aussichtslos erscheinenden Versuchen, diesen mit den „konventionellen“ Methoden begegnen oder sie sogar heilen zu können, erscheinen solche Worte[also diejenigen Steiners über die impfenden Geister der Finsternis – A.M.], wenngleich sie wohl auch manchen „aufgeklärten Geistern“ als verschwörungstheoretisch daherkommen mögen, geradezu prophetisch. Denn bei der Zusammensetzung der „Impfstoffe“, die uns heute von Lobbyisten, Think-Tanks, Regierungen und Medien – gleich welcher Couleur – verabreicht wird, scheint es sich um eine besonders perfide Form einer – von vielen allerdings als angenehm empfundenen – Schluckimpfung zu handeln. Sollte Mary Poppins (mit ´nem Teelöffel Zucker…) recht behalten haben?“

Die Erwähnung Mary Poppins‘ (man sollte meinen, wenigstens ein Anthroposoph würde hier noch hinzufügen, dass es sich um die zwar süße, aber doch recht ideenlose Verfilmung eines überaus empfindungstiefen Kinderbuches handelt) offenbart einen interessanten Blick auf die Binnenwelt anthroposophischer Logik. Mary Poppins singt tatsächlich davon, wie „ein Löffelchen voll Zucker bitt’re Medizin versüßt“, weil sie dann „gleich nochmal so gut“ rutscht. Sie singt von fröhlichen Vögelchen und Bienchen: „Denn was man voller Freude tut, schmeckt uns wie Kuchen gut.“ Natürlich mag die Botschaft des Liedes sowohl bei unwilligen Kindern didaktisch nützlich als auch (und eben deshalb) unwahr sein: „Arbeit“ wird hier fetischisiert, soll zur „Lust“ werden.

Das steht einem elementaren Grundsatz der Waldorfpädagogik übrigens nah, den die Schüler der vier unteren Klassen jeden Morgen wie folgt aufsagen müssen. Es geht hier um „…Die Menschenkraft, die Du [Gott] In meine Seele mir So gütig hast gepflanzt, Daß ich kann arbeitsam Und lernbegierig sein.“ bzw. in der Formulierung für die Klassen Fünf bis Zwölf: „Zu Dir O Gottesgeist Will ich bittend mich wenden, Daß Kraft und Segen mir Zum Lernen und zur Arbeit In meinem Innern wachse.“ Während die armen Waldorfschüler Gottes müdes Ohr mit der Bitte um Lern- und Arbeitskraft belasten müssen, die typisch deutsch als Selbstzweck dastehen, bzw. sogar die Pointe der „Menschenkraft“ sein sollen, hat Mary Poppins wenigstens den Vorzug, dass sie diese Arbeit versüßen will, ja: sie verkündet letztlich auch den akzeptablen Grundsatz, dass Spaß an der Sache gut ist.

Auch Steiner war nicht grundsätzlich gegen Spaß, nur sein Humor war freilich ein „Weltenhumor“, der mit der Verdauung zu tun hat, bzw. ein aus „innerer künstlerischer Notwendigkeit“ geschaffenes Elementarwesen, dessen Folgen nicht ausbleiben konnten: „Spaß gibt es auch an Waldorfschulen. Und er wird auch gutgeheißen – aber nur im Dienste der Pädagogik und keinesfalls nur zum Spaß! Das ist das Problem“, brachte das Problem Christian Grauer in „Endstation Dornach“ auf den Punkt. Wenn Mentzel Mary Poppins paraphrasiert, repräsentiert sie ihm aber die Fürsten und Gewalten und Weltherrscher der Finsternis: Löffelchen voll Zucker, die Medizin, am Ende materialistische ‚Schulmedizin‘ oder gar dämonische Impfungen versüßen. Mir wäre unbekannt, dass Mentzel irgendwo Arbeitsfetischismus kritisiert (ich freue mich freilich über gegenteilige Hinweise), was ihn zu stören scheint, ist das Löffelchen Zucker dazu. Dass sowohl das Waldorf-, als auch das Poppins-Credo zwei unterschiedliche Ausprägungen des üblichen bürgerlichen Arbeitsethos darstellen, ist ihm entgangen, und wenn er überhaupt kritisch dazu steht, dann weil er glaubt, dass uns die bösen Medien- und Meinungsmacher mit irgendetwas von außen infiltrieren, das aber mit Zucker versüßen, so dass manche Infiltrierten („Materialisten“ vermutlich) das auch noch toll finden. Er kritisiert nicht die (Re-)Produktionsweise der Gesellschaft oder Ökonomie, sondern sieht das Böse lediglich in einer abstrakten Konsumsphäre.

Es ist bezeichnend, dass Mentzel von den „aktuellen Krisen“ redet, als wäre nicht deren Permanenz festzustellen. Als hätten „konventionelle Methoden“ die Menschheit irgendwie früher einmal aus dem selbstbereiteten Abgrund geführt. Aber schon in älteren Artikeln war Mentzel sich für Kritik der politischen Ökonomie zu schade, stattdessen polemisierte er lieber gegen die USA. Die „Impfstoffe“ Steiners sieht er längst verwirklicht: Sie werden uns freilich ‚von oben‘, von „Lobbyisten“ oder „Medien“ eingetrichtert. Dass die perennierende „Krise“ dagegen Ideologien ‚von unten‘ immer neu hervorbringt – ob das nun szientistische Hoffnung auf den ‚Fortschritt‘ ist, der angeblich den Aberglauben zum verschwinden bringen werde oder aber die esoterische, dass man Szientismus und Kapitalismus, die sowieso aus der bösen englischsprachigen Welt kommen sollen, durch den Kurzschluss mit höheren Welten exorzieren könne – wird freilich nicht bedacht. Denn das brächte auch zum Vorschein, dass die von Mentzel so abgelehnten „aufklärerischen Geister“ mit denen, die sich, wie er selbst, dann doch lieber für verschwörungstheoretisches Geheimwissen über die ‚wahren Schuldigen‘ unseres unhaltbaren Zustands entscheiden, letztlich eines Sinnes sind. Beide glauben, dass alles wunderbar wäre, wenn nicht die blöden Rückständigen oder die bösen Eliten (bzw. die sie inspirierenden Dämonen) alles verderben würden. Im Hinblick auf Impfungen behalten freilich die Aufklärer gegenüber den Technikfeinden Recht, nicht nur im Sinne von Krankheitsvorbeugung. Denn wer das Problem einer „materialistischen“ Gesellschaft nicht in der Gesellschaft, sondern im Materialismus sucht, und dem durch Sinn aus den Überwelten beikommen will, bereitet sich nur selbst seinen bittersüßen Schlaftrunk, statt reale Probleme anzugehen. Er impft sich am Ende noch selbst mit dem bösen Willen, Krankheit als „Verwandlung“ des Kindes auch noch gut zu finden, oder aber „spirituelle Erziehung“ als deren Substitut anzupreisen.

17. März 2015 at 4:39 pm 4 Kommentare

Djihad für die Freiheit: „Israel-Kritik“ bei „Themen der Zeit“

„Während es – gerade in der Linken – seit Jahrzehnten Streit darum gibt, ob und inwiefern sogenannte “Israel-Kritik” und sogenannter “Anti-Zionismus” nur schlecht getarnter Antisemitismus im neuen Gewand sind, lassen viele der aktuellen Pro-Gaza-Demos keinen Zweifel mehr: Parolen wie “Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein” dürften wohl seit 1945 nicht mehr in der Offenheit auf Berlins Straßen gebrüllt worden sein. Wer diesen Zusammenhang jetzt noch leugnet, macht wissentlich gemeinsame Sache mit einer hasserfüllten Meute.“
(„Israel-Kritik“ revisited; publikative.org)

Verschwörungsdenken: eine anthroposophische Normalität

Wenn russische Soldaten, wahlweise auch als „prorussische Separatisten“, durch die Ost-Ukraine wüten, sind in Wahrheit die USA schuld, die versuchen, die spirituelle Friedensmission des Deutschtums bzw. „Mitteleuropas“ zu verhindern. Und wer darüber kritisch berichtet, da sind sich viele Anthroposophen mit der neurechten „Friedensbewegung“ einig, geht den manipulierten „Mainstream-Medien“ auf den Leim. (vgl. EU und Ukraine – Neues von der angloamerikanischen Weltherrschaft) Denn über die hinterhältige Konspiration „des Angloamerikanertums“ hat schon Dr. Steiner während des Ersten Weltkriegs schwadroniert und völkische Anthroposophen haben seither nahezu jedes weltpolitische Ereignis in diese universal anwendbare Unterstellung integriert. Die ahrimanisch-„okkulten Logen“, die sich hinter „Amerika“ verstecken, haben in ihrer unsäglichen Bosheit schließlich Kaspar Hauser ermordet, eine kritische Steiner-Ausgabe verbrochen, den Ersten Weltkrieg und so nebenbei noch den Zweiten ausgeheckt (vgl. Anthroposophischer Geschichtsrevisionismus). Wer dazu die Macht und den Willen hat, kann zweifellos auch im Handumdrehen jede erdenkliche andere Krise auslösen.

Im antiwestlichen Ressentiment treffen sich Anthroposophen vom Schlag „Der Europäer“ mit politisch scheinbar moderateren Kandidaten, wie Michael Mentzel von „Themen der Zeit“, der sein Facebook-Profil gerade u.a. als persönliche Entlastungsseite für Wladimir Putin nutzt. Ich meine, dass Mentzels Phantasien eher mit altlinker Ideologie zusammenhängen, die ja die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie ohnehin bereitwillig durch Hass auf die „da oben“ und die USA ersetzte. Freilich ist es von dort aber nur ein Schritt zum völkischen Denken – einen besonders abstrusen Artikel zum Thema übernahm „Themen der Zeit“ „mit freundlicher Genehmigung“ vom „Europäer“. Die USA wollten einen Keil zwischen Russland und Europa treiben, um jene „geistige Ehe“ der letzteren beiden zu verhindern, die Rudolf Steiner beschrieben habe, hieß es da.

Obwohl solche Anthroposophen einen Machthaber wie Putin reflexhaft und wortreich unterstützen, haben sie sich zu weiteren Themen merkwürdig ausgeschwiegen: die aktuellen Exzesse von Antisemitismus und Islamismus etwa. Während in Irak und Syrien der „IS“ seine erklärt mörderische Gewaltherrschaft auszubauen versucht und die Hamas mit entsetzlichen Folgen für die palästinensische Bevölkerung jüngst wieder alles daran setzte, Israel anzugreifen, berichtet „Der Europäer“ in seiner September-Ausgabe (wie immer) bloß vom Ersten Weltkrieg oder einer Pudabester Konferenz über die eigenen Verschwörungsideologien. Michael Mentzel dagegen nahm trotz aller Schreckensmeldungen dieses Jahres tatsächlich ein „Sommerloch“ wahr und bloggte deshalb über „Demeter und die Formel1“. Auch die neue Unverhülltheit von Antisemitismus in Deutschland wurde nicht thematisiert.

Am 18. August erschien dann aber doch der unvermeidliche Beitrag „Qualitätsmedien? FAZ und SZ zu Gaza“. Autor Matthias Jochheim war offenbar bis 2013 im Vorstand von „IPPNW Deutschland – Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.“ Und genauso ist auch sein Artikel. Natürlich: „Themen der Zeit“ zeichnet sich oft ohnehin durch sachliche Irrelevanz aus und die Realitätsferne dieses Beitrags ist letztlich auch nicht größer als sonst. Seine Brisanz liegt im spezifischen Inhalt. Ob die Ursache davon Dummheit, Ahnungslosigkeit, böser Wille oder sonstwas sein mag – keine Ahnung, aber selbstbewusst desinformierte Texte auf „Themen der Zeit“ waren ja schon früher festzustellen (vgl. EU und Ukraine, Friedrich Hiebel und die Waldorfschulen in der NS-Zeit, Michael Mentzel bestätigt, Entwicklungsrichtung Anthroposophie, Die unendliche Geschichte, Mentzels Traum)

Death for Allah

Da Matthias Jochheim sich mit zwei Reaktionen in SZ und FAZ auf den jüngsten Gaza-Krieg beschäftigt, und im Endeffekt „Freiheit für Gaza“ fordert, ohne aber näher auf die dortigen Verhältnisse einzugehen, seien diese hier kurz ergänzt. Hamas lässt an ihrer von Jochheim nicht näher ausgeführten Motivation keinen Zweifel, wie dem fleißigen Facebook-Nutzer Mentzel auffallen könnte: „ALLAH IS OUR GOAL, THE PROPHET IS OUR LEADER, JIHAD IS OUR WAY, AND DEATH FOR ALLAH IS OUR MOST EXALTED WISH“. Der Hamas-Charta ist unzweideutig zu entnehmen, dass Frieden mit Israel keine Option für die Terrororganisation ist. „Dass das Banner Allahs über jedem Zentimeter von Palästina“ wehen soll, ist eine klare Absage an jene Zweistaatenlösungen, die einst auch weisere Anthroposophen wie Schmuel Hugo Bergman propagiert hätten. Im Gegenteil wird kein Hehl daraus gemacht, dass die Hamas auch den allerletzten Juden töten will:

„Der Prophet – Andacht und Frieden Allahs sei mit ihm, – erklärte: Die Zeit wird nicht anbrechen, bevor nicht die Muslime die Juden bekämpfen und sie töten; bevor sich nicht die Juden hinter Felsen und Bäumen verstecken, welche ausrufen: Oh Muslim! Da ist ein Jude, der sich hinter mir versteckt; komm und töte ihn!  … Ansätze zum Frieden, die sogenannten friedlichen Lösungen und die internationalen Konferenzen zur Lösung der Palästinafrage stehen sämtlichst im Widerspruch zu den Auffassungen der Islamischen Widerstandsbewegung. Denn auf irgendeinen Teil Palästinas zu verzichten bedeutet, auf einen Teil der Religion zu verzichten; der Nationalismus der Islamischen Widerstandsbewegung ist Bestandteil ihres Glaubens. … Für die Palästina-Frage gibt es keine andere Lösung als den Djihad.“ (Artikel 7, 13)

Mit dem radikalen Islam verbindet sich hier und anderswo ein Verschwörungsdenken, das vielen Anthroposophen vertraut sein müsste. Statt des Angloamerikanertums sind hier jedoch „die Zionisten“ an allem schuld:

„Sie standen hinter der Französischen Revolution und hinter den kommunistischen Revolutionen und den meisten Revolutionen, von denen man hier und da hört. … Sie nutzten das Geld ebenfalls dazu, die Macht über die imperialistischen Länder zu gewinnen und sie dazu zu bringen, viele Länder zu kolonisieren, um die Reichtümer dieser Länder auszubeuten sowie ihre Korruption dorthin zu verbreiten. Hinsichtlich der regionalen und weltweiten Kriege ist es zweifellos soweit gekommen, dass die Feinde hinter dem I. Weltkrieg standen um so das Islamische Kalifat auszulöschen. Sie sammelten materielle Ressourcen und übernahmen die Kontrolle über zahlreiche Quellen des Wohlstands. Sie erreichten die Balfour-Erklärung und etablierten den Völkerbund, um mit den Mitteln dieser Organisation über die Welt zu herrschen. Sie standen ebenfalls hinter dem II. Weltkrieg, in dem sie immense Vorteile aus dem Handel mit Kriegsausrüstungen zogen und die Etablierung des Staates Israel vorbereiteten. Sie inspirierten die Errichtung der Vereinten Nationen und des Sicherheitsrats, um den Völkerbund zu ersetzen und die Welt mithilfe ihrer Mittelsmänner zu beherrschen. Es gab keinen Krieg, an welchem Ort auch immer, der nicht ihre Fingerabdrücke trägt.“ (Artikel 22)

Dieser Wahn legitimiert jede Grausamkeit. Nachdem diesen Sommer der nächste Krieg gegen Israel vom Zaun gebrochen worden war und die IDF bekanntlich mit einer Bodenoffensive reagierte, wussten die Djihadisten sich routiniert zu helfen. Gezielt wurden palästinensische Zivilisten als menschliche Schutzschilde benutzt, gezielt die Zerstörung von Infrastrukturen und Wohnhäusern befördert – wie das am besten zu forcieren sei, erklärte ein eigenes Handbuch. Gezielt wurden außerdem Opferzahlen manipuliert (z.B. getötete Kämpfer zu Frauen und Kindern gemacht) sowie Nachrichtenagenturmeldungen zensiert. Davon ganz unabhängig kann Hamas sich der Unerstützung durch deutsche Medien sicher sein. Wie die Wahrheit zu Israels Ungunsten zurechtgebogen wird, illustrieren schon hiesige Schlagzeilen: „Israel erwidert trotz neuer Waffenruhe Beschuss aus Gaza“, empörte sich etwa der Spiegel. Kein Land wird in deutschen Medien so oft und harsch kritisiert wie Israel, das lässt sich sogar statistisch belegen, wie eine Studie der TU Berlin unter Leitung von Monika Schwarz-Friesel zeigt.

Israel ist an allem Schuld

Matthias Jochheims Beitrag versteht es, sich gänzlich mit dem antisemitischen Hamas-Terror zu solidarisieren, ihn als legitimen „Aufstand“ in einem „Ghetto“ auszugeben und alle eben skizzierten Propagandastrategien für bare Münze zu nehmen. Von diesem Standpunkt aus sieht die israelische Reaktion auf die Hamas-Beschüsse dann logischerweise so aus: „Eine mit modernsten Zerstörungsmitteln ausgerüstete Armee überfällt zu Wasser, zu Lande und zur Luft eine dicht besiedelte, abgeriegelte und durch jahrelange Handels- und Reiseblockaden ausgepowerte Enklave, tötet rund 1900 Menschen – zu mindestens zwei Dritteln unbewaffnete Zivilisten, darunter rund 400 Kinder – und erklärt dies zu einer Operation gegen den Terror.“ (Qualitätsmedien? FAZ und SZ zu Gaza) So ist die Täter-Opfer-Umkehr perfekt, Israel wird sogar noch die Ausrüstung seines Militärs zum Vorwurf gemacht.

Erst im zweiten Absatz wird nebenbei erwähnt, dass diese so zur puren Aggression verbogene Militäroffensive „mit dem Abschuss vorsintflutlicher, ungesteuerter Raketen“ „begründet“ werde. Der Beschuss der Hamas verwandelt sich in Jochheims Text in eine Art bloß vorgeschobener Behauptung Israels. Im weiteren werden die Schäden auf beiden Seiten gegeneinander aufgerechnet. Dass „nur“ drei israelische Zivilisten getötet worden seien, wird erneut zu Ungunsten Israels präsentiert. Unerwähnt bleibt selbstverständlich, dass die israelische Regierung weder Geld noch Mittel scheut, um Zivilisten zu schützen, während in Gaza umgekehrt Waffen in zivilen Einrichtungen versteckt und von dort aus abgeschossen werden. Dass die israelische Staatsraison glücklicherweise einigermaßen funktioniert, wird ihr vielmehr zum Vorwurf gemacht: Als wäre die Situation irgendwie ausgeglichen, wäre dort mehr Schaden angerichtet, wären mehr Israelis getötet worden.

Seine verdrehte Darstellung setzt Jochheim dann als real voraus, um FAZ und SZ ihre immerhin etwas weniger verdrehte Berichterstattung zum Vorwurf zu machen: „Verantwortlich ist in erster Linie Hamas, die „endlich einzusehen“ habe, „dass sie ihr Volk nicht weiter der krass überlegenen Kriegsmaschine ausliefern darf.“(!)“ Was an diesem SZ-Satz falsch sei, erläutert der Autor nicht, da er aber den Hamas-Beschuss auch nur für den Vorwand für eine wodurch auch immer zu begründende Aggression Israels zu halten scheint, ist offensichtlich, dass er schlicht Kritik an der islamistischen Terrororganisation ablehnt. Die Aussage des SZ-Kolumnisten, dass die Situation zum Verzweifeln sei, kommentiert er so: „Na – wenn ohnehin nichts daran zu ändern ist, kann die deutsche und erst recht die US-Regierung ja ruhig weiter Waffen und Finanzsubventionen an ihre israelischen Regierungsfreunde senden, da muß sich der SZ-Leser nicht mehr darüber Sorgen machen!“

Das liest sich wirr und unverständlich, doch Jochheims Kommentar zu einem Satz in der FAZ schafft Klarheit: „Und es stimmt einfach nicht, dass immer Israel an allem schuld ist“, hieß es wohl in FAZ. Dazu Jochheim: „(!) FAZ=  Frankfurter Allgemeiner Zynismus.“ Jochheim geht also offensichtlich schlicht davon aus, dass Israel wirklich „an allem schuld ist“. Dem ist durch Argumente freilich nicht mehr beizukommen. Dass FAZ und SZ sich in der Zurückweisung einer solchen Alleinschuld Israels einig seien, veranlasst den Arzt gegen Atomkraft gar zu dem makaberen Kommentar, dass es wohl „Kommunikationstunnel zwischen Frankfurt und München“ gebe.

„Die Situation in Gaza wird mit einiger Berechtigung immer wieder mit einem Ghetto verglichen“, weiß Jochheim, und enttarnt diesen perfiden Vergleich natürlich nicht als das, was er ist, sondern schließt sich ihm an. 1,8 Millionen seien von der Außenwelt abgeriegelt, und über die von Israel zur Verfügung gestellten Hilfsgüter heißt es abstruserweise, sie würden den Palästinensern wegen der „Blockade ganz unzureichend geliefert“. Wurde der Ghetto-Vergleich erst referiert, erscheint er im nächsten Absatz schon als Realität und der Erlösungsantisemitismus der Djihadisten als „Aufstand“ in demselben: Terror als subversive Praxis. Die Rede von „Aufstand“ und „Ghetto“ legt noch ganz andere, geschichtsrevisionistische, Assoziationen nahe – den beliebten Vergleich Israels mit den Nazis nämlich –, aber es ist nicht auszuschließen, dass dem offenbar unkundigen Jochheim diese Verharmlosung der Judenverfolgung schlicht entgangen ist.

„Freiheit für den Gaza-Streifen“

Zum Schluss muss noch der Ha’aretz-Journalist Gideon Levy herhalten, von dem neun „Forderungen“ als „Grundlage“ einer „fairen Verständigung“ paraphrasiert werden. „Fair“ heißt selbstredend, dass Israel (wohl aufgrund seiner Alleinschuld) alle Waffen abziehen, Waffenruhen zusagen und Gaza ökonomisch aufbauen muss. Terroristen, die den Tod auch des letzten Juden und ihrer selbst (als Märtyerer Allahs) wünschen und beides mit allen Mitteln herbeizuführen suchen, möglichst wenig einschränken: Zweifellos ein sicherer Weg zum Ende des Nahostkonflikts. Der Artikel endet mit einem wörtlichen Zitat von Levy und einem weiteren unverblümten Kommentar von Jochheim:

„Levy resümiert: „Die Hamas und der Islamische Dschihad fordern Freiheit für denGaza-Streifen. Es gibt wohl keine Forderung, die verständlicher und berechtigter ist. Wenn wir das nicht akzeptieren, werden wir nicht den gegenwärtigen Zyklus der Gewalt durchbrechen, und in einigen Monaten wird alles so weitergehen wie bisher.“ Es ist schade, dass wir in unseren sogenannten Qualitätsmedien einen so abgewogenen Beitrag  zur Meinungsbildung nur mühsam auffinden können.“

Wer das glaubt, hat die israelfeindliche Berichterstattung der deutschen Medien (inklusive SZ und Spiegel) offenbar verschlafen – neben vielem anderen. Dass es Hamas und Islamischem Djihad um Freiheit gehe, lässt sich wohl höchstens in Orwells Neusprech ernsthaft behaupten. Freiheit für Gaza, die diesen Namen verdiente, wäre nicht ohne Freiheit von Islamismus und Scharia zu haben. Die Freiheit für Gaza dagegen, die Levy und Jochheim anscheinend fordern, liefe auf uneingeschränkte Herrschaft antisemitischer Gewalt hinaus. Wahrscheinlich würde deren Umsetzung beiden Autoren missfallen, aber das ist keine Entschuldigung für seine Hamas-Apologie.

Es wäre unfair, Jochheims Beitrag „der Anthroposophie“ anzulasten. Janós Darvas etwa tritt seit Jahren in zahlreichen kraftvollen Texten mit aller Klarheit für eine jüdische Anthroposophie ein und hat auf der Webseite der auflagenstarken anthroposophischen Zeitschrift Info3 einen leidenschaftlichen Beitrag gegen die Verharmlosung von Hamas geschrieben:

„Hamas kämpft einen aussichtslosen Kampf auf dem Schlachtfeld. Das wissen sie. In Wirklichkeit ist es unter anderem ein Propagandakampf, den sie schlau in die westlichen Medien und in die westliche Öffentlichkeit hineintragen, und viele fallen darauf herein. Ziel erreicht! … Denn das, was Hamas und andere Islamisten antreibt, ist Antisemitismus – militant, fanatisch, eliminatorisch. Verurteile ich ihn hier, muss ich ihn auch dort verurteilen. Und zwar rückhaltlos und nachhaltig.“ (Darvas: Antwort an einen deutschen Freund)

Aber Info3 ist das einzige anthroposophische Organ, auf das man sich, wenn Anthroposophistan sich wieder einmal mit der nächstbesten Barbarei solidarisiert, einigermaßen verlassen kann.

1. September 2014 at 7:06 pm 1 Kommentar

EU und Ukraine: Neues von der angloamerikanischen Weltherrschaft

„Gutmütige Enthusiasten dagegen, Deutschtümler von Blut und Freisinnige von Reflexion, suchen unsere Geschichte der Freiheit jenseits unserer Geschichte in den teutonischen Urwäldern. Wodurch unterscheidet sich aber unsere Freiheitsgeschichte von der Freiheitsgeschichte des Ebers, wenn sie nur in den Wäldern zu finden ist? Zudem ist bekannt: Wie man hineinschreit in den Wald, schallt es heraus aus dem Wald. Also Friede den teutonischen Urwäldern! Krieg den deutschen Zuständen!“
– Karl Marx, Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie

Während die deutsche Berichterstattung um die sog. „Ukraine-Krise“ und Euromaidan-Proteste mit anschließender „Krim-Krise“ und über Putins großrussischen Chauvinismus schon wieder abflaut, nährt sie noch die Sehnsucht heimischer Verschwörungsdenker. Wie immer auch in der anthroposophischen Szene. Einsam steht hier ein Artikel der liberalen Zeitschrift Info3 gegen eine Front, die von rechten Konspirationsnostalgikern wie Willy Lochmann zu Schwätzern wie Michael Mentzel reicht. Deren Feindbilder sind klar: USA, EU und die manipulierten „westlichen Medien“. Ihr Ziel: Ein spirituelles, ungegängeltes „Mitteleuropa zwischen Ost und West“.

Pläne zur "Neugestaltung Europas", erdacht "in den geheimen Zirkeln der englisch sprechenden Welt": Steiners verschwörungstheoretische Phantasien, abgedruckt von Karl Heise, der später Himmler und Rosenberg als Stichwortgeber diente (aus: Heise: Die Entente-Freimaurerei und der Weltkrieg, Basel 1918).

Pläne zur „Neugestaltung Europas“, erdacht „in den geheimen Zirkeln der englisch sprechenden Welt“: Steiners verschwörungstheoretische Phantasien, abgedruckt von Karl Heise, der später Himmler und Rosenberg als Stichwortgeber diente (aus: Heise: Die Entente-Freimaurerei und der Weltkrieg, Basel 1918).

„Themen der Zeit“: Feindbild Westen

Die deutsche Meinung steht: Böse, gleichgeschaltete Medien machen sich über Putin lustig, linke und rechte Blätter entdecken ihre Sympatien für ihn. Rigolf Hennig von der rechtsradikalen „Europäischen Aktion“, erklärt, die ukrainischen Nationalisten seien von „den Zionisten im Gewand der EU“ als „nützliche Idioten“ missbraucht worden. Und weiter: „Wenn das Monster ‚Zionismus‘ über die Ukraine verfügt, dann ist Russland gefährdet und nur noch China steht zwischen ihm und der Weltherrschaft.“ Klar, wem da die Sympathien gelten: „Auch wenn Putin schwer zu durchschauen ist: er hat bislang geopolitisch gute Arbeit geleistet“, so Hennig. Ähnlich mahnt Nick Griffin, Chef der neofaschistischen British National Party, die ukrainischen Genossen, „den US- und EU-Globalisten bei ihrem anhaltenden Krieg gegen die Völker Europas, was selbstverständlich Russland einschließt“, nicht nachzugeben.  Udo Voigts, ehemaliger Vorsitzender und aktueller Europa-Spitzenkandidat der NPD findet, EU und USA „hetzen die Ukrainer gegen die Russen auf und lassen sie am Ende doch im Stich“ (zit. n.  Carsten Hübner)

Natürlich haben die allerwenigsten Anthroposophen Sympathien für die NPD (Steiner war ja in ihren Augen auch der größte Antirassist) und derartiges will ich keinem der im Folgenden Zitierten unterstellen. Bekanntermaßen sind die Meinungen der Mitte den Thesen von rechts aber in der Regel nicht so unähnlich, wie erstere gern glauben möchte. In Anthroposophistan weiß man überdies seit Steiners Zeiten, dass der freie Westen die wahre Gefahr für alle dreigegliederten Mitteleuropäer ist. Michael Mentzel von „Themen der Zeit“ schrieb bereits im März in Erinnerung an Steiners Politikmodell:

„Deutschland und die EU wären gut beraten, endlich die Aufgabe einer echten Mittlerrolle zwischen Ost und West einzunehmen und gleichzeitig darüber nachzudenken, wie die Ideale der Freiheit, der Gleichheit und der Brüder- oder Geschwisterlichkeit endlich einmal Fuß fassen könnten in unserer Gesellschaft. Der aktuelle Konfrontationskurs, den die derzeitige Große Koalition – mit freundlicher Unterstützung der Grünen – in Sachen Ukraine und Krim eingeschlagen hat, wird uns in die falsche Richtung führen. Völlig in den Hintergrund scheinen die Vorgänge um Edward Snowden und die NSA zu geraten. Haben wir eigentlich immer noch nicht bemerkt, dass die Überwachungs- und Kontrollpraktiken der westlichen Geheimdienste längst unser aller Leben im Blick hat? Stattdessen schaudert Otto-Normalbürger immer noch vor „dem Leben der Anderen“ (Ein Film, der die Praktiken der Stasi-Ost zum Thema hatte) und bei dem Hinweis auf die KGB-Vergangenheit Putins gerät er gleich vollends aus dem Häuschen und sieht sich schon in Sibirien erfrieren und verhungern. Wer die Berichterstattung während der Olympiade einigermaßen aufmerksam verfolgt hat, wird wissen, was hier gemeint ist.“

Da der finstere Westen in Mentzels Augen Sowjetunion und Stasi-Terror also längst an Boshaftigkeit überholt hat, solle die deutsche Regierung sich lieber als „Mittlerin“ erweisen und den großrussischen Chauvinismus gleichberechtigt berücksichtigen. Mentzel hat, wie die zitierten Zeilen vermuten lassen, viel Verständnis für Putin übrig, die russische Annexion der Krim hält er für demokratisch legitimiert, ebenso Janukowitsch, keineswegs jedoch die Euromaidan-Revolutionäre. Dass diese erst auf ihre Kriminalisierung durch Janukowitsch militant wurden, ja der ganze Hergang der Ereignisse wird nicht näher erläutert. Was Mentzel wirklich interessiert, zeigt der im Artikel kontextlos eingeführte Edward Snowden: Die „westlichen Geheimdienste“. KGB-Putin ist Mentzel anscheinend die sympathischere Option, obwohl er dessen „Politik des Stärkeren“ immerhin ein bisschen unheimlich findet. Doch Putin sei höchstens genauso schlimm wie die USA:

„Einhundert Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs steht die Welt wieder einmal vor dem Scherbenhaufen einer ideenlosen Gesellschaft, in der das so genannte Recht des Stärkeren fröhliche Urstände feiert. Und es ist beileibe nicht nur Wladimir Putin, der diesem „Recht“ durch sein derzeitiges politisches Handeln Ausdruck verleiht. Die geopolitischen Interessen der USA und seiner westlichen Verbündeten sorgen für einen Ausgleich in diesem Spiel, in dem sich – seit dem Ende des Kalten Krieges – die ehemals klar erkennbaren Trennlinien in andere Sphären verlagern, die Akteure in diesem Spiel unterhalb der allgemeinen und öffentlichen Wahrnehmungsschwelle agieren und ein wahrhaft gefährliches Spiel treiben.“

Natürlich war der ukrainische Versuch, Russisch als Zweitsprache in Landesteilen mit überwiegend russisch sprechender Bevölkerung zu vebieten, sicher nicht der klügste. Natürlich darf man bezweifeln, dass eine Integration der Ukraine in die EU bei gleichzeitigen Problemen mit Gaslieferungen von russischer Seite den einzelnen Landesbürgern mittelfristig viel helfen wird. Natürlich kann man allerlei an der EU aussetzen. Aber die Ukraine ist für Mentzel von minderer Bedeutung. Der echauffiert sich vielmehr über Deutschlands und der EU Versuch, sich politisch an die USA zu halten, über Auslandseinsätze der Bundeswehr und die unterkühlte diplomatische Beziehung mit Russland. „Mitteleuropa zwischen Ost und West“ – das schwebte schon Steiner als ideale politische Konstellation vor. Am deutschen Wesen muss die Welt genesen, das dafür vor allem eines nicht darf: sich mit dem hinterlistigen „Angloamerikanertum“ verbünden. Steiner:

„Damit soll nicht gesagt werden, daß Mitteleuropa nicht im Sinne einer inneren politischen Gestaltung eine Fortentwickelung erfahren solle, allein eine solche darf nicht die Nachahmung des westeuropäischen sogenannten Demokratismus sein, sondern sie muß gerade dasjenige bringen, was dieser Demokratismus in Mitteleuropa wegen dessen besonderer Verhältnisse verhindern würde. Dieser sogenannte Demokratismus ist nämlich nur dazu geeignet, die Menschen Mitteleuropas zu einem Teile der englisch-amerikanischen Weltherrschaft zu machen, und würde man sich dazu auch noch auf die sogenannte zwischenstaatliche Organisation der gegenwärtigen Internationalisten einlassen, dann hatte man die schöne Aussicht, als Mitteleuropäer innerhalb dieser zwischenstaatlichen Organisation stets überstimmt zu werden.“ (Rudolf Steiner: Memorandum vom Juli 1917, GA 24, 350)

„Das Deutschtum“, da war Steiner sicher, „kann für England-Amerika nur so behandelt werden, dass es als kleinstes Hindernis für dieses wirkt. Daher kann das Deutschtum sich nur retten, wenn es erkennt, was ihm droht und sich darauf einrichtet, durch Harmonisierung seiner Interessen mit denen der slawischen Welt.“ (GA 173c, 269) Mentzel ist sicher kein Antidemokrat, vielleicht eher ein Verfechter der anthroposophischerseits inzwischen favorisierten „Direkten Demokratie“. Aber die Angst vor der „englisch-amerikanischen Weltherrschaft“ (Steiner) und ihrer selbstverständlich dekadenten, materialistischen Kultur teilt er offenbar, wenn er schreibt:

„Garniert wird das alles mit einem kaum definierbaren Freiheitsgeschwurbel. den „Segnungen“ des Infotainment und einer damit eng kooperierenden schier allmächtigen Unterhaltungsindustrie, die dafür sorgt, dass Ruhe herrscht im Karton. Die Ruhe aber ist trügerisch, denn es brodelt ganz schön unter der Schminke, mit der die Probleme in unserem Land – nur notdürftig – überdeckt werden. Werden wir demnächst mit dem Hinweis auf eine – natürlich durch Russland – gefährdete Energieversorgung, die dann auch die Konjunktur gefährdet, wieder über verlängerte Laufzeiten der AKW reden? Oder über das Fracking, dass ja in den USA so „erfolgreich“ angewendet wird? Braucht es tatsächlich noch die Bilderberger oder gar den eher nach rechtsgeschwenkten Kopp-Verlag, um festzustellen, dass hier Entwicklungen im Gange sind, deren Folgen kaum abzusehen sind?“

Mentzel ist scheinbar nicht allzu wohl dabei, auf Bilderberger und Kopp hinzuweisen. Aber er realisiert zurecht, dass man seine Einschätzung der Zeitlage eher dort teilen würde als anderswo. Zwar hat man der russischen Schwulen- und Lesbenfeindlichkeit und anderen Grausamkeiten der dortigen Politik bei „Themen der Zeit“ keine Zeile gewidmet und auch kein Wort darüber verloren, warum die Ukrainischen Protestler sich eher der EU als dem russischen Imperialismus zuwandten, dem sie nichts zu verdanken hatten. Nun aber übernimmt Mentzels Seite einen Artikel des Soziologen Arno Klönne, der unter anderem schreibt:

„Völlig außer Kontrolle ist die Entwicklung in der Ukraine geraten. Aus der geplanten ‚zivilgesellschaftlichen‘ Übernahme des Terrains ist nichts geworden, das Land mit seinen Turbulenzen wird nun zu einer kostspieligen Last, der neue Kalte Krieg bringt nachhaltige Beschädigungen deutscher Wirtschaftsinteressen hervor. Lästig ist auch, dass in der deutschen Medienwelt die Aggressionen gegen den „Brandstifter Putin“ sich verselbständigen; so militant hat die regierende Koalition das nicht gewünscht. Die Mehrheit der Deutschen aber findet solcherart Russophobie unsinnig, Zweifel an der Steuerungsfähigkeit der eigenen Regierung kommen auf.“

Thomas Meyer und Willy Lochmann: „Das eigentliche Fernziel der EU“

In der Basler Zeitschrift „Der Europäer“ hält man sich zwar für antinationalistisch, teilt aber die Feinde der extremen Rechten und der antiimperialistischen Linken. Während „Themen der Zeit“ sich mit modisch-antiwestlichem Ressentiment begnügt, werden im „Europäer“ die widerlichen esoterischen Hintergrundüberzeugungen sichtbar. Im Editorial der April/Mai-Ausgabe 2014 schreibt „Europäer“-Chefredakteur Thomas Meyer wieder einmal über die gerade erschienene erste historisch-kritische Steiner-Ausgabe, die er für eine Verschwörung der Mormonen hält. Im selben Text geht es auch um die sog. Ukraine-Krise – wirkt zusammenhanglos, ist es aber nicht. Das Schlüsselwort heißt wieder „Angloamerikanertum“ und hinter diesem stehen geheime, verschworene okkulte Zirkel. Die stehen hinter allem Ausdenkbaren: Wissenschaftlichen Büchern über Rudolf Steiner, hinter dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, der EU, den demokratischen Kräften in der Ukraine – und den USA ja ohnehin. Meyer zitiert natürlich keine rechte Quelle, um seine abstrusen Theoreme zu belegen, dafür aber die links-antisemitische Tageszeitung Junge Welt. Wie Udo Voigts und letzteres Schmierblatt sieht er den Weltfrieden durch die hinterhältige westliche Zuwendung zur Ukraine in Gefahr. Hinter den Euromaidan-Protesten sieht er dagegen freilich nichts als die nun ebenfalls an die Macht gekommenen ukrainischen Faschisten.

„Im November 2013 hatte der abgesetzte ukrainische Präsident Janukowitsch ein Assoziierungs-Abkommen mit der EU auf’s Eis gelegt – Auftakt zu den von einem Profiboxer mitgeleiteten Unruhen. Besonders besorgniserregend: die Mitwirkung neo-nazistischer Kräfte beim Kiewer Staatsstreich. Die Einseitigkeit westlicher Berichterstattung ist phänomenal. Die argentinische Schriftstellerin Stella Calloni schrieb am 24. Februar in der Tageszeitung Junge Welt über den Kiewer Putsch: ‚Die jüdische Bevölkerung in der Ukraine muss um ihre Sicherheit und Unversehrtheit fürchten, und ausgerechnet in Deutschland wird der Grund dafür bejubelt. Außerdem sehen viele nicht, dass die aggressive NATO-Politik den Weg für den Dritten Weltkrieg bereitet (…) Die Kette Irak, Libyen, Syrien und jetzt Ukraine führt geradewegs dahin. Die USA und Europa stecken in einer tiefen Krise, das macht sie so gefährlich (…) In Deutschland und Europa sind die Menschen nicht richtig informiert und sich auch nicht darüber im Klaren, dass ihre Regierungen zwar überall Sprengsätze legen, die Zünder dafür aber andere in der Hand halten.'“

Endlich einmal wieder echte „Faschisten“ ausmachen und sie dann noch vermeintlich den USA anlasten zu können, überdies im Zitat einer echten „Tageszeitung“ auch noch den Hinweis auf einen Dritten Weltkrieg dank NAZO zu finden – darauf muss man beim „Europäer“ lange gewartet haben. Und für alle, die den Wink mit dem Zaunpfahl noch nicht verstanden haben, steuert Meyer auch gleich noch bei, dass die angloamerikanischen Dunkelmänner hinter allem stecken:

„‚Tonangebend ist eine Gruppe von Menschen, welche die Erde beherrschen wollen mit dem Mittel beweglicher kapitalistischer Wirtschaftsimpulse‘, so konstatierte bereits Rudolf Steiner nach dem Ersten Weltkrieg in einer erstmals im Europäer veröffentlichten Notiz.“

Diese „Notiz“ liest sich weiter so:

„Hinter der Politik der englischsprachigen Völker steht als fester Plan die allmähliche Beherrschung der Welt durch diese Völker … Für diesen Plan wird die Elite der englischsprachigen Völker in den geistigen Gemeinschaften erzogen, die hinter dem sichtbaren Geistes- und Kulturleben der englischsprachigen Völker stehen und von denen das Sichtbare nur der äußere Ausdruck ist.“ (GA 173c, 268f.)

Das zitiert Meyer zwar nicht, hält es aber zweifellos für richtig und formuliert seine eigene, ‚zeitgenössische‘ Version zur „Errichtung einer Welt-Herrschaft unter anglo-amerikanischer Führung“:

„Vergessen wir niemals das eigentliche Fernziel der EU, wie es einmal Winston Churchill für die Vereinigten Staaten von Europa vorgesehen hatte: die Errichtung einer Welt-Herrschaft unter anglo-amerikanischer Führung. Churchill machte unmissverständlich klar: ‚Ohne ein vereintes Europa gibt es keine sichere Aufsicht auf eine Welt-Regierung.‘ (London 14. Mai 1947)* In dieses Europa sollte seit geraumer Zeit auch die Ukraine mehr und mehr eingebunden werden. Das ging nicht so glatt von statten, wie erwartet. Die Aktivierung legal stationierter russischer Truppenteile auf der Krim wurde zur ‚Invasion‘ aufgebläht und Russland mit Sanktionen gedroht, denn es habe in eklatanter Weise Völkerrecht gebrochen, – eine unüberbietbare Heuchelei, wenn die Vorwürfe von Seiten der seit bald einem Jahrhundert global agierenden Invasions-Macht USA erhoben werden.“

USA und EU, aber letztere nur als verlängerter Arm der ersteren, sind für Meyer und Konsorten durchweg böse. Hier zeigt sich einmal mehr der explizite Hass auf Demokratie und Rechtsstaat, für die brave Deutsche die Alliierten nach zwei Weltkriegen zu verachten gelernt haben. A priori steht auch fest, welche Verbündeten gegen die westliche Welt man beim „Europäer“ wie in links- und rechtsradikalen Kreisen schätzt: Russland. Natürlich hat die erbarmungslose staatliche Homophobie und Putins autoritäre Politik auch im „Europäer“ bisher keine Ächtung gefunden. Aber so richtig empfehlenswert wird Russland dann doch erst, wenn es auf Konfrontationskurs mit dem verhassten Westen geht: In einer älteren Notiz hatte „Der Europäer“ empfohlen, zum Krimreferendum könne man sich auf russischen Kanälen besser informieren als in westlichen Medien.

Ähnlich sieht das der Anthroposoph Willy Lochmann. In einer 5-seitigen Ausgabe seines obskuren Online-„Rundbriefs“ schreibt er etwa:

„Die Feinde der menschlichen Zivilisation sind unentwegt aktiv, eine „Baustelle“ nach der anderen wird „aufgearbeitet“. Nun ist die Reihe an der Ukraine, nachdem die „Umtriebe“ in Syrien, trotz der üblichen gigantischen Propaganda-Walze, im Gegensatz zu Libyen, nicht zur völligen Zufriedenheit verlaufen sind. Die geopolitische „Denkfabrik“ (Think Tank) Zbigniew Brzeziński beschreibt  welchem Zweck die „demokratische“ Umwandlung der Ukraine in eine Ganovenrepublik dienen könnte. Die uns im Westen servierten Berichte über die verworrenen Verhältnisse waren nie dazu angetan, uns die Probleme und Unruhen wirklich verständlich zu machen – im Gegenteil…“

Und so geht es seitenlang, großenteils in Zitaten weiter. Lochmann bekundet neben vielem anderen seine Sympathie für Putin und lässt dabei den Kopp-Verlag sowie den anthroposophischen Holocaustleugner Gennadij Bondarew zu Wort kommen.

Info3: Kritik auf einsamem Posten

Dass die anthroposophischen Positionen so sehr an rechte Sympathien und Feindschaften erinnern, sollte nicht von einem wesentlichen Detail ablenken. Es sind, sieht man vielleicht von Lochmann ab, weit eher die salonfähigeren Amerikahasser aus der antiimperialistischen Linken, die in Anthroposophistan zitabel sind. Und es ist keineswegs nur eine pseudomarxistische linke Splittergruppe, die in dieser Weise zur Solidarität mit dem russischen Chauvinismus aufruft. Beides hat kenntnisreich Jens Heisterkamp in der aufgeklärtesten anthroposophischen Zeitschrift, Info3, herausgearbeitet:

„Im politischen Diskurs steht solchen Ambitionen eine erstaunliche Bereitschaft an Verständnis gegenüber: Ob Gregor Gysi, Gerhard Schröder, Egon Bahr, Peter Gauweiler, Antje Vollmer oder Alice Schwarzer: Der Wille, ja nicht einer „Polarisierung“ das Wort zu reden und auf Russland „Rücksicht zu nehmen“, ist parteiübergreifend verbreitet. Noch eifriger sind verschwörungstheoretische Netzwerke dabei, wenn es darum geht, die machtpolitischen Interessen Russland zu relativieren. Sie treffen sich oft in einer auch von der Eurasien-Philosophie propagierten Ablehnung der modernen individualistischen Lebenshaltung, die manche als faschistisch einstufen. Das ganze Ukraine-Szenario, so kann man hier hören, sei eigentlich von den USA angelegt, um Russland schlecht aussehen zu lassen und ihm in der Folge den Zugang zum Weltmarkt zu verbauen. Russlands Landgier sei vom Westen geschürt, es laufe in eine „Falle“. – Abgesehen davon, dass diese Lesart sämtliche vorangegangenen Dialog-Gesten des Westens (bis hin zum Angebot einer russischen Nato-Mitgliedschaft) negiert, ist hier die Denkfigur bemerkenswert, wonach jedwedes tyrannische Verhalten auf dieser Welt entweder weniger schlimm ist als das der Amerikaner oder im Zweifelsfall sogar „eigentlich“ von ihnen angezettelt sei. Das ist gerade auch in Deutschland erstaunlich: Denn für viele, die in den 30er Jahren auf Hitler hereingefallen sind, waren auch damals die eigentlich „Bösen“ diffuse „Schattenbrüder“, die man dem Westen zuordnete und es ging für die gutbürgerlichen Intellektuellen nicht an, sich auf „eine der bösen Seiten“ zu stellen. Auch die Deutung des Ersten Weltkriegs folgt in manchen, auch anthroposophischen Kreisen bis heute dieser Lesart, wonach Deutschland durch „englischsprachige Zirkel“ seinem wahren Wesen entfremdet und zu Großmachtgebaren verführt wurde.

Solche schlafwandlerischen Ausfälle gehören zum Schmerzlichen dieser Tage: dass man dort, wo man wenigstens einen freien Blick auf die Dinge haben könnte, zum Opfer der eigenen Gescheitheit wird und beginnt, offensichtliche Gewalt schönzureden. „Wenn wir uns für Europa einsetzen, geht es dabei auch um unsere Souveränität. Um die Menschenrechte und um die Freiheit. Das sind nicht nur schöne Worte, das ist die nackte Wahrheit“, sagte kürzlich der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch auf einer Veranstaltung der Böll-Stiftung in Berlin. Wird hierzulande im entscheidenden Moment die Idee von Freiheit und die Solidarität mit denen, die dafür kämpfen, aufgegeben – mit den besten alternativen, friedensbewegten oder auch spirituellen Absichten?“

8. April 2014 at 9:08 pm 5 Kommentare

Friedrich Hiebel und die Waldorfschulen in der NS-Zeit – oder: mehr Michael Mentzel

An den jüdisch-stämmigen Waldorflehrer Friedrich Hiebel (1903-1989) erinnerte kürzlich der Anthroposoph Michael Mentzel auf seiner Seite „Themen der Zeit“. Und zwar völlig zurecht: Hiebels Verhalten vor seiner Kündigung durch die Stuttgarter Waldorfschule im Zuge der „Gleichschaltung“ 1934 wäre eine nähere Analyse wert. Aber Mentzels Artikel mit dem großspurigen Titel „Spurensuche. Anthroposophie und Nationalsozialismus“ ist zugleich das beste Beispiel dafür, wie und warum vielen Anthroposophen der Umgang mit der Geschichte ihrer eigenen Bewegung offensichtlich noch schwerfällt.

Mentzel beginnt seinen Artikel so:

Wohl kaum jemand wird noch die Irrtümer und Fehleinschätzungen leugnen, vor denen auch Anthroposophen in der NS-Zeit – aus welchen Gründen auch immer – nicht gefeit waren. Gleichwohl ist die Tendenz einiger Historiker, den Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner und seine geistigen Erben im völkisch-rassistischen Spektum zu verorten, mehr als bedenklich.

Und schreibt gleich im Anschluss:

Aktuell plant der Info3 Verlag die Herausgabe einer Biographie Hans Büchenbachers, der – im Gegensatz zu vielen damaligen anthroposophischen Zeitgenossen – eine klare Haltung zum Nationalsozialismus eingenommen hatte. Vielleicht darf bei dieser Gelegenheit auch an den 1903 geborenen Schriftsteller Friedrich Hiebel erinnert werden, der ebenso wie Hans Büchenbacher einen jüdischen Elternteil hatte.

Irrtümer

Mentzel erwähnt dankenswerterweise, dass der Info3-Verlag eine Biographie Hans Büchenbachers herausgebe (das Buch ist zwar keine Biographie, aber immerhin). So begrüßt er zwar einerseits (und wie gesagt: immerhin), dass Anthroposophen, die (wie Büchenbacher) die völkisch-rassistischen Umtriebe anderer Anthroposophen benennen, publiziert werden.

Aber das, was sie zu sagen hätten, hält er dabei kurioserweise für eine „bedenkliche“ „Tendenz einiger Historiker“. Der er offenbar inhaltlich nichts entgegenzusetzen hat. Wie auch, da die anscheinend begrüßten Quellen ja eben genau das hergeben, was die Historiker sagen? Stattdessen spricht Mentzel von „Irrtümern und Fehleinschätzungen“, was wohl ein Euphemismus für Anthroposophen sein soll, die Nazis waren. Für Mentzel unerklärlich („…aus welchen Gründen auch immer“). Aber „völkisch-rassistisch“ natürlich nicht. Dass kürzlich beispielsweise Holger Niederhausen die Rehabilitierung des Ersten Weltkriegs als „Rettung“ vor „dem Materialismus“ (ein locus classicus völkischer Theoretiker) und von Steiners Ansichten über „Rassen“ als „Tatsachen“ vornahm, erschien Mentzel ja keineswegs ‚bedenklich‘, sondern nur meine Kritik daran.

Vermutlich sollte man diese halbherzige Einleitung dennoch begrüßen und als Lernprozess Mentzels lesen. Der hatte auf Felix Haus und meine Feststellung, dass Marie Steiner-von Sivers (deren rassistische, verschwörungstheoretische und antisemitische Äußerungen Mentzel jedenfalls auszugsweise auch ganz bequem im Internet finden könnte) ein Exemplar von „Mein Kampf“ besaß, 2011 noch in üblicher Manier losspekuliert:

Dazu noch – in der Bibliothek Marie Steiner – die Entdeckung von Hitlers „Mein Kampf“ mit jeder Menge „Anstreichungen“ und „Ausrufezeichen“. Begleitet von einer wispernden und der zwischen den Zeilen unausgesprochenen Hoffnung, dereinst noch mehr davon zu finden. Ganz spontan kam mir bei den „Anstreichungen“ der Sarrazin-Wälzer in den Sinn, der vermutlich von meinen Nachkommen irgendwann in meinem Keller gefunden wird.

„Ganz spontan“ verglich nicht nur Mentzel Sarrazin mit Hitler, sondern gänzlich unspontan war er sich natürlich auch über die Irrelevanz von Marieleins mutmaßlicher Hitler-Lektüre für deren Ansichten sicher. Nun gesteht er immerhin „Irrtümer und Fehleinschätzungen“ zu, freilich nicht bei konkreten Personen, aber ganz allgemein bei „vielen damaligen anthroposophischen Zeitgenossen“. Was an der Erkenntnis, dass 1933 Anthroposophen wie die überwältigende Mehrheit der Deutschen Nazis waren und wurden, so schwer und unerklärlich sein soll, behält Mentzel für sich.

„Tendenz einiger Historiker“

Sehen wir uns die von Mentzel unterstellte „Tendenz einiger Historiker, den Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner und seine geistigen Erben im völkisch-rassistischen Spektum zu verorten“, einmal genauer an. Helmut Zander beschreibt Steiners Rassismus in seinem Standardwerk „Anthroposophie in Deutschland“, auf 13 von knapp 2000 Seiten. Wohl kaum ein Anlass, zu sagen, er habe die Anthroposophie insgesamt dem völkisch-rassistischen Spektrum zugeschlagen. Was Zander in seiner Darstellung von Steiners Rassentheorie auch begründet:

„Andererseits: Ein scharfer Rassismus, wie ihn völkische Gruppen propagierten, ist daraus nicht geworden … Elemente rassischen Denkens implizieren nicht automatisch eine Zugehörigkeit zur völkischen Bewegung.“ (Zander: Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, I, 632)

Und Peter Staudenmaier, der die Völkischen unter den Anthroposophen und Anthroposophen unter den Völkischen am intensivsten untersucht hat, hält fest:

„During Steiner’s tenure as the leading representative of Theosophical thinking in German-speaking Europe, several of his students advocated a sort of synthesis between Anthroposophy and Ariosophy, an aggressively racist offshoot of Theosophy. While Steiner did not sympathize with such efforts, they continued among his followers, with Steiner’s tacit acceptance, even after the split from the Theosophical Society. The ideological legacy that Steiner inherited from classical Theosophy thus left an ambivalent imprint: on the one hand, a universalist thrust and a vision of a future beyond racial difference, and on the other hand a wide range of invidious assumptions about the spiritual significance of race. Both of these aspects established themselves within Steiner’s publicly proclaimed doctrines from the beginning of his Esoteric career.“ (Staudenmaier: Racial and Ethnic Evolution in Rudolf Steiner’s Anthroposophy, in: Nova Religio. The Journal of Alternative and Emergent Religions, 3/2008, 7)

In seiner Dissertation untersucht Staudenmaier dieses spannungsreiche Feld weiter, was natürlich trivialerweise heißt, dass neben völkisch-rassistischen Tendenzen auch deren Widerlager im anthroposophischen Denken betrachtet werden:

„The liberal and cosmopolitan strands within anthroposophy also served a braking function in this regard, and the very emphasis on its apolitical character constituted an obstacle to potential anthroposopical drift within a völkisch direction.“ (Staudenmaier: Between Occultism and Fascism: Anthroposophy and the politics of Race and Nation in Germany and Italy, 1900-1945, Diss., Cornell University 2010, 178f.)

Der Unterschied ist, dass die „einigen Historiker“ eben nicht nach „Irrtümern“ suchen, sondern nach den ideellen, politischen und gesellschaftlichen Gründen für und von Anthroposophen, sich mit völkischer Bewegung, Ariosophie und/oder Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Dies führt dann freilich zu komplexen und ambivalenten historischen Urteilen, die für viele Anthroposophen nicht befriedigend, weil eben ambivalent sind.

„Finden sich bei Steiner teilweise auch Aussagen gegen den (politisch motivierten, völkisch-rassistischen) Antisemitismus, so sind die antjüdischen Implikationen dennoch Bestandteil der anthroposophischen Krisen- und Erlösungsgeschichte, in welcher das Judentum als zu überwindendes Element erscheint.“ (Jana Husmann: Schwarz-Weiß-Symbolik, S. 258)

1935 und 2025

Selbstverständlich darf in diesem Zusammenhang, wie Mentzel ja nun plötzlich gern möchte,

…auch an den 1903 geborenen Schriftsteller Friedrich Hiebel erinnert werden, der ebenso wie Hans Büchenbacher einen jüdischen Elternteil hatte. Er wurde 1963 in den Vorstand des Goetheanum berufen. In seinen 1986 erschienenen Memoiren hebt er die Unvereinbarkeit, ja polare Gegensätzlichkeit von nationalsozialistischer und anthroposophischer Bewegung hervor.

Mentzel referiert drei längere Zitate, um Hiebels unglaublichen Antifaschismus zu unterstreichen: 1. Hiebel bemerkt, dass Hitler während der von Steiner durchgeführten „Weihnachtstagung“ 1923, in Festhungshaft saß. 2. findet Hiebel spirituell Bedeutsames in dem Umstand, dass in Steiners „Mein Lebensgang“ und Hitlers „Mein Kampf“ dasselbe Pronomen vorkommt – und schließlich daran, dass Steiner starb, als die Nazis zahlreicher wurden. 3. habe Steiner 1924 ‚die Jugend‘ gefragt, wie sie sich die Welt 1935 vorstelle. Und wenn Steiner – Steiner! – „1935“ gesagt hat, konnte der meisterliche Hellseher zweifellos absehen, dass bis dahin die Nazis an die Macht gekommen sein würden. Hiebel erhebt insignifikante Parallelen zu essentiellen Zusammenhängen, diese Passagen gehören nun nicht unbedingt zu den beeindruckenderen oder aufschlussreicheren seiner Autobiographie. Mentzel jedoch wittert Wegweisendes:

„Es wäre einmal interessant, wie wir uns heute angesichts der aktuellen Ereignisse weltweit – und insbesondere auch in Europa – die Welt im Jahre 2025 vorstellen. Kürzlich ist Ulrich Rösch gestorben. Ihn hätte ich jetzt gern danach gefragt. Denn ist das, was wir derzeit in der Welt erleben, nicht geradezu eine Aufforderung, die Welt mal wieder unter dem Aspekt: „Ursache Zukunft“ anzusehen? Und müssen wir uns nicht fragen, ob wir nicht schon zu lange an den – zugegebenermaßen oft auch attraktiven Fleischtöpfen – der Politik hängen und uns zu sehr an deren jeweilige Auffassung – oft genug auch beifallklatschend – in vorauseilendem Gehorsam anpassen? Sind unsere „freien Schulen“, unsere „freien Universitäten“, ist die „Freiheit“ des Herrn Gauck und dessen Auffassung von „Verantwortung in der Welt“ und nicht zuletzt die Freiheit des so genannten freien Westens wirklich frei? Zweifel sind angebracht.“

Vermutlich mag das in Anthroposophistan eine progressive und unerhörte Idee sein. In der restlichen Welt und auch der Politik ist es keineswegs neu, mal 10 Jahre in die Zukunft zu denken. Mentzel würde dafür natürlich lieber Ulrich Rösch um Rat fragen, kürzlich verstorbener Leiter der „Sozialwissenschaftlichen Sektion“ der „Freien Hochschule“ am Goetheanum. Na dann. Immerhin ist die Einsicht, dass diese geschundene Welt oder „unsere ‚freien [Waldorf-]Schulen'“ nicht unbedingt „wirklich frei“ sind, doch prinzipiell begrüßenswert.

Gefahr Amerika, Tragik Judentum, Rettung Deutschland

Friedrich Hiebel kommt Mentzel im eben zitierten Schlussabsatz irgendwie abhanden. Nazis sind natürlich geradezu unbedeutsam gegen Joachim Gauck und „die Freiheit des so genannten freien Westens“. Letzeren finden viele Anthroposophen ja schon immer verdächtig (worin übrigens ein häufiger Überschneidungspunkt mit völkischen Denkern lag). Einer davon war zufälligerweisen Friedrich Hiebel, der 1932 schrieb:

„Dieses Amerika – das Amerika als menschheitliche Gefahr, gibt es auch in – Europa. Ja, es ging sogar von da aus; dieses Amerika ist keineswegs ein geographischer Begriff. Dieses Amerika (auch in Europa) ist das Kind der materialistischen Denkerziehung der Menschheit. Nicht, was ist der Mensch, sondern was kostet der Mensch? Denn dieses von der Geld-Gold-Sensationsgier einer entarteten Gesellschaft ermordete Kind kann wohl das Experiment einer neuen Antwort auf die Frage „was kostet der Mensch?“ werden.“ (Hiebel: Umschau. Das Lindbergh-Baby, in: Erziehungskunst 1/2, 1932, 83)

Wie bei vielen braven Deutschen gestern und heute war auch bei Anthroposophen der renitente, „antimaterialistisch“ imprägnierte Anti-Amerikanismus eines der Felder, auf dem sich auch Nazis bewegten. Für solche Subtilitäten hat Mentzel anscheinend nichts übrig. Ob das nun an seiner eigenen Skepsis am „freien Westen“ liegt, daran, dass er von Hiebel nur dessen Autobiographie kennt. Oder einfach daran, dass ihm die Betitelung Amerikas als meta-kontinentaler „menschheitlicher Gefahr“ eben als einer dieser „Irrtümer und Fehleinschätzungen“ der Kategorie „aus welchen Gründen auch immer“ erscheint, von der er keinen Zusammenhang zu den Völkischen, zum Rassismus oder gar den Nazis aufzutun vermag. Hiebel  ist für Mentzel offensichtlich eine Person, die sich durch begrüßenswerte Eindeutigkeit auszeichnet:

„1939 war Hiebel in die USA emigriert, er passt also kaum zum Bild jener Anthroposophen, denen eine Affinität zum Nationalsozialismus zu Eigen war.“

Das hatte ja auch niemand behauptet. Hiebel hatte, wie Mentzel erwähnt, einen jüdischen Elternteil, und wird in Nazideutschland wenig Grund zur Freude gehabt haben. Unter anderem, weil er Lehrer an der Stuttgarter Waldorfschule war, als es dem „Bund der Freien Waldorfschulen“ einfiel, unter dem Gleichschaltungsdruck Mitglied im Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) zu werden. Jüdische Kollegen wie Hiebel (und eine weitere Kollegin, die nur versehentlich für ‚jüdisch‘ gehalten wurde) wurden deswegen, ganz „freiwillig“, versteht sich, 1934 vor die Tür gesetzt. (vgl. Karen Priestman: Illusion of Coexistence. The Waldorf Schools in the Third Reich, 1933-1941, Diss., Wilfried Lauer University 2009, 171f.; Ida Oberman: The Waldorf Movement in Education from European cradle to American crucible, 1919-2008, Lewiston/Queenston 2008, 128f.) Nach einer Erwähnung dessen sucht man bei Mentzel ebenso vergebens wie nach der Notiz, dass Hiebel vor seiner Emigration 1939 noch in England und Österreich gelebt hatte.

Hiebel schrieb 1933 aber keineswegs offen gegen die Nazis an, sondern etwa das Folgende:

„…der Zweifel des Moses offenbart die tragische Nichterkenntnis, was sich in Jahve als Christusgeist führend offenbaren wollte. Die Tragik des Moses, der nicht geglaubt hatte … ist zugleich nicht nur die Tragik des Judentums, sondern all derer, die heute ungläubig, kleinmütig und verzweifelt vor dem stehen, der der wahre Felsen ist … Glaubenskräfte, Stärke, Willenszuversicht können keimen, nimmt man in Ernst und Verantwortlichkeit auf, was hier von Rudolf Steiner gegeben worden ist … Es wird gleichsam in Fichtescher Methode versucht, den Zuhörer im Bewusstsein zu wecken, zu vertiefen, ihn innerhalb seines Volkstums erkraftet zu wissen. Wie das deutsche Wesen in Fichte in fortschreitender Harmonie mit dem Pulsschlag der deutsche Volksseele lebt und sich weiterentfaltet, zeigt Rudolf Steiner mit eindrücklichen Bildern aus der Charakterwelt des großen Philosophen…“ (Friedrich Hiebel: Buchhinweise (Rezension zu Rudolf Steiner: Christus und die menschliche Seele, 1933), in: Erziehungskunst, 4/1933, S. 479f.)

Illusion of Coexistence

Solche Sätze fanden sich in anthroposophischen Schriften bekanntlich nicht erst 1933. Zentral war für viele Erben Steiners ein „geistiges“ Deutschland, das einige bei den Nazis vermissten, andere bei ihnen verwirklicht sahen, während wieder andere hofften, das Hitler-Regime bräuchte nurnoch diese anthroposophische Ergänzung, um auf dem rechten Weg zu sein. Der Unterschied zur nazistischen Rassedoktrin war die Betitelung des Judentums als „Tragik“, das nicht etwa vernichtet, sondern qua Einsicht in die Mission Christi und Mitteleuropas ‚überwunden‘ werden müsse. Dies ist offensichtlich ein assimilatorischer Antijudaismus, war für viele Anthroposophen mit jüdischen Wurzeln angesichts der ubiquitären Präsenz des Antisemitismus eine äußerst attraktive Option. Und genau das war völkisch. Dass das Deutschtum „nicht im Geblüthe, sondern im Gemüthe“ liege, und wenn auch „gewiss“ die „Judenfrage auch eine Rassenfrage“ sei, „kein ideal gesinnter Mensch je leugnen, dass der Geist auch die Rasse überwinden“ könne, vertrat etwa die Gründerfigur dieser Bewegung, Paul de Lagarde (zit. n. Ina Ulrike Paul: Paul Anton de Lagarde, in: Uwe Puschner (Hg.): Handbuch zur Völkischen Bewegung 1871-1918, München 1996, S. 70)

Es war diese „Gemengelage“, die in der Tat zu Fehleinschätzungen des totalitären Regimes unter Anthroposophen führte. Karen Priestman spricht von einer „Illusion of Coexistence“: Die Waldorfschulen meinten, sich im „Dritten Reich“ halten zu können, dessen Rhetorik der „deutschen Erneuerung“ die anthroposophischen Verdienste um’s ‚Deutschtum‘ sicher anerkennen würde. Die Mehrzahl der Waldorfianer suchte nach Kompromissen mit dem Nazistaat, um die Schulen wie vorher weiterführen zu können, wobei man sich über das Ausmaß der Kompromisse und mit nationalsozialistischen Schuleltern stritt. Die amerikanische Waldorflehrerin Ida Oberman schreibt in ihrer Geschichte der „Waldorf Movement“, deren verantwortungsvolle Recherche und von Lobhudeleien freie Darstellung unter deutschen Anthroposophen selbstredend nahezu unbekannt ist:

„Despite the bitter struggle over succession, Waldorf’s story of the twenties and early thirties is truly one of international growth. And, sprawling new roots provided Waldorf with a degree of natural resistance to the National Socialist obsession with Germanic culture and race. Yet, on the other hand, stories of Siegfried, the Holy Grail and the Norse Gods along with Grimm’s fairy tales and Germanic myths of Siegfried and Brunhilde formed a common lingua franca of Waldorf and National Socialists. Waldorf was not alone in struggling with a political regime which used a language of reform dear to their hearts. German reform pedagogy nation-wide was caught off-guard by Nazi appeals to Goethe and Schiller. Reform-minded schools under National Socialism tended to go one of two ways: they adopted whole scale to National Socialist directives and dictates by April, 1934, or they went to exile … Rather, Waldorf followed a third path … All eight institutions engaged in long, painful negotiations and degrees of ‚arrangement‘ and ‚adaption‘ to the regime. Nevertheless, while prepared to negotiate, Waldorf would not surrender or alter its own vision of German culture … often struggling desperately to wrest the grail from the Fascist’s grip, attempting to claim it as its own.“ (Oberman, a.a.O., 107-111)

Wo genau hier Hiebel stand, bleibt zu untersuchen. Mir scheint, er gehörte zu den Waldorfianern, die die Nazis für zu undeutsch, weil unspirituell hielten. 1932 hatte er in einer Rezension zu Ernst Robert Curtius‘ Buch „Deutscher Geist in Gefahr“ (Erziehungskunst 2-3/1933, 91) die „Geistfeindschaft unseres Nationalismus“ beklagt, die zu Barbarei, Materialismus und Bolschewismus führe. Auch dies war charakteristisch für völkische Argumentationen – aber versuchte am Vorabend der nazistischen Gewaltherrschaft sozusagen, den ‚real existierenden‘ Nationalismus dem verachteten (marxistischen) Materialismus zuzuschlagen. „Bezeichnend ist, dass diese Rubrik“ in der Zeitschrift „Erziehungskunst“, für die Hiebel arbeitete, „bald wieder entfällt. Dies waren jedenfalls die letzten politischen Töne vor der Knebelung der Geistesfreiheit seit Januar 1933“, schreibt Wenzel Götte (Erfahrungen mit Schulautonomie. Das Beispiel der Freien Waldorfschulen, Diss., Bielefeld 2000, 384)

Am Beispiel Friedrich Hiebel lässt sich lernen, dass jede einfache Verortung „der Anthroposophen“ in „dem Nationalsozialismus“ dazu neigt, die Vielschichtigkeit von Motiven bei unterschiedlichen Akteuren zu unterschätzten. Weder ist verwunderlich, dass Hiebel, dem eben auch der Antisemitismus auf den Leib rückte, die Nazis eher kritisch betrachtete. Noch ist verwunderlich, dass er germanophile und antijüdische Vorurteile mit großer Selbstverständlichkeit teilte. So trugen Anthroposophen ihren Teil zur Erosion der Demokratie und zum Erstarken des völkisch-rassistischen Menschenhasses bei, wobei die Unterschiede mindestens der Mainstream-Anthroposophie zum Blutrausch und zur Gewaltbereitschaft der äußersten Rechten unübersehbar sind. Aus retrospektiver Zurechtrückung von Zahlen und Ereignissen zu spirituellen Symptomen lässt sich die Beziehungs- und Konfliktgeschichte von Nationalsozialismus und Anthroposophie nicht einmal im ersten Ansatz verstehen. Dazu müsste man sich (retrospektive ebenso wie zeitgenössische) Aussagen über Anthroposophen in der Nazizeit anschauen. Mentzel jedoch, wie Hiebel in seiner Autobiographie, geht es offenbar weniger darum als die Präsentation Steiners als hellsichtigem, feinfühligen kulturellen Mahner. Das ist das Vorrecht einer alternativreligiösen Subkultur, aber so bleiben tatsächliche, seriöse Recherchen zum Thema Anthroposophie und Nationalsozialismus für viele Waldorfrepräsentanten schlicht unverständlich und erscheinen ihnen als Diffamierung und ‚einseitige‘ Präsentation. Und wenn Mentzel eines kann, dann die normativen Limitierungen der eigenen Perspektive anderen zum Vorwurf zu machen.

23. März 2014 at 9:21 pm 3 Kommentare

Michael Mentzel bestätigt: „Manch bedenkenswerter Text auf Niederhausens Webseite“

Michael Mentzel („Themen der Zeit“) hat eine merkwürdige Replik auf meine Kritik an Holger Niederhausen geschrieben. Interessant daran ist, dass der fundamentalistische Niederhausen in der anthroposophischen Debattenkultur lange kaum erwähnt wurde. Doch dieser hat 2013 ein Buch wider den Religionswissenschaftler Helmut Zander geschrieben (so ein anthroposophisches Modephänomen). Offenbar bringt ihm das anthroposophischerseits nun plötzlich Aufmerksamkeit und Respekt ein – so die These meines besagten Artikels. Mentzel fühlt sich wohl ungerecht behandelt, schreibt jedenfalls:

Auf die Idee aber, dass jemand ein „frisch gewonnener Fan“ ist, weil er über ein bestimmtes Ereignis berichtet oder weil ein Buch „auf meinem Rezensionstisch liegt“, muss man auch erst einmal kommen.

So weit, so nachvollziehbar. Doch dann schwenkt Mentzel plötzlich um:

Die Suche nach dem Namen Niederhausen bei Themen der Zeit – mit ca. 1700 Beiträgen – blieb jedenfalls, bis auf den oben genannten Hinweis – erfolglos. Was allerdings nicht bedeuten muss, dass nicht auch durchaus manch bedenkenswerter Text auf Niederhausens Webseite zu finden sind, den zu kommentieren sich lohnen würde. Und auch wenn ich kein „Fan“ von Niederhausen bin, was dieser möglicherweise gern bestätigen kann, mag Ansgar Martins demnächst wirklich einen Grund finden, im Hinblick auf diesen Autor etwas von meinem „üblichen Nonsens“ zu lesen. So lange aber wird er sich damit trösten müssen, dass ich vor einiger Zeit einen – nennt man das tatsächlich „Ohrwurm? – Ohrwurm hatte: „Der kleine Ansgar möchte aus dem Phantasialand abgeholt werden.“

Quod erat demonstrandum. Lange herrscht zu Niederhausen völliges Schweigen. Sobald dieser aber ein Buch gegen Zander schreibt, fällt Mentzel auf, dass „durchaus manch bedenkenswerter Text auf Niederhausens Webseite zu finden sind“ [sic]. Und so werde ich hoffentlich in der Tat bald Gelegenheit haben, seinen üblichen Nonsens auch zu Niederhausen zu lesen. Fragt sich also mal wieder, was Mentzel eigentlich will – er bestätigt einerseits meine Thesen explizit, wirft sie mir aber gleichzeitig vor. Seine Ambivalenz bestätigt sich in seinem peinlichen „Ohrwurm“, den er sogar noch stolz mitteilen zu müssen meint: „Der kleine Ansgar möchte aus dem Phantasialand abgeholt werden.“ Tja dann.

Was genau ihn an meinem Artikel stört, dessen These er ja frei heraus bestätigt, erläutert Mentzel nicht. Stattdessen titelt er „The never ending Story. Martins, Zander und der Rest der Welt…“ Genau darum geht es in der Tat: Seit 2007 ist die routinierte und systematische, aber eben sachlich durch nichts begründete, anthroposophische Diffamierungsindustrie gegen Zander im Gange. Im selben Stil werden auch andere kritische Positionen abgehandelt, nicht zuletzt von Mentzel selbst. „Die unendliche Geschichte“ hatte ich bereits 2012 einen Artikel über dessen diesbezügliche Umtriebe genannt. Da er sogar meinen Titel übernimmt, scheint Mentzel auch hier nichts hinzuzufügen zu haben. Um doch noch irgendein Skandalon zu finden, spekuliert er wie üblich munter drauf los:

„Und deshalb erscheint es vielleicht nicht falsch, hier von Anmaßung zu sprechen und dem ‚Sternekoch Martins zu empfehlen, sich nicht nur mit der Suche nach den Haaren in der anthroposophischen Demeter-Suppe, sondern auch einmal mit Stilfragen zu beschäftigen. Im Leser der Martinischen Verse kann allerdings auch der leise Verdacht aufsteigen, dass dem jungen Autor – möglicherweise – Voegeles jüngster Beitrag zum Thema Steiner und der Erste Weltkrieg, nämlich das auch bei TdZ erschienene Interview mit Markus Osterrieder, nicht so recht gefallen haben mag, denn was Martins von diesem und dessen anthroposophischer Rezeption hält, durften wir unlängst in einer von Martins Wortwüsten zum Thema Steiner und der Erste Weltkrieg bewundern. Immerhin ist Voegeles Niederhausen-Rezension schon eine ganze Weile her.“

Mentzels Ideenlosigkeit ist enttäuschend. Tatsächlich war Osterrieder in eine Tagung involviert, der sich eine völkisch-konspirationstheoretische Verharmlosung von Erstem Weltkrieg und Nationalsozialismus nachtragen lässt. (vgl. Anthroposophischer Geschichtsrevisionismus) Dass auch Mentzel an diesem Gedankengut nichts auszusetzen hat und Kritik an Osterrieders Thesen nicht nachvollziehen kann, kann ich mir gut vorstellen. Selbst dann hätte ihm aber auffallen können, dass im erwähnten Interview Vögele zu den anthroposophischen Verschwörungsphantasien kritisch Position bezieht:

„Am rechten Rand der anthroposophischen Bewegung existiert seit langem eine Subkultur mit eigenen Tagungen, Publikationen und Internetpräsenz. Zu ihren Themen gehören Holocaust-Relativierung, Einkreisungsphantasien, mehr oder weniger offener Antisemitismus, Antiamerikanismus usw. Offiziell wird darüber nicht gesprochen. Wäre aber die Anthroposophische Gesellschaft nicht verpflichtet, sich von diesen Kreisen, deren Angehörige größtenteils Mitglieder der AAG sind und sich auf Rudolf Steiner berufen, deutlich zu distanzieren?“

Dass ich Vögele gerade einen Punkt der Übereinstimmung vorwürfe, deshalb aber etwas ganz anderes tun würde, nämlich eine Rezension zu Niederhausen zu schreiben – auf sowas kommt auch nur Michael Mentzel. Das ist keine Polemik, ich wünsche es ihm nicht einmal. Über eine Kritik, die mehr als dadaistische „Ansgar Martins ist ein blöder Klugscheißer“-Assoziationen beinhaltete, wäre ich zu Abwechslung mal sehr erfreut. Doch genau diese Alogik, die alle relevanten Argumente umgeht, um dann an den Haaren irgendeinen Unsinn herbeizuzerren, ist leider typisch für „Themen der Zeit“ (vgl. Entwicklungsrichtung Anthroposophie, Mentzels Traum, Die unendliche Geschichte), aber längst nicht nur: Genauso läuft die anthroposophische Anti-Zander-Industrie, genauso vor allem Nierhausens Buch. Insofern kann ich Mentzel zustimmen, dass für ihn „manch bedenkenswerter Text auf Niederhausens Webseite“ zu finden sei. Genau das hatte ich ja befürchtet: Auf einen Autoren wie Niederhausen und die Möglichkeit, sich seinem Holzhammerdogmatismus anzuschließen, haben Leute wie Mentzel mutmaßlich lange gewartet. Wolfgang Vögele scheint mir von dieser Tendenz aber doch auch deutlich auszunehmen zu sein – dessen Publikationen haben Gehalt und Substanz.

16. März 2014 at 5:16 pm 2 Kommentare

„Entwicklungsrichtung Anthroposophie“: Was Max Mustermann über Nazis und Neukantianer lernen sollte. Eine Intervention

„An der anthroposophischen Lehre vorüberzugehen, ist nicht gut möglich, da ehrliche Not und Sehnsucht zahlreicher Gläubigen an ihr hängt. Die große Gefolgschaft Steiners erklärt sich zum guten Teil daraus, dass Steiner auf Grund seiner Einsicht in die Unhaltbarkeit unserer geistigen Situation eine wissenschaftlich nachprüfbare Methode zu besitzen vorgibt, die zur Schau übersinnlicher Realitäten wie zur Erkundung menschlicher Bestimmung verhelfen soll und den trügerischen Anschein erweckt, als stelle sie gesicherte Beziehungen zum Absoluten her … Auch rührt das Anschwellen der Bewegung wohl mit daher, dass die Steiner-Gemeinde soziologisch an entscheidenden Punkten den Typus der Kirche repräsentiert, dass sie somit wohltuend den Vereinzelten umfängt und ihm das Gefühl des Geborgenseins verleiht.“
– Siegfried Kracauer: Die Wartenden (1922), in: ders.: Das Ornament der Masse
, Frankfurt a.M. 1951, S. 110.

„Initiative Entwicklungsrichtung Anthroposophie“

Nicht alle Anthroposophen fühlen sich im Internet wohl: „Die Technologien von heute sind immer die Probleme von morgen…“ Zur Angst vor den finsteren Mächten Ahrimans gesellt sich eine vor den „Intellektuellen, die den ganzen Tag von nichts als Papier und digitalen Zeichen umgeben sind“ (Lorenzo Ravagli: Prometheus und die heilige Erde, München 2013, S. 8f.) Zu den Exemplaren mit Internetanschluss und vor allem munterer Freude an dessen Benutzung gehört Michael Mentzel. Auf seiner Seite mit dem bezeichnenden Namen „Themen der Zeit“ veröffentlicht er gelegentlich, so meine ich jedenfalls, sogar informative Artikel, z.B. der oft exzellent informierten anthroposophischen Nachrichtenagentur NNA. Die „Themen der Zeit“ sind trotzdem eine Lektüre immer wert, m.E. besonders dann, wenn Mentzel seiner journalistischen Kreativität zu realen und/oder vermeintlichen Fehlern von sog. „Anthroposophiekritikern“ freien Lauf lässt (vgl. Die unendliche Geschichte; Mentzels Traum). Ob Mentzel sich tatsächlich gut mit Steiner auskennt und seine Ressentiments aus dessen Werk gezogen haben sollte, konnte ich bisher nicht feststellen. Zwar bekennt er stolz in einem „(Selbst-)Verständnis“, es sei „sicherlich nicht zu übersehen, dass es auf dieser Seite eine starke Ausrichtung zu anthroposophischen Themen gibt“. Aus seinen wenigen einschlägigen Blogs  konnte ich eine exzessive  Steinerlektüre bisher aber nicht ersehen (vgl. etwa Mentzel: Die richtige Seite der Geschichte).

Angenehm zurückhaltend gegenüber den „Themen der Zeit“ ist unfreiwilligerweise der Internetauftritt der „Initiative Entwicklungsrichtung Anthroposophie. Ein Nachrichtenblatt“. Der Leser erfährt hier (Stand: 17.8.2013) in der Spalte „über uns“, dass Max Mustermann am 28. März 1978 geborgen wurde und wird anschließend unter den Stichworten „Beruf“, „Qualifikationen“ und „Interessen“ jeweils belehrt: „Dies ist nur ein Beispieltext. Du kannst ihn löschen oder ändern.“

Wer denkt, hier habe endlich eine anthroposophische „Initiative“ Steiners 1894 proklamierte „Grundmaxime der freien Menschheit“ („Leben und leben lassen“) in einer für alle Beteiligten vorteilhaften, weil unaufdringlichen Weise verinnerlicht, hat leider bloß die Print- bzw. PDF-Ausgabe noch nicht gelesen. Die ist anscheinend stramm im Geiste Peter Selgs und Sergej Prokofieffs unterwegs. Die Zeitschrift hat m.E. das Zeug, das Stimmrohr der zahlenmäßig doch nicht gerade kleinen anthroposophischen Hardlinerfraktion zu werden. Das inzwischen im dritten Jahr von Roland Tüscher und Kirsten Juel betriebene Blättchen beansprucht mit seinem Untertitel „Ein Nachrichtenblatt für Mitglieder“ offenbar, in der Nachfolge des seit Beginn der anthroposophischen Bewegung herausgegebenen „Nachrichtenblatts“ zu stehen. Letzteres wird von der Verbandszeitschrift der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, „Das Goetheanum“, inzwischen nicht mehr betrieben und wird jetzt durch die neue private „Initiative“ ersetzt. Die Inhalte des neuen Mitglieder-Blatts sind interessanterweise z.T. explizit feindlich gegenüber dem „Goetheanum“, dem etwa Zensur und Verleumdung vorgeworfen wurde, weil es Selgs und Prokofieffs spirituelle Allkompetenz nicht genügend zum Ausdruck bringe bzw. den Abdruck entsprechender Artikel verweigere. Der liberale Anthroposoph Ramon Brüll spricht von einer inneranthroposophischen „Sekte“ (vgl. Ramon Brüll: Eine soziologische Betrachtung), ein Terminus, mit dem ich zugegebenermaßen weniger anfangen kann. Dieser Begriff sollte schon alles Mögliche von hinduistischen Gruppen über die Nonnen Mutter Theresas bis zu extremen politischen Parteien und den Zeugen Jehovas umgreifen. Er fasst dabei wohl weder diese noch die spezifischen ideologischen Puzzlestücke dieses anthroposophischen Forums. In der Juli-Ausgabe (14/2003) des „Nachrichtenblatts“ wurden etwa gleich auf der Titelseite Spekulationen über Edward Snowden als Kämpfer gegen die Weltherrschaftspläne Ahrimans ausgebreitet.

„Genügt es tatsächlich, ein ehemaliger Waldorfschüler zu sein…?“

Da das „Nachrichtenblatt“, soweit ich einen Einblick gewinnen konnte, von interessanten Artikeln bisher weitgehend verschont geblieben ist, hatte ich mittelfristig eigentlich nicht vor, darüber zu schreiben. Neulich aber fühlte sich eine heilige Allianz von Wolfgang Kilthau (Geschäftsführer der Anthroposophischen Gesellschaft Frankfurt), Klaus Schamell (Arzt für Allgemeinmedizin) und Georg Peuckert (Anthroposophische Öffentlichkeitsarbeit) im Dreiergespann berufen, im „Nachrichtenblatt“ über meine Person zu schreiben:

„Genügt es tatsächlich, ein ehemaliger Waldorfschüler zu sein und zu glauben, dass ein 22-jähriger (Martins) damit schon in der Lage sein wird, sachlich-seriöse Darstellungen wichtiger anthroposophischer Felder wie Pädagogik, Medizin und Landwirtschaft vorzunehmen?“ (Kilthau/Schamell/Peuckert: „Rudolf Steiners langer Schatten“, in: Initiative Entwicklungsrichtung Anthroposophie, 14/2013, 7. Juli)

Offenbar sei ich also zu jung, um überhaupt etwas zur Anthroposophie zu sagen, obwohl die Autoren die Altersangabe „22“ (aus welchen Gründen auch immer) erfunden oder falsch berechnet haben. Die Botschaft, aufgrund meines Alters dürfe man meine Äußerungen entspannt übergehen, habe ich nirgendwo so oft gehört wie bei Anthroposophen, womit vielleicht ein wenig über den Ungeist gesagt ist, der hinter der dort proklamierten Wertschätzung „des Individuums“ gelegentlich steckt. Der Text erschien auch in „Anthroposophie weltweit. Mitteilungen Deutschland“ (Juli August 2013, S. 5f.).

Die Aussage dieses Triumvirats gefällt anscheinend sowohl Mentzel als auch seinem fanatischeren Glaubensbruder Michael Heinen-Anders, der seit Längerem meinen Eintrag auf wiki.anthroposophie.net betreibt. Beide zitieren die Herren Kilthau, Schamell und Peuckert zustimmend. Heinen-Anders gilt selbst vielen Anthroposophen als spleenig. Ein paar von Mentzels Lesern haben aber die (für mich) unangenehme Angewohnheit, dessen Auslassungen für meine tatsächliche Meinung zu halten und mir in hysterischen Mails vorzuwerfen: wenn meine Waldorfschulzeit so schrecklich gewesen sei, möge ich das doch nicht an der daran gänzlich unschuldigen Anthroposophie auslassen. Das Gegenteil ist der Fall: Trotz oder dank Anthroposophie darf ich auf eine äußerst angenehme Waldorfschulzeit zurückblicken. Ihr verdanke ich zwar keinen Deut meiner Steinerkenntnisse, wohl aber eine auch für die Aneigung selbiger bewährte Kulturtechnik, der sich vielleicht Mentzel, Heinen-Anders und scheinbar auch Kilthau, Schamell und Peuckert etwas intensiver widmen könnten: das Lesen.

Mentzel meint in seinem Beitrag, der ausschließlich auf dem seltsamen Veranstaltungs-„Bericht“ der drei letzteren basiert:

„Dass Martins auf seiner Facebookseite die Veranstaltung zwar angekündigt, dann aber offensichtlich den Mantel des Schweigens darüber gebreitet hatte, lässt zumindest die Hoffnung aufkeimen, dass es dem „Sternekoch“ (Info3 Chefredakteur Jens Heiserkamp über A. Martins) vielleicht selbst ein wenig peinlich sein könnte, wenn all zu viel Aufhebens von seinem Beitrag zu dieser Diskussion gemacht würde.“ (Mentzel: Nachlese. Einst im Mai…)

Warum ich für stattfindende oder fehlende Berichterstattungen über meine eigenen Veranstaltungen verantwortlich sein soll, behält Mentzel für sich. Vielleicht soll das anthroposophischer Enthüllungsjournalismus sein, vielleicht ist Mentzel auch beleidigt, weil Jens Heisterkamp ihn im gleichen Zusammenhang als „Kohlroulade“ bezeichnet hat, aber immerhin einen Punkt möchte ich klarstellen: Ich wäre natürlich im Gegenteil erfreut, wenn von meinen Beiträgen dieses Abends „Aufhebens“ gemacht worden wäre. Wurde es aber nicht und am wenigsten im von Mentzel zitierten Pamphletchen.

Anlass der Polemik im „Nachrichtenblatt“ war eine vor allem von pöbelnden Provinzanthroposophen besuchte Veranstaltung im Frankfurter „Haus am Dom“, bei der die Pädagogin Irene Wagner und meine Wenigkeit auf dem Podium saßen. Zumindest Kilthau und Schamell, denen ich das Attribut geistiger Provinzialität eigentlich nicht zuordnen würde, saßen im Publikum und haben sich auch in die Diskussion eingeschaltet. Außer Steiners ortsansässigem Fanclub schienen sich so viele nun wirklich nicht für diesen und seinen wie auch immer gearteten Schatten zu interessieren. Jedenfalls kam aus dem Publikum kaum ein Nichtanthroposoph zu Wort und eine kritische Diskussion war kaum führbar. Stattdessen war in Wortbeiträgen alles Mögliche bis hin zu Steiners überragenden hellsichtigen Beiträgen zur Erforschung des Bienensterbens zu hören. In der Wahrnehmung unseres Autorentrios war es dagegen „den vielen Interessierten nicht möglich …, sich der Anthroposophie sachlich und verstehend zu nähern. Der eigentliche Auftrag jeder Kultur – bzw. Bildungsanstalt.“

In der Tat würde mich Lob von Autoren, die anscheinend den „eigentlichen Autrag jeder Kultur- bzw. Bildungsanstalt“ in der Annäherung an die Anthroposophie sehen, eher verwundern. Verwunderlicher aber ist die Schilderung des Abends durch Kilthau/Schamell/Peuckert. Die selbstgerechte Meinungsstärke ihres Berichts entspricht dem Ausmaß ihrer Faktenschwäche und kann insofern m.E. durchaus mit Mentzels Seite und Dr. Irene Wagners Buch mithalten. Noch verwunderlicher ist der Umstand, dass die drei über das zuweilen schreiende Publikum dieses Abends nicht ein Wort schreiben. Dass (nicht nur) meine Wortbeiträge durch zunehmend aggressive Zwischenrufe („…von allen guten Geistern verlassen“) unterbrochen wurden, kommt so wenig vor wie meine Diskussion mit Frau Wagner selbst.

Stattdessen wird mit einer unter anthroposophischen Apologeten beliebten Technik gearbeitet und der Inhalt des Abends zu einer Aneinanderreihung von Stereotypen verballhornt, die man „Anthroposophiekritikern“ immer problemlos zuschreiben kann, weil ja irgendwie sowas auch gesagt oder mit dem Was-auch-immer-Gesagten zumindest gemeint worden sein könnte:

„Schon im ersten Thema wurden die Zuhörer von den beiden Referenten (insbesondere Ansgar Martins) mit einer Fülle von Halbwahrheiten, Einseitigkeiten und Entstellungen überschüttet: Der Lehrer müsse Anthroposoph sein, er bringe Reinkarnation und Karma mit in den Unterricht und die Waldorfpädagogen schnüren die Schüler in ein Korsett vorgegebener Inhalte. Die Kinder werden zudem nicht als kleine Persönlichkeiten, sondern eher als „Typen“ behandelt und die Pädagogik sei z.T. autoritär. Selbst ein harmloser Begriff wie Nachahmung, erhält plötzlich eine Umbewertung in eine negative Richtung.“

Einige Bemerkungen des Berichts hinterlassen mich tatsächlich ratlos, zum Beispiel folgender Vorwurf an Wagner und mich: „Oft wird in kleinlichen Verhaltensmerkmalen einzelner Waldorflehrer herumgemäkelt.“ Zu den Merkmalen des Abends, der hastig Waldorfpädagogik, anthroposophische Medizin und biodynamische Landwirtschaft durchging, gehörte nach meiner Erinnerung, dass über einzelne Beispiele leider so gut wie nicht gesprochen werden konnte. Am eben zitierten Satz fällt die für den ganzen Bericht typische sprachliche Merkwürdigkeit auf. Soll „in kleinlichen Verhaltensmerkmalen einzelner Waldorflehrer“ herummäkeln heißen, dass über solche Verhaltensmerkmale bei Waldorflehrern gemäkelt wurde? Oder aber, dass kleinlich über solche Verhaltensmerkmale gemäkelt worden sei?

„Neukantianisches Machwerk“

Nach den eben zitierten Sätzen versteigen sich die Autoren zu folgender Pointe:

„Bei der Nennung des philosophischen Hauptwerkes Rudolf Steiners – der Philosophie der Freiheit –, charakterisiert A. Martins diese als ein „neukantianisches Machwerk“, geschrieben noch vor dem 1. Weltkrieg…“

Tatsächlich wurde dieses philosophische Hauptwerk genannt, und zwar einmal mehr vom dafür eigens aufgestandenen Wolfgang Kilthau. Zuvor war über die anthroposophische Lehrerausbildung diskutiert worden – wie gewohnt vor allem im wütenden Publikum. Kilthau fühlte sich offenbar genötigt, einzuwenden, dass die „Philosophie der Freiheit“ auch zum Pflichtpensum für Waldorflehrer gehöre und einer weltanschaulichen Eingleisigkeit vorbeuge. Meine Antwort lautete, dass Steiners Freiheitsphilosophie von 1894 (wieso auch immer die Autoren daraus den Ersten Weltkrieg gemacht haben) kein Psychoratgeber für Lehrer, sondern neukantianische Philosophie sei, die man nicht zum pädagogischen Flexibilitätsgaranten umbiegen könne. Dass bei den Autoren des Berichts „neukantianisches Machwerk“ hängenblieb, daran kann ich wahrscheinlich nichts ändern. Es ist aber m.E. nachvollziehbar, da im Wort „neukantianisch“ Kant vorkommt, den schon Steiner  offenbar nicht leiden konnte. Bereits in seinem philosophischen Frühwerk hat er, vermutlich unter dem Einfluss Nietzsches, Kants Transzendentalphilosophie mit einer „hochproblematischen, ideologischen Verknüpfung von wissenschaftlicher und weltanschaulicher Betrachtungsweise unter den Kategorien ‚gesund – krank'“ abgefertigt (Hartmut Traub: Philosophie und Anthroposophie, S. 166; vgl. Steiner, GA 3, S. 4), während ihm die Nähe seiner eigenen Moralphilosophie zum Kantischen Sittengesetz verborgen blieb.

Zu den keineswegs neuen Ansätzen gehört jedoch der Versuch, sie philosophiegeschichtlich als Neukantianismus metaphysischer Prägung zu diskutieren (vgl. für eine frühe anthroposophische Stimme Hans Büchenbacher: Erfahrung und Denken, Basel 1978, S. 7f.; für eine systematische Deutung Jaap Sijmons: Phänomenologie und Idealismus. Struktur und Methode der Philosophie Rudolf Steiners, Basel 2008). In der neukantianischen Debatte um eine „voraussetzungslose Erkenntnistheorie“ liegt vielleicht auch einmal ein originärer innerphilosophischer Debattenbeitrag Steiners. Ausgangspunkt war der Wiener Philosoph Johannes Volkelt, mit dem Steiner vor allem die Apotheose des Denkens als Zugang zur Welt teilt, dem sich zunehmend aber auch die Frage nach dem „Ich“ in der Erkenntnistheorie stellte.

„Wahrscheinlich wurde Volkelt auch durch die vielfältige Kritik an seinem Subjektivitätskonzept darauf aufmerksam, dass dort eine Schwierigkeit verborgen liegt … Historisch war es vielleicht der Neukantianer Rudolf Steiner (1892), der als erster den Volkeltschen Ansatz in diesem Punkte korrigierte, an den er sich im übrigen weitgehend anlehnt.“ (Harald Schwaetzer: „Transsubjektivistischer Subjektivismus“, in: ders. (Hg.): Johannes Volkelt: Erfahrung und Denken (1886), Reihe Texte zum Neukantianismus, Bd. 3, Hildesheim 2002, S. XXXVII)

Sijmons und Schwaetzers Einschätzung muss man sicherlich nicht teilen. Sie machen aber deutlich, dass sich die philosophische Weltanschauung des frühen Rudolf Steiner in komplexen philosophischen Konstellationen bewegte – und dieser (eben neukantianische) Kontext macht die Entkernung und Dekontextualisierung seines Denkens zur Innovationssicherung für Waldorflehrer m.E. zu einem interpretativ verfälschenden Unternehmen. Auch Steiner selbst bestritt eine unbeschränkte Verallgemeinerung seiner Darlegungen in einem Brief zu seiner „Philosophie der Freiheit“ wie folgt:

„Man kann da nichts tun für jene, welche mit einem über Klippen und Abgründe wollen. Man muß selbst sehen, darüberzukommen … Willkürlich, ganz individuell ist bei mir manche Klippe übersprungen, durch Dickicht habe ich mich in meiner nur mir eigenen Weise durchgearbeitet … Vielleicht ist aber überhaupt die Zeit des Lehrens in Dingen, wie das meine, vorüber. Mich interessiert die Philosophie fast nur noch als Erlebnis des Einzelnen.“ (GA 39, 232f.)

Dieses Interesse degradiert zwar Philosophie (also das Abenteuer des Denkens) zum subjektivistischen „Erlebnis“. Aber für Anthroposophen wäre es im Sinne einer immanenten Kritik durchaus hilfreich, besonders wohl für die “stark an der Anthroposophie orientierten Waldorflehrer. Sie fürchten den Verlust der geisteswissenschaftlichen Grundlagen, nicht so sehr den Verlust ihrer Selbstbestimmung und individuellen Freiheit”, so Dirk Randoll, der einige empirische Studien zur Waldorfpädagogik (mit-)durchgeführt hat. Insofern sehe ich zwar keinen Grund, meine Aussage zu revidieren, sehr wohl aber die Darstellung von Kilthau/Schamell/Peuckert.

„There is a plan“

Zur Viertelstunde, die über die anthroposophische Medizin gesprochen wurde, haben Kilthau/Schamell/Peukert in ihrem Bericht nur zu sagen, es seien „Allgemeinplätze“ mit „oberflächlicher Kenntnis“ und einer „Fülle von Zerrbildern“ bedient und es sei ignoriert worden, dass die „Misteltherapie“ inzwischen auch von „Schulmedizinern“ angewendet werde. Die Verdrehtheit des letzten Vorwurfs ist schon bemerkenswert: An diesem Abend wurde die Misteltherapie als bekanntes Beispiel angesprochen und wurden gerade umgekehrt dessen Steinersche Ursprünge erwähnt (denn um Steiners angeblich „langen Schatten“ ging es ja). Dass Steiner die Misteltherapie keineswegs erfunden hat, kam im „Haus am Dom“ leider nicht zur Sprache, was das ritterliche Trio aber (wie zu erwarten) offenbar nicht stört. Nicht erwähnt wird außerdem die konkrete Kritik an der anthroposophischen Medizin, die sich um eine ihrer sichtbareren Folgen drehte: die Verbindung von Karma und Krankheit, die sich besonders beim Thema „Impfen“ zeigt. Seit 2001 und bis 2013 sind etliche Fälle von Masernausbrüchen an Waldorfschulen gut dokumentiert, die auch auf eine eher geringe Quote von geimpften Schülerinnen und Schülern und eine offiziell als „freie Impfentscheidung“ gelabelte Impfpolitik anthroposophischer (Schul-)Ärzte rückführbar sind.

„While many anthroposophists follow ordinary vaccine programmes“, so der Religionswissenschaftler Asbjørn Dyrendal, „others clearly do not and Waldorf schools seem to have been the fulcrum of vaccine-preventable deseases more often than schould be their due. Some are generally negative towards vaccines and vaccine programmes.“ Dyrandal erläutert eine beliebte Vorstellung anthroposophischer Impfgegner: „Okkulte Bruderschaften“ mit „materialistischen“ Absichten versuchen, inspiriert von finsteren Engeln, durch Impfprogramme die spirituelle Entwicklung von Kindern zu verhindern:

„There is a plan. It is secretive, destructive and directed against human agency by blocking children’s spiritual development, thus barring them from freedom … Thus the apparently random is made to make sense: secret ways of knowledge reveal secret brotherhoods, the evil spirits influencing them, the deeper tendencies of the time, and their connection to minute details of history. The topic of threats towards spiritual agency and human freedom, framed in Steiner’s anthroposophy, is an undercurrent through it all. But we may note that although ‚inoculations‘ are mentioned as part of the materialist conspiracy of evil powers, Steiner clearly differentiates between existing vaccines against deseases, and those to come, which will be against the spirit. The conflation … is produced by later interpretation.“ (Dyrendal: Hidden Knowledge, Hidden Powers. Esotericism and Conspiracy Culture, in: Egil Aspem/Olav Hammer: Contemporary Esotericism, Sheffield/Bristol 2013, S. 204ff.; vgl. GA 177, 13. Vortrag)

Dyrendals Ausgangsbeobachtung, dass das Waldorfmilieu einer impffreundlichen Einstellung nicht unbedingt offen gegenüberstehe, wird aber noch durch andere Faktoren mit bedingt. Etwa die Vorstellung von Karma, das durch Krankheiten abzutragen sei. Steiner: „Es erscheint durchaus im Karma begründet, dass die eine Krankheit ausgeht mit der Heilung, die andere mit dem Tod.“ (GA 120, 90) „Es ist ja vor allen Dingen zu betonen, daß selbstverständlich nicht gegen das Karma geheilt werden kann. … das muss im wesentlichen des Arztes Gesinnung sein“ (GA 316, 121) Aber: „der Wille zum Heilen … darf niemals eine Beeinträchtigung erfahren … selbst wenn man die Meinung hat, dass der Kranke unheilbar ist“ (ebd., 122) Damit steht der Wille zum Heilen nahezu unvermittelt gegen die „selbstverständlich“ unumgehbaren Bahnen des Karmas. Zweifellos beruht der Erfolg und gute Ruf der anthroposophischen Medizin wohl auf den Ärzten, die sich für Heilung entscheiden. Sogar der Einbezug der Krankheit als biographischer Station mag zu einer vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung und damit zu besseren Genesungsbedingungen führen. Mit der Einführung des Karmagedankens in die Medizin hat diese „Heilkunst“ sich jedoch selbst die größten Steine in den Weg gelegt.

Masern, Karma und anthroposophische Medizin waren an diesem Abend, nicht aber im Bericht unseres Trios ein Thema, obwohl Kilthau und Schamell aus dem Publikum meine Darstellung in der Tat, aber ohne wirkliche Gegenargumente, angriffen. Seit Mai sind übrigens zwei weitere Masernausbrüche vorgefallen: an der Waldorfschule Erftstadt und Langen am Lech. Beide wurden kurzzeitig geschlossen. In einer Pressemitteilung des Bundes der Freien Waldorfschulen meinte Vorstandsmitglied Henning Kullak-Ublick: „Es ist immer eine Abwägung, die auch das Alter und die Gesamtkonstitution des Kindes berücksichtigen muss … Impfempfehlungen sollten den Fachleuten vorbehalten bleiben, die Entscheidung den Eltern.“ (Bund der Freien Waldorfschulen plädiert für freie Impfentscheidung)

Biodynamische Landwirtschaft: Grüne…

Kilthau/Schamell/Peuckert kommen dann zum letzten Teil, der biologisch-dynamischen Landwirtschaft.

„Sehr negative Darstellungen gaben die Referenten schließlich von der Anwendung landwirtschaftlicher Präparate und anderer Methoden der bio-dynamischen Landwirtschaft. Wer nicht wusste, um was es sich bei dieser Wirtschaftsweise handelt, gewann den Eindruck, die Landwirte bedienten sich lächerlich-okkulter Praktiken. Es wurde unterschlagen, dass dies alles seit 80 Jahren sehr erfolgreich 2 [sic!] angewandt wird. Dies ist ganz besonders A. Martins anzulasten, der es besser wissen müsste, da er ja seine Schulzeit in diesem Umfeld verbracht hat. Unverständlich auch, dass A. Martins die bio-dynamische Entwicklung mit dem Nationalsozialismus in Verbindung brachte, was natürlich ein völlig unsinniger Zusammenhang ist. Nicht ein Wort fanden beide Referenten dazu, dass aus dem Steinerschen Geistesgut bedeutende Impulse für viele nachhaltige alternative Naturströmungen hervorgegangen sind, bis hin zur Begründung der Grünen, was ursprünglich ein anthroposophischer Impuls war.“

Glücklicherweise war ja der größte Teil des Publikums allem Anschein nach aus der Hügelstraße angereist und mit biologisch-dynamischen Präparaten bestens vertraut. Dass „dies alles“ seit 80 Jahren (eigentlich länger) existiert und weltweit unzählige Male gehandhabt wird, war natürlich Thema (und zwar fortgesetzt), ebenso wie meine vom Moderator eingangs erwähnte Waldorfschulzeit. Wieso ich nach dem Besuch einer Waldorfschule umfassend über die Wachstumsraten und -phasen der Anthroposophie informiert sein solle, haben die Autoren leider nicht mitgeteilt. Vielleicht stellen sich manche Anthroposophen vor, das mit der Waldorf-„Weltanschauungsschule“ wäre doch die bessere Idee gewesen, aber das gibt wohl der größere Teil dieser Schulen heutzutage nicht her. Anders als gewissen Autoren kann ich den Anthroposophen unter meinen Lehrern übrigens eine sachliche, gepflegte Streitkultur zugutehalten.

Man kann darüber streiten, ob „nachhaltige alternative Naturströmungen“ wirklich zu den positiven Auswüchsen oder nicht auch zum Schlimmsten gehören, das man mit der Anthroposophie in Verbindung bringen kann. Gerade der „anarchistische Aufbruch in die Freiheit“, den das philosophische Denken des jungen Steiners versprach, wurde mit der Begründung der Anthroposophie von ihm zugunsten organisatorischer und weltanschauungspolitischer Erfordernisse der neuen Gemeinde eskamotiert (vgl. Die „Optik des Geistes“ und der Geist des Okkulten). Er wurde zum allumfassenden Programm verwandelt, in dem nichts der Struktur des allverwaltenden Geistes widersprechen darf:  „Das Allernotwendigste für die Gegenwart und für die nächste Zukunft in bezug auf die Entwickelung der menschlichen Geschicke ist das Hereinholen gewisser Ideen von jenseits der Schwelle…“ (GA 185a, 198)

Das mag auch manchen Tendenzen der „Grünen“ entsprechen, für die dann „Natur“ und „Nachhaltigkeit“ anstelle der „geistigen Welt“ stehen, aber diese Partei war mitnichten „ursprünglich ein anthroposophischer Impuls“. Anthroposophen gehörten zu einer von vielen Strömungen (nicht selten auch rechten), die in diese Partei eingingen, haben sich aber (oder wurden, wie Beuys) mit der Erfolgsgeschichte der Ökopartei zunehmend verabschiedet. Allenfalls gilt die Aussage unseres Trios für den frühen „Achberger Kreis“.

Wahlplakat des anthroposophischen „Achberger Kreises“ der „Grünen“ (Quelle: egoisten.de)

Besonders lästig an den irreführenden Behauptungen des Trios ist wieder die verkürzte Wiedergabe meiner Aussage, die mir dann auch noch in der Verkürzung zum Vorwurf gemacht wird. Es ist keineswegs „unverständlich“, „die bio-dynamische Entwicklung mit dem Nationalsozialismus in Verbindung“ zu bringen. Unverständlich ist, warum heutige Anthroposophen anscheinend so wenig Ahnung von ihrer eigenen Geschichte haben. An dieser Stelle wären an die (seit Jahren vorliegenden) Arbeiten Arfst Wagners, Uwe Werners, Christoph Kopkes, Wolfgang Jacobeits, Peter Bierls, Nicolai Fuchs‘, Anna Bramwells, Christine Gerhards usw. usf. und deren ausführliche Vertiefung durch Peter Staudenmaier zu nennen – die folgenden Details verdanke ich diesen Autoren. Arfst Wagner ist übrigens der m.W. heute einzige Bundestagsabgeordnete mit anthroposophischem Hintergrund und tatsächlich bei den „Grünen“. Seine unersetzte fünfbändige Dokumentation zur Anthroposophie im Nationalsozialismus gehörte zu den frühesten Arbeiten zu diesem Thema.

… und Nazis

Die unselige Verbindung von Biodynamik und einem ökologisch interessierten Teil der Nazi-Elite halten Kilthau/Schamell/Peuckert zwar für einen „unsinnigen Zusammenhang“. Außerhalb des Mainstreams der anthroposophischen Selbstwahrnehmung ist er gleichwohl gut dokumentiert (s.o.) und ging wohl auch aus frühen Überschneidungen mit der völkischen Szene hervor. U.a. praktizierte man im „Artamanenbund“ in den späten Zwanzigern Steiners Landwirtschaft. Aus dessen Reihen kam auch der nationalsozialistische Lebensreformer Herman Polzer, erklärter Befürworter dieser Landwirtschaft. Ein weiterer Fall ist Max Karl Schwarz, der sich unter den Pionieren der Steinerschen Anbaumethode am intensivsten mit Garten- und Landschaftsgestaltung befasste. Er begeisterte bei einem Einführungskurs 1931 in Loheland den idealistisch-rassistischen Ganzheitlichkeitsnostaliger Alwin Seifert, der sich als Landschaftsgestalter (u.a. der „Reichsautobahn“) und „Reichslandschaftsanwalt“ nach 1933 entschieden für die biodynamische Landwirtschaft einsetzte, z.T. in Kooperation mit Schwarz. Seifert, der auch in Nachkriegsdeutschland Bestseller zu Themen wie „Gärtern ohne Gift“ verfasste, war kein Anthroposoph – was übrigens Irene Wagner behauptet, die von den genannten Autoren auch nur Arfst Wagner herangezogen hat (Rudolf Steiners langer Schatten, Aschaffenburg 2012, S. 373).

Doch diese Fehlinformation teilt Irene Wagner mit manchen Anthroposophen. Zu den merkwürdigen Folgen solcher Verbindungen gehört etwa, dass der rechte Historiker Reinhard Falter eine Kurzbiographie Seiferts für die biographische Dokumentation der Forschungsstelle Kulturimpuls verfasst hat (vgl. zu Falter und Seifert Christoph Kopke: Kompost und Konzentrationslager. Alwin Seifert und die „Plantage“ im KZ Dachau, in: Arnett Schulze/Thorsten Schäfer: Zur Re-Biologisierung der Gesellschaft. Menschenfeindliche Konstruktionen im Ökologischen und im Sozialen, Aschaffenburg 2012, S. 188f.; Ulrich Linse: „Fundamentalistischer“ Heimatschutz. Die „Naturphilosophie“ Reinhard Falters, in: Puschner/Großmann: Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 156-178). Die Basis solcher Verbindungen legten u.a. die Biodynamiker Franz Dreidax und Erhard Bartsch. Letzterer bewirtschaftete das Hofgut „Marienhöhe“ und lud dahin dutzende hochstehende Nazibeamte ein – darunter Alfred Rosenberg, Innenminister Wilhelm Frick, den „Stellvertreter des Führers“, Rudolf Hess oder den Minister für Ernährung und Landwirtschaft und „Reichsbauernführer“ Richard Walter Darré, der nicht umsonst Chefideologe von „Blut und Boden“ war. Das sind nur die prominenteren Namen aus einer Reihe von SS- und NSDAP-Funktionären an entscheidenden Stellen (darunter u.a. Rudi Peuckert, Otto Ohlendorf, Oswald Pohl, Hermann Reischle, Alfred Leitgen, Ernst Schulte-Strathaus und Robert Ley) die die anthroposophische Landwirtschaft zur wahrscheinlich erfolgreichsten alternativen Anbaumethode im „Dritten Reich“ machten.

demeter_mai_1939

Grasnarben des „Reichssportfeldes“ für die Olympischen Spiele 1936, Hitlers Garten am Obersalzberg und Fricks Landgut am Starnberger See  gehörten zu den prominenteren biodynamisch bewirtschafteten Flächen – neben Heilkräutergärten (nicht nur) in den KZs Ravensbrück und Dachau. Derlei kam zustande, obwohl der SD sowie Bormann und Heydrich aggressiv gegen die Anthroposophie vorgingen. Sie verhinderten etwa, dass Schwarz und sein Kollege Carl Rehmer ein biodynamisches Projekt in Auschwitz begleiten konnten. Indessen wurde unter Regie Rudi Peuckerts, kommissarischer Leiter des „Amtes Bauerntum und Ostland“, die biodynamische Methode in den von der Wehrmacht eroberten Gebieten Osteuropas ausprobiert.

„Umfassendes Menschenbild“ ist das eine…

Das Interesse der meisten Nazifunktionäre an der biologisch-dynamischen Landwirtschaft war pragmatischer Natur, auch lässt sich Überzeugung und Opportunismus bei den Biodynamikern nicht immer sicher scheiden. Dem „Reichsverband“ der Landwirte traten einige Höfe nicht bei, die dann aber auch dessen Zerschlagung 1941 unbeschadet überstanden. Die Anthroposophie als alternativkulturelle Bewegung gehört zu den Opfern des NS-Regimes. In den KZs starben auch Steiner-Schüler jüdischer Herkunft, mit unglaublichem Hass kämpften rechte Steinergegner wie Jakob Wilhelm Hauer, Gregor Schwartz-Bostunitsch, die Ludendorffs und einige hochrangige Nazifunktionäre gegen die Anthroposophie. Anthroposophische Methoden fanden allerdings sehr wohl Interesse und einzelnen Anthroposophen und/oder Biodynamikern wie Georg Halbe (Unternehmer des „Blut und Boden-Verlags“) und Hans Merkel („Führer beim Stab des Rasse- und Siedlungshauptamts“) waren im „Dritten Reichs“ steile Karrieren möglich, während andere, wie Ernst von Hippel, die „Entjudung“ der Universitäten unterstützten oder (wie Jürgen von Grone oder die Zeitschrift „Demeter“) den Zweiten Weltkrieg enthusiastisch kommentierten. Es bleibt abwegig, im Stile Anna Bramwells durch eine „Steiner Connection“ schlicht Nazis zu Anthroposophen und Anthroposophen zu Nazis zu erklären (beides aber gab es): „Grüne“ Nazis und Biodynamiker rangen neben praktischen Fragen (wie der Knappeit von Kunstdünger nach dem Ersten Weltkrieg und während des Zweiten) eher beide um einen „ganzheitlichen“, integralen Ansatz, der Naturbelassenheit, kosmische und innere Harmonie förderte – für die Nazis war das essentiell mit der restlosen „Ausmerze“ der Juden verknüpft, während Anthroposophen die Evaluation „rassischer“ Defizite durch den Geist und eine spirituell-„christliche“ „Überwindung“ des Judentums postulierten.

Die Institutionalisierung, Professionalisierung und entsprechende Personenstärke des biodynamischen Landbaus verschwand weder 1941 mit dem offiziellen Verbot noch 1945. Die anthroposophischen Landwirte blieben ein gut aufgestelltes alternativkulturelles Segment und waren 1968 in den ersten Reihen zu finden (ob das ein Kompliment ist, darüber wäre ebenfalls zu streiten). Übrigens auch in den USA, wo biodynamische Kommunen zu den frühesten anthroposophischen Keimzellen gehörten. Diese Kontinuität ist aber in keiner Weise ein Zeugnis für ideologische Zusammenhanglosigkeit mit den Abgründen des 20. Jahrhunderts – wie bei keiner Partei, Ideologie, Gruppierung oder Weltanschauung: „Fascist ideals fostered research directions and lifestyle fashions that look strikingly like those we today might embrace.“ (Robert Proctor, The Nazi War on Cancer, Princeton 1999, S. 5). Das spricht offenbar nicht für die Nazis, sondern weist auf problematische Tendenzen grünlicher Ganzheitslehren damals wie heute hin. Hier ist auch für Anthroposophen – Vorsicht geboten. Auch die Anthroposophie muss sich am sog. „Zivilisationsbruch“ Auschwitz messen. (Vgl. Ralf Sonnenberg: Metahistorisches oder zeitunabhängiges Wissen?, in: ders.: Anthroposophie und Judentum, S. 24). Beide trafen sich in einem Punkt, dem Versuch, Menschen „ganzheitlich“ zu erfassen – ein Theorem, das heutige Vertreter der Anthroposophie, denen in  aller Regel freilich jede Apologie der Nazis fernliegt, heute gern als besonders „zeitgemäß“ vor sich her tragen. Bei unserem Trio heißt es zum Beispiel:

„Der zukunftsweisende Ansatz Rudolf Steiners, auf der Grundlage eines umfassenden Menschenbildes zu erziehen, welches in den heutigen Wissenschaften nicht mehr zu finden ist, kommt bei den Referenten nicht zur Sprache.“

…völkischer Idealismus das andere…

Wichtig an diesem Satz scheinen mir die zwei Worte „nicht mehr“: In der Tat ist dieser Anspruch in den heutigen Wissenschaften glücklicherweise meist als Ideologie enttarnt und „nicht mehr zu finden“ – zumindest idealiter:  Hirnforscher und frenetische Neoatheisten vom Geisteszustand eines Dawkins, übereifrige Kinderpädagogen und sonstige allzu „grüne“ „Wissenschaftler“ suchen in der Tat noch nach biologistischen oder ganzheitlichen Allerklärungsmodellen. Die integrale Erfassung des Menschen, zur der im Einzelfall auch Ökologie und Spiritualität gehören konnte, ist keine Neuerung Steiners, sondern eine der verbreitetsten Tendenzen esoterischer, (neu-)romantischer, lebensreformerischer und völkischer Systeme damals wie heute. Dies ist (und auch das muss gesagt werden) nicht allen heutigen Anthroposophen entgangen. In dieser Hinsicht lässt sich auch eine Äußerung Bodo von Platos (Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft) verstehen, aus der Erfahrung eines existenziellen „Bruchs“ der Moderne resultiere eine „anthropologische Disposition, die für die Anthroposophie wie auch für den Nationalsozialismus – ja für alle Systeme oder Versuche, die den Menschen als Ganzen ansprechen, beanspruchen oder verstehen wollen – von Bedeutung“ sei. (Bodo von Plato, in: Podiumsgespräch: Anthroposophie in der Zeit des Nationalsozialismus, Anthroposophie weltweit. Mitteilungen Deutschland, Sonderheft (2011), S. 18) „Die Anthroposophie“, so von Plato, der freilich den Nationalsozialismus für das nicht integrierbare Gegenbild der Anthroposophie hält, „fordert den ganzen Menschen, so wie auch totalitäre Systeme wie der Nationalsozialismus das tun.“ Dies trifft den Nagel auf den Kopf.

„Diese Komponenten einer Ideologie, die sich selbst ‚völkisch‘ nannte, stellten die Grundlage einer Denkweise und Lebenseinstellung dar, die dann in der Entwicklung des modernen Deutschland eine ungeheure Wichtigkeit erlangen sollte … Das romantische Gedankengut sollte eine Alternative zu Fortschritt und der sich entwickelnden industrialisierten, städtischen Gesellschaft sein, die den Menschen seines individuellen, kreativen Seins zu berauben drohten, da sie ihn von seiner alten sozialen Ordnung trennten … Völkisches Denken gab diesem sozialen Gerüst durch die Kraft des Volkes neues Leben. Gleichzeitig wurde die Möglichkeit der individuellen Selbstverwirklichung wiederbelebt, weil das Individuum zu einem Teil des kreativen Prozesses einer höheren Lebenskraft gemacht wurde … Diese Verbundenheit mit etwas größerem als dem eigenen Selbst wurde als notwendige Voraussetzung für das persönliche Wohlergehen verstanden. Die Verwurzelung in beidem, der Natur … und der geschichtlichen Entwicklung des Volkes, wurde als der regenierungsfähige natürliche Zustand des Menschen betrachtet, der das Individuum zu einem schöpferischen Wesen machte.“ (George L. Mosse: Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Die völkischen Ursprünge des Nationalsozialismus, München 1979, S. 25)

Zu den Eigenheiten völkischer Denker gehörte eine Legierung von Idealismus, Individualismus und Nationalismus, etwa bei Paul de Lagarde, für Steiner „einer der deutschesten Geister“, der „materialistische“ Bluts- Volkskonzepte überwunden habe und so „das Wesen der Deutschheit an seiner Wurzel“ greifen konnte. (GA 64, S. 224f.) Lagardes „Prophet“ (Mosse) Julius Langbehn schrieb in seinem immer wieder auch von Steiner empfohlenen Pamphlet „Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen“ (7. Auflage, 1888): „Die treibende Grund- und Urkraft alles Deutschthums heißt: Individualismus.“ Bei Steiner las sich das: „Darin besteht das konkret Nationale deutschen Wesens, dass es durch das Nationale über die Nation hinausgetrieben wird in das allgemeine Menschentum hinein.” (GA 174a, 72) Den kosmischen Platz des „Volkes“ für die Völkischen nahm für ihn freilich jenes „Allgemeine Menschentum“ ein, das die Anthroposophie darstellte:

„Heilsam ist nur, wenn
Im Spiegel der Menschenseele
Sich bildet die ganze Gemeinschaft
Und in der Gemeinschaft
Lebet der Einzelseele Kraft.“ (GA 40, 298)

Dieses „Wahrspruchwort“ ist für Anthroposophen m.W. nach wie vor eine der gängigen Vorstellung von idealer Gemeinschaftsbildung. Das sei ihnen unbenommen. Betrachtet man die historischen Kontexte solcher Vorstellungen und liest man Steiner im Wortlaut nach, ist diese „Forderung des ganzen Menschen“ ein Grund, autoritäre, dogmatische, „ganzheitliche“ Versuche aus anthroposophischen Reihen sehr genau zu beobachten.

… und Aufarbeitung ein drittes

Nimmt die Anthroposophie die kritische Reflexion auf diese Tendenz nicht auf, stellt sie sich der Beschäftigung mit ihren mannigfaltigen historischen Verwicklungen und Engagements nicht, ist eine ablehnende Position m.E. die einzig legitime. Steiner selbst, das ist ihm gegenüber seinen bewusstlos überzeugten Anhängern von heute zuzugestehen, hat dem Individuum letztlich ab einer bedeutenden und kaum berücksichtigten Stelle die Priorität zugesprochen. Der Eintritt in die Clairvoyance zerbrach jede Rückbindung an einen diffusen Abgrund der „Gemeinschaft“, weil die „Hüter der Schwelle“ radikale Eigenverantwortung verlangten (vgl. GA 10, 196). Mosse hat so an anderer Stelle durchaus zutreffend feststellen können, dass Steiners Theosophie einen „neuen Humanismus“ trug, „Spiritualismus mit Freiheit und Universalismus“ verband. (Mosse: Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt a.M. 1990, S. 119) Anstelle dessen ist jedoch unter nicht wenigen Anthroposophen die Lektüre und immer-wieder-Lektüre von Steinertexten getreten. “Das kritische Verhalten erschöpft sich im andächtigen Deuten auf den [Steinerschen] Appell, nichts unkritisch hinzunehmen.” (Taja Gut: Wie hast du’s mit der Anthroposophie?, Dornach 2010, S. 22). Diese Haltung würde selbst an Steiners Konzeption „der Schwelle“ scheitern.

Michael Mentzel ist, um das klarzustellen, keineswegs an den Verlautbarungen unsers Autorentrios Schuld, die ihm wahrscheinlich einfach nur gut gefallen haben. Kilthau/Schamell/Peuckert haben in ihrer Lobpreisung des „umfassenden Menschenbildes“ sicher keine Rehabilitierung von Steiners individualistischen Kollektivismen und Nationalismen geplant (die sie als solche aber zweifellos auch nicht wahrnehmen wollen würden). Die Verbindungen von Biodynamik, Nationalsozialismus und völkischer Bewegung sind ihnen womöglich einfach unbekannt und der Verweis auf die „Grünen“ rührt aus einer postmaterialistisch-bürgerlichen Überzeugung, die genauso fern von faschistischer Agitation steht wie die jedes anderen braven deutschen Bürgers. Das Problem ist, dass sie die kritische Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit, die unter Anthroposophen weiterhin eine Rarität ist, den Kritikern vorwerfen, die sich ihrer annehmen. Ob die Falschdarstellung des Abends Absicht, selektive Empörung, schlichtes Unverständnis der gefallenen Argumente oder irgendetwas anderes zur Ursache hat, kann ich natürlich nicht feststellen. Feststellen durfte ich dafür, dass ich meine Aussagen an jenem Abend wohl viel schärfer, eindeutiger und kritischer hätte halten müssen. Wenn solche Verlautbarungen wie die zitierten dem Geschäftsführer der Frankfurter Anthroposophischen Gesellschaft und einem Zuständigen der anthroposophischen Öffentlichkeitsarbeit unterlaufen, ist unter Feld-, Wald- und Wiesenanthroposophen wohl nicht viel mehr an historischer Besonnenheit zu erwarten.

Mehr als ein Silberstreif in diesem Zusammenhang ist übrigens eine unter anderem auch vom Frankfurter Arbeitszentrum der Anthroposophischen Gesellschaft finanzierte, aber unveröffentlichte „Geschichte der Wissenschaftsästhetik“, die wir der Historikerin Merle Ranft verdanken. Sie macht, und das könnten dann gewisse „Steinerkritiker“ lernen, deutlich, wie unnütz es wäre, die epistemischen Grundsätze der Anthroposophie pathologisierend, ridikülisierend, exotisierend oder sonstwie als schlechthin „irrational“ abzuspalten. Vielmehr seien, „die Geisteswissenschaften … aufgerufen und herausgefordert“, „die Aufklärung im Sinne einer reflexiven Aufklärung kritisch weiterzuentwickeln und auch ihre ästhetischen Gegenwelten zu bedenken.“ (Ranft: Die Geschichte der Wissenschaftsästhetik. Eine Analyse von Methode und Möglichkeit moderner Geisteswissenschaften, Manuskript, Frankfurt a.M., 2013, S. 65). Dass Historiker offenbar mehr mit der Anthroposophie als Anthroposophen mit der Geschichte anfangen können, gehört wohl zu den Mysterien der Geheimwissenschaft.

17. August 2013 at 3:44 pm 2 Kommentare

Die unendliche Geschichte

Neues Zur (Nicht-)Aufarbeitung des Anthroposophischen Rassismus am Beispiel Massimo Scaligero

„Die dümmsten Schlächter wählen ihre Schafe …
nee … dis ging anders. Die dümmsten Schafe
wählen ihre Kälber … Die dümmsten Schafe
sterben im Schlafe … nee … Ach, egal.“
– Marc-Uwe Kling

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I. Stand der Debatte

Die Anthroposophie („Weisheit vom Menschen“) hat ein Kernthema: Weiter- und Höherentwicklung. Der Mensch stammt in ihrer Konzeption aus „höheren Welten, und er wird zu diesen höheren Welten wieder hinaufsteigen.“ (Rudolf Steiner, GA 101, 1987, S. 187). Bei der selbstevozierten evolutionären Eile bleibt für ein so aufwendiges Thema wie „Vergangenheitsbewältigung“ nicht immer Zeit und Muße. Der Anthroposoph Sebastian Gronbach stand deutlich für den libertären Flügel der Bewegung, als er kommentierte: „Wenn Anthroposophen nicht selber zur wissenschaftlichen Kontextualisierung und historischen Einordnung in der Lage sind, dann müssen das eben andere übernehmen. Dann soll man sich bitte auch nicht beschweren.“

Tut „man“ aber leider trotzdem. Ein besonders emotionaler Gegenstand der „historischen Einordnung“ ist die Geschichte der Anthroposophie im deutschen und italienischen Faschismus: Heute sehen Anthroposophen sich meist als spirituell motivierte Vorreiter von Menschenrechten, Individualismus und Demokratie. In den rassistischen Diktaturen starteten dagegen nicht wenige erfolgreiche Karrieren und präsentierten ihr esoterisches Programm als spirituellen Boden für faschistisches Engagement. Einer davon war Massimo Scaligero. Dessen erklärten Aristokratismus, eliminatorischen Antisemitismus und messianischen Wahn für die „Rasse von Rom“ hat der Anthroposophiekritiker Peter Staudenmaier 2010 in seiner Dissertation herausgearbeitet. In Anschluss an diese bisher unveröffentlichte Arbeit hat Andreas Lichte u.a. den Rassismus Scaligeros im Februar noch einmal  herausgestellt. Er stieß damit eine umfangreiche Diskussion an.

Auf seinen Artikel antwortete ich mit umfangreichen Ausführungen über die Ambivalenz der Waldorfszene gegenüber dem NS-Staat sowie dem Hinweis darauf, dass Scaligero nicht von der Anthroposophie zum Faschismus kam, sondern umgekehrt vom rassistisch-„magischen“ „Traditionalismus“ Julius Evolas ausging, auf dessen Basis er die Anthroposophie interpretierte: Welcher Okkultist mit welchem anderen sympathisierte, war weniger Ausdruck eines faschistischen Kerns der Esoterik als vielmehr ein Ausdruck von deren für jeden Zweck instrumentalisierbaren „geistigen“ Überbau. In diesem Sinne feierte und präsentierte Scaligero etwa Rudolf Steiner als esoterischen Gewährsmann seiner gleichfalls esoterischen Rassenideologie (vgl. Peter Staudenmaier). Wenig später übernahm der „Humanistische Pressedienst“ (hpd) Andreas Lichtes Ausführungen mit der Bemerkung, dass sie „ein helles Licht auf Implikationen der Anthroposophie werfen.“ Staudenmaier selbst hielt diplomatisch fest, dass sowohl Lichtes als auch meine Darstellung berechtigt seien. Der anthroposophische Blogger Michael Eggert, der sich schon früher für die kritische Aufarbeitung des vermeintlich unbescholtenen Scaligero eingesetzt hatte (was Lichte unerwähnt ließ), verwies auf meinen Kommentar zu Lichtes Artikel. Jens Heisterkamp, Chefredakteur der anthroposophischen Zeitschrift Info3, griff ebenfalls meinen Artikel auf, vor allem zur Relativierung von Lichtes Vorwürfen, hielt aber fest:

„Bei allen Vorbehalten kann man den Ruhrbaronen und Andreas Lichte für eines dankbar sein: Sie schärfen das Bewusstsein dafür, dass sich Anthroposophen heute kritisch mit manchen Schatten in ihrem Erbe auseinandersetzen müssen. Genau das funktioniert aber nicht ohne das „leidige Differenzieren“, zu dem Ansgar Martins beide Seiten, sowohl Anthroposophen wie ihre Kritiker bzw. Gegner, augenzwinkernd ermahnt.“

II. Neuigkeiten

Konsequenzen wurden allerdings nur schleichend gezogen: Im deutschen Wikipedia-Artikel zu Massimo Scaligero wurden erst kürzlich Hinweise auf die kritischen Arbeiten von Staudenmaier und Lichte platziert. Die Dornacher „Forschungsstelle Kulturimpuls“, die Biographien prominenter Anthroposophen dokumentiert, löschte den bisherigen Eintrag zu Scaligero. Die Seite verkündet nun: „Dieser Beitrag ist in Überarbeitung“, im Hintergrund stehen fraglos die genannten Faschismusvorwürfe. Eine notwendige Revidierung: Im nun gelöschten Eintrag waren diese einfach verschwiegen bzw. geleugnet worden. Dort war zu lesen:

„…er [Scaligero] war von Amerikanern im Juni 1944 inhaftiert worden, obgleich er nie politisch und schon gar nicht faschistisch engagiert war.“

So peinlich der frühere Text, so begrüßenswert ist die angekündigte Überarbeitung. Einen weiteren Aggregatzustand von Peinlichkeit erreichte allerdings Michael Mentzel, der die Diskussion am 16.3.2012 auf seiner Seite „Themen der Zeit“ aufgriff. Mentzel distanzierte sich, um das klarzustellen, durchaus von Scaligero:

„Als der Stein des Anstoßes zu rollen begann, hatte er noch einen Namen, nämlich Massimo Scaligero, ein italienischer Anthroposoph, der – wenn die Fakten stimmen, die Andreas Lichte zusammengetragen hat – zumindest bis 1945 keinen Hehl machte aus seiner Sympathie für den Nationalsozialismus deutscher Prägung und den damit verbundenen Antisemitismus. In der Tat gibt der Artikel bei den Ruhrbaronen im Hinblick auf Scaligero einiges her, um die Verwicklungen italienischer Anthroposophen mit dem damaligen faschistischen Regime deutlicher zu erkennen …  Unwillkürlich fühlt man sich bei Scaligero an die unrühmliche Vergangenheit des Pfarrers Benesch erinnert und möchte mit Erich Kästner auf die Frage: „was wäre, wenn wir den Krieg gewonnen hätten?“, nur noch antworten: „zum Glück gewannen wir ihn nicht!“… Es ist also zu hoffen, dass der Teil der Biographie Scaligeros, der bisher nicht oder zuwenig beachtetet wurde, jetzt auch von der offiziellen anthroposophischen „Geschichtsschreibung“ berücksichtigt wird.“

Darin ist Mentzel durchweg zuzustimmen. Doch liest man immer Artikel auch: „wenn die Fakten stimmen, die Andreas Lichte zusammengetragen hat“ und ein zweites Mal „Die Fakten aber sprechen, wenn sie stimmen, eine andere Sprache.“ Offen lässt Mentzel, welche Zweifel er an diesen Fakten hat, denn diese liegen bereits seit Jahren und in verschiedensten Publikationen auf dem Tisch. Hätten Anthroposophen den von Mentzel für gescheitert erklärten Dialog mit Kritikern früher gesucht, hätte man auch früher und aus anderen Quellen von Scaligeros Faschismus erfahren und beispielsweise den biographischen Eintrag der „Forschungsstelle Kulturimpuls“ auch vor 2012 korrigieren können. Bereits der Klassiker der Anthroposophiekritik, Peter Bierl, hat seit langem unmissverständlich auf Scaligeros Rassenlehre hingewiesen und auch den Beitrag in der Biographischen Dokumentation der „Forschungsstelle“ kritisiert:

„In Platos Biographien-Sammlung wird Scaligero als bedeutender Journalist, dem die Gabe der Dichtung seit seiner Jugend eigen war, verklärt. Über seine journalistische Aktivität während des Faschismus erfährt der Leser nichts.“ (Bierl: Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister, Hamburg 2005, 177)

Wer anthroposophischerseits Bierls nicht immer unpolemische Darstellung verschmähte, hätte auch in der einschlägigen wissenschaftlichen Forschungsliteratur fündig werden können:

„Überdies bedienten sich die jungen Neofaschisten einer idealistischen Esoterik, die an die antidemokratisch-aristokratischen Ideen von Julius Evola und Massimo Scaligero anknüpften. Für diese beiden umstrittenen Intellektuellen, die sich der RSI angeschlossen und zu den wichtigsten Fürsprechern eines rassistischen Antisemitismus in Italien gezählt hatten, war mit der Demokratie das Maximum der Dekadenz erreicht, während sie – nach mittelalterlichem Vorbild – für ein streng hierarchisch organisiertes und von einer aristokratischen Leistungselite autoritär geführtes Gemeinwesen als politisches Ideal eintraten.“ (Guerrazi: Rezension zu Antonio Carioti: Gli orfani di Salò)

Spätestens seit 2009 war durch das Engagement Michael Eggerts Scaligeros Rassismus auch in der anthroposophischen Szene bekannt (was wiederum Lichte ignoriert, der Eggert unberechtigterweise die Nichtbeachtung der Faschismusvorwürfe unterstellte). Warum das Gros der Anthroposophen (mit allerdings bedeutenden Ausnahmen), diese Vergangenheitsbewältigung unterlässt oder gar verweigert, will sich mir nicht erschließen. Es hätte jedenfalls genung Informationen und Quellen gegeben, das Thema anzugehen – dass der entscheidende Schlag Andreas Lichte vorbehalten blieb, liegt einzig am zu langen Schweigen der Verantwortlichen an den entsprechenden anthroposophischen Stellen. Duchaus bemerkenswert ist allerdings, dass im Fall Scaligero jetzt endlich mit (selbst-?)kritischer Einsicht vorgangen wird und nicht, wie so oft zuvor, mit Apologie.

Die Vorzeichen sehen derzeit günstig aus: Der von Bierl (s.o.) geschmähte Bodo von Plato hat sich bereits im letzten Jahr mit der mutigen Äußerung hervorgetan, dass das „apodiktische Verhältnis zur Wahrheit“ in der Anthroposophie zu einer besonderen Empfänglichkeit der Anthroposophinnen und Anthroposophen für totalitäre Regimes führen könne. Zuvor hat der verdienstvolle anthroposophische Historiker Uwe Werner noch einmal (auch unter Anknüpfung an Peter Staudenmaier), die Rolle der Anthroposophie im Nationalsozialismus thematisiert. Staudenmaier selbst hat vor Kurzem noch einmal alle Beteiligten zum fairen Streit gemahnt:

„In der Dialektik von Annäherung und Abgrenzung spielten verschiedene Gesichtspunkte hinein, und eine vereinfachende Deutung verkennt leicht die Spannung zwischen beiden Polen. Für ein historisch fundiertes und umfassendes Verständnis der komplizierten Beziehung zwischen Anthroposophie und Nationalsozialismus sind beide Tendenzen, sind Distanz wie Resonanz von Bedeutung.“ (Peter Staudenmaier: Der deutsche Geist am Scheideweg, in: Puschner/Vollnhals: Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, Göttingen 2012, 490)

III. Gegenläufige Tendenzen

Doch es gibt auch triftige Gründe, an einer künftig fundierteren Debatte zu zweifeln. Sie werden von Michael Mentzel bei seiner an sich begrüßenswerten Kritik Scaligeros gleich mitgeliefert. Er wiederholt erneut das Märchen von der in ‚Wahrheit‘ antirassistischen Anthroposophie:

„Der 1925 verstorbene Rudolf Steiner hat Massimio Scaligero nicht gekannt. In einem Aufsatz, den er im Magazin für Literatur veröffentlichte, hatte Steiner allerdings unmißverständlich festgestellt: „Mein Entwicklungsgang war auch ein solcher, dass damals, als ein Teil der nationalen Studentenschaft Österreichs antisemitisch wurde, mir das als eine Verhöhnung aller Bildungserrungenschaften der neuen Zeit erschien. Ich habe den Menschen nie nach etwas anderem beurteilen können als nach den individuellen, persönlichen Charaktereigenschaften, die ich an ihm kennenlerne. Ob einer Jude war oder nicht: das war mir immer ganz gleichgültig. … Und ich habe im Antisemitismus nie etwas anderes sehen können als eine Anschauung, die bei ihren Trägern auf Inferiorität des Geistes, auf mangelhaftes ethisches Urteilsvermögen und auf Abgeschmacktheit deutet … “ Möglicherweise hätte Steiner diese seine Auffassung wiederholt und modifiziert, wenn er noch gelebt und Kenntnis von den faschistischen und antisemitischen Auffassungen des Herrn Scaligero erhalten hätte.“ (Auslassungen im Zitat von mir)

Mentzel verfällt in ein bekanntes Muster der Steiner-Hagiographie: Der Meister wird zum Gegner des Rassismus stilisiert, selektiv zitiert und damit die rassistische Überzeugung von Steiner-Anhängern zum Ausnahmefall erklärt. Die ‚wahre‘ Anthroposophie sei antirassistisch und eine rassistische Deutung bloßes Missverständnis. Eine Selbsttäuschung, der bereits Steiner unterlag. Der jüdische Anthroposoph Hans Büchenbacher (der in der Naziära aus dem Vorstand der deutschen Anthroposophischen Gesellschaft zurücktreten musste) hatte den Esoteriker mit dem Antisemitismus in der anthroposophischen Bewegung konfrontiert:

„Über das Problem des Antisemitismus hatte ich schon in einem intimen Gespräch mit Herrn Dr. Steiner im Mai 1920, in welchem ich sein persönlicher esoterischer Schüler werden durfte, gesprochen. Ich wurde damals von anthroposophischen Freunden eingeladen, über die Dreigliederung [die Gesellschaftsutopie der Anthroposophie – AM] große öffentliche Vorträge zu halten. Ich teilte dies Dr. Steiner mit und äußerte Bedenken, weil schon in unserer [der Anthroposophischen] Gesellschaft mir Antisemitismus begegnet sei, wie es diesen ja auch in der Außenwelt gab. Dr. Steiner, sehr streng und energisch: ‚Das gibt es nicht in der Anthroposophischen Gesellschaft‘ Ich: ‚Aber ich habe doch entsprechende Erfahrungen gemacht.‘ Herr Doktor: ‚Aber ich muss Ihnen sagen, dass Progrome in Würzburg vorbereitet werden, und das kann gefährlich für sie werden; Sie müssen selbst entscheiden, ob sie das riskieren wollen.“ (Büchenbacher: Teilauszug seiner Erinnerungen in: Info3, 4/1999, 19)

Steiner war blind für Antisemitismus unter seinen Epigonen (der in den Köpfen von Friedrich Rittelmeyer, Richard Karutz oder Marie Steiner-von Sivers nach 1933 noch ganz andere Formen annehmen sollte), vor allem, da die Probleme hausgemacht waren: Steiner selbst schätzte Moses als „Eingeweihten“ und Jahwe als hochstehenden Engel – doch deren ’spirituelle‘ Leistungen seien erbracht. So stufte er das Judentum als überholte Vorgängerreligion des Christentums ein und forderte die gänzliche und restlose Assimilation der Juden. In der Logik von Steiners geschichtsevolutionärem Weltbild konnten sich zwar alle Jüdinnen und Juden über ihre Religion „hinausentwickeln“, von ihr „freimachen“, doch diese Religion selbst habe seit der Inkarnation „des“ Christus nichts mehr zu bieten. Dass er selbst dem Judentum die Existenzberechtigung absprach, übersehen AnthroposophInnen wie Mentzel ebenso konsequent wie das, was man zu Steiners Lebzeiten unter Antisemitismus verstand:

„Unter diesen Begriff gehörten im damaligen Sprachgebrauch nicht die … christlichen Stereotype über das angeblich normative alttestamentarische jüdische Volk oder Ressentiments gegen den jüdischen Nationalismus, die Steiner im Grunde nur anthroposophisch umgedeutet hat, sondern als Antisemitismus wurden in erster Linie auf Biologie rekurrierende und mit Gewalt drohende Argumente gewertet, von denen man sich damals noch leicht distanzieren konnte. Deshalb konnte Steiner damals trotz seiner unübersehbaren Vorurteile als Feind des Antisemitismus gelten.“ (Miriam Gebhardt: Rudolf Steiner, 73)

Auch diese schlichte Tatsache ist seit langem bekannt. Spätestens mit den Arbeiten von Ralf Sonnenberg gibt es auch überzeugende anthroposophische Versuche, diese antijüdischen Implikationen des anthroposophischen Geschichtsmodells ein für alle mal abzuwenden. Wenn anthroposophische Apologeten allerdings immer wieder hinter den Stand der Debatte zurückfallen, dürfen sie sich im Sinne des oben zitierten Ausspruchs von Sebastian Gronbach, nicht wundern, wenn „andere“ das übernehmen: Die Kritiker und Gegner der Anthroposophie.

So wenig Andreas Lichte recht hat, wenn er behauptet, Scaligero habe Steiner lediglich konsequent weitergedacht und die Anthroposophie sei im Kern faschistisch, so wenig ist Michael Mentzel zuzustimmen, wenn er auf eine prinzipielle Distanz beider hinweist. Unzutreffende Unterstellungen und unhaltbare Entlastungsargumente provozieren sich gegenseitig und übersehen beide die Polyvalenz der Rezeptionsmöglichkeiten. Dass Steiners evolutionäres Rassendenken bis heute Faschisten anzieht, ist leicht verständlich. Dass seine Anthroposophie auch den in Auschwitz ermordeten Komponisten Viktor Ullmann oder den zionistischen Prager Salon Berta Fantas mit Exponenten wie Ernst Müller und Schmuel Hugo Bergmann inspirierte (letzterer organisierte gar an der Jerusalemer Universität eine Feier zu Steiners 100. Geburtstags), wundert ebensowenig: Steiner hatte für jeden von links bis rechts etwas im Angebot. Das übersehen viele Kritiker und noch mehr Anthroposophen bis heute. Einen Esoteriker, der mit „Wurzelrassen“ und „Volksseelen“ hantiert, auch wenn er anderswo die („geistige“) Egalität und Unersetzlichkeit aller Menschen propagiert, kann niemand erfolgreich vom Rassismusvorwurf freiwaschen. Eine glaubhaft antirassistische Anthroposophie müssten heutige Anthroposophen selbst schaffen. Vorbedingung dafür wäre, die ständig wiederholte Geschichte von der ‚Unvereinbarkeit‘ anthroposophischer und faschistischer Überzeugungen endlich fallenzulassen.

18. März 2012 at 11:56 am 7 Kommentare


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