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„Erbitterte Schuldzuweisungen“: Die soziale Unterseite des Rassismus-Problems

„Erfreue dich dessen, was dir gewährt ist; entbehre gern, was dir nicht beschert ist! Dann kann Ahriman nicht an uns heran … das gibt die rechte Stimmung für den Esoteriker.“
– Rudolf Steiner, GA 266c, 177

Im letzten Artikel ging es um jüngere anthroposophische Sympathien für AfD und Co und die Kohärenz, mit der sich solche Positionen von den rassistischen und nationalistischen Phantasien Rudolf Steiners herleiten. Wie üblich gab es einige Reaktionen und selbstverständlich kreisten sie beinahe ausschließlich um meine Person, meine Motivation und die Gemeinheit, mich über diesen Zusammenhang auch nur zu äußern. Obwohl es inzwischen wirklich langweilig klingt, die uralte Gewissheit mitzuteilen: Bis heute wird die Verbindung von Anthroposophie und menschenfeindlichen Vorstellungen am liebsten denen zum Vorwurf gemacht, die sie aussprechen. Wie könne man nur sowas sagen? Das ist nicht verwunderlich (sofern die Anthroposophie als ultimative und unüberbietbar gute Position gesetzt ist), weist aber einmal mehr darauf hin, dass die eigentlichen Abstrusitäten dieses Milieus im Sozialen stattfinden. Rassismus, Nationalismus und Verschwörungswahn hin oder her. (vgl. Dass er Individualität und Freiheit fördert) Das letzte Urteil über die Steiner-Bewegung, ihren Erfolg und ihr Identifikationspotenzial wird sozialpsychologisch zu fällen sein, dieses wird die politischen Feindbilder der Anthroposophie jedoch einbeziehen müssen.

„Kritik ist ein schwieriges Feld im Waldorfbereich. Sie muss konstruktiv sein, Kritik um der Erkenntnis willen, um Missstände zu markieren, das gilt als wenig hilfreich, da es nicht unmittelbar Anleitungen für eine andere Praxis gibt. Wer also kritisiert, setzt sich dem Verdacht aus, nicht der gemeinsamen Sache dienen zu wollen und ungeheuer schnell greift die Unterscheidung in innen und außen, Freund und Feind, für uns und dagegen.“ (Valentin Hacken)

Die narzisstische Kränkung durch die Diagnose rechter Potenziale führt dementsprechend bloß dazu, die Diagnose abzuspalten und bequem mit dem Etikett „dagegen“ zu versehen. Diese Einordnung jeder beliebigen Aussage nach einem feindsematischen Schema hat ihr Gegenstück in der anthroposophischen Ideenpolitik: Geisteswissenschaft vs Materialismus, Erzengel Michael vs Ahriman, Mitteleuropa vs Angloamerika. Die „gemeinsame Sache“ ist der Volksorganismus, ihr Manichäismus die Urgeste des Antisemitismus (wobei Steiner eben nicht die Juden, sondern die englischsprachige Welt als das ganz Andere der eigenen Herrschaftsphantasien konzipierte, welche er bloß im imaginierten Feindbild zum Ausdruck brachte). Genau diesem bipolaren Reflex- und Reaktionsschema verdankt sich auch die Subsumierung von Anthroposophieforschern wie Christian Clement und Helmut Zander unter konspirationsideologische Geschichtspunkte. (vgl. Willy, Thomas und der Wolf im Schafspelz) Solche Schuldabwehr, die immer bloß 0 oder 1, immer bloß Angriffe oder aber konstruktive Beiträge zur eigenen Sippschaft zu registrieren in der Lage ist, ist zumindest so weit funktional, dass man sich die Fähigkeit zur politischen Reflexion abschneidet und eben beispielsweise bequem über diesen blöden Blog diskutiert statt über neurechte Anthroposophen und das Fortleben allzu alt-rechter Anthroposophie in der Gegenwart.

Im Sozialleben der anthroposophischen Institutionen sind natürlich komplexere Verdrängungs- und Projektionsmechanismen nötig, um mit den realen Problemen umzugehen, an Waldorfschulen zum Beispiel: Einerseits arbeiten fast alle professionellen Akteure aufgrund der Prämisse, dass man es mit der besten aller möglichen Schulen zu tun und sich im Zweifelsfall nicht genug in „die Menschenkunde“ Steiners vertieft habe, was die nüchterne Feststellung der tatsächlichen Lage erschwert. Der Schulspsychologe und Waldorf-Vater Gerhard Vilmar berichtete von einem Szenario, dass beinahe jeder Waldorf-Insider kennt, wie „sich Lehrer und Eltern … erbitterte Auseinandersetzungen mit wechselseitigen Schuldzuschreibungen“ liefern. Heiner Ullrichs jüngste Waldorf-Einführung erklärt die vorprogrammierten Konflikte als solche zwischen hochgradig „bildungsorientierten“ Eltern und dem gänzlich anders ausgerichteten anthroposophischen Habitus der Lehrkräfte. Hinzukommen dürften allerdings die üblichen Lagerbildungen, Machtkämpfe und ein gewisser Hang zur Selbstausbeutung mit den entsprechenden nervlichen Folgen, der für die ältere Waldorflehrergeneration geradezu sprichwörtlich ist.

Passend dazu hatte ich am 9. Juni 2016 das Vergnügen, in Minden einen Kurzvortrag zu Rudolf Steiners Rassenlehre zu halten. An der Mindener Waldorfschule wurde im letzten Jahr ein rechter Waldorflehrer vor die Tür gesetzt – aber erst, als der Waldorf-Dachverband („Bund der Freien Waldorfschulen“) drohte, die Schule andernfalls auszuschließen. Seine Kinder besuchen, wie mir erzählt wurde, die Schule wohl noch immer, was kein Argument für Sippenhaft sein soll, sondern anschaulich machen, wie akut die Konflikte und Konfliktlinien vor Ort weiterbestehen. Seit einem Jahr ist die Schule mit einer örtlichen Beratung gegen Rechtsextremismus im Gespräch, welche die gestrige Veranstaltung organisiert hatte. Nach zwei Vortrags-„Inputs“ standen zwei Vertreter der einschlägigen Waldorf-Landesarbeitsgemeinschaft vor einem schäumenden Saal von farbenfroh gekleideten Waldorfeltern Rede und Antwort und waren um Antworten teilweise durchaus verlegen.

Im Vergleich zu früheren Veranstaltungen konnte ich einmal mehr feststellen (vgl. Die Scheidung der Geister), dass sich die Rhetorik einiger (eben zumindest der anwesenden) Anthroposophen und Waldorf-Vertreter verschoben und transformiert hat. Früher hätte man nach dem ausführlichen Vorlesen auch noch der widerlichsten Steiner-Stelle diskutieren müssen, ob das nicht „aus dem Kontext gerissen“ sei oder sich diversen der erwähnten Feindbestimmungen ausgesetzt gesehen. Die in Minden kommunizierte Haltung war defensiv, man gestand, hier müsse „noch gearbeitet“ werden, ja man sei natürlich schon längst am arbeiten, verwies etwa auf die „Stuttgarter Erklärung“ und die „Reichsbürger“-Broschüre, interne Arbeitsgruppen seien gebildet worden, usw. Dieser status quo sagt zwar noch gar nichts, wie zahlreiche der Anwesenden mit Recht monierten, die sich konkretere Aussagen und Schritte wünschten. Diskutiert wurde sehr kontrovers, durch welche Strukturen man sich wenigstens rechte Lehrer vom Leib halten könne, ob Gesinnungstests für Lehrer überhaupt geboten oder nicht selbst Ausweis jenes Konformismus seien, den die Völkischen sich ja am sehnlichsten wünschen.

Doch überlagert wurde der Abend vom Schulklima: Eine ehemalige Schülerin meldete sich und erzählte mit scharfer Stimme, sie habe vorab auf den Hintergrund des Neonazi-Lehrers aufmerksam gemacht. Doch das Vertrauen der Kollegen war offenbar stärker. Eine Mutter meldete sich an anderer Stelle – laut eigener Aussage „mit geschwollenem Kamm“ – und erzählte, das sei doch alles Teil größerer Probleme: Eine Lehrkraft habe ihr als Alleinerziehender die Fähigkeit abgesprochen, ein Kind wirklich vollwertig erziehen zu können. Eine weit nicht auf einen rechten Lehrer reduzierbare Unzufriedenheit brach sich Bahn, und wieder die wechselseitigen Schuldzuweiseungen. Im Nachgang erzählte mir ein Elternpaar, das jüngste Kind hätten sie eben auf ein Gymnasium statt bei der Waldorfschule angemeldet. Hier wird deutlich, dass die Form der waldorfinternen Diskussionen das größte Problem darstellt, größer jedenfalls als der philologische Befund zu Steiners Rassebegriff. Die Formen der anthroposophischen Gemeinschaftsbildung und ihre Tücken werden dadurch jedoch nicht politisch progressiver. Ein Diskutant aus dem Publikum sprach gar von sich aus an, dass die ideologischen Probleme sich nicht auf Steiners Rassenlehren beschränken lassen: „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“, die Rhetorik des „ganzen Menschen“ und das organizistisch-romantische Denken sind starke und bislang recht zuverlässige Verbindungen von Anthroposophie und völkischen Sehnsüchten. Das alles sind Fragen, mit denen ein Klärungsprozess anheben müsste – die gestrige Veranstaltung jedoch war als Abschluss eines solchen Prozesses vorgesehen, wurde jedenfalls anfangs als solche vorgestellt, so dass man nicht so naiv sein sollte, anzunehmen, hier würden sich irgendwann Lösungen für die angerissenen Probleme ergeben. Wie auch – sie würden die Waldorfpädagogik sprengen: Sich kritisch mit dem ganzheitlich-organischen Ansatz zu befassen und die regressiven Implikationen zu realisieren, zu denen er (wie unfreiwillig auch immer) hintreibt, hätte die konzeptionelle Selbstzerstörung der Waldorfschulen zur Folge. Es sei denn, deren esoterische Subjektivität erlangte die Fähigkeit, die sie am meisten verabscheut: Die Widersprüche und deren Hässlichkeit auszuhalten und kritisch ins Bewusstsein zu tragen, ohne die Illusion, dass man das angestrebte heile Ganze bereits vor sich habe.

Allerdings zeigt sich, dass sich die Waldorfszene entwickelt, dass an wunden Punkten die alte apologetische Rhetorik nicht mehr funktioniert und eine der unumgänglichen Vergangenheitsbewältigung an ihre Stelle tritt. Die hat noch ganz andere Probleme, welche die deutsche Gesamtgesellschaft wiederum seit Jahrzehnten beschäftigen, aber immerhin. Waldorf-immanent betrachtet scheint ein gewisser Fortschritt stattzufinden. Konsens ist er nicht. Nachdem Henning Kullak-Ublick, Pressesprecher der Waldorfschulen, die Schulen im Juli 2015 davor warnte, rechte Demagogen einzuladen (das war akut mehrfach vorgekommen, vgl. Ein kosmisches Komplott, Hinter dem Mond hervor), erhob sich ein Sturm der Empörung – freilich nicht über rechte Demagogen, sondern Kullak-Ublick. Der berichtete kurz darauf von einem Treffen mit dem Verschwörungspabst Ken Jebsen, den er als engagiert, aber ein bisschen fanatisch erlebt haben will. Das zeigt, vor welchem Konsens sich eine Verschwörungsideologie-kritische Position im Waldorfbereich rechtfertigen muss, also: woher hier der politische Wind weht. Aber. In Minden und an einigen anderen Orten sieht das anscheinend etwas anders aus. Wer kein Zyniker ist, muss den aufschreienden Stimmen in dieser Bewegung Glück wünschen. Vorläufig lässt sich an der anthroposophischen Vergangenheitsbewältigung aber höchstens eines lernen: dass, wer sich den Problemen der Geschichte am weitesten enthoben glaut, umso unbewusster zu ihrem Vollstrecker macht.

Nachtrag: Einen weiteren Bericht zur Veranstaltung in Minden schrieb Michael Mentzel („Themen der Zeit“), und zwar mit einer nach meiner Erfahrung ganz ungewöhnlichen Sachlichkeit. Dort gibt er ausführlich die Positionen der beiden Waldorfvertreter wieder und geht auch auf den Vortrag von Karl Banghard („Freilichtmuseum Oerlinghausen“) ein, der am selben Abend sehr anschauliches Material zum „Germanen“-Kult von Nazis und Neonazis präsentierte. Mentzels Bericht gibt allerdings dem Publikum und der eigentlichen Diskussion wenig Raum, während er sich u.a. ausführlich zu meinem Vortrag ausbreitet. Das Vortragsthema, zu dem ich von den Organisatoren eingeladen worden war – Steiners Rassenlehre–, wird unter Mentzels Bearbeitung natürlich zu meiner ganz persönlichen Angelegenheit, die er deplatziert findet: „Martins wäre aber nicht Martins, wenn er nicht auch auf die Steinersche ‚Rassentheorie‘ zu sprechen käme und an dieser Stelle wird er vermutlich für die meisten Anwesenden recht kryptisch.“ Als wäre Steiner, der jeden Satz dreimal in unterschiedlichen Formulierungen wiederholt und jede Beschreibung öfter phänomenologisch umformt, unfähig, sich auszudrücken, als wäre es entsprechend unmöglich, ihn vorzulesen. Ebenso „kryptisch“ findet Mentzel aber auch, dass einer der anwesenden Waldorf-Vertreter die Wesensglieder-Lehre und die drei Körper-Systeme Steiners ansprach. Mentzel scheint also weniger die Rassentheorie als jeden klar angesprochenen Steinerschen Gedanken für kryptisch zu halten. Die Versuche des besagten Waldorfaktivisten und meiner Wenigkeit, Steiner zu paraphrasieren, belegt Mentzel mit dem Wort „salopp“. Vielleicht ist das ein weiteres Problem im oben angesprochenen Sinne: Steiner ist für viele Anthroposophen jemand, den man ausführlich und langsam im Hinterzimmer liest, mit gedämpfter Stimme bespricht, im Herzen trägt und tastend im Alltag bewährt. Er bleibt somit Arkanwissen, dessen öffentliche Diskussion gilt als heikel bzw. eben „kryptisch“ und „salopp“. Auch hier werden Anthroposophen andere Lösungen finden müssen. Steiners Zitate (so Mentzel über diejenigen, die ich in Minden vorlas) seien „schwer verständlich“, „hochproblematisch“ könnten  „Missverständnisse auslösen“. „Aus dem Kontext gerissen“ lässt grüßen. Doch selbst Mentzel verteidigt die entsprechenden Vorstellungen Steiners nicht. Selbst bei „Themen der Zeit“, wo Verschwörungsideologie boomt, will man die Rassenanthropologien offenkundig nicht mehr rechtfertigen. Das scheint mir das beste Argument dafür zu sein, Steiners Gedankengut weiter öffentlich darzustellen.

11. Juni 2016 at 3:23 am 16 Kommentare

„Hat was von Beuys“: Anthroposophie, AfD und die degenerierten Astralleiber der Asiaten

„Steiner hätte den NS-Rassismus mit Bestimmtheit in aller Schärfe abgelehnt, für eine multikulturelle Gesellschaft kann er sich aber ebenfalls nicht erwärmen. Das Kulturkreismodell heutiger europäischer Rechtsparteien kommt den Steinerschen Vorstellungen sehr nahe: Schwarzafrikaner und ihre Kultur gehören nicht nach Europa, ebensowenig chinesische oder heutige indische Kultur. In der Fluchtlinie von Steiners Vorstellungen liegt – das ist das äußerste – gar ein Apartheit-artiges Modell, das die Ungleichbehandlung der Menschen aus ihren je verschiedenen Möglichkeiten und Entwicklungsnotwendigkeiten begründet.“
– Georg Otto Schmid: Die Anthroposophie und die Rassenlehre Rudolf Steiners, in: Joachim Müller (Hg.): Anthroposophie und Christentum, Freiburg (CH) 1995, 191

Überlegungen (naja: Quellen) zu politischen Ausprägungen der jüngeren Anthroposophie, Überschneidungen mit der neuen Rechten und zum Fortleben alter Steinerscher Grundannahmen.

Die ‚rechtspopulistische‘, in weiten Teilen rechtsradikale „Alternative für Deutschland“ ist nicht nur ein Flügel der neueren Explosion irrationaler Ideologien, sondern eines ihrer Sammelbecken. Der viel zitierte AfD-Abgeordnete Franz-Josef Wiese echauffierte sich über die Mitgliederbasis seiner Partei: „Von ehemaligen SED-Genossen über spinnerte Weltverbesserer bis zu Leuten mit Verfolgungswahn war alles dabei“. Ein ehemaliges Vorstandsmitglied glaube an Chemtrails, andere vertrauten „Leuten, die auf heilende Steine, Handauflegen und andere seltsame Heilmethoden schwören“ – „Ich glaube, die meisten AfD-Wähler wissen gar nicht, was für Leute bei uns sind.“ (so Wiese gegenüber der „Bild“) Manche Wähler könnten von Nachrichten über die spirituelle Basis der AfD jedoch erfreut sein. Martin Barkhoff vielleicht, ehemaliger Chefredakteur des anthroposophischen Zentralblatts „Das Goetheanum“, der mittlerweile in Peking lebt. Nachdem Jens Heisterkamp, Chefredakteur der liberalen anthroposophischen Zeitschrift „Info3“, sich jüngst von neurechten „Wut-Denkern“ abgrenzte, schrieb Barkhoff einen empörten Leserbrief. Die in Info3 abgedruckten Zeilen beginnen mit einem Lob der eigenen gelungenen Integration in China:

„…mein Freundeskreis ist weitgehend chinesisch und meine Anthroposophie verwandelt sich in Taoismus. Meine Nachbargemeinde, das Garnisonsdorf Yangfang, ist islamisch … Leuchtende, dem Himmel zugewendete Halbmonde können in mir die Begeisterung für die Hingabe (Islam) an den Willen Gottes wecken. ‚Angst vor dem Fremden‘ ist bei mir nicht das Hauptmerkmal. Aber ich bin AfD-Wähler. Alexander Gauland macht großen Eindruck auf mich. Allein wie freundlich der bleiben kann … Geduld wie die des alten Rabbi Hillel, und die hebt real das Wut-Denken auf. Wenn alle um ihn herum erregt bis voll wütig sind, bleibt er nicht nur kühl, sondern spürbar freundlich … Hat was von Beuys und den Grünen, früher. Der stand auch konsequent gegen die Parteienherrschaft.“ (Martin Barkoff, Leserbrief zu Jens Heisterkamp, in: Info3, Juni 2016, 5)

Nach dieser wirren Begründung passen Taoismus, Anthroposophie, Islam und AfD irgendwie wunderbar zusammen und Gauland als charismatischer, friedlicher Geist verkörpert offenbar mustergültiges Menschentum. Epigonentum ist eben eine anthroposophische Schlüsselkompetenz. Der Künstlerprophet Joseph Beuys, der seine Jugend in Nazideutschland romantisierte, Antiamerikanismus für Antikapitalismus hielt und einen spirituellen Deutschnationalismus vertrat, passt allerdings hervorragend zu Barkhoffs neuem Kurs. (vgl. Kunst und Boden, Bad Beuys) Das bestätigen auch Rechte, die von Beuys wie Steiner fasziniert bleiben. Das NPD-Organ „Deutsche Stimme“ entdeckte in der März-Ausgabe 2016 in der Tat Beuys‘ politische Visionen. In der Online-Ankündigung liest man:

„…nicht nur dessen Biographie weist interessante Details auf. Man muß sich mit seiner Kunst nicht anfreunden, aber man sollte mit diesem Mann, der eine ‚organische Demokratie‘ anstrebte, sich an Rudolf Steiner, dem Begründer der Anthroposophie orientierte und von der ‚Auferstehungskraft des Volkes‘ überzeugt war, ruhig mal näher beschäftigen.“

 

Steiners Werke stehen derweil auch in der Bibliothek des „Instituts für Staatspolitik“. (vgl. Deutschlandfunk) Um das klarzustellen: Eine Mehrheit der Anthroposophen fände das sicher unbehaglich und dürfte eindeutig für die Aufnahme von Flüchtlingen votieren, wie zahlreiche einschlägige Waldorf-Projekte nahelegen. Zu kritischer Reflexion auf die reaktionären Potenziale führt das natürlich auch diesmal nicht. Hier gilt wohl nach wie vor die Vogel-Strauß-Haltung Steiners, der auf Hans Büchenbachers Kritik an anthroposophischen Antisemiten dekretierte: „Das gibt es nicht in der Anthroposophischen Gesellschaft.“ Ausnahmen, wie Michael Eggerts „Egoistenblog“ oder eben „Info3“, stellen nicht gerade einen Trend dar.

Martin Barkhoffs Ausführungen zu China und Gauland wirken auch deshalb so kryptisch, weil er außer Bewunderung für Gauland keine eigentlich politische Begründung für sein AfD-Bekenntnis abgibt. Ein weiterer Leserbrief, verfasst von einem Michael Köhler aus Gödenroth, passt mehr zu den Aussagen, die man aus dem AfD-Dunstkreis kennt: „Seit 9/11“ werde der „Meinungskorridor immer enger“, selbst „im Bekanntenkreis“ gelte er als „neu-rechts“, wenn er „ausgewiesene Antifaschisten“ wie Brandt und Thälmann (!) „zum Thema souveräner Nationalstaat nenne“, so Köhler (ebd.). Hier lässt die neonazistische Reichsideologie grüßen, mit der sich längst andere Anthroposophen eingelassen haben. (vgl. Anthroposophen und „Reichsbürger“-Bewegung, Waldorf Schools and the German Right) Steiner griff im Ersten Weltkrieg die völkische Mär von „okkulten Logen“ hinter dem „Angloamerikanertum“ auf, die „Mitteleuropas“ „Weltmission“ behindern wollen. Bis heute bestimmt sie viele anthroposophische Politikbetrachtungen. (vgl. Anthroposophischer Geschichtsrevisionismus, Nationalist Cosmopolitanism, Ein kosmisches Komplott) 9/11 kann man sich da freilich nicht entgehen lassen.

Wer Steiner sät, wird heute Neurechte ernten. Das legen zumindest die berüchtigten „Einzelfälle“ nahe. (vgl. dazu Bierl: Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister, Hamburg 2005, Einleitung) So hetzte vor einiger Zeit der anthroposophische Heilpädagoge und Faschist Rüdiger Keuler (vgl. Eggert: Volksverhetzung auf anthroposophisch, Liebe deinen Nächsten) gegen  triebhaft-lebensstarke Afrikaner, die von amerikanischen Geheimlogen gesandt würden, um die christusgefärbten Weißen Europas herabzuzüchten. In konstruktiv-kritischen Austausch mit Keuler trat der Anthroposoph Herbert Ludwig (vgl. Eggert: Demokratie in anthroposophischen Gänsefüßchen). Der erregte schon vor Jahren im Rahmen der dubiosen „Freien Anthroposophischen Vereinigung Pforzheim“ Aufsehen, bei der rechte Redner eingeladen wurden. Holger Niederhausen, einer der fundamentalisitischeren Steinerianer, verteidigte Ludwig derweil als „links“, ohne näher auf Keuler einzugehen. (vgl. Niederhausen: Michael Eggerts Rundumschläge) An Steiners Rassismus und Völkerpsychologie hat Niederhausen ohnehin nichts auszusetzen. (vgl. Unwahrheit versus Wissenschaft) Seine gleichzeitige Sympathie für die Partei „Die Linke“ passt zur sog. „Querfront“, man denke an den national-sozialen Kurs Sahra Wagenknechts oder die Phantasien Dieter Dehms. Breiter betrachtet: Linke und rechte Anti-Globalisierer ziehen dem unentrinnbaren Bann des wahrlich kalten Kapitals die falsche Wärme ethnischer oder kultureller Kollektive vor und damit den „Volksorganismus“ (mag er auch diskurstheoretisch artikuliert sein) der prekären bürgerlichen Existenz. Darin kommen auch rechte Ethnopluralisten und linke „Identitäts“-Fanatiker, die Religionskritik für „Islamophobie“ halten, zusammen: Statt Selbstbestimmung für die Individuen und reflexive Freiheit gegenüber allen traditionalen Verhaltensregeln zu fordern, soll je „das Eigene“ oder „das Fremde“ qua Dasein als unbedingt erhaltenswert gelten (anthroposophisch würde das noch durch die Ontologie der „Volksseelen“-Missionen unterfüttert). Die Apologeten des Islamismus und die Fans der AfD argumentieren von einem vergleichbaren Kulturbegriff aus. Am Ende würden demnach vermutlich die Menschen in homogene kulturelle, religiöse und/oder „Volksgemeinschaften“ getrennt sein, die einander inkommensurabel seien, und damit wäre das böse globale „System“ zerstört.  Einmal mehr brachte dies kürzlich Herbert Ludwig auf den Punkt, der im April zum „Widerstand“ gegen die trans- und internationalistische Verschwörung aufrief:

„Aber Kraft und Widerstandspotential der Staaten sind wesentlich in den Nationen, den Völkern und ihren spezifischen Kulturen begründet, in denen die Menschen weitgehend ihre seelische Verankerung finden. Für einen Globalisierer muss daher neben die politische Entmachtung und Aushöhlung der Nationalstaaten als zweites Ziel die Auflösung der Völker treten, die sie umfassen. Nur eine „enthomogenisierte“, durchmischte Bevölkerung, in der sich keine innere Gemeinsamkeit einer Fremdsteuerung widersetzen kann, ist leicht zentral lenkbar.“ (Herbert Ludwig: Globale Planung der Massenmigration, Ein Nachrichtenblatt Nr.8/10. April 2016, S. 3)

Diese eigene Ansicht unterstellt Ludwig auch den okkulten Geheimlogen, die derart die Weltmission Mitteleuropas via Flüchtlings-„Krise“ zerstören wollten. Unter vielen Anthroposophen gilt noch immer die These, „dass nicht nur die ‚Neger‘ nicht nach Europa, sondern auch die Europäer nicht nach Afrika oder Asien gehören…“ (Bader/Ravagli: Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit, Stuttgart 2002, 175) Das ist nicht nur, wie die zitierten behaupten, gegen den Kolonialismus gerichtet. Der noch so indirekte Kontakt unterschiedlicher „Rassen“ kann aus anthroposophischer Perspektive massive physisch-geistige Nachwirkungen haben. Einer vielzitierten Idee Steiners zufolge kann bereits die Lektüre von sog. „Negerromanen“ die Kinder weißer Frauen „grau“ (!) machen. (vgl. GA 348, 189) Direkte Präsenz ist noch folgenreicher. So erklärte Steiner „den Aussatz im Mittelalter“ durch den „Hunnensturm“, da hier „zurückgebliebene“, übersinnlich verwesende „Mongolen“ die europäischen Evolutionsprotagonisten in Angst versetzten:

„Und nun mischte sich der faule Astralstoff der Hunnen mit den von Angst und Furcht und Grauen durchwühlten Astralleibern der überfallenen Völker. Die degenerierten Astralleiber der asiatischen Stämme luden ihre schlechten Stoffe auf diese furchtdurchwühlten Astralleiber der Europäer ab, und diese Fäulnisstoffe bewirkten eben, daß später die physische Wirkung der Krankheit auftrat. Das ist in Wahrheit die tiefe geistige Ursache des Aussatzes im Mittelalter.“ (GA 100, 88, vgl. GA 94, 156, GA 95, 69, GA 97, 254, GA 99, 59)

So viel zu den okkulten Hintergründen. Herbert Ludwigs Artikel erschien in der Online-Zeitschrift „Ein Nachrichtenblatt. Nachrichten für Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft und Freunde der Anthroposophie“, die ein fanatischeres anthroposophisches Publikum bedient. Ein weiterer Artikel in derselben Nummer des „Nachrichtenblatts“ raunte ebenfalls über „Pläne okkulter Bruderschaften“, anschließend wurde ein Text des britischen Schriftstellers Antony Sutton gedruckt – ihm verdanken wir Titel wie „Wall Street und der Aufstieg Hitlers“ oder Thesen über „Skull and Bones“, wo man die Weltherrschaft mittels Hegelscher Dialektik einübe (man denke einen Moment über diesen Quatsch nach: Charakter und Gegenstandsbereiche philosophischer Theorien scheinen hier schlechterdings jenseits des Vorstellbaren zu sein – die vorliegende Einschätzung von Dialektik gleicht der Behauptung, das Keplersche Gesetz eigne sich als Tiernahrung oder das epistemologische Konzept des „Dings an sich“ könne für den effizienten Ausbau von Verkehrswegen von Nutzen sein) Irrational kann aber eben alles in Beziehung gesetzt werden.

Das „Nachrichtenblatt“ ist, wie hinzugefügt werden muss, skeptisch, teilweise feindlich gegenüber der Entwicklung der „Anthroposophischen Gesellschaft“ oder der Steiner-Nachlassverwaltung. Das heutige Dornach ist die Berliner Republik solcher anthroposophischer Wutbürger: Charismatisch schwach, uneins, halb zum eigenen Museumsshop verkommen. Die dogmatische Binde- und Integrationskraft der gegenwärtigen institutionalisierten Anthroposophie nimmt ab. Während die Anthroposophische Gesellschaft schrumpft (vgl. Sergej, du hast dich selbst gegeben) und die Praxisfelder zögerlich ins weitere esoterische Milieu zu diffundieren beginnen (vgl. exemplarisch Zwischen Anthroposophie und Scientology?), suchen auch rechts-anthroposophische Interessenten neue Wege und begründen eigene Foren. Dass der anthroposophische Mainstream sich selbst eher links verorten dürfte, wird durch die ungebrochene Zustimmung zu Steiners nationalistischen Einkreisungsparanoia aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und das organizistische Denken der „Sozialen Dreigliederung“ konterkariert.

6. Juni 2016 at 3:21 pm 24 Kommentare

Hinter dem Mond hervor. Waldorfbund warnt die Schulen vor politischen Demagogen

Endlich: Der „Bund der Freien Waldorfschulen“ hat sich in einem Schreiben an die Kollegien aller deutschen Schulen mit einer begrüßenswerten Klarheit gegen rechte Tendenzen ausgesprochen – Tendenzen im eigenen Umfeld. Der auf den 10. Juli 2015 datierte Brief wird auch von der Anthroposophie-nahen Nachrichtenagentur nna sowie auf der Seite der Waldorf-Verbandszeitschrift „Erziehungskunst“ paraphrasiert. Henning Kullak-Ublick, der die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Waldorfbundes leitet, schreibt unter anderem:

„Im vergangenen Schuljahr hat es mindestens fünf Vorfälle an deutschen Waldorfschulen gegeben, die es wegen ihrer Nähe zur rechtsextremen oder „reichsbürgerlichen“ Szene in die Presse geschafft haben. Das erfüllt uns mit Sorge und wir möchten Sie daher nachdrücklich bitten, unsere pädagogische und gesellschaftliche Verantwortung nicht im Namen eines vermeintlichen „freien Geisteslebens“ zu konterkarieren, das mit der eigentlichen Bedeutung dieses Begriffes gar nichts, mit Demagogie aber sehr viel zu tun hat. Wenn Sie bezüglich eines Redners unsicher sind, hilft oft schon ein Blick ins Internet. Nicht alles, was man dort findet, stimmt, aber Quellenkritik gehört zu den Basiskompetenzen unserer Zeit – und sollte auch unseren Schülerinnen und Schülern beizeiten vermittelt werden.“

Hier schwingt ein sarkastischer Ton mit, wenn die Waldorfpädagogen etwa darauf hingewiesen werden, dass man sich auch im Internet informieren könne. Das Alarmierende ist, dass dieser Hinweis tatsächlich nötig zu sein scheint. Andreas Molau, inzwischen Aussteiger aus der rechten Szene, konnte etwa rückblickend berichten, wie leicht es war, als NPD-Kader an einer der Schulen unterzukommen: „Dann bin ich zur Waldorfschule gegangen, was nur funktioniert hat, weil die so herrlich hinter dem Mond gelebt haben. Die hatten überhaupt keine Ahnung. Ich bin da einfach hingefahren, habe gesagt, ich habe Deutsch und Geschichte studiert und möchte Lehrer werden und finde Waldorfschulen toll.“ Hinter dem Mond will Kullak-Ublick die Schulen hervorholen: Später im Schreiben wird explizit auf Mängel im Politik- und Wirtschaftsunterricht hingewiesen, der „Bund“ fordert hier Verbesserungen. Konkret an konspirationsideologischen Kontakten benannt werden Kilez More und Ken Jebsen, denen kürzlich die Schülermitverwaltung der Waldorfschule Filstal ein Forum bieten wollte. Dieses Ereignis dürfte auch den unmittelbaren Anlass für das Schreiben dargestellt haben. In dem Brief wird eine wichtige Schnittstelle rechts-anthroposophischer und mode-verschwörungstheoretischer Denkhaltung getroffen: Das „Freie Geistesleben“ Steiners lässt sich platt enthistorisiert als Gegensphäre zur „Lügenpresse“, den „Mainstream-Medien“ mit ihren „US-Lakaien“ und den ganzen anderen politisch simplifizierenden Paranoia deuten. In der Tat hat der „Bund“ derartigem schon vor einigen Monaten eine Absage erteilt, wie auch das Schreiben programmatisch anführt:

„Mit unserer Publikation zu der „Reichsbürger“-Bewegung haben wir vor einem halben Jahr bereits auf die Gefahr von Verschwörungstheorien hingewiesen, die gerade auf junge Menschen oft verführerisch wirken, weil sie einfache Antworten für komplexe Zusammenhänge bereithalten. Verschwörungstheorien leben von Zirkelschlüssen, denen man, wenn man ihnen einmal verfallen ist, nur schwer wieder entkommt. Dass sie oft dem rechten Spektrum angehören, zeigt das ebenso typische wie immer wiederkehrende Beispiel des so genannten „Weltjudentums“, dem über die Kontrolle der Finanzmärkte die heimliche Weltregierung zugeschrieben wird. Von dort bis zum Antisemitismus ist es nicht weit. Es gehört zu unserer pädagogischen Verantwortung, junge Menschen aufzuklären und urteilsfähig zu machen, nicht aber, unsere Schulen zu Plattformen für die Verbreitung solcher Ideologeme zu machen.“

Dem kann man sich weitgehend anschließen, und auch wenn die Verbindung von Antisemitismus und Verschwörungstheorie hier unklar bleibt, weist Kullak-Ublick zutreffend auf den alarmierenden Gleichklang dieser Denkmuster hin. Auf die historische Konvergenz beider Motive im anthroposophischen Umfeld  geht der Brief nicht ein. Waldorf-Kontakte nach rechts erscheinen bloß als Produkte von Desinformiertheit und politischer Verführung (was sie sicher auch sind). Den angeschriebenen LehrerInnen jedenfalls wird eine positive Grundhaltung bescheinigt:

„Beim Verfassen dieses Briefes ist uns wohl bewusst, dass er bei den meisten von Ihnen „Eulen nach Athen“ trägt. Dennoch ist seit einiger Zeit zu beobachten, dass Waldorfschulen eine gewisse Anziehungskraft auf Menschen auszuüben scheinen, die dem rechten oder verschwörungstheoretischen Spektrum angehören. Das erfordert eine gesteigerte Wachheit und klare Begriffsbildung, weil die Grenzen oft fließend, die Protagonisten Sympathieträger und Teilwahrheiten schwerer zu durchschauen sind als offensichtliche Irrtümer oder Lügen. Insofern möchten wir auch am Ende dieses Briefes noch einmal auf die Notwendigkeit eines qualifizierten Gesellschafts- und Wirtschaftsunterrichtes hinweisen, der die Schülerinnen und Schüler befähigt, sich auf der Grundlage belastbarer Kenntnisse bewusst mit der Zeit, in der sie leben, auseinanderzusetzen.“

Dem andernorts beginnenden anthroposophischen Geschichtsbewusstsein (vgl. Die Scheidung der Geister) kann man die ideenpolitische Kehrtwende des „Bundes“ nur bedingt zuschreiben. „Seit einiger Zeit“ ist beispielsweise eine äußert euphemistische Betrachtung – bedenkt man, dass zu den Waldorfeltern erster Stunde Anthroposophen wie der Rassenkundler Richard Karutz gehörten. Letzterer forderte 1923 nach der Ruhrgebietsbesetzung die Abschaffung des Französischunterrichts, Steiner dagegen betonte, die überlebte, hohle Sprache der degenerierten Franzosen werde schon noch von allein verschwinden. Politisches Kontinuum der Anthroposophie – der ihre wechselnden Anbiederungen und Teilverschmelzungen mit Lebensreform, NS, 68ern oder der neuen völkischen Bewegung zu einem guten Teil mitprägt – ist der Hass auf „den Westen“, der von okkulten schwarzmagischen Logen beherrscht wird und für „den Materialismus“ steht, ein jüngeres Beispiel dafür wird unten diskutiert.

Es ist offensichtlich, dass die neue Haltung des Waldorfbundes kaum aus einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte erwächst, sondern in erster Linie eine Reaktion auf die politische Gegenwart darstellt. „Reichsbürger“, Verschwörungsfans, Pegidisten, „besorgte Bürger“ aller Fraktionen sind in der deutschen Öffentlichkeit derzeit stark präsent und werden öfter kritisch thematisiert. Unter diesen Vorzeichen steht auch die waldorfinterne Debatte. Deren Kritiker haben freilich seit den 90er Jahren darauf hingewiesen, dass rechtslastige Neigungen von Waldorflehrern öfter vorkamen. „Lauter Einzelfälle“ nannte Peter Bierl die Einleitung seines Buches „Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister“. In den letzten Jahrzehnten hat der „Bund“ aber anscheinend keine Probleme gesehen.

Trotz der weitgehend fehlenden Aufarbeitung des Nationalsozialismus ist die neue Intention jedoch zweifellos unterstützenswert. Es geht in der Tat um Kinder und Jugendliche, die man vor Unsinn beschützen sollte. Dieses Ansinnen aber fällt fatal auf die Waldorfbewegung zurück, wie Andreas Lichte nach dem Vorfall in Minden kommentiert hat: „‚Rechter‘ Waldorflehrer muss gehen, Rudolf Steiner bleibt“. Lichte weist auf Steiners Rassetheorien hin – wie in allen seinen Artikeln, während die antiamerikanischen und verschwörungshysterischen Ideologeme kaum einmal und niemals mit der Wichtigkeit vorkommen, die sie auch im heutigen anthroposophischen Diskurs (im Gegensatz zu den Rassetheorien) faktisch haben.

„Medusenartige Tabus“, oder: „Ukraine, Israel, ISIS, TTIP“

Obwohl dieses Thema hier in letzter Zeit sehr oft zur Sprache kam, muss man festhalten: Es wird allgemein unterschätzt, welche Bedeutung konspirationstheoretische Motive in der anthroposophischen Geschichte hatten – Von Steiner zu Steffen, von Büchenbacher zu Beuys, von Wachsmuth zur Renate Riemeck usw. usf. In der Zeit des Nationalsozialismus waren auch die Waldorfschulen vielfach mit verschwörungstheoretischen Vorwürfen konfrontiert und reagierten darauf charakteristisch. Ein Beispiel hat die Historikerin Karen Priestman dokumentiert: Ende 1933 hielt ein NSDAP-Mitglied A. Schönthal in Stuttgart einen aggressiven Vortrag gegen die Waldorfschulen (mit den alten Vorwürfen: Nähe zum Marxismus, Steiner sei Jude, Freimaurerei) und bezog sich auf die mächtige Weltverschwörung. Ihm antwortete ein Stuttgarter Waldorflehrer Dr. Emmert aus anthroposophischer Perspektive: “While Emmert conceded that there were dangerous secret societies in existence, he rejected Schonthals claims that the Anthroposophy Society was one of them.” (vgl. Waldorfschulen 1933-1945) Das ist die Ironie der anthroposophischen Politik. Für die Hetze gegen Freimaurer, Jesuiten und Okkultisten stets aufgeschlossen, übernahmen Anthroposophen stets Muster, mit denen zugleich sie selbst diffamiert wurden.

Die anthroposophischen Verschwörungstheoretiker unserer Tage mögen jede Form des Faschismus für dämonisch inspiriert halten, bedienen sich aber nach wie vor politischer Denkmuster, die mit denen völkischer Strömungen unmittelbar korrespondieren. So ist es zwar begrüßenswert, wenn Kullak-Ublick sich für brauchbaren Politik- und Wirtschaftsunterricht ausspricht und schreibt: „Aus gegebenem Anlass möchten wir Sie allerdings mit einiger Sorge darauf hinweisen, dass bei der Einladung von Gästen, die mit den Schülerinnen und Schülern an diesen Themen arbeiten, darauf zu achten ist, dass man sich nicht irgendwelche Verschwörungstheoretiker ins Haus holt – oder Schülern unreflektiert gestattet, dies zu tun.“ Ein Programm der Nicht-Einladung solcher Gäste übersieht, dass die Themen, die im Waldorfumfeld politisch virulent sind (wie Direkte Demokratie oder Bedingungsloses Grundeinkommen), sich auch in der neuen Rechten großer Beliebtheit erfreuen.

Ein best of anthroposophischer Konspirationshysterie bringt in der jüngsten Ausgabe die rechtsanthroposophische Zeitschrift „Der Europäer“ auf den Punkt. Die erscheint im Basler Perseus-Verlag, der namengebende griechische Heros wird im Editorial der jüngsten Ausgabe als „Michaelkämpfer“ gedeutet:

„Im Sinne dieses Motivs versuchen Verlag und Zeitschrift seit mehr als drei Jahrsiebten, in vernunftgeleiteter Art aktuelle Gegenwartsfragen zu behandeln, die oft von einem Wall von irrationalen Emotionen oder medusaartigen Tabus umgeben sind – wie zum Beispiel die Ereignisse des Ersten Weltkriegs, des Nationalsozialismus, der westlichen Machtpolitik oder auch spirituelle Strömungen, die das Fundament der Geisteswissenschaft zu untergraben suchen usw.“

Der erste Weltkrieg wird dabei etwa stets verschwörungstheoretisch verhandelt. Michaels Gegner ist laut Rudolf Steiner Ahriman, dem man alle Grauen der Moderne zuschieben kann, ohne sich irgendeiner Analyse widmen zu müssen.  Ahriman wird sich leibhaftig inkarnieren – natürlich „im Westen“, wie die „Europäer“ nochmal eigens betonen. In der Ankündigung einer Veranstaltung mit Chefredakteur Thomas Meyer auf der „Perseus“-Webseite liest man:

„Ukraine, Israel, ISIS, TTIP, der «Krieg gegen den Terror» – alle diese Kriegs- und Krisenherde sind ohne geistige Gesichtspunkte letztlich nicht durchschaubar. Rudolf Steiners 8 Vortragsäußerungen über die nahende Inkarnation Ahrimans im Westen (GA 191 und 193) bieten den spirituellen Schlüssel zum Verständnis dieser Ereignisse und Entwicklungstendenzen. Die Inkarnation Ahrimans ist das wichtigste spirituelle Ereignis der Gegenwart. Sie vollendet, zusammen mit der Inkarnation Christi und derjenigen von Luzifer die Trinität von Inkarnationen spiritueller Wesen, die nur einmal stattfinden.“

Diese politisch-spirituelle Apokalyptik ist nur die okkultistisch verbrämte Variante jener Einkreisungsphantasien, die in ganz unterschiedlicher Weise auch die neuen Wutbürger-Bewegungen links und rechts zum Ausdruck bringen. Gegen die hier mitschwingende „Ablehnung der bestehenden politischen Strukturen Europas oder der transatlantischen Beziehungen“, richtet sich der Waldorfbund (freilich ohne auf den „Europäer“ zu verweisen). In Kullak-Ublicks Brief wird, zurecht (und wohl mit Blick auf die in Griechenland angerichteten Katastrophen), aber auch die Unverzichtbarkeit von Kritik an der EU betont. Derart tritt der „Bund“ in einen politischen Diskurs ein, der weit von den Spintisierereien der „Europäer“ entfernt ist und die okkulte Geschichtsmetaphysik hinter sich lässt. Insofern hat der zeitgenössische Transformations- und Diffusionsprozess der „anthroposophischen Bewegung“ (der andererseits beispielsweise zum „Reichsbürger“-Problem geführt haben dürfte), pragmatisch betrachtet, auch seine positiven Seiten. Zeit für Entwarnung ist es aber noch lange nicht.

 

17. Juli 2015 at 10:33 am 9 Kommentare

„Reichsbürger“ – Waldorf Schools and the German Right: Past and Present

by Peter Staudenmaier

Twenty years ago, in an interview with the German newspaper die tageszeitung, anthroposophist Arfst Wagner warned against the influx of far-right currents within the anthroposophical movement. Though his comments raised some eyebrows among Rudolf Steiner’s followers, there was little noticeable effect on anthroposophy and its institutions or worldview. Two decades later, in January 2015, the official leadership of the German federation of Waldorf schools seems to have suddenly started paying attention. A new brochure has appeared offering an analysis of the appeal that Waldorf education, biodynamic agriculture, and other anthroposophist endeavors continue to have for segments of the far right. Although it is a welcome step in the right direction, it is a small step, and there is a long way still to go.


The twenty-four page brochure has already attracted attention from Der Spiegel and other media; a number of sarcastic commentaries have appeared online. Its focus is on the so-called Reichsbürgerbewegung or “Reich citizens movement,” an amorphous collection of disaffected Germans who claim that the old empire or Reich – dismantled in 1918 and destroyed in 1945 – still exists. Thus the current German state, in the eyes of these would-be “Reich citizens,” is illegitimate. In this old-new ideology of the Reich, as the brochure points out, esoteric beliefs and right-wing radicalism go hand in hand.

Why would Waldorf officials care? A few months ago there was a minor media scandal when the principal of a Waldorf school in northern Germany was fired because of his involvement in the Reich citizens movement. The incident led to headlines announcing “Nazi suspicions at Waldorf school.” This is by no means the first such case at a Steiner school, but this time Waldorf leaders have responded differently: They have offered a substantive critical engagement with the ideological roots of the affair, attempting at last to discern the latent affinities between anthroposophy and the far right. From this perspective, the brochure is an encouraging if overdue departure from previous practice.

Delineating the Reich citizen ideology is no simple task. The newspaper Die Zeit has captured it aptly as a mixture of “conspiracy theory and antisemitism in the name of peace.” The new brochure provides the following description: “a marketplace of mismatched ideological components” combining “antisemitism, vegetarianism, belief in UFOs, conspiracy theories, and feel-good esotericism,” in which “proclamations of humanist sentiment and populist nationalism can merge together.” This is not a uniquely German phenomenon. In a US context, the movement is comparable in some ways to the “sovereign citizens” subculture with its anti-government resentments, who dream of “freedom from taxes, unlimited wealth, and life without licenses, fees or laws,” in the words of the Southern Poverty Law Center. Its more extreme versions, such as Posse Comitatus organizations or the notion that Americans live under a “Zionist Occupation Government,” are often intertwined with regional and ethnic-racial separatism.

In Germany, beliefs like these fit readily with anti-American antipathy. The historical reasons for this are important to keep in mind. Purveyors of Reich ideology mix these elements with Nordic mythology and invocations of Atlantis, with enthusiasm for alternative currencies, skepticism toward globalization, and a longing for peace and harmony in a world marked by violence and upheaval. It is an unsurprisingly inconsistent worldview. While much of the Reich citizens’ literature is obsessed with the Allies (above all the US) as supposed occupying powers in Germany, their ire is largely reserved for the European Union. Nebulous denunciations of the evils of global capitalism rub elbows with hymns to the inviolability of private property.

Like its counterparts elsewhere, the Reich citizens movement is a classic instance of left-right crossover and a symptom of profound political confusion. Its adherents recycle hoary antisemitic legends and even anti-Masonic conspiracy myths from the era after the First World War. There are numerous esoteric connections. Waldorf schooling as well as biodynamic farming remain especially attractive within this segment of the far-right milieu. Perhaps the most important part of the brochure is thus the section on Waldorf, anthroposophy, and Nazism.

Here the brochure makes a clear call for taking history seriously, for understanding the past in order to understand the present. Even if this is framed self-interestedly as the far right posing a danger to the Waldorf movement, it represents a notable advance over the usual anthroposophist strategy of avoiding the issue. Still, the brochure’s version of the history of Waldorf schooling in Nazi Germany continues the familiar line, strongly emphasizing Nazi persecution of Waldorf while neglecting the many points of collusion between Waldorf leaders and the Nazi regime. Though the brochure cites the important research of Karen Priestman, Ida Oberman, and Wenzel Götte on Waldorf education in the Nazi era, it fails to include the critical findings these studies helped bring to light. And when the brochure does mention Waldorf cooperation with Nazi officials, it is solely under the rubric of “compromise”; there is no mention whatsoever of the enthusiasm within the Waldorf movement for Nazism’s new order.

Beyond these historical inadequacies, the brochure suffers from a myopic perspective on the current salience of right-wing themes within the Waldorf world. As a striking example, it does not mention former Waldorf teacher and neo-Nazi leader Andreas Molau by name (though it does refer to him obliquely and defensively), despite the fact that Molau’s career as a Waldorf teacher who was simultaneously active in the radical right – for eight full years, from 1996 to 2004 – perfectly embodies the very problem the brochure is meant to confront. Nor is there any mention of the role of Lorenzo Ravagli, a current prominent Waldorf leader and editor of the major Waldorf journal, in nursing such links to the far right, whether in the case of Molau or of anthroposophist Holocaust denier Gennadij Bondarew.

Needless to say, there is no examination anywhere in the brochure of Steiner’s own considerable contributions to the same myths propagated by the Reich ideology. Conspiracy narratives loom large in Steiner’s works, as well as in the publications of his follower such as Karl Heise, and there is a lengthy and unfortunate history of anthroposophist antisemitism. Although the brochure makes appreciable strides toward a more historically informed and politically aware treatment of the topic, the aversion to a full and honest reckoning persists, reflecting the longstanding Waldorf allergy against tracing these dynamics back to Steiner himself.

These failings are hardly peculiar to anthroposophy. Similar critiques have been lodged, with reason, against followers of Silvio Gesell and of C. H. Douglas and social credit. Steiner was not the only would-be world savior to draw on dubious sources, and his latter-day disciples are not the only ones to ignore their own troubled legacy and blithely disregard its ongoing repercussions. But the standing of Waldorf schools within the broader field of alternative education indicates why such concerns arouse greater attention. The problem is not one of potential embarrassment. The problem is not that Waldorf’s carefully cultivated image might be damaged. It is not a matter of image at all. The problem is that the underlying partial compatibility between Waldorf values and the ideals of the far right has gone unnoticed and unaddressed for far too long.

However fitfully, that has begun to change. A younger generation of anthroposophists and Waldorf supporters is starting to challenge the traditional historical complacency of their forebears. New perspectives are opening up in which a sober assessment of anthroposophy’s unsettled past no longer induces anxiety and hostility. The new approach faces intense opposition, and a lot of difficult work lies ahead if the Waldorf movement is ever going to deal straightforwardly with its own history. A brochure like this one demonstrates that such an approach is possible, while also showing how much more still needs to be done.


staudenmaier
Peter Staudenmaier  (Foto: privat) ist Juniorprofessor für Neuere deutsche Geschichte an der Marquette University (Milwaukee, Wisconsin). 2010 promovierte er an der Cornell University zum Thema “Between Occultism and Fascism: Anthroposophy and the Politics of Race and Nation in Germany and Italy, 1900-1945.”, erschienen bei Brill.


Siehe auch:

Anthroposophen und „Reichsbürger“-Bewegung. Annäherungen und Abgrenzungen

Die Scheidung der Geister. Zwischenbilanz zur anthroposophischen Erinnerungskultur

Anthroposophischer Geschichtsrevisionismus. Wie England den deutschen Volksgeist besiegte

„Ja, gewiss kam es zu Spannungen“ – Interview mit Peter Staudenmaier zu Rassismus, Nazismus und Anthroposophie

28. Januar 2015 at 12:00 pm 7 Kommentare

Anthroposophische Reformation. Dogmen der liberalen Anthroposophie

„Anthroposophie im 20. Jahrhundert ist weit mehr als Traditionsverwaltung. Zu den Innovationen gehört vor allem eine Neudefinition der Rolle Rudolf Steiners: Vielen gilt er heute weniger als der Guru oder der Eingeweihte, der ein System letzter Wahrheiten eröffnet hat, sondern als ein Schlüssel zur Ermöglichung individueller Sinnsuche. Hier sehe ich eine der dramatischen Verschiebungen gegenüber den ersten Jahrzehnten der Interpretation seiner Person und seines Werks.“
– Helmut Zander: Wie kann man mit Rudolf Steiner sprechen?

Das traditionelle anthroposophische Milieu stirbt aus. Überalterung und schwindende Mitgliederzahlen der „Anthroposophischen Gesellschaft“ (vgl. „Sergej, du hast dich selbst gegeben“) sprechen aber nicht dafür, dass die Steinersche Ideologie sich damit endgültig verflüchtigt. Helmut Zander geht zweifelsohne zutreffend davon aus, dass die Steiner-Interpretation individualisiert und pluralisiert werde – in rein selektiver Aneignung, vermischt mit anderen esoterischen Weltanschauungen oder durch die Sprachgrenzen einer sich globalisierenden anthroposophischen Gemeinde. Ich meine zusätzlich, dass man – für den deutschsprachigen Raum – aber durchaus ideologische Konturen sehen kann, in denen sich so manche „Individualisierung“ und „Pluralisierung“ einpendelt. Die Alternative lautet nicht: orthodoxe Anthroposophie oder irgendwie geartete Erosion. Die „liberale“ Anthroposophie, die sich als solche von den traditional-anthroposophischen Dogmen loslöst, ist nicht mit dem Unsichtbarwerden von Anthroposophie identisch. Sondern hier formen sich ganz eigene Dogmen: Betont wird ein verkitschtes Steinersches „Frühwerk“, das als einzige legitime Urteilsgrundlage für die gesamte Steinerdeutung gelten soll. Ferner werden die höheren Wesen und Welten Steiners als Bilder und Veranschaulichungen ins Subjekt hineingelegt. Schließlich werden so auch Steiners Selbstdeutungen relativiert: Aus dem „Mysterium von Golgatha“ werden biographisch-psychologische Phasen des Gurus gemacht. 

„SKA“ 7: In den Einleitungen zu Christian Clements kritischer Steiner-Ausgabe findet sich die reformierte Steiner-Lesart detailliert

Diese Umdeutungen lösen im ortodoxen Lager scharfe, meist unfaire Anfeindungen aus. Denn in der Tat reagieren die liberalen Anthroposophen (bewusst oder unbewusst) auf die Unzugänglichkeit des verquasten Steinerschen esoterischen Werks, und Zweifel an diesem können die Orthodoxen nicht aufkommen lassen. Freilich gehen die Liberalen genauso fehl, wenn ihnen die anthroposophische Esoterik dann nur wieder eine nette, bilderreiche Illustration oder methodische Verlängerung des „Frühwerks“ zu sein scheint. Im Stillen aber bereitet sich so mancherorts eine anthroposophische Reformation vor: Wer Steiners Aussagen über „höhere Welten“ nicht mehr unmittelbar für evident hält, ist in Bezug auf diese offener gegenüber historischen Deutungen oder punktueller Kritik. Im Ganzen freilich ist diese Neo-Anthroposophie nicht minder ideologisch als die orthodoxe Variante, wie sich an ihrem prominentesten Verfechter, dem Germanisten Christian Clement zeigen lässt.

Obwohl die im Folgenden zitierten Autoren sich zweifelsohne nicht als homogene Gruppe sehen würden und jeder Standpunkte einnimmt, denen andere untere den Aufgeführten widersprechen würden, scheinen mir doch die folgenden Punkte geeignet, das Credo eines kleinen, aber wachsenden Flügels von Steiners-Fans zusammenzufassen:

  • Depotenzierung der Inhalte: Was Steiner über Engel, Elementarwesen und Weltzeitalter sagte, sei inhaltlich nicht, jedenfalls nicht ganz ernst gemeint, sondern methodische oder heuristische Veranschaulichung von ganz anderen Philosophemen.
  • Prospektive statt retrospektive Deutung: Beurteilen die Orthodoxen das Leben des vor-theosophischen Steiner durch die Augen des Theosophen, so drehen die Liberalen den Spieß um. Steiners Aussagen nach seiner Kehre um 1902 werden auf das früher liegende Werk reduziert.
  • Radikale Selbstdeutung: Wie jede religiöse Innovation versteht auch diese sich nicht als solche. So behaupten die Neo-Anthroposophen, zum „echten“ Steiner zurückzukehren, „es“ so zu sehen, wie „es wirklich gemeint“ war.
  • Individualisierung: Der klassische Steinerjünger sieht sich in einem sehr festgelegten Kosmos von übersinnlichen Kräften und Welten, der liberale, der an diese nicht glaubt, sucht jene Potenzen im Individuum. Jeder muss sich selbst, neu, kreativ, individuell mit ihnen verbinden.

Nochmal: Steiner-Verkürzung in der „SKA“

Manchmal sieht man sich zu peinlichen Schritten gezwungen: zum Beispiel heute ich und zu dem garstigen Schritt, Lorenzo Ravagli zuzustimmen, jenem Verteidiger der Steinerschen Rassenlehre und Möchtegernkritiker der Anthroposophiekritik, der zu allem Überfluss noch pathetisch einen (Wieder-)“Aufstieg zum Mythos“ predigt. (vgl. Ravagli, die Rassen und die Rechten) Nun hat Ravagli allerdings eine geschwätzige Rezension zu Band 7 der von Christian Clement herausgegebenen Kritischen Steiner-Ausgabe (SKA) geschrieben, die auf das zentrale Defizit in Clements Ansatz hinweist. In diesem Band sind Steiners „Schriften zur Erkenntnisschulung“ ediert worden: Anweisungen, Übungen und Schilderungen für seine „Geistesschüler“, um den Pfad in die „höheren Welten“ anzutreten. Clements meisterlicher Stellenkommentar kontextualisiert viele Äußerungen Steiners, weist ausführlich die Quellen nach, aus denen Steiner (natürlich ohne sie zu nennen) geschöpft hat und geht auf inhaltliche Zusammenhänge ein, die jenseits der herausgegebenen Schriften liegen.

Aber. In Vorwort und besagtem Stellenkommentar nähert Clement sich Steiners Konzept der „höheren Erkenntnis“ in ähnlicher Manier wie Ravagli dem Steinerschen Rassismus: Alles sei irgendwie ganz anders gemeint. Konkret meint Clement offenbar, Steiner kenne keine Objekte höherer Erkenntnis. All die Auren, Wesen und Kräfte, die Steiner da umschreibe seien lediglich Bilder und Symbolisierungen. (vgl. Zu Band 7 der Kritischen Steiner-Ausgabe) Clement: “Muss man nicht, gerade im Sinne seines Frühwerks, die von Steiner beschriebenen ‘Lotusblumen’, ‘Astralleiber’ oder ‘Schwellenhüter’ als Gestalten ansehen, die er selbst, wie Faust seine Helena, aus dem ‘Weihrauchnebel’ seiner eigenen Imagination hervorzauberte?“ (SKA 7, XXVIII) Das wäre vielleicht zu bejahen, wenn man es anthroposophiekritisch in dem Sinne wendete, dass es sich bei Steiners „Hellsichtigkeit“ um idiosynkratische Projektionen und Autosuggestionen gehandelt habe. Das jedoch ist Clements Anspruch nicht. Zwar wirft er dem Guru vor, dass er nicht Philosoph blieb, also dem Steiner nach 1900, dass er sich nicht wie vor 1900 verhalten habe – versucht dann aber doch weitgehend ohne Belege, Steiners esoterisches Programm als bloße mythologische Veranschaulichung seiner vormaligen Philosophie zu verkaufen.

Was Steiner über die “höheren Welten” gesagt hat, sei lediglich “eine bewusstseinsphilosophische Darstellung im Geiste Kants und Fichtes, d.h. … eine Phänomenologie der Inhalte des menschlichen Bewusstseins. Das einzige Wesen, dem der Mensch in der Meditation begegnet, ist nach Steiner letztlich das eigene, und zwar als zugleich individuell-persönliches und universell-absolutes.” (ebd., XXIX) Abgesehen davon, dass man Fichte und besonders Kant vor dieser Zuschreibung zumindest partiell in Schutz nehmen muss, ist auch Steiner gegen diese Verzerrung zu verteidigen: Dass er selbst Meditation bzw. „höheres Forschen“ bloß als Selbstbegegnung eines Universalsubjekts sah, lässt sich nicht nur nicht belegen, sondern Steiner selbst sagt verschiedentlich explizit das Gegenteil. In dieser Hinsicht nun ist auf Lorenzo Ravagli Verlass, der Clements Steinerverzerrung ebenfalls, wenn auch vom orthodox-anthroposophischen Standpunkt, nicht nachvollziehen kann:

„Ich sehe keinen Weg, solche Äußerungen Steiners als mythologisierende Redewendungen wegzuraisonnieren, zu denen er nur gegriffen hätte, weil sein Publikum zu dumm war, die Sprache der Aufklärung zu verstehen. Vielmehr erscheint mir dieser Rationalisierungsversuch seinerseits als eine Art Rückfall in den Feuerbachschen Anthropomorphismus. Die aus dem imaginierenden Bewusstsein hervorgehende bildliche Darstellungsform als Rückfall in ein vorwissenschaftliches Bewusstsein zu bezeichnen, widerspricht der gesamten Logik und Systematik der von Steiner nach 1900 entwickelten Anthroposophie …. Auch in den »Stufen der höheren Erkenntnis«, die Clement ja ebenfalls herausgibt und kommentiert, spricht Steiner deutlich aus, dass es sich bei der durch die Imagination erreichbaren Welt – die deswegen keine dualistisch gedachte metaphysische Hinterwelt sein muss – um eine höhere Wirklichkeit handelt, als jene, die dem gegenständlichen Bewusstsein der gewöhnlichen Wissenschaft zugänglich ist.“ (Ravagli: Die Anthroposophie: ein „Rückfall “ in Mythos?)

Ravagli natürlich hat seinen eigenen Anteil an der Genese des von Clement und anderen vertretenen Steinerbildes (vgl. Ravagli: Der esoterische Schulungsweg im Frühwerk Rudolf Steiners, in: ders. (Hg.): Jahrbuch für anthroposophische Kritik, 74ff.), vertritt, zumindest inzwischen, jedoch selbst seinen ganz dezidierten Remythologisierungsansatz. Seinem Vorbehalt gegen Clement ist zwar nicht im Impetus, aber in der konkreten Kritik an Clements Steinerdeutung zuzustimmen. Clement wiederum hat in einer Replik auf meinen Vorwurf, dass er eine ideologische statt analytische Steinerdeutung vornehme, die letztere als „ideogenetisch“ und wie folgt verteidigt:

„Dabei beziehe ich mich nicht nur auf die erkenntnistheoretischen Argumente Steiners bis 1894, sondern auch und vor allem auf die bewusstseinsphilosophisch geprägten Texte von 1901 und 1902 und dem darin von Steiner formulierten (und dann von mir in der Einleitung zu SKA 5 so genannten) „ideogenetischen Grundgesetz“. In dieser Herangehensweise sehe ich aber nicht eine „ideologische Verkürzung“, sondern eine legitime Methode der Deutung Steiners, welche sich zum einen problemlos von Steiner her rechtfertigen lässt und zudem den Vorteil hat, dass sich anhand seiner ohne Schwierigkeiten eine innere Kontinuität zwischen Steiners philosophischen Frühwerk und seiner späteren Esoterik behaupten lässt. So kann man Steiner durch Steiner auslegen lassen, ohne mit den Anforderungen kritischen Denkens in Konflikt zu kommen.“ (Clement: Ideologische vs. ideogenetische Steinerdeutung)

In der Tat lässt sich Steiner nach 1902 kohärent allein mit seinen vorherigen Schriften auslegen, jedoch wohl (jedenfalls bei Clement) um den Preis, das alle seiner späteren Verlautbarungen nicht ernst genommen bzw. auf frühere reduziert werden. In der Tat versucht Clement, Steiner mit seiner Mystik-Schrift von 1902 zu lesen, nach der die mystischen Inhalte menschliche Projektionen seien, in denen doch ein Universales mitschwingt: „dürfen dann nicht, in Anwendung der Steinerschen Konzeption auf seine eigene Gedankenproduktion,auch seine eigenen philosophischen Vorstellungen wie auch die Inhalte der Steinerschen Esoterik, also die Inhalte des imaginativen, inspirativen und intuitiven Bewusstseins, in eben derselben Weise aufgefasst werden? Was an diesem Deutungsansatz ideologisch sein kann, kann ich nicht sehen…“ (ebd.) Da sich Steiners Auffassungen um und nach 1902 (und bis 1925) in rasendem Tempo immer wieder weiterentwickelten, umlagerten und verschoben, ist es bestenfalls gedankenlos, alles nach 1902 willkürlich auf seine Positionen um 1902 zu reduzieren. Wenn das aber kein legitimer Ansatz sei, müsse ich doch wohl jeden hermeneutischen Ansatz als ideologisch brandmarken, so Clement.

Der ungeheure editorische Wert der „SKA“ bleibt ungemindert – ja, in seinem Vorwort zum Band mit den Mystik-Schriften Steiners erwies sich Clements Interpretationsansatz auch noch als treffend (vgl. Die Mystik im Aufgang), wohl weil glücklicherweise Texte bis 1902 untersucht wurden. Ich habe in meiner Rezension einige Aussagen Steiners zitiert, an der Clements Umdeutungsversuche abprallen, Ravaglis Rezension nennt einige mehr, und mühelos wären weitere zu finden. Steiners Aussagen über „höhere Welten“ auch als solche aufzufassen gelingt Clement nicht, er sähe darin wohl einen Dualismus – dass für Steiner monistisch zusammenhängende geistige Wesen mit unterschiedlichen ontologischen Strukturen und Aufgaben existierten, scheint keine Deutungsoption zu sein, die er auch nur heuristisch durchgedacht hätte.

Zur Ideogenese der reduktionistischen Steiner-Lesart

Ich behaupte, dass Clements hermeneutischer blinder Fleck seinerseits nicht im luftleeren Raum steht. Seine Steiner-Lesart ist jedenfalls keineswegs neu, sondern wurde längst in einem gewissen anthroposophischen Milieu vertreten, das auch zu seinen Ausführungen am lautesten applaudiert hat: dem liberal-anthroposophischen Umfeld von Info3. Dort hat Felix Hau, allerdings als „Arbeitshypothese“ gekennzeichnet, schon 2005 den theosophischen Steiner zur verkleideten Verlängerung des frühen Steiner erklärt, was einen bösartigen Aufschrei im anthroposophischen Mainstream nach sich zog.

„Zu keinem Zeitpunkt“ habe Steiner „Engelshierarchien, zwei Jesusknaben, Ätherleiber und soratische Mächte als Anschauungen“ in sich getragen, so Hau, sondern sich „lediglich später auf diese bestimmte Art“ ausgedrückt. Und nochmal:

„Ich bin im Übrigen nicht der Ansicht – und war es nie –, dass Steiner bei seiner Verbindung mit der Theosophie seine Ideen aufgegeben, wesentlich modifiziert oder erst danach die ihn kennzeichnende Auffassung entwickelt hat; ganz im Gegenteil [nämlich dass die Theosophie] … ein Feld bot, auf dem er in aller Seelenruhe seine ureigensten Auffassungen zu Anschauungen entwickeln und ausarbeiten konnte – lediglich um den Preis, sie in eine bestimmte Ausdrucksform zu gießen…“ (Felix Hau: Rudolf Steiner integral, in: Info3 5/2005, 30)

Ähnliches haben, ausführlicher, Haus Kollegen Christian Grauer und Sebastian Gronbach behauptet. Christian Grauer hat daraus einen eigenen, konstruktivistisch-solipsistischen philosophischen Ansatz geformt, der eine eigene Besprechung nötig machte. (vgl. Grauer: Am Anfang war die Unterscheidung. Der ontologische Monismus, Frankfurt 2007, siehe auf diesem Blog auch Grauer: Die Wunderwaffe jedes Fundamentalisten) Gronbach, der selbst als spiritueller Lehrer missioniert, sieht Steiners Engel usw. als bloße Symbole, die Steiner als Universaldidakt aus pädagogischen Gründen erfunden habe, um die Seele zu kultivieren:

„Die Erzengel, die Widersachermächte Luzifer und Ahriman, die Elementarwesen, am Ende auch Christus (ich komme noch dazu), das sind alles Steiners geniale und poetische Beschreibungen spezifischer Formen und Zustände der menschlichen Innenwelt. Es ist die wissenschaftliche Methode der Versinnbildlichung [!], ein Kunstgriff, um komplizierte menschliche Ideen in eine populäre Form zu gießen, mit denen wir über das Denken hinaus eine lebendige Beziehung eingehen können. Ideen finden so den Weg in unsere Seele. … Ist der Erzengel Michael nur ein Symbol? Er ist ein von Steiner, von mir, von Ihnen erschaffener Repräsentant einer Idee. Er ist Wesen, weil Steiner, ich und Sie es wollen, und er ist nur Symbol, wenn wir diese Beziehung zu beenden. Genau das ist für mich die zweite Wahrheit: Es ist Zeit, diese Beziehung zu beenden. Weil er für etwas steht, aber dieses Etwas, die Idee, dasjenige, was der Träger durch die Zeit trug, muss nun meine Sache werden.“ (Sebastian Gronbach: Missionen. Geist bewegt alles, Stuttgart 2008, 97f)

Mein Artikel wurde nicht ohne jeden Sinn „anthroposophische Reformation“ betitelt: Die protestantische Reformation schrieb Kirche und Konzile als relevante Institutionen zur Bibelexegese ab und gab dem einzelnen Gläubigen die Schrift in die Hand. Die anthroposophische Reformation lässt den Unmittelbarkeitsanspruch der Steinerschen Texte wegfallen und macht radikal den Rezipienten zum Dreh- und Angelpunkt. Der Leser muss die in Steiners Schilderungen niedergelegte Idee finden, verstehen und sich ganz individuell aneignen.

Welch radikaler Bruch zum anthroposophischen Mainstream in dieser Auffassung liegt, mag man behelfshalber an einem weiteren Beispiel illustrieren: Info3-Chefradekteur Jens Heisterkamp. Dessen Anliegen ist “eine Neubesinnung auf eine ursprüngliche, ‘nicht-theosophische’ Anthroposophie“, für die Steiners Entwicklung nach den Mystik-Schriften eine uneigentliche Phase bleibt. (Heisterkamp: Anthroposophische Spiritualität, 124) Heisterkamp begeistert sich zwar für eine spirituelle Evolution der Kultur, aber die läuft in Kapiteln wie „magisch“, „mythisch“, „rational“ und „integral“. Steiners Welten-, Wesen- und Rassen-Evolution wird als heuristischer, aber letztendlich gescheiterter Versuch der „Verbildlichung“ dieser Kulturgeschichte angesehen.

„Steiner hat hier offenbar keinen anderen Weg der Darstellung gesehen, als die Wirkmächtigkeit von Bewusstsein als evolutiver Kraft unter Rückgriff auf die Bildlichkeit ‘höherer Wesen’ zu schildern. Entstanden sind dabei äußerst bilderreiche Erzählungen speziell in seinem Buch Geheimwissenschaft im Umriss, die seiner als Philosoph aufgestellten Maxime eines Verzichts auf ‘außermenschliche’ und ‘außerweltliche’ geistige Kräfte zu widersprechen scheinen.” (ebd., 87f.)

Auch die Vorstellung der Reinkarnation wird zwar ästhetisch bejaht, aber ontologisch depotenziert: ob man nun wirklich und wörtlich wieder geboren wäre, das scheint dem Info3-Chefredakteur nicht so wichtig zu sein. (ebd., 75f.) Heisterkamps Ansatz scheint mir unter allen referierten der sympathischste, denn er verfährt dezidiert ekklektisch: “‘Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden’ – diese von Steiner selbst formulierte Lebensregel gilt es auch im Blick auf sein eigenes Werk zu beherzigen.” (ebd., 36) Hier wird Steiner unter weitgehender Ausklammerung der theosophischen Inhalte (nicht aber aller esoterischen) richtiggehend umgeschrieben. Das hat große Vorteile, weil Heisterkamp etwa Rassismus und Antisemitismus verabschiedet, die in der gegenwärtigen orthodoxen Anthroposophie entweder noch virulent, oder zumindest ein latenter Fundus sind. Das zeigt die empörte Reaktion des Kreuzritters Holger Niederhausen auf Heisterkamps Buch: „Eine konkrete geistige mit realen Wesen wird also einfach nicht mehr ertragen. Ebenso wenig aber eine konkrete Geschichte, die neben der Bewusstseinsgeschichte sehr wohl immer bestimmte Völker kannte, die jeweils spezifische Impulse in die Menschheitsentwicklung einfließen ließen. Aber all dies ist ja „diskriminierend“…“, so Niederhausen.

Interpretative Folgen

Die Parallelen zwischen Clement, Hau, Gronbach und Heisterkamp sind schlagend: Steiners „Erforschung“ geistiger Welten wird zum Bild, zur Metapher, zur Einkleidung für Positionen, die er vor oder um 1900 vertreten hat. Das Spätwerk Steiners wird so radikal depotenziert, dass es nur aufgrund des philosophischen Frühwerks (oder was in dieses so hineingelegt wird) überhaupt noch legitim angegangen werden kann. Alle vier würden es als lächerlich verwerfen, wenn man glaubte, Steiner habe wirklich von Engeln gesprochen. Hinzu tritt ein merkwürdiger Begriff von Monismus, der angeblich mit Engeln unvereinbar sein soll. Tatsächlich ist die „Geistige Welt“, die Steiner ab 1903/4, beispielsweise im ersten Fragment seiner „Geheimwissenschaft“ (vgl. GA 89), entfaltete, kein ontologischer Widerpart zu Materie oder zum menschlichen Bewusstsein, sondern die letzteren können sich als Teil des binnendifferenzierten monistischen Geisterkosmos erkennen.

Diese Umdeutung Steiners ist selbst Anthroposophie. Anthroposophie, der die Widersprüche von Steiners Früh- und Spätwerk bewusst geworden sind und die deshalb letztlich versucht, das Inkommensurable am zugänglichsten Schopf zu packen und den Widerspruch durch eine exegetische Monopolstellung des „frühen“ Steiner auszutreiben. Das orthodoxe Lager steht Steiner zwar näher, insofern es das esoterische Weltbild ernst nimmt, verfolgt aber die liberalen Steinerdeuter mit großer Wut. Die wird psychologisch zu erklären sein, denn an den wie auch immer falschen Pointen Neo-Anthroposophie wird deutlich, dass Steiners Werk Interpretation erfordert – während die Orthodoxen sich im Aberglauben wiegen, dass aus Steiners Worten unvermittelt “die Wahrheit sofort hervorginge.” (Niederhausen: Unwahrheit und Wissenschaft, 29) Gegenüber solchem Unsinn zeigt sich das doch hohe reflexive Niveau, das die reformierten von den traditionalen Anthroposophen scheidet.

Natürlich kaufen die orthodoxen Steinerverehrer sich munter Steiners Rassismus und seine Verschwörungsideologie ein. Christian Clements Steiner-Edition wird in den Augen ihrer anthroposophischen Möchtegernkritiker zum diabolischen Plan mormonisch-jesuitisch-freimaurerischer Weltverschwörungen, die natürlich nichts besseres zu tun haben, als zur Zerstörung der Anthroposophie häretische Steinerinterpretationen auf den Markt zu werfen. (vgl. Willy, Thomas und der Wolf im Schafspelz)

Denkend begreifen statt hellseherisch wahrnehmen

Mögen Info3 und Clement die prominentesten Sprachrohre der neuen Steiner-Leküre sein, so sind die ihr zugrundeliegenden Probleme doch auch einigen anderen Anthroposophen bewusst. David Marc Hoffmann, Leiter des Steiner-Archivs (und vormals des Basler Schwabe-Verlags, dem wir übrigens eine exzellente Untersuchung von Steiners Beziehung zum Nietzsche-Archiv verdanken) versucht ebenfalls, durch das „Frühwerk“ Schneisen ins esoterische Spätwerk zu schlagen. Hoffmanns Ausführungen gehören, das sei klargestellt, zu den besten im anthroposophischen Milieu seit Steiners Zeiten überhaupt. Er erkennt „eklatante Widersprüche“ an und geht methodisch viel sorgfältiger vor als Clement. Auch Hoffmanns Feindbild heißt Dualismus, auch er hält es für nötig, Steiners Monismus zu beweisen, auch er will Steiner aus der esoterischen Ecke holen. Hoffmann sieht jedoch Steiners esoterisches Gedankengebäude nicht unbedingt als „Verbildlichung“ vorher ausgearbeiteter Inhalte, sondern hofft Kontinuität zu stiften, indem er die „höhere Erkenntnis“ des „späten“ Steiner als inhaltliche Erweiterung unter den methodischen Prämissen des „frühen“ ausgibt:

„Die eklatanten Widersprüche zwischen Steiners früherem Atheismus und seinem späteren esoterischen Christentum erscheinen unter dem Aspekt der Methode in einem ganz anderen Licht. Wenn Wahrnehmung und Begriff als Maßstab für die Erkenntnis gelten, dann ist alles bloß eine Frage der Grenzen der Wahrnehmungen und des verwendeten Begriffsinventars des erkennenden Individuums. Bei erweiterten Wahrnehmungen und neuen Begriffen ist plötzlich erkennbare Realität, was vorher unwahrnehmbar und undenkbar war – ohne dass die anerkannte Erkenntnismethode preisgegeben wurde. Unter diesem Gesichtspunkt kann auch die (vermeintliche) Esoterik der Anthroposophie relativiert werden. Wenn die Anthroposophie einem Unvorbereiteten oder naiv Gläubigen als Spiritualismus oder gar Dualismus erscheinen mag, kann sie sich bei näherer Betrachtung als monistisches Verständnis der Welt entpuppen … In diesem Sinne lässt sich die geistige Seite der Welt denkend begreifen statt hellseherisch wahrnehmen.“ (David Marc Hoffmann: Rudolf Steiners Hadesfahrt und Damaskuserlebnis. Vom Goetheanismus, Individualismus, Nietzscheanismus, Anarchismus und Antichristentum zur Anthroposophie, in: Uhlenhoff: Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart, 118)

In gewisser Hinsicht hat man es hier durchaus mit einer anthroposophischen Graswurzelrevolution zu tun. Bereits Steiner selbst betonte notorisch, er wolle verstanden statt gläubig verehrt zu werden. Natürlich würden aber orthodoxe Anthroposophen genau das auch betonen, ohne einen einzigen Buchstaben seines Werks in Frage zu stellen. Das gelingt den Neo-Anthroposophen durchaus glaubwürdiger, weil sie mit der Negation einer objektiv existenten „Geistigen Welt“ nur noch eines haben: das von Steiner gleichfalls beschworene Individuum, dem sich um so mehr annehmen wollen – statt auf die ontologische Struktur der Geistwelt muss der Adept nun auf die methodische Struktur seines Denkens hoffen.

Mysterium von Golgatha

Diese Subjektivierung wird auch auf Steiner selbst übertragen. Der beschreibt in seiner Autobiographie seine geistige Wende nach der Jahrhundertwernde zwar nicht als solche, aber durchaus, wie er sich aus inneren Krisen und dämonischen Kräften durch Vertiefung in’s esoterische Christentum rettete, das er natürlich schon hellseherisch wahrnehmen konnte:

„In der Zeit, in der ich die dem Wort-Inhalt nach Späterem so widersprechenden Aussprüche über das Christentum tat, war es auch, daß dessen wahrer Inhalt in mir begann keimhaft vor meiner Seele als innere Erkenntnis-Erscheinung sich zu entfalten. Um die Wende des Jahrhunderts wurde der Keim immer mehr entfaltet. Vor dieser Jahrhundertwende stand die geschilderte Prüfung der Seele. Auf das geistige Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha in innerster ernstester Erkenntnis-Feier kam es bei meiner Seelen-Entwickelung an.“ (GA 28, 388)

Bei unseren anthroposophischen Reformern wird das visionäre „Gestanden-Haben vor“ zu einer Art psychologischem Hindurchgegangensein-durch das „Mysterium von Golgatha“. Statt dass Steiner nach absolvierter Seelenprüfung die Opferung Christi geschaut habe, ja selbst zum Diener der Christus-„Wesenheit“ geworden sei, wird diese autobiographische Äußerung zum biographischen Narrativ. Steiners geistige Kehre um 1900 kulminiert in dieser Deutung nicht in seiner geistigen Präsenz auf Golgatha. Sondern Kreuzigung, Tod und Auferstehung Christi werden zum Muster psychologisiert, nach dem auch Steiners früher Idealismus durch einen atheistischen „Tod“ hindurchgegangen sei, um als neuer Idealismus nach 1900 aufzuerstehen. Hoffmann bedient sich des auch von Clement zum neuen Kanon erhobenen Buchs „Das Christentum als mystische Thatsache“, um Steiners viel spätere autobiographische Behauptung zu deuten.

„Was Steiner in den beschriebenen ‚Ismen‘ (Monismus, Individualismus, Egoismus, Anarchismus) und seiner Opposition zum Christentum erfahren hat, ist ein vollständiger Verlust aller alten Werte, ein Verlust von Mensch und Welt, ein Moment, ‚wo der Geist für ihn alles Leben für Tod erklärt‘. Steiner hat eine derart beschriebene Hadesfahrt durchlebt. Dass sich ihm eine neue Welt, eine neue Sonne und eine neue Erde aufgetan haben, kann man als eine Art Damaskuserlebnis bezeichnen.“ (Hoffmann: Rudolf Steiners Hadesfahrt, a.a.O., 112)

Auch János Darvas, der Kritik am anthroposophischen Antisemitismus übt und gegen diesen eine supra- oder interreligiöse Anthroposophie zu stellen versucht, sieht das ähnlich:

„Rudolf Steiner hat in seiner Freiheitsphilosophie und den anderen erkenntnistheoretischen Schriften eine völlige Ausklammerung aller vorangegangener Tradition vollzogen. Das geschah nicht bloß im Sinne einer methodischen Voraussetzungslosigkeit intellektueller Art, sondern als ein durchaus existenzielles Abkoppeln … Ist ein solches Abkoppeln in diesem existenziellen Sinn vollzogen, dann ist ein totaler Nullpunkt erreicht, der zunächst Determinationen vorausliegender Prägungen durch die Tradition auslöscht. In der Art indes, wie dieser Nullpunkt erlebt wird, bleibt er von dieser Tradition mitgeprägt … Es [Steiners ‚Mysterium von Golgatha‘] ist selbst als Null und Anfang zu erfahren. Dem spirituellen Todeserlebnis im Hindurchgehen durch die Nacht des agnostischen, existenziell erfahrenen ‚Gott-ist-tot‘ steht das ‚Gott-ist-tot‘ des Gekreuzigten auf Golgatha als Entsprechung gegenüber, freilich so, dass in der Überwindung dieser Situation auch eine Qualität erlebt wird, die im christlichen Sprachgebrauch als Auferstehung bezeichnet wird.“ (Darvas: Gotteserfahrungen. Perspektiven der Einheit. Anthroposophie und der Dialog der Religionen, Frankfurt am Main 2009, 21f.)

Steiner selbst spricht davon, dass er sich aus geistigen Krisen durch Vertiefung ins Christentum rettete, das er in den Bekenntnissen nirgends gefunden, sondern aus der geistigen Welt geholt habe. Sein „Gestanden-Haben“ ist ein punktuelles, aber bahnbrechendes Ereignis: Die Auflösung der Krise und die Frucht der Vertiefung ins Christentum. Darvas und Hoffmann dehnen das Muster von Tod und Auferstehung zur Allegorie für Steiners geistige Biographie aus. Auch damit ist eine Depotenzierung, hier des „Mysteriums von Golgatha“, verbunden. Christus, auf den orthodoxe Anthroposophen nichts kommen lassen, ist nicht mehr der Fluchtpunkt von Steiners geistiger Entwicklung, sondern Tod und Auferstehung sind bloß noch Metaphern für Phasen von Steiners Leben. Steiners Goetheanismus, Nietzscheanismus, Theosophie usw. sind keine ernst zu nehmenden Positionen mehr, die Steiner wirklich vertreten hätte, sondern symptomatische Stufen auf dem Bogen durch Nullpunkt/Hadesfahrt und Auferstehung/Damaskuserlebnis.

Anthroposophische Reformation. Eine erste Zwischenbilanz

Über die Folgen der solcherart reformierten Anthroposophie kann man immer wieder erfreut und erleichtert sein. (vgl. Die Scheidung der Geister) Aus diesem Lager wird man wohl kaum über Wurzelrassen, atlantische Planeten-Orakel und Nazi-Mysterien belehrt werden. Dafür hört man aber immer mehr zur „Philosophie der Freiheit“, die transzendentalphilosophisch entkernt und existenzialistisch gewendet wird. Dass im Info3-Verlag mein Buch zu Steiners Rassenlehre wie die kommentierte Edition von Hans Büchenbachers „Erinnerungen“ erscheinen konnte, liegt auch daran, dass die nationalistischen, konspirationstheoretischen und rassistischen Ideologeme dort als überflüssiger Ballast für die „echte“ Anthroposophie gesehen werden. Dass Christian Clement eine solide kritische Edition von Steiners Hauptwerken herausgibt, wie auch immer entstellt das Steinerbild seiner Vorwörter ist, liegt daran, dass die konkreten esoterischen Inhalte für Clement uneigentlichen Charakter gegenüber der „ideogenetischen“ „Bewusstseinsphilosophie“ Steiners haben, die in ihnen lediglich illustriert würde.

Orthodoxe Anthroposophen, und dort vor allem das „Europäer“-Milieu mit seiner Neigung zu antiamerikanistischen Verschwörungsthesen, halten Clement für einen „Vernichter“ Steiners und haben immer wieder den Ausschluss der Info3-Fraktion aus der Anthroposophischen Gesellschaft gefordert. Die Stoßrichtung ihrer Argumentation gegen Info3 entsprach dabei einem Fazit, das auch der Anthroposophiekritiker Andreas Lichte zu Jens Heisterkamps „Anthroposophischer Spiritualität“ zog: Da werde Steiner zur Unkenntlichkeit verdünnt. Lichte:

„… ‚dann mach ich mir ‘nen Schlitz ins Kleid und find es wunderbar‘: Herr Heisterkamp kann ja gerne versuchen – und sich dabei grossartig fühlen – seine EIGENE Anthroposophie zu erschaffen, nur sollte er ihr dann auch einen EIGENEN Namen geben – mit Rudolf Steiner hat das ganze nichts mehr zu tun.“ (Lichte, Kommentar vom 3.11.2014)

Anthroposophiekritik, die ihre Objekte bloß aufgrund einer mehr oder weniger engen Übereinstimmung mit Steiner zu kritisieren wüsste, wäre blind oder eben allenfalls so hilfreich wie die Kritik traditionaler Anthroposophen an ihren heterodoxen Glaubensgenossen. Natürlich muss Anthroposophiekritik den realen Steiner, soweit er sich quellentechnisch erschließen lässt, im Auge behalten. Aber erforderlich ist darüber hinaus, die Rezeption und Transformation des anthroposophischen Steinerbildes zu analysieren. Ich wage zu prognostizieren, dass Stimmen im Stile Heisterkamps und Clements in den nächsten Jahren lauter werden, jedenfalls am Rand des (bis heute vom traditionellen Lager dominierten und somit schrumpfenden) anthroposophischen Establishments. Das ist mit Blick auf Dogmatismus, Rassismus usf. im anthroposophischen Mileu auch äußerst begrüßenswert. Zugleich hat sich ein Gronbach’sches oder Clement’sches Steinerbild längst zum neuen Dogma aufgespreizt. Weiß der traditionale Steinerjünger sich von einer Beziehung zu den Engeln getragen, so der liberale, dass die Engel für „etwas“ „in mir“ stehen, mit dem ICH mich total radikal selbst, individuell, schöpferisch und in Weiheernst verbinden muss. Den anthroposophischen Reformern wäre gleichfalls nachzutragen, was Marx über Luther schrieb:

„Luther allerdings hat die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Er hat den Menschen von der äußern Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum innern Menschen gemacht hat. Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz in Ketten gelegt. Aber, wenn der Protestantismus nicht die wahre Lösung, so war er die wahre Stellung der Aufgabe.“
(Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, 386)

Das trifft auch auf die reformierte Anthroposophie zu. Der „bilderreiche“ Ballast wird aus den „höheren Welten“ nur noch radikaler ins Individuum verlagert. Aber in zweifacher Hinsicht wird auch hier die Aufgabe richtig gestellt: Anthroposophiekritik darf nicht an Steiners albernen Proklamationen von Atlantis bis Zarathustra hängenbleiben, sondern muss die idealistisch-objektlose Innerlichkeit des Selbst ins Auge fassen, die als deren epistemische Grundlage vorausgesetzt und im ‚anthroposophischen Protestantismus‘ auf einen Sockel gestellt wird.

Auch der historischen Steinerforschung stellt die anthroposophische Reformation eine Aufgabe: Nicht nur, dass Christian Clements Steineredition die Textgrundlage auf eine neue Basis stellt. Vor allem David Hoffmanns Publikationen zu Steiner und dem Nietzsche-Archiv gehören zu den besseren Arbeiten zu Steiner überhaupt, sein zitierter Artikel über Steiners geistige Kehre ist im philologischen Sinne auch letztlich viel steinerkritischer als Clements Kommentare. Die Aufgabe, die ich sehe, besteht aber nicht darin, Texte von Steiner-Fans zur Kenntnis zu nehmen, auch vorher war die anthroposophische Literatur logischerweise Basis für die kritische Auseinandersetzung. Die Aufgabe mag mehr eine Warnung sein: Dass dem verklärten Steinerbild der orthodoxen Anthroposophie nun das gleichfalls verkehrte des „philosophischen“ Bilderbauer-Individualisten Steiner entgegengestellt wird, zeigt einmal mehr die Vielfalt ideologischer Umbrüche in seinem Werk, von denen jeder einzelne esoterisch hypostasiert werden kann. Dem Versuch einer vereindeutigenden Festlegung muss man widerstehen, wie das Beispiel von Clements Verwischung des übersinnlichen Erkenntnisanspruchs zeigt.

12. Januar 2015 at 2:59 pm 18 Kommentare

Denken als meditative Verbindung zur evolutionären Wirklichkeit: Jens Heisterkamps „Anthroposophische Spiritualität“

Über den „leidgeprüften Redaktionsalltag einer anthroposophischen Zeitschrift in Zeiten von Kopp-Verlag, Wahrheits-TV und Reichsbürger-Freunden“ schrieb kürzlich Jens Heisterkamp – Chefredakteur von „Info3“. Er berichtete von verschwörungstheoretischen, ja rassistischen Lesermeldungen seiner Zeitschrift, die sich in der letzten Zeit gehäuft zu haben scheinen. „Losgelöst von aller Vernunft“ nennt er diese Kategorie Anthroposophen. Er stellt aber klar: „Von einem Leben in Bewusstheit und Verbundenheit lasse ich mich davon nicht abbringen.“ (Heisterkamp: Völlig losgelöst) Wie das aussehen soll, verrät sein eben erschienenes Buch „Anthroposophische Spiritualität“. In dessen Zentrum steht tatsächlich ein Leben der Meditation: „Erkennen durch Hingabe“. Heisterkamps Buch nun ist ein prägnant formuliertes Zeugnis einer Art post-postmodernistischen Esoterik, die nach deren postmoderner Relativierung den Anschluss an die höchste moderne Tugend wieder sucht: die Vernunft bzw. das Denken. Das führt zu einer stark epistemisch geführten Esoterik, die auch durchaus noch auf den Schultern Herbert Witzenmanns steht. Quellentechnisch bezieht sich Heisterkamp vielfach auf die Schriften des jungen, philosophischen Steiner. Mit diesem Buch legt der Info3-Verlag ein kleines Credo der liberalen Anthroposophie vor, das als solches verdient, hier ausführlich diskutiert zu werden.

„Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden“

In der Tat ist Heisterkamps Steinerbild dezidiert selektiv. „‚Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden‘ – diese von Steiner selbst formulierte Lebensregel gilt es auch im Blick auf sein eigenes Werk zu beherzigen.“ Letzteres funktioniere oftmals „wie ein Steinbruch“, das sei auch legitim, immer müsse aber eruiert werden, „was genau davon aktualisiert werden will. Manches ist inzwischen zeitlich überholt – nicht nur die sprachliche Diktion …“ Hier kommt er auf Steiners Rassismus zu sprechen, es gelte, „den zeitlichen Abstand zu einer Gründerfigur aus der Spätkolonialzeit“ ins Bewusstsein zu rufen. (Heisterkamp: Anthroposophische Spiritualität. Denken, Meditation und geistige Erfahrung bei Rudolf Steiner, Frankfurt/M 2014, 36f.) Dies ist nicht die einzige Stelle, an der der Autor sich von rassistischen Aussagen abgrenzt, wobei er sich freilich auch auf „Humanismus und Individualismus in Steiners Denken“ beruft.

Insbesondere kritisiert er Steiners „oft begrenzte Sicht des Judentums, die einem christozentrischen Denken entsprach, dessen Überwindungsbedürftigkeit sich die Kirchen heute weit bewusster sind als noch viele Anthroposophen.“ Es sei an der Zeit, „Steiners betonte Exklusivität der christlichen Religion und den von ihm selbst gewollten überkonfessionellen Charakter andererseits neu zu gewichten.“ (ebd., 125) Heisterkamp beruft sich vielmehr auf die Kabbala-Deutung Gershom Scholems: „Es ist also mit anderen Worten Worten der Mensch, der dem Antlitz Gottes die letzte Vollendung gibt.“ (ebd., 81)

Dialog und Entmythifizierung

Hier mag man an andere Info3-Autoren, wie den insbesondere für die Beziehung von Judentum und Anthroposophie eintretenden Janos Darvas denken. Darvas wie Heisterkamp stehen für eine interreligiöse Anthroposophie, deren Funktionieren nicht eine kosmosophische Universaltheorie, sondern eine mystisch-meditative Praxis garantiere, die gleichermaßen in Kabbala und Buddhismus, Christentum und eben bei Steiner gefunden werden soll. (vgl. auch Janos Darvas: Gotteserfahrungen. Perspektiven der Einheit: Anthroposophie und der Dialog der Religionen, Frankfurt/M 2009) Wouter Hanegraaff würde hier wohl von „Religionism“ sprechen. Wie seine Zeitschrift „Anthroposophie im Dialog“ untertitelt ist, geht es Heisterkamp aber nicht etwa um eine inklusivistische Religionstheologie, sondern tatsächlich um eine esoterische Ökumene: „im Dialog nach ‚außen‘ ein der Gegenwart entsprechendes Problembewusstsein und Diskursniveau gewährleisten.“ Insbesondere sind seine Überlegungen im Rahmen der „Herbstakademie“ entstanden, die Info3 jährlich mit der (Ken Wilber verpflichteten) „Integralen Akademie“ und der deutschen „EnlightenNext“-Bewegung (Andrew Cohen) veranstaltet. Einige der veröffentlichten Texte wurden im Rahmen dieses Austauschs vorgetragen. Dieses Milieu sorgt in der Tat für regen personellen und ideellen Austausch zwischen den zusammengetretenen Lagern: Der ehemalige Info3-Redakteur Sebastian Gronbach hat sich etwa zwischenzeitlich gemeinsam mit seiner Frau für die Gründung und Leitung einer New Age-Meditations-„Akademie im Schloss Gelsdorf“ entschieden.

Heisterkamp lässt keinen Zweifel daran, dass er auf eine „pluralistische Weltzivilisation“ und auf eine „post-metaphysische Spiritualität“ (Wilber) zielt, was auch immer das im einzelnen sein soll. (ebd., 37, 82) An die Stelle von übersinnlicher Wesenschau tritt, auch im Anschluss an Wilber, eine induktive Bewusstseinsphänomenologie mit idealistisch-„transpersonalem“ Menschenbild. Heisterkamp sieht sich hier in der Nähe des „philosophischen Idealismus … dass die Weltentwicklung im Menschen zu sich selbst kommt und von hier aus eine neue Zukunft beginnt.“ (ebd., 124) Interessanterweise diskutiert Heisterkamp Hartmut Traubs umfangreiche Kritik der philosophischen Hauptwerke Rudolf Steiners nicht. Er bemüht sich vielmehr, diese panpsychistisch-evolutionäre Weltsicht auch in Steiners Frühwerk aufzufinden, fordert jedoch zugleich „eine Neubesinnung auf eine ursprüngliche, ’nicht-theosophische‘ Anthroposophie.“ (ebd.) Mit Steiners ab 1903 vertretener theosophischer Evolutionsdoktrin jedenfalls kann der Info3-Chef anscheinend wenig anfangen: „das Eingreifen des Geistes in den Evolutionsstrom … scheint bisher nicht ohne den Rückgriff auf mythologische Elemente darstellbar zu sein … Steiner hat hier offenbar keinen anderen Weg der Darstellung gesehen, als die Wirkmächtigkeit von Bewusstsein als evolutiver Kraft unter Rückgriff auf die Bildlichkeit ‚höherer Wesen‘ zu schildern. Entstanden sind dabei äußerst bilderreiche Erzählungen speziell in seinem Buch Geheimwissenschaft im Umriss, die seiner als Philosoph aufgestellten Maxime eines Verzichts auf ‚außermenschliche‘ und ‚außerweltliche‘ geistige Kräfte zu widersprechen scheinen.“ (S. 87f.)

Denken und Wirklichkeit

Interessanterweise steht Heisterkamps Trans-Steiner vor allem auf zwei Füßen: Auf dem Mystik-Denker Steiner nach 1900 und dem Goetheanisten Steiner vor 1890. Das theosophische Werk findet weniger Resonanz. Auch der von Steiner ab Mitte der 1890er eingeschlagene freiheitsphilosophische, schließlich zum Anarchismus führende Weg wird nicht bis in die letzte Konsequenz entfaltet. Heisterkamp versucht nicht, Steiner mit Fichte und Stirner, sondern mit Goethe und, nicht zuletzt, Hegel zu denken: „Er prägte die fundamentale Erkenntnis: Die Wahrheit ist das Ganze, Sein und Werden“ (S. 82), aber noch nicht fertig: Gott habe sich in seine Schöpfung verströmt und an sie gebunden, zitiert er Steiners „Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“ (1886): „Hat somit der Weltengrund Ziele, so sind sie identisch mit den Zielen, die sich der Mensch setzt, indem er sich darlebt … Er lebt nicht als Wille irgendwo außerhalb des Menschen; er hat sich jedes Eigenwillens begeben, um alles von des Menschen Willen abhängig zu machen.“ (GA 2, 124) Dieser Gott realisiere sich im Selbstbewusstsein des Menschen, dem eben das Denken und somit die Möglichkeit zu ko-kreativer Vollendung der Schöpfung eigen sei. So konkretistisch allerdings ließe sich Hegels Absolutes, das ein getrenntes Sein als Moment seiner eigenen Wahrheit voraus-setzt, und von dort in sich zurück kehrt, nicht auf eine universale Evolution oder eine linkshegelianische Ich-Philosophie festlegen.

Heisterkamps Fokus auf das Denken als Medium der kosmischen Evolution setzt das Denken als archimedischen Punkt menschlicher Verbundenheit mit der Welt, die wir in unserem Denken wirklich erfassen. Dies führt dazu, die Welt unter dem Gesichtspunkt eines Ideen- bzw. Begriffspunktes wahrzunehmen: „Unser Erkennen“ als ein „Geschehen“, „das als organische Fortsetzung zur Welt dazugehört“: „Ja, der Begriff der Pflanze gehört zur Pflanze selbst, und dass wir ihn fassen können, ist gleichzeitig die Ursache unserer Verbindung mit ihr. In uns selbst kommt zur Erscheinung, was in der Pflanze am Werk ist.“ (S. 52) Das ließe sich von (Steiners) Goethe her denken, nicht aber von der „Philosophie der Freiheit“, in der Steiner nach einer Kritik an Ansätzen, die Zweckbegriffe an die Natur selbt anlegen, klarstellt: „In der Natur sind aber nirgends Begriffe als Ursachen nachzuweisen; der Begriff erweist sich stets nur als der ideelle Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Ursachen sind in der Natur nur in Form von Wahrnehmungen vorhanden.“ (GA 4, 189)

Mit und ohne Hegel

Heisterkamp denkt den Zusammenhang von Begriff und Sein ontologisch. Steiners postulierter ideeller Zusammenhang von Welt und Mensch war in seiner Freiheitsphilosophie ein epistemischer, kein ontologischer (wie noch in seinen „Grundlinien einer Erkenntnistheorie“). Geist und Natur werden durch das Denken hier nicht einfach nur überbrückt, der Begriff wirkt nicht aus einem geistigen Urgrund in die Natur hinein. Sondern der vom Menschen gefasste Begriff erfasst die Wirklichkeit, weil sich in seinem Bewusstsein in der Synthese von Wahnehmung und Begriff erst die gedachte Wirklichkeit konstituiert. Die Wahrnehmung als solche hat keine Wahrheit, das Denken fügt ihr den Sinn hinzu. Es erweist sich nicht als organische Fortsetzung der Welt, sondern die Welt als erkannte Voraussetzung seiner Begriffsbildung. Dies entspricht dem Verhältnis von Hegelscher Seins- und Begriffslogik. Das menschliche Denken hebt das Seiende, Wahrgenommene, ins Begriffliche auf: Der Begriff setzt zunächst ein Seiendes, auf das er sich bezieht, voraus, das er erkennend aufhebt: „das Sein, als Unmittelbare Einheit mit sich“ wird vom „Begriffe, als der freien Vermittlung in sich“ transzendiert: „Indem sich das Sein als Moment des Begriffs gezeigt hat, hat er sich dadurch als die Wahrheit des Seins erwiesen“. (Enzyklopädie, I, § 159) Trotz dieser Übereinstimmung war Steiners Ansatz subjektivistischer. Gegen diesen objektiven Idealismus vertrat er (einmal mehr in seltsamer Einmütigkeit mit Kant, wenn auch mit ganz anderen Konsequenzen), dass nicht schon Hegelsche „Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins“, sondern erst das sittliche Handeln des Menschen Ideelles in der Welt realisiere, diese selbst zeige sich keineswegs als Verkörperung von selbst teleologisch wirksamem Geist:

„Meine Sendung in der Welt ist keine vorherbestimmte, sondern sie ist jeweilig die, die ich mir erwähle. Ich trete nicht mit gebundener Marschroute meinen Lebensweg an. Ideen werden zweckmäßig nur durch Menschen verwirklicht. Es ist also unstatthaft, von der Verkörperung von Ideen durch die Geschichte zu sprechen. Alle solche Wendungen wie: «die Geschichte ist die Entwicklung der Menschen zur Freiheit», oder die Verwirklichung der sittlichen Weltordnung und so weiter sind von monistischen Gesichtspunkten aus unhaltbar.“ (GA 4, 186)

Diese Ansicht sollte sich bis 1900 zum radikalen Subjektivismus und ethischen Egoismus steigern. Es ist daher falsch, wenn Heisterkamp Steiners Verhältnis zum Historischen Materialismus während seiner Lehrtätigkeit an der Berliner Arbeiter-Bildungsschule schreibt: „Die Geschichte stellt er vielmehr im ursprünglich Hegelschen Sinne als Geschichte zunehmender Freiheit dar.“ (S. 27) Somit zahlt Heisterkamp deutlich seinen Tribut an Steiners theosophische Kehre. An dieser ging der „radikale Aufbruch in die Freiheit“, so Hartmut Traub, verloren, „also das, was den frühen Steiner – auch Stirner, Nietzsche und Fichte –  besonders anziehend macht: Das Freiheitsmotiv, das die Philosophie seit ihren europäischen Anfängen in denkenden Wesen anspricht und zum Klingen bringt, der unüberwindliche Glaube an die selbstschöpferische Kraft des Individuums.“

Es liegt mir fern zu behaupten, Heisterkamp habe sich über das Verhältnis von Steiner und Hegel oder die Pointen der „Philosophie der Freiheit“ getäuscht: Es ging mir darum, zu zeigen, auf welche Pole von Steiners vielschichtigen und wechselhaften Denkgebäuden in der Anthroposophie Jens Heisterkamps wert gelegt wird. Dies ist die Suche nach einer Verbindung von Steiners ethischem Individualismus mit einer Haltung der Kontemplation, in der sich denkend das evolutionäre Weltbewusstsein entfaltet und auf eine neue Stufe hebt. Hier darf man wohl auf Christian Clement hinweisen, der Steiners philosophische Weltanschauung einerseits und theosophische Entwicklung andererseits von seinen „Mystik“-Schriften nach 1900 zu erschließen versucht hat. Auch Jens Heisterkamps Steinerrezeption lebt aus der Spannung zwischen diesen beiden Polen und lässt sich nicht auf den „frühen“ oder „späten“ Steiner allein festlegen.

Ontologie statt Epistemologie

Letztendlich will Heisterkamp nicht auf die vom frühen Steiner angestrebte Erkenntnistheorie, sondern auf die spirituelle Verbundenheit mit der Welt hinaus. So wird der philosophische Idealismus Steiners bereits in den okkulten Wissenschaftsanspruch des Theosophen hineingenommen, beide verbünden sich zur New Age-Philosophie: Es gehe beispielsweise der anthroposophischen Samenkorn-Meditation darum, „die übersinnlichen Bildekräfte der Welt (Jahrzehnte später von Rupert Sheldrake als ‚morphische Felder‘ bezeichnet), konkret ‚anschauen‘ lernen.“ (S. 31) Auch nach „der Wahrnehmungsfähigkeit der Chakren“ wird gefragt. (S. 116)

Der philosophische Individualist Steiner wird mit dem esoterischen Weltanschauungslehrer verschmolzen – was aber auch ein erklärter Programmpunkt ist. Heisterkamp bestimmt das individuelle Denken als den Ort, in dem sich ein überindividuelles Allgemeines realisiert, und kann sich dabei durchaus wieder auf Steiners spinozistische Religionsphilosophie in der „Philosophie der Freiheit“ berufen. Steiner dort: „Jeder Mensch umspannt mit seinem Denken nur einen Teil der gesamten Ideenwelt, und insofern unterscheiden sich die Individuen auch durch den tatsächlichen Inhalt ihres Denkens. Aber diese Inhalte sind in einem in sich geschlossenen Ganzen, das die Denkinhalte aller Menschen umfaßt. Das gemeinsame Urwesen, das alle Menschen durchdringt, ergreift somit der Mensch in seinem Denken. Das mit dem Gedankeninhalt erfüllte Leben in der Wirklichkeit ist zugleich das Leben in Gott.“ (GA 4, 250) Heisterkamp erweitert das Leben in Gott, dieses „mit dem Gedankeninhalt erfüllte Leben in der Wirklichkeit“, zu einer evolutionären Fortschrittsgeschichte:

„Der individuelle Mensch ist mehr als ein Exemplar der Menschheit, er ist nur die einzigartige Form, in dem sich ‚das Eine‘ manifestiert – denn dann wäre in diesem ‚Einen‘ schon enthalten, eine Evolution wäre sinnlos und es wäre nichts wirklich nichts neues mehr möglich.“ (S. 69)

„…das Ziel ist auch hier die konkrete Erweiterung unseres zunächst ego-verengten Menschseins durch erkennendes Eins-Werden mit dem Geist der Dinge und dem Ganzen des Kosmos … Die einsetzende Erfüllung mit dem konkreten Geist der Dinge ist für ihn gleichzeitig die Höher-Transformation des Menschen, seine ‚Erleuchtung‘.“ (S. 117)

Immer wieder wird im Buch versucht, eine Verbindung Steiners zu Martin Heidegger zu konstruieren. Weil ersterer in Wien bei Franz Brentano gehört hat, dessen Schüler Husserl der Lehrer Heideggers war, seien Steiner und der Edelontologe quasi geistesverwandt: „Wenn man Brentano als einen Stamm sieht, dessen einer Zweig zu Heidegger führte, dann führt ein anderer zu Rudolf Steiner“ und beide zu einer „Strömung, der es um das Sein als Ganzes und um die Überwindung des Dualismus von Subjekt und Objekt.“ (S. 20) Übersinnlichkeit wird hier als unmittelbare Kommunikation des Denkens mit dem Gegenstand beschrieben, Übersinnlichkeit als Erfülltsein durch die denkende Einheit mit dem Gegenstand, der mit nicht mehr bloß die sinnlich wahrnehmbare Außenseite zeige. Die Steiner-Interpretation bei Heisterkamp ist keine Verfälschung, sondern der konsequent durchgedachte Versuch, Steiners Esoterik mit seiner Philosophie zu stabilisieren und erstere bereits als die eigentliche Quelle der anthroposophischen Esoterik zu deuten.

Evolution

Heisterkamps (freilich durch Steiner in vielerlei Hinsicht gedeckter) Versuch, eine Mystik des Denkens als Zugang zum Übersinnlichen zu entwickeln, ohne dabei gegenständlich-übersinnliche Hinterwelten zu konstruieren, führt auch zu einem veränderten Verständnis der anthroposophischen Grundidee: Evolution. Nicht mehr wird hier eine Emanationsgeschichte der „Wesensglieder“, begleitet von engelhaften Hierarchien und mythologischen Orten beschrieben, wie bei Steiner selbst. Bei Heisterkamp ist von Steiners wimmelnd-arbeitsteiliger Geisterwelt nicht mehr übrig geblieben als das Postulat, in der Physis manifestiere sich Geist und ein anthropisches Prinzip der Evolution: „Sie bringt nach und nach die Stufen von Stofflichkeit, von immer höher organisiertem organischen Leben und von beseelten und bewussten Lebewesen erscheint, in dem der Geist als Fähigkeit zum Selbstbewusstsein und als Potenzial sinnstiftender Zusammenhangbildung erscheint.“ (S. 86f.)

Wie aber sind dann Steiners durchaus konkrete Darstellungen von Planeten-Stufen und Engelhierarchien zu deuten? Heisterkamp interpretiert sie als Versuch, die Einwirkung des Geistes auf Materie (und seine ontologische Vorgängigkeit vor Materie) ohne „Schöpfergott“ zu erklären. Aber als einen resignierten Versuch, den er mit spitzer Feder beschreibt. Die „bilderreiche Erzählung“ der Planetenevolution fasst Heisterkamp in nur einem flüchtigen Absatz zusammen. Offenbar möchte Heisterkamp Evolution ohne die „Bildlichkeit“ von „höheren Wesen“ denken, und unterstellt auch Steiner, dieser habe mit dem „Rückgriff auf mythologische Elemente“ arbeiten müssen, um seine tieferliegenden Thesen zu illustrieren.

Hier zeigt sich, warum der philosophische Steiner für Heisterkamp so wichtig ist: Es geht durchaus darum, Geist und Welt ohne deren Zersplitterung in Geister zu denken, dazu die Konstruktion von Hinterwelten und geschichtsmetaphyischen Mächten zu vermeiden. Die top-down Entwicklung der „geistigen Welt“ wird letztlich negativ-theologisch zur Entwicklung einer bottom-up Bewusstseinsgeschichte. Hier schlägt sich die aus der transpersonalen Psychologie stammende New Age-Philosophie Ken Wilbers nieder. Entsprechend werden alle evolutionären Konkretionen Steiners abgeschwächt und umgedeutet: Die Wurzelrassen und Kulturepochen spielen keine Rolle mehr, stattdessen schildert Heisterkamp die Kulturgeschichte Wilbers: archaisch, magisch, mythisch, rational, integral entfalte sich das Bewusstsein des Menschen aus der Urgeschichte zur Moderne. Gegenüber Steiners Ansatz hat das in der Tat den Vorteil, dass dies eine universale Zivilisationsgeschichte beschreiben soll, die Fixierung auf Kulturkreise, „Rassen“ und Völker wird umgangen. Die Aufteilung der Geschichte in bestimmte „Epochen“ mit bestimmten „Missionen“ und Träger-Völkern wird überflüssig.

Damit ordnen sich auch andere anthroposophische Vorstellungen in Heisterkamps Buch neu an. Zum Beispiel seine Deutung der Reinkarnation, deren Plausibilität aus der Traurigkeit des Gegenteils erhärtet werden soll: „Im Sinne der evolutiven Weiterentwicklung wäre es geradezu widersinnig, wenn schon entstandene Reife an Individuation wieder vollständig verfallen würde“, also mit dem Tod ausgelöscht wurde. Dazu beruft sich Heisterkamp auf Eckermanns „Gespräche mit Goethe“, der aus dem Begriff der Tätigkeit ableitete, dass ein tätiges Subjekt eine neue Daseinsform gewinnen müsse, wenn  „die jetzige meinen Geist nicht ferner zu halten vermag.“ (S. 75) In der Tat hatte Steiner vor 1900 noch verkündet:

„Diesen Gedanken als eine in der Zeitenfolge vor sich gehende Verkörperung des Individuums in verschiedenen, immer vollkommeneren Formen vorzustellen ist bloß bildliche Darstellung. So meint es die Esoterik. Wer die Bilder für die Sache nimmt, weiß nichts von Esoterik.” (GA 30, 511)

Jens Heisterkamp plädiert ebenfalls für eine allegorische statt wörtliche Auslegung der Reinkarnationsidee:

„Über das genaue ‚Wie‘ dieser Idee, insbesondere über die Frage, ob es einen vom Körper unabhängigen individuellen Geist geben kann, der in zeitlicher Folge unterschiedliche Körper ‚bewohnt‘, ist damit noch nicht gesagt… Die Vision wäre also: Spirituelle Einheit nicht als etwas zu begreifen, was durch Zurücknahme von Individualität entsteht, sondern durch das schöpferische Spiel entwickelter, reifer und immer umfassender werdender Individuen…“ (ebd., 76)

Mit seinem Buch ist Heisterkamp seinem Ruf als Vordenker einer liberalen Anthroposophie gerecht geworden. Die Hofffnung auf die Einheit der Menschheit als Summe universal rereifter Individuen ist bürgerliche Utopie – nicht umsonst erinnert Heisterkamps Reinkarnations- an Kants Unsterblichkeitspostulat. Anders als Jens Heisterkamp vermag ich eine solche Tendenz zur Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem in der Geschichte nicht zu erkennen. Sie optimistisch als Ziel des evolutionären Gangs zu verkünden, scheint mir ungerechtfertigt – weil sich der ersehnte Fortschritt der Menschheit als Ganzer nicht eingestellt hat.


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2. November 2014 at 11:28 pm 10 Kommentare

„Sergej, du hast dich selbst gegeben“. Nachlese zum Aussterben der Theosophie und zu anthroposophischen Erinnerungen an Sergej Prokofieff

„Mein Prokofieff-Bild beruhte vollständig auf dem, was mir meine Großmutter zu ihm sagte. Er sei für sie der wichtigste Anthroposoph nach Rudolf Steiner und auch – das betonte sie sehr – ein Wunder. Denn er habe, ohne von Rudolf Steiner und der Anthroposophie in Kenntnis zu sein, isoliert in der UdSSR sitzend, eben die gleichen wahrhaft anthroposophischen Erkenntnisse gehabt. Prokofieff war für sie eine Art zeitgenössischer anthroposophischer Heiliger. Außerdem passte das gut in die Russland-Affinität, die sie, wie andere auch, pflegte.“
– Christoph Kühn, in: Endstation Dornach, Rinteln 2011, S. 307f.

Rückgang der Mitgliederzahlen

Die Entwicklung der Mitgliederzahlen der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland verläuft für letztere nicht unbedingt erfreulich. In der aktuellen Ausgabe der „Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland“, Beilage von „Anthroposophie Weltweit“ (August/September 2014), heißt es:

„Zunächst ist wahrzunehmen, dass der Rückgang unserer Mitgliederzahlen sich von Jahr zu Jahr verstetigt. Im vergangenen Jahr sind die Mitgliederlisten nach tiefgreifenden Klärungen der Mitgliedschaften in den Zweigen, Arbeitszentren und in der Landesgeschäftsstelle auf den neuesten Stand gebracht worden. Danach stellen wir fest, dass die Mitgliederzahl im Berichtsjahr von 14.740 um 1.008 auf 13.732 zurückgegangen ist, das sind fast 6,9 %.“ (Jahresrechnung 2013. Bericht des Schatzmeisters und des Geschäftsführers für das Jahr 2013, S. 9)

Die Mitgliederzahlen sinken seit 1989 stetig, es kommt offensichtlich kaum oder jedenfalls: zu wenig Nachwuchs. (vgl. Miriram Gebhardt: Rudolf Steiner, 15) Der anthroposophische Blogger Michael Eggert sieht darin eine „Quittung für das engstirnige und selbstbezogene Treiben“ der organisierten Anthroposophie: „Sieben Prozent Schwund in einem Jahr auf ohnehin schwachen Beinen mag der genaueren Zählung mit geschuldet sein, gleicht aber doch einem Offenbarungseid, der zumindest vor der Tür steht. Das Mutterschiff Anthroposophische Gesellschaft ist leck geschlagen, aber die an Bord scheinen ihre seltsam entrückte Party unbeeindruckt weiter zu zelebrieren.“ (Eggert: Die anthroposophische Gesellschaft als die FDP der Esoterikszene)

Eggert spricht von jenen traditionellen und betagten Anthroposophen, die Gegenstand von Klischees und doch in anthroposophischen Kreisen die Regel sind: Unbeirrten Lehnstuhl-Michaelsritteln, die jeden Mittwoch im örtlichen „Zweig“ Steiner lesen, zu Vorträgen populärer anthroposophischer Autoren in ihrer Umgebung fahren oder sie ggf. organisieren und liebevoll ihre die nächstgelegene Waldorfschule besuchenden Enkel und Urenkel versorgen. Mit dieser anthroposophischen (Kern-)Generation können deren jüngere Mitglieder zahlenmäßig bei Weitem nicht mithalten. In der Außenperspektive freilich ist dies mehr als die „Quittung“ für die selten überschnittene Selbstbespiegelung in anthroposophischen Kreisen. Die Anthroposophie als Form der Esoterik gleicht nach wie vor der Bewegung, der sie entstammt, von der sie sich stets manisch abgrenzte und deren Probleme sie ebendeshalb nie überwunden hat: Der theosophischen. (Eine Ausnahme bildet Robin Schmidt: Rudolf Steiner. Skizze seines Lebens, Dornach 2011) Auf sie scheint denn auch zuzukommen, was die englischsprachige Theosophie-Forschung über das schlichte Aussterben ihres Gegenstands berichtet. Die ältere Theosophie Nordamerikas zeigt vielleicht, was für die Anthroposophische Gesellschaft in nicht allzu langer Zeit zu erwarten sein dürfte:

„The infusion of counterculture youth and their ideas in the 1960s and 1970s undoubtly strengthend the movement for a time, but today it has lapsed into a relatively quiescent state, and few if any indications point to it experiencing dramatic resurgence in the future … The old days of big public meetings and, numerous lodges in major cities, massive output of periodical and other literature – these are gone … No doubt individuals will continue to network. But the shrinking membership of the three [Theosophical] societies appears to be an irreversible process. If the organizational forms of the movement are to play important roles in the spiritual developments of the twenty-first century, then at present those roles are not clear …“ (W. Michael Ashcraft: The Third Generation of Theosophy and Beyond, in: Olav Hammer/Mikael Rothenstein (Hg.): Handbook of the Theosophical Current, Leiden 2013, 86f.)

Kein Zweifel: Die Waldorfschulen boomen. Zugleich zeigen sie denselben Befund: Immer weniger und vor allem ältere Lehrer bekennen sich offenbar noch zur Anthroposophie (Vgl. „Die richtige Gesinnung“), auch wenn sich ebendiese Exemplare gern zu „Despoten“ der Schule aufzuschwingen scheinen, wie Valentin Hacken anmerkte. Längst aber haben nicht mehr die meisten Eingestellten – auch wegen des chronischen Mangels an Lehrkräften – eine Waldorflehrer-Ausbildung absolviert. Den anthroposophischen Tochterbewegungen mag in den kommenden Jahrzehnten eine immer weitergehende Transformation und Diffusion in das ungebrochen große, ja wachsende ökologisch-esoterische, alternativ-„bewusste“, progressistisch-„spirituelle“ Milieu usw. bevorstehen, das sich ja bereits gegenwärtig an Waldorfschulen tummelt. Noch freilich wird es dauern, bis sich massive Struktureinbrüche der Anthroposophischen Gesellschaft zeigen. Vielleicht gelingt auch auf irgendeinem Wege ein Umschwung. Auf ihrer Jahrungstagung Mitte Juni in Stuttgart hat die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland sich an „neuen Wegen“ versucht, bewusst jüngere Mitglieder in Vorbereitung, Ablauf und Vorstand zu integrieren. Anthroposophie solle „nahbar“ werden, man sah sich „im Licht am Ende eines langen Tunnels“, wie NNA berichtete.

Sergej Prokofieff: Ein anthroposophischer Star

In der anthroposophischen Szene wird schon länger um die Beantwortung der Frage gekämpft, wie es mit der anthroposophischen „Arbeit“ weitergehen soll. Hierzu kann ein Blick auf einen Autor helfen, den viele Anthroposophen als einen Fels in der Brandung einer krisengeschüttelten Anthroposophie- und überhaupt irgendwie allgemeinen Menschheits-Situation wahrnehmen. Der kürzliche Tod Sergej Prokofieffs, eines unter Anthroposophen eben auch der scheidenden Generation über alles geliebten Okkultisten, Buchautoren und Vortragsredners ruft in der Szene die Frage nach der künftigen Bedeutung seines esoterischen Erbes wach. Prokofieff, bis vor Kurzem Mitglied des Vorstands der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, ist einer derjenigen Anthroposophen, an denen sich ein Liberaler wie der oben zitierte Michael Eggert regelmäßig kritisch bis empört abarbeitet. Wer die abnehmenden Mitgliederzahlen als „Quittung“ versteht, zweifelt auch nicht, welche Stars der anthroposophischen Szene die Verantwortung dafür haben müssen: Jüngst machte Egert sich über Prokofieffs „Seeligsprechung“ in den Landesnachrichten der Schweizer Anthroposophischen Gesellschaft lustig.

„Das Wesentliche ist offenbar die Emotion, dass wir (wer immer sich dazu rechnen mag) mit dem „Strom“ und dem „Ziel“ verbunden seien- ein Versprechen, eine Aussicht, vielleicht auch eine Anmaßung. Aufgrund dieser Vagheit und der pompösen Selbstzuschreibung bleibt es für den Betrachter doch sehr fraglich, ob Prokofieff denn nun tatsächlich einer war, dem das «Verbinden von Intelligenz mit Spiritualität» , wie behauptet, in vollendeter Weise gelungen sei.“ (Eggert: Sergej Prokofieffs Seeligsprechung)

Prokofieff war habitueller Anthroposoph par excellence, er hatte und verbreitete eine Mission. In seinen Schriften und Reden hatte er es nie nötig, sich auf irgendwelche Anthroposophie-externen Quellen zu stützen. Prokofieffs Wirkung auf seine Fans beschränkte sich ganz auf den okkulten Arkanbereich der Anthroposophischen In-Group und beruhte noch ganz auf seinem Charisma – von ihm gesetzte Thesen galten aus seiner eigenen auratisch-rhetorischen Kraft und brauchten keine weitere Herleitung. Prokofieffs Ideologieproduktion war dabei m.E. letztlich nicht produktiv oder erweiternd – sondern übersteigerte, kombinierte und potenzierte im Wesentlichen irgendwelche Aussagen Rudolf Steiners zu einer noch komplizierteren esoterischen Maschinerie. Dabei wurden Steiners vielfach anlassgebundene und mit dezidierten Problem- oder Fragestellungen verknüpften esoterische Vorträge aus ihren historischen und werkimmanenten Kontexten gelöst und zu universal anwendbaren und aneinandersetzbaren Modulen. Eine ähnliche Steiner-Exegese scheint auch viele „Zweigabende“ zu dominieren, was wohl seinen Teil zur Affinität des älteren anthroposophischen Kernpublikums zum Prokofieff beitrug. Ein anderer Grund war die Verpflichtung auf eine anthroposophisch durch-gestaltete Lebenswelt, für die etwa das Internet eine Falle des Erzdämonen Ahriman darstellen kann. Prokofieff hat auch den Wissenschaftler Helmut Zander als Werkzeug Ahrimans bezeichnet. (zit. bei NWA: Gefährliche Wissenschaften) Ein Interview mit der dem anthroposophischen Mileu verhafteten alternativen Nachrichtenagentur „NNA“ sagte Prokofieff vor Jahren wohl aufgrund seiner habitualisierten Internetabstinenz ab, wie es in einem Nachruf dieser Agentur angedeutet wird.

Diese Steinerdeutung sorgte dafür, dass Prokofieff in den öffentlichen Debatten um die Anthroposophie selten eingriff und in der Außenwahrnehmung fast keine Rolle spielte. Lediglich Peter Bierl bemerkte mit Blick auf Prokofieffs Erzählungen „über die Besonderheiten der diversen europäischen Volksgeister und den ganz besonderen deutschen Voksgeist“ hämisch: „Prokofieffs Werk sei jedem empfohlen, der sich aus erster Hand davon überzeugen möchte, was für eine wirre Phantasiewelt Anthroposophie ist.“ (Bierl: Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister, Hamburg 2005, S. 256, vgl. Prokofieff: Die geistigen Aufgaben Mittel- und Osteuropas, Dornach 1993) Zuletzt ist Prokofieff mit einem Hieb gegen seine charismatische Konkurrentin Judith von Halle, die durch Christus-Visionen und Stigmata von sich reden machte, aufgetreten. Dies war Prokofieffs letzte offiziöse Handlung, kurz zuvor hatte er seine Mitgliedschaft im Vorstand der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ ruhig gelegt und sich aus Krankheitsgründen zurück gezogen.

Trauergäste

Darüber und über Prokofieffs Thesen und Werdegang habe ich im Artikel „Sinn und Sinnlichkeit“ mehr geschrieben. Hier soll es um das „Phänomen“ Prokofieff gehen. Repräsentativ ist dafür die eingangs zitierte Erinnerung von Christoph Kühn aus „Endstation Dornach“. An Ort und Stelle beschrieb auch Christian Grauer Prokofieff als „den Lieblingsanthroposophen meiner alten Tante.“ Die habe immer gesagt: „Das ist so ein bescheidener Mensch! Und doch kann er so tief in die geistige Welt blicken, er muss sein Wissen schon von irgendwoher mitgebracht haben.“ Als vor Jahren Prokofieffs Wiederwahl in den Vorstand der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ anstand, sollen aneblich Fans ganze Busse organisiert haben, um wiederwahlwillige Mitglieder zur Dornacher Abstimmung zu bringen. Weitere meinungsbildende Anthroposophen wie Peter Selg beziehen sich wohlwollend auf ihn.

Am 26. Juli 2014 nun ist Prokofieff nach dreijähriger Krankheit verstorben. Von der Trauerfeier, die übrigens wohl altersmäßig sehr heterogen besucht war, berichtete NNA:

„Viele der Trauergäste konnten im großen Saal der Schreinerei am Goetheanum keinen Platz mehr finden, in Warteschlangen vor den geöffneten Saaltüren stehend, erlebten sie die Feierlichkeit. Vor einer Saaltür war ein großes Foto des Verstorbenen aufgestellt. Er selbst hatte gebeten, von Blumen- und Kranzspenden abzusehen und stattdessen für die Anthroposophische Gesellschaft in seiner Heimat Russland zu spenden. In Anwesenheit eines internationalen und auch von den Generationen her sehr gemischten Publikums zelebrierte Pfarrer Rolf Herzog aus Basel das Bestattungsritual der Christengemeinschaft. Auch manche Angehörige von Prokofieffs weitverzweigter Familie waren nach Dornach gekommen, um dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen ebenso wie die Vorstandsmitglieder der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft. Prokofieff hatte dem Vorstand bis 2013 angehört, zuletzt als emeritiertes Mitglied. Innerhalb des Aussegnungsrituals der Christengemeinschaft gab Pfarrer Herzog einen kurzen Lebensrückblick. Der mit Prokofieff befreundete Arzt und Autor Peter Selg, der bis zuletzt mit ihm in Verbindung gestanden hatte, würdigte die Verdienste des Verstorbenen als Redner und Schriftsteller im Dienste der Anthroposophischen Gesellschaft. Ausführlich schilderte Selg wesentliche Lebensstationen und Wendepunkte seines verstorbenen Freundes.“

Es ist aufschlussreich, wie Prokofieffs jetzt unter Anthroposophen gedacht wird. Man hat in der Tat das Gefühl, die „Seligsprechung“ eines in die Geistige Welt zurückgekehrten anthroposophischen Apostels mitzuerleben. Der NNA-Nachruf bemühte sich vor allem, Temperament und Auftreten des Staranthroposophen aus seinen jugendlichen künstlerischen Ambitionen zu erklären. Nicht weniges spricht dafür.

In den von Eggert kritisierten „Mitteilungen“ der Schweizer Anthroposophen drehte sich eine Ausgabe komplett um ihn (IX, 2014). Nach dem Abdruck eines Prokofieff-Vortrags über den Erzengel Michael schreibt Peter Selg über „Sergej O. Prokofieff und das Michael-Mysterium“ (S. 7-10), anschließend erzählt Clara Steinemann eine „Erinnerung an Sergej O. Prokofieff und seine ‚Winterarbeit‘ am Goetheanum“ (S. 10-11), gefolgt von Marc Desaules‘ „Rencontre avec Sergej Prokofieff“ ( S. 11-12). Darauf wiederum folgt Thomas O’Keefe mit dem Titel „Sergej Prokofieff verband beispielhaft Intelligenz und Spiritualität in seinem Herzen“ (S. 12), bevor Günther von Negelein noch „Gedanken am Sarg von Sergej Prokofieff“ mitteilt. Der Meister wird, ähnlich wie Steiner, fast, aber dann doch nicht unnahbar hoch gestellt. Und, wie im anthroposophischen Vehältnis zum Anthroposophie-Gründer, wird das eigene Verhältnis zu dieser riesigen spirituellen Figur als menschlich-allzumenschliches Versagen vor seinen erhabenen Intentionen dargestellt.

Figurationen eines Helfers der Menschheitsentwicklung

Prokofieff repräsentierte nicht nur, er inkarnierte für seine Anhänger das Wesen der Anthroposophie. Dazu Günther von Negeleins „Gedanken am Sarg“:

„Ich betrachte seinen Mund, dessen Lippen den Eindruck vermitteln, als ob sie sich gleich wieder öffnen würden, warum dürfen sie es nicht mehr? Welches Opfer ist hier gebracht worden? Unter wie viel Unverständnis und Widerständen hatte er zu leiden? Und trotzdem diese hohe, von Sorgenfalten unberührte Stirn. Was für ein Reichtum an Gedanken sind hinter ihr gespiegelt worden! Die in dem Verstorbenen gelebte Geisteswissenschaft wird der geistigen Welt erweisen, was auf Erden gedacht werden kann. Möge er trotz der im neuen Prospekt seiner Werke ausgedrückten Enttäuschung über das Nicht-verstanden-worden-Sein bezüglich seiner Intentionen uns beistehen, dass wir unsere Aufgaben auf geisteswissenschaflicher Ebene in der rechten Weise erkennen.“ (S. 13)

Eine ganze Ausgabe des anthroposophischen Zentralblatts „Das Goetheanum“ (35/2014) ist Prokofieff ebenfalls gewidmet worden. Deren Titelblatt zitierte den sakralen Verstorbenen trotzdem widersprüchlicherweise mit den Worten: „Keine Bilder, keine Lobeshymne. Ein Jahrhundert lang. Möge Schweigen mich umgeben.“

Ganz ähnlich wiederum geschehen anthroposophische Erinnerungen an die Person Steiners – jede noch so dogmatische Abhandlung weiß Steiners „Keine Dogmen!“ zu zitieren und gutzuheißen. Noch zwei Ausgaben später empörten sich allerdings Leserbriefe über die in der Tat performativ widersprüchliche Wahl des Titelspruchs. Tomás Bonek etwa glaubt, die „Goetheanum“-Redaktion sei hier unfreiwillig vom „Bösen“ beeinflusst worden, schließlich dürfe man über Prokofieff niemals schweigen, ja: es zu tun, wäre menschheitlich gefährlich.

„Da es in diesen Strophen auch um ein ‚hundertjähriges Schweigen‘ geht, ist die Sache noch bedenklicher und ernster. Die Worte sind aus dem Zusammenhang der lyrischen Jugenddichtung Sergej Prokofieffs gerissen, die er vor mehr als 40 Jahren in einem völlig anderen Kontext geschrieben hat – sie wurden gewissermaßen durch die Verwendung zu einer testamentarischen Willensäußerung erhoben. Wenn es so wäre, dann würden selbst die Gebete und Sprüche, die für Sergej Prokofieff weltweit gesprochen werden, infrage gestellt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es seinem aktuellen Willen und der Situation entspricht. Sergej Prokofieff erhoffte sich auch für die Zukunft eine positive und fruchtbare Wirksamkeit seiner Werke, die mit seinem Namen und seiner Individualität verbunden sind und bleiben.“ (Das Goetheanum, 37/14. September 2014, S. 12)

Auf derselben Seite steht ein Gedicht über Prokofieff aus der Feder von Irene Johanson, die Prokofieff schon kannte, als er noch in Russland „wirkte“ und die sogar mit ihm gesprochen habe („Von daher fühle ich mich sehr mit ihm verbunden“). In den Zeilen heißt es u.a.:

„Sergej, du hast dich selbst gegeben,
Zu zeugen für des Geistes Leben.
Als Russland noch vom Geist verlassen,
Hast du geebnet ihm die Straßen,

In viele Sprachen zog er ein;
Um jedem Volk ein Licht zu sein.

Wer dich gekannt hat, darf vertrauen
Und Geist im Erdenleben schauen.“

Auch in die oben zitierten Schweizer Mitteilungen wurde ein Gedicht von Ruth Dubach mit dem Titel „Für Sergej Prokofieff“ aufgenommen (S. 7). Darin liest man, der Verstorbene sei schon längst über die Schwelle, weite sich geistig, sei auf dem Weg zum „Strahlenkreis der Götter und der Geistgefährten in der auserwählten Stunde“. In dieser Apotheose wird Prokofieffs höheres Wesen  jedoch zugleich als weltzugewandt vorgestellt (sein „Herz“ wende sich mit „Feuerkraft“ „erdenwärts“). Er ist offensichtlich ein geistiger, den Göttern naher Menschheitshelfer. Zum Unheil unserer „kranken Welt“ schaue der große Geist mit seinem „Flammenblick“: „Je grösser Deiner Menschenbrüder Not, je mehr das ferne Götterziel bedroht, nur umso mächtiger Dein Helferwille loht.“ Man beachte einmal mehr die Sinnlichkeit dieser Beschreibungen: sakraler Leib (von Nägelein), tiefe Berührung durch persönliche Begegnung (Johanson), eine wiederholt als feurig-flammenhaft beschriebene Geisteskraft, die von ihm ausstrahle (Dubach).

Weisheit vom Menschen

Es wäre unangemessen, diese Seligsprechung ironisch abzutun. Sie folgt einer internen Logik, die aus Steiners Zeiten herrührt, vor allem aber viel über den religiösen Kern der Anthroposophie und seine rituellen Auswirkungen mitteilt. Tore Ahlbeck schreibt über das anthroposophische Steinerbild der Gründergeneration: „they regarded him as a human being, not as a devine or semi-devine being.“ (vgl. Ahlbäck  Rudolf Steiner as a Religious Authority, in: Western Esotericism, hg. v. Tore Ahlbäck, Donner Institute for Research in Religious and Cultural History, 2008, S. 14) Das klingt nach einer simplen Feststellung, lenkt aber den Blick auf das Wichtigste: Steiner wie Prokofieff galten oder gelten als hoch entwickelte menschliche Individuen, denen Wertschätzung eben darum zu zollen ist, weil sie sich als Menschen auf das Göttliche hin vollendeten und die aufgrund der so erworbenen geistigen Kraft auch nach ihrem Tod auf die Welt einwirken. Fest steht dabei: Prokofieff arbeitet im Dienste der weit umfassenderen Entelechie und Signifkanz Rudolf Steiners, der er aber mustergültig gerecht wurde.

Höchst wahrscheinlich stammt der überwiegende Anteil der Prokofieff-Anhänger tatsächlich aus dem überalterten Mainstream der anthroposophischen Szene. „Schuld“ an der Überalterung trifft ihn freilich nicht, vielmehr ist sein Erfolg Ausdruck der spirituell-autoritativen Wünsche einer bestimmten anthroposophischen Generation. Es bleibt abzuwarten und beobachtenswert, welche weiteren Transformationen der aufgestiegene Geisteslehrer im anthroposophischen Diskurs durchlaufen wird.


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Sinn und Sinnlichkeit: Sergej Prokofieff, Judith von Halle und das „Volkstümlich-Mondhafte“

11. Oktober 2014 at 5:08 am 11 Kommentare

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Hallo allerseits,
Ich bin Ansgar Martins, geb. 1991 und war bis Juni 2010 Schüler an der FWS Mainz. Inzwischen studiere ich Religionsphilosophie, Soziologie und Geschichte in Frankfurt a. M. Dieser Blog ( dessen "Leitbild" ganz oben rechts ) ist mein persönliches Projekt, um die oft einseitigen und selbstgerechten Pro- und Contra-Positionen in der Debatte um die Waldorfpädagogik und Anthroposophie kritisch zu kommentieren. Ich hoffe, das gelingt, und freue mich über Rückmeldungen jeder Art!

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