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Vidars Gefolgschaft: Antisemitismus in der norwegischen Anthroposophie. Ein Interview mit Prof. Jan-Erik Ebbestad Hansen
Jan-Erik Ebbestad Hansen ist Professor (em.) für Ideengeschichte der Universität Oslo und Rezensent für die Abendzeitschrift „Aftenposten“. Wir sprachen über die Anthroposophie in Norwegen, in der sich, wie in Deutschland, völkisch-antisemitische Denkmotive mit einer aggressiven Polemik gegen Kritiker, die darauf hinweisen, verbinden.
Ansgar Martins: Sie haben sich intensiv mit Theorie-Traditionen wie der christlichen Mystik, der Faust-Literatur und der Romantik beschäftigt. Sehen Sie hier Parallelen zur Anthroposophie oder sogar Gemeinsamkeiten? Wie stehen Sie zur Konstruktion einer „esoterischen“ Ideengeschichte?
Prof. Hansen: Ja, hier gibt es Gemeinsamkeiten und Parallelen. Bekanntermaßen hatte die christliche Mystik, oder jedenfalls was er als Mystik verstand, eine entscheidende Rolle für Steiner. Er erzählt ja selber, dass er in der christlichen Mystik wichtige Begriffe für sein eigenes Denken gefunden habe. Und die Christologie, die er entwickelt hat, befindet sich in der Nähe einer johanneischen Christus-Logos Mystik. Auch die Faust-Literatur war für Steiner wichtig. Alle Steiner-Kenner wissen ja, welche Bedeutung er Goethes Faust zugemessen hat. Faust ist sozusagen ein anthroposophisches Thema. Auch von der deutschen Romantik gehen deutliche Linien zu Steiners Anthroposophie. Ich denke an die spiritualistisch orientierte Natur- und Geschichtsphilosophie Schellings und Steffens´, die Volksseelen-Idee, Schellings Theosophie, die Revolte gegen ein mechanistisches Weltbild, gegen den Intellektualismus, die französische Aufklärung usw. Wichtig ist auch die Esoterik, die wir in der Romantik finden, z. B. bei Franz von Baader, der Jakob Böhme und Claude de Saint Martin vermittelt hat. Schelling ist ja vom Idealismus zur Theosophie Böhmes und Silesius’ gekommen wie Steiner von einem fichteschen Idealismus in die Theosophie Blawatskys. Diese Theosophien sind ja sehr unterschiedlich, aber dennoch: Eine Ideengeschichte der Esoterik finde ich sehr wichtig, da sie ja in der ideengeschichtlichen Forschung sehr unterbelichtet ist. Ich bin überzeugt davon, dass die allgemeine Ideengeschichte gezwungen sein wird, diese Ideen und Denkweisen zu integrieren. In den zwei letzten Jahrzenten sehen wir, dass die Esoterikforschung ein neues Forschungsgebiet geworden ist, und sie tritt offensiv auf. Ich denke an Antoine Faivre und besonders an Hanegraaff und sein Umfeld in Amsterdam. Und ich denke an wichtige Übersichtpublikationen wie Dictionary of Gnosis and Western Esotericism (2006), Hanegraaffs Esotericism and the Academy (2012), Western Mysticism and Esotericism (2016) und Western Esotericism in Skandinavia (2016). Und was die Anthroposophie angeht, sind ja Helmut Zanders, Peter Staudenmaiers und Ihre eigene Forschung von entscheidender Bedeutung.
Was können Sie über die Entwicklung und Verbreitung der Anthroposophie in Skandinavien, speziell in Norwegen erzählen?
Steiner war ja mehrmals als Theosoph und Anthroposoph in Norwegen, seine Anhänger unter den Theosophen haben 1913 die anthroposophische Vidar-Gruppe und 1923 eine Anthroposophische Landesgesellschaft gegründet. Man hört oft, dass die Anthroposophie in Norwegen im Unterscheid zu anderen Ländern, einen relativ großen Einfluss unter Schriftstellern bzw. Intellektuellen ausgeübt habe. Dies darf nicht übertrieben werden, aber einige Schriftsteller und Intellektuelle versuchen Steiners Ideen zu verteidigen und vermitteln. Heute gibt es sonst mehr als 30 Waldorfschulen in Norwegen, ein Bank, einige Ärtze, Kirche (die Christengemeinschaft), Camp Hill communities, biodynamische Landwirtschaft und einige Zeitschriften.
Wie wird die Anthroposophie in Norwegen heute öffentlich rezipiert und (wie) wird sie wissenschaftlich wahrgenommen?
Die Anthroposophie ist durchaus der wichtigste spirituelle Alterntivimpuls in Norwegen. Die Steiner-Schulen haben Anerkennung gewonnen und bekommen eine öffentliche finanzielle Unterstützung. Wissenschaftlich, in der Akademie, spielt die Anthroposophie kaum eine Rolle. Es gibt aber einige akademische Arbeiten die anthroposophische Aktivitäten thematisieren. Neulich haben wir eine PhD-Abhandlung über die norwegischen Steinerschulen erhalten. Selber habe ich mehrere Masterarbeiten über norwegische anthroposophische Zeitschriften von 1915 bis heute initiiert.
Vor einiger Zeit wurde Kaj Skagens 1000-seitige Biographie des jungen Rudolf Steiner hymnisch in einigen deutschsprachigen anthroposophischen Medien besprochen. Das klingt natürlich nach viel Material oder zumindestnach aufwendiger Interpretation des Bekannten. Wie beurteilen Sie das Buch?
Anthroposophische Hymnen sind meistens Hymnen auf Rudolf Steiner, und von geringem sachlichen Interesse. Skagen ist ein bekannter Schriftsteller, der an der öffentlichen Debatte teilnimmt, oft ziemlich polemisch. Er meint viel und lautstark. Er ist ein Autodidakt, will aber mit seinem Buch über den jungen Steiner zur Forschung beitragen. Es dreht sich nichtsdestowenigerum Vermittlung des schon Bekannten. Man kann aber sagen, dass er in Norwegen der beste Kenner des jungen Steiners ist. Skagenwar seit seiner Jugend ein fanatischer Anthroposoph (er nennt sich selber einen Fanatiker), aber schreibt, dass er jetztaus der Anthroposophie hinaus will. Er hat offensichtlich mit seinem eigenen Dogmatismus und der anthroposophischen Vorstellungswelt Probleme bekommen. In seinem Buch gibt es Ansätze zu einer selbständigen kritischen Darstellung. Das sind aber nur Ansätze. Wir werden sehen, ob er es schafft, sich frei zu machen.
Auch in Norwegen hat es eine Debatte über die Rassentheorien, Völkerstereotype und den Antisemitismus Rudolf Steiners und prominenter Anhänger gegeben. Sie publizieren demnächst eine Monographie zum Thema. Wie kam es dazu?
Vor einigen Jahren hat Professor Tore Rem eine große Biographie über den Schriftsteller Jens Björneboe publiziert, der auch einige Zeit lang von der Anthroposophie inspiriert wurde. Sie hat meistens glänzende Rezensionen bekommen, aber unter den Anthroposophen hat sie heftige Reaktionen hervorgerufen. Kaj Skagen und sein Freund Peter Norman Waage, auch ein loyaler Steiner-Apologet, haben das Buch verrissen. In diesem Streit ereignete sich ein bizarres Beispiel dafür, was passieren kann, wenn man Anthroposophen kritisiert. Skagen veränderte unter einem Pseudonym Rems WIKIPEDIA-Eintrag in eine negative Richtung. In der Debatte wurde auch ich von Kaj Skagen angegriffen, weil ich einer der Lektoren des Verlags war. Die Debatte drehte sich hauptsächlich um das Verhältnis norwegischer Anthroposophen zum Nationalsozialismus. Dann habe ich an den Schriftsteller und Anthroposophen Alf Larsen gedacht, der oft von Anthroposophen als einer der Großen in der Bewegung hervorgehoben wird. Ich habe in seinem Archiv in der norwegischen Nationalbibliothek gesucht und ganz schnell ein großes, unbekanntes Manuskript gefunden, das Das Judenproblem betitelt war. Das war wirklich eine Überraschung. Es war kaum zu glauben, was da geschrieben stand. Ich wusste ja, dass er ein Antisemit war, aber dass er so extrem und grob war, wusste ich nicht. Ich hatte den größten Antisemitender norwegischen Literatur entdeckt. Ich habe sofort verstanden, dass ichmit diesem Material weitergehen musste, und es hat nicht lange gedauert, bis ich auch verstanden habe, dass Larsen nicht der einzige Antisemit unter den norwegischen Anthroposphen war.
Ihr Artikel betont besonders einen Aspekt von Steiners Antisemitismus: Die Vorstellung vom speziellen Charakter des jüdischen Blutes. Bei norwegischen Anthroposophen war das offenbar ein zentrales Thema. In der deutschsprachigen Literatur ist es irritierenderweise meines Wissens kaum ausführlicher untersucht worden. Hier dominiert, von einigen harten anthroposophischen Rassisten abgesehen, m. E. ein anderes Motiv: Steiners Kontrastierung von christlichem und „mitteleuropäischem“ Universalismus mit dem ethnozentrisch-vorchristlichen „Jahwe-Bewusstsein“, das er auch im Ersten Weltkrieg am Werk sah. Allerdings überzeugt Ihr Argument, die Bedeutung der Blutsvorstellung in seinem Bild des Judentums höher einzuschätzen. Der gesamte „internationalistische“ Anspruch seiner Christologie richtet sich gegen die überlebte Rolle der angeblich blutshomogenen Juden: „Sein erstes Auftreten hätte der Christus nicht haben können innerhalb der jüdischen Gemeinde selber, wohl aber in Galiläa, an demjenigen Orte, wo gemischt waren die verschiedensten Völkerstämme und Völkergruppen.“ ([1909] GA 112, 162) Das hätte ich in meinen Büchern stärker pointieren müssen.Wie entwickelte sich in Norwegen der anthroposophische Antisemitismus? Welche Rolle spielte die blutsmaterialistische Dimension von Steiner Völkermythologie?
Der Kontext ist ja auch wichtig, gerade in diesen Jahren wurde die Dichotomie von „Deutschtum“ und des Judentum entwickelt. Auf der einen Seite die Germanen, die Individualismus und Universalismus repräsentieren, auf der andren Seite die Juden, die an Rasse, Blut und Kollektiv gebunden sind. Conrad Englert sagt explizit, dass die Juden ans Blut gebunden seien, dass die jüdische Rasse die Rasse sei, die am stärksten durch das Blut repräsentiert werde. Und Alf Larsen weist mehrmals auf das besondere Blut der Juden hin. Er sagt deutlich, so lange es ein kleines Tröpfchen Judenblut in einem Jude gebe, könne er nicht restlos in ein anderes Volk aufgehen, was ihm eine ideale Notwendigkeit war. Auch Hohlenberg (er war ein Däne, der mehrere Jahre in Norwegen wohnte und wirkte) hebt die Einheit vom Geist und Körper als eine Selbstverständlichkeit hervor.
In welcher Hinsicht galten „die Juden als Lehrer der Nazis“, wie Sie schreiben?
Die anthroposophischen Autoren meinten, dass die Nazis ihre Vorstellungen von Rasse, Volk und Kollektiv von den Juden übernommen haben. Der Nazismus wurde also nicht nur als eine Parallele zum Judentum betrachtet, sondern die Nazis hätten von den Juden gelernt. Larsen sagt zum Beispiel, dass die Rassegesetze der Nazis eine direkte Nachahmung des Alten Testamentes seien.
Wie präsent waren solche Motive bei den leitenden norwegischen Anthroposophen jener Jahre?
Sie haben mehr oder weniger dasselbe gesagt, Johannes Hohlenberg, Conrad Englert und Alf Larsen: Die Juden waren die Lehrmeister. 1941 schrieb Larsen, dass der Nazismus der endgültige Sieg des Judentums auf der Welt sei. Die Juden waren also nicht nur Kommunisten und Kapitalisten, sie waren auch für den Nazismus verantwortlich! Dies muss die endgültige Bestätigung von Adornos These sein, der Antisemitismus sei ein flexibler Mythos.
Änderte sich diese Haltung nach 1945?
Bei Alf Larsen ist sie explodiert, ins Extreme entwickelt. Das Judenproblem wurde in den 1950er Jahren geschrieben. Interessanterweise ist diese Denkweise unter norwegischen Anthroposophen noch möglich. 2009 hat der Rechtsanwalt (höchstes Gericht) und Großanthroposoph Cato Schiötz in einer Diskussion über Larsens Antisemitismus und die Anthroposophie folgendes gesagt: „Larsen kritisiert Juden aus demselben Grund, aus dem er zu den Nazis kritischist. Sie bauen auf einen veralteten Begriff von Rasse und Blut. Dies dreht sich um das Rassenverständnis der Juden, nicht um die Christologie Rudolf Steiners.“
In welchem Verhältnis standen die Anthroposophen zu völkischem Gedankengut in Norwegen?
Hier gibt es ein nahes Verhältnis. Viele Anthroposophen haben die norwegische, germanische Volksseele betont. In der Zwischenkriegszeit gab es beinahe einen Kultus der Volksseele. Es gab eine starke Germanophilie und einen Glauben an die besondere Bedeutung der nordgermanischen, skandinavischen Länder. Sie sahen auch eine Kontinuität zwischen Heidentum und Christentum. Das heißt, dass sie an die heidnischen Götter, wie zum Beispiel Balder und Vidar, glaubten. Das tun norwegische Anthroposophen übrigens noch immer. Die Götter werden als geistige Realitäten aufgefasst. Mit ihrer starken Vidar-Anbetung strebten sie eine Art Synthese von Germanentum und Christentum an. Dies sieht man heute bei einem wichtigen Anthroposophen wie Frode Barkved, er meint, dass es notwendig sei, dass der heidnische Gott Vidar ein Leib für Christus werde.
Hans Büchenbacher schreibt in seinen „Erinnerungen“:
„Der dänische Generalsekretär Johannes Hohlenberg (ein in Dänemark bekannter und anerkannter Schriftsteller und Maler) und ein alter naher Freund von mir seit der Weihnachtstagung, an der er als dänischer Generalsekretär teilgenommen hatte, war Herausgeber der Monatsschrift „Vidar“, in der er auch Vorträge von Dr. Steiner übersetzt veröffentlichen durfte. Nachdem aus dem Titel unserer Wochenschrift „Das Goetheanum“ die Bezeichnungen „international“ und „Dreigliederung“ gestrichen worden waren, druckte er in einer Nummer des „Vidar“: „das sei nun die einzige Zeitschrift, die Anthroposophie „uafkortet“ (unverkürzt) vertrete“. Daraufhin entzog ihm Frau Dr. Steiner die Möglichkeit, Vorträge von Herrn Doktor in seiner Monatsschrift zu veröffentlichen. Nach der Besetzung Dänemarks im Weltkrieg konnte Hohlenberg nach Norwegen fliehen und wurde mit Hilfe unseres gemeinsamen Freundes Otto Morgenstierne auf einer Insel in Sicherheit gebracht.Ende der 50er Jahre ist Hohlenberg in Kopenhagen verstorben.“
Wie beurteilen Sie Büchenbachers Einschätzung und Beschreibung Hohlenbergs und dessen Kritik der Nationalsozialismus?
Vidar war eine norwegische anthroposophische Zeitschrift, die 1915 gegründet wurde. 1926 wurde Hohlenberg der Herausgeber Vidars, eine Stelle, die er bis 1940 hatte. 1933 wurde er auch ein Mitarbeiter in Alf Larsens Zeitschrift Janus. Er war mit einer norwegischen Frau verheiratet und hat eine zentrale Rolle für die norwegische Anthroposophie gespielt. Hohlenberg nahm wie sein Freund Larsen früh Stellung gegen Hitler und den deutschen Nazismus. Wegen seiner Hitler- und Nazismus-Kritik hat er aber große Schwierigkeiten mit der Leitung in Norwegen und Dornach bekommen. Es wurde ihm, wie Büchenbacher sagt, u.a. verboten Texte von Rudolf Steiner zu veröffentlichen. In der norwegischen anthroposophischen Gesellschaft gab es in der Zwischenkriegszeitvöllig absurde Streitigkeiten und Konflikte. Leitende Personen wie Helga Geelmuyden und Conrad Englert waren Freunde von Marie Steiner-von Sievers und sehr Dornach-loyal. Sie waren beide sehr kritisch gegen Hohlenbergs Hitler- und Nazismus-Kritik. In einem Brief an Marie Steiner-von Sievers empörte Geelmuydensich über Hohlenbergs „Hitler-Hass“ und über seine Nazismus-Kritik. Auch Larsen wurde wegen seiner Kritik der politischen Entwicklung in Deutschland in den 30er Jahre kritisiert. Die „offizielle“ Erklärung dieser Opposition gegen Hohlenberg ist, dass die Gesellschaft politisch neutral sein solle und dass die Leitung wegen der schwierigen Lage der Anthroposphen in Deutschland vorsichtig sein müsse. Nach Staudenmaiers und Ihrer eigene Forschung sieht das etwas anders aus. Nach dem Kriege haben norwegische Anthroposophen Hohlenbergs und Larsens Nazismus-Kritik hervorgehoben. Ihren Antisemitismus haben sie aber verschwiegen.
In Ihrem Artikel ist nachzulesen, ausgerechnet Steiners Vortragszyklus „Die Mission einzelner Volksseelen…“ (in Deutschland 2007 von der „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien“ unter Kommentarzwang gestellt, weil „in Teilen als zum Rassenhass anreizend bzw. als Rassen diskriminierend anzusehen“), sei unter norwegischen Anthroposophen viel rezipiert worden. Immerhin wurden die Vorträge 1910 in Oslo gehalten. Welche Botschaften und welche Ausgabe zog man daraus?
Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhange mit der germanisch-nordischen Mythologie ist sehr wichtig, will man norwegische Anthroposophen verstehen. Hier hat Steiner ihnen die große, entscheidende Bedeutung Vidars und der eigenen heidnischen Mythologie beigebracht. Sie erfuhren, dass es eine Kontinuität zwischen Heidentum und Christentum gebe, und dass sie eine große Bedeutnung für der Entwicklung der Welt haben können. Und NB, von hier haben sie auch die esoterische Begründung des Steinerschen Antisemitismus bekommen.
Ein weiteres Beispiel, das ebenfalls in Ihrem Artikel auftaucht: Für Rudolf Steiner war es „reizvoll zu verfolgen“, was „die nordischen Götter“, (Erz-)Engel mit bestimmten Zuständigkeitsbereichen, auf ihren „Wanderungen“ erschaffen. Ihm zufolge kommt „der Mensch … aus geistig-seelischen Welten herunter“ und so ist es „nicht gleichgültig, ob er als Norweger oder als Schwede geboren wird“: Ostskandinavier werden beim Inkarnationsvorgang „wie abgelenkt“ und entwickeln „einen passiven Charakter“: „Sie können nicht widerstehen demjenigen, was sich vom Osten herüber“, u.a. „durchmongolisch-tatarische Völkerschaften“ aufdrängt, bewahrten dafür aber in Vorzeiten eine „mystisch-orientalische“ Götterlehre. Die „norwegischen Menschen“ bzw. diejenigen, die „in der richtigen Weise ihr Norwegerleben“ verwirklichen, haben dagegen die Mission, ihren „Mitseelen“ in nachtodlichen Daseinszuständen „von den Geheimnissen der Erde“ zu berichten. Das sei für die postmortalen Menschen so wichtig wie die anthroposophischen Berichte aus der „geistigen Welt“ auf der Erde. ([1921] GA 209, 59ff.) Dieser Vortrag wurde ebenfalls vor norwegischen Zuhörern gehalten. Hatte diese spirituelle Völkerpsychologie Skandinaviens Folgen für die nationalistische Steiner-Rezeption in Norwegen und Schweden?
Ganz klar! Man kann sicher annehmen, dass Steiners Worte einen großen Eindruck gemacht haben. Sie haben sich als Vidars Gefolgschaft oder Kampfgruppe aufgefasst. Sie waren die Avantgarde der Entwicklung! „Nordland“ und Norwegen haben jetzt die Initiative. Der Leuchter, der früher in Mitteleuropa stand, steht jetzt in Skandinavien. Diese Ideen führten zu einer Huldigung der germanischen, norwegischen Volksseele. Eigentlich wollten sie wohl keine Nationalisten sein, aber im Nationalen haben viele die große Zukunft gesehen, haben sie einen Weg gefunden, der sie mit Vidar zu Christus gehen konnten.
Welchen Stellenwert nehmen rassentheoretische und nationale Spekulationen insgesamt in den Schriften norwegischer Anthroposophen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein – also auch im Verhältnis zu den sonstigen Aktivitäten?
Man kann schon sagen, dass der Nationalismus wichtiges Thema war, nicht dominierend, aber wichtig. Die Rassentheorien standen mehr in der Peripherie. Hohlenberg hat aber den anthroposophischen Rassentheoretiker Richard Karutz hervorgehoben. Und sie waren selbstverständlich „Germanen“.
Wie gehen heutige norwegische Anthroposophen mit Steiners Rassen- und Völkertableau um?
Selber haben sie nicht mit dem Antisemitismus oder den Rassentheorien Steiners abgerechnet. Sie sind im Grunde genommen überzeugt davon, dass es keinen Rassismus oder Antisemitismus in dessen Schriften gibt. Erst wenn andere, wie zum Beispiel Staudenmaier, auf problematische Seiten in der Anthroposophie oder der Bewegung zeigen, reagieren sie. In dieser Hinsicht sind sie ausgesprochen reaktiv. Und sie reagieren oft mit einer Apologetik, die ziemlich aggressiv sein kann. Wenn man sich historisch-kritisch mit der Anthroposophie beschäftigen will, muss man auf eine oft unangenehme apologetische Polemik vorbereitet sein. Seriöse Wissenschaftler wie Helmut Zander und Peter Staudenmaier sind ja bekanntlich fast Hassobjekte geworden. Wenn Anthroposophen Kritik aufnehmen, geht es um Bagatellisierung. Und sie heben einige Aussagen Steiners hervor, die den Rassismus verurteilen. Einige, die nicht so dogmatisch sind oder sein wollen, können auch auf die Untersuchung der holländischen anthroposophischen Gesellschaft hinweisen. Eine Stellungnahme zu Ihrem Buch über den Steinerschen Rassismus habe ich nicht gesehen. Der Steinerkult bei den norwegischen Anthroposophen ist zentral, und die meisten orientieren sich offensichtlich an deutschen Dogmatikern wie z. B. Lorenzo Ravagli. Seine Texte werden übersetzt und er hält Vorträge in Oslo.Sie haben auch Baders und Ravaglis Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit. Anthroposophie und der Antisemitismusvorwurf übersetzen lassen, damit glauben sie offensichtlich das letzte Wort über Anthroposophie und Antisemitismus gesagt zu haben. Die Übersetzung hat ein Nachwort von Cato Schiötz, der, ohne die Sache untersucht zu haben, behauptet, dass Alf Larsens Antisemitismus eine Privatsache war. Es geht immer um Apologetik, Bagatellisierung und Wegerklärung. Es gibt aber Lichtpunkte. Kaj Skagen sieht den assimilatorischen Antisemitismus beim jungen Steiner. Hier hat er sich offensichtlich von Ralf Sonnenbergs kritischer Erörterung von Steiners Aussagen über die Juden beeinflussen lassen. Den Antisemitismus bei dem Theosophen und Anthroposophen Steiner kommentiert er nicht, es ist ja auch nicht sein Thema. Wie dies in der Bewegung aufgenommen wird, weiß ich nicht.
Einer der vitalsten Aspekte aus Steiners Zeitbetrachtung, der ebenfalls implizit antisemitisch aufgeladen ist, sind seine Verschwörungsideologien. Sie drehen sich primär um eine übersinnlich manipulierte okkulte Geheimlogen hinter der englischsprachigen Welt gerichtet waren. Wie verhielten oder verhalten sich norwegische Anthroposophen zu seinen im Ersten Weltkrieg formulierten Feindbestimmungen gegenüber dem „Angloamerikanertum“ ?
Auch ein Interessantes Thema! Hier kann ich aber leider nicht viel sagen, dies ist auch eine Untersuchung wert. Generell gilt, dass die große mitteleuropäische Kultur als ein Gegensatz zur angloamerikanischen Kultur gesehen wurde. Alf Larsen war hier sehr deutlich. Und Johannes Hohlenberg warnte vor der englischen Sprache, die eine ahrimanische Sprache sei.
Anthroposophie im Widerstand
„Aus der vehementen Ablehnung der Anthroposophen durch Dietrich Eckart [einen Mentor Hitlers] können wir viel lernen. Wenn er so stark auf sie reagierte – und er war nicht der einzige völkische Denker, der das tat –, dann muss er sie sehr ernst genommen haben. Damit hatte er Recht, denn Deutschland schien bereit, jede mögliche Alternative zu seinem alten unglückseligen System auszuprobieren. Doch in gewisser Hinsicht stellte die völkische Reaktion das Zugeständnis dar, dass beide Lager auf derselben Ebene operierten. Ein Teil der völkischen Wut wuchs aus der Erkenntnis, dass es hier eine andere Vision des Universums gab, die ‚geistig‘ zu sein beanspruchte. Hatten nicht die Propheten des ‚Volkes‘ das Monopol auf die geistige Politik, waren nicht sie allein wirklich ‚geistreich‘?“
– James Webb: Das Zeitalter des Irrationalen.
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Die jüngst wieder ausgebrochene und auch auf diesem Blog geführte Debatte zum Thema Anthroposophie und Faschismus blubbert munter. Zufällig zum genau passenden Zeitpunkt ist nun weiteres Material verfügbar, das einen ganz anderen Aspekt hervorspielt: Anthroposophinnen und Anthroposophen im antifaschistischen Widerstand. Das für April angekündigte Buch „‚Es lebe die Freiheit!‘ Traute Lafrenz und die Weiße Rose“ (Peter Norman Waage) ist unerwartet früher erschienen. Ich nehme das zum Anlass, hier ein weiteres, weitgehend unbekanntes Kapitel der verzweigten und widersprüchlichen Rezeptionsgeschichte der Anthroposophie zu schildern: Die Einflüsse anthroposophischen Gedankenguts auf ‚den‘ Widerstand gegen den Nationalsozialismus.
Traute Lafrenz
So unbefleckt wie die namengebende Blüte ist die Weste der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ wohl nicht gewesen: Der Historiker Sönke Zankel hat mit dem bundesdeutschen Mythos der lauteren demokratischen Studenten mit antinazistischen Ambitionen aufgeräumt und zeigte etwa elitäre Selbstverständnisse in der Widerstandsgruppe oder die antijüdischen Ressentiments bei Hans Scholl auf. Respekt gebührt der engagierten Gruppe nichtsdestominder. Die zeitweilige Freundin Scholls, Traute Lafrenz, hat es in einem SZ-Interview vom 3.05.2002 infolgedessen als „peinlich“ bezeichnet, dass die Flugblätter der „Weißen Rose“ keine direktere Position zur „Judenfrage“ bezogen (vgl. Zankel: Mit Flugblättern gegen Hitler, Köln u.a. 2008, 510 – das Buch wurde auch stark kritisiert). „Insgesamt“, so Zankel, „kann für Traute Lafrenz konstatiert werden, dass für sie die Worte Inge Scholls noch am ehesten zutreffend sind: der ‚große Wettkampf um das Leben der Freunde‘.“ (ebd., 448). „Ihre Aktivitäten waren von entscheidender Bedeutung, wurden von der Nachwelt jedoch wenig beachtet. Sie selbst zieht es vor, sich als Zeitzeugin zu bezeichnen. Sie weist konsequent jede Art von Ehrbezeugung ab, aus Respekt vor all denjenigen, die so viel mehr taten als sie.“ (Waage: „Es lebe die Freiheit!“ Traute Lafrenz und die Weiße Rose, Stuttgart 2012, 9 – das 2010 mit dem norwegischen Riksmalfortbundets litteraturpris ausgezeichnete Buch wurde vom anthroposophischen Urachausverlag ins deutsche übersetzt).
Lafrenz ist vor allem als Verbindung zwischen der Hamburger und der Münchener Gruppe der Weißen Rose bekannt, sie sorgte für die Weiterverbreitung von Informationen und Flugblättern und bemühte sich nach der Verhaftung der Geschwister Scholl u.a. um die Vernichtung von Beweismaterial, wurde inhaftiert, frei gelassen, erneut inhaftiert – eine genaue Dokumentation bietet das Archiv der „Weiße Rose Stiftung“ (und eben das kürzlich erschienene Buch von Waage). Lafrenz wanderte nach dem Krieg in die USA aus, wo sie Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und der „Ersten Klasse“ der Dornacher „Hochschule für Geisteswissenschaft“ wurde. Bis 1992 war sie Leiterin der „Esperanza School“, einer heilpädagogischen Einrichtung auf anthroposophischer Grundlage. Heute hat Lafrenz vier Kinder und sieben Enkel und lebt in South Carolina. Als „Weiße Rose der Anthroposophie“ wurde sie in einem Newsletter der ortsansässigen Anthroposophischen Gesellschaft bezeichnet, Ausstellungen widmen sich auch ihrer Person, 2009 erhielt sie die Herbert-Weichmann-Medaille von der jüdischen Gemeinde Hamburg (vgl. Kathleene Wright (?): Anthroposophy’s ‘White Rose’, in: Sophia Sun – Newsletter of the Anthroposophical Society in North Carolina, June 2008, I, 3, 30). Wie kam Traute Lafrenz zur Anthroposophie?
In die Aktionen der „Weißen Rose“ war Traute Lafrenz nicht zufällig und nur durch den Kontakt zu den zentralen Figuren der Weißen Rose, Scholl, Kucharsky und Schmorell, involviert. Eine wichtige Rolle für die Motivation von Kucharsky und Lafrenz spielte die Lehrerin Erna Stahl (1900-1980). Sie hatte Deutsch, Geschichte und Kunstgeschichte in Wien studiert, bevor sie nach dem zweiten Staatsexamen eine Klasse in der reformpädagogischen Lichtwark-Schule übernahm (Vgl. Zankel a.a.O., 531). In dieser Klasse war neben Kucharsky und Lafrenz auch Margareta Rothe, die ebenfalls im Kreis der „Weißen Rose“ tätig war und dafür hingerichtet wurde. Die Lichtwarkschule, deren von Alfred Lichtwark konzipiertes Programm übrigens von Steiner nur ein einziges Mal, aber zustimmend zitiert wurde (Steiner: GA 298, 53), war mit der Waldorfpädagogik zumindest im ästhetischen und „naturnahen“ Anspruch vergleichbar (vgl. Zander: Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, 1388, 1422).
Erna Stahl
Peter Norman Waage zitiert die Erinnerungen von Lafrenz über die spezifische Prägung von Erna Stahls Unterricht:
„‚Unsere war ihre erste Klasse‘, berichtet Traute. ‚Ich stieß im sechsten Schuljahr dazu. Die Lehrer konnten ihren Unterricht mehr oder weniger so gestalten, wie sie es selbst wollten. Erna Stahl war von der Waldorfpädagogik inspiriert. Sie hatte einen guten Freund, der Waldorflehrer war, und bediente sich einer ganzen Reihe entsprechender Methoden. Sie hatte offensichtlich auch Steiner gelesen, das begriff ich im Nachhinein. Ich bin die einzige unter ihren Schülern, die später mit der Anthroposophie weitergemacht hat; tatsächlich habe ich kurz nach Abschluss der Schule angefangen, ‚Die Philosophie der Freiheit‘ [GA 4] zu lesen. Ich habe auch versucht, Hans [Scholl] dafür zu interessieren, aber das funktionierte überhaupt nicht.“ (Lafrenz zit. in: Waage a.a.O., 29)
„Die Literatur, die Hans zu dieser Zeit las, strahlte eine ethisch-moralische Kraft aus‘, erzählt Traute. ‚Es waren einige sogenannte neokatholische Schriften, aber es handelt sich nicht nur um religiöse Literatur. In der ersten Zeit nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten waren alle politisch Oppositionellen verhaftet worden. Die Opposition, die übrig blieb, gründete sich auf Ethik und auf ein spirituelles Erleben der Welt [eine Perspektive, die scheinbar den kommunistischen Widerstand vollständig ausblendet – AM] … Doch mein Interesse galt der Anthroposophie, die mir trotz allem näher stand als der Katholizismus. Ich traf mich in dieser Zeit auch mit anderen Leuten; wir lasen Rudolf Steiners ‚Philosophie der Freiheit‘. Hans stand Steiner völlig fremd gegenüber.“ (zit. n. ebd., 58, vgl. auch Katrin Seybold: Katz und Maus).
“Dabei fällt mir ein, dass das, was uns als Einzelne während dieser Zeit am tiefsten anging, nämlich, wie jeder von uns ein aufrichtiges Verhältnis zum Christentum zu bekommen anfing, selten oder nie besprochen wurde.” (Traute Lafrenz in: Inge Scholl: Die Weiße Rose (1982), Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1992, 170 – ihr Bericht wird als einer der zuverlässigsten in der Literatur zur Weißen Rose gerechnet, vgl. Zankel a.a.O., 543)
Traute Lafrenz Erinnerungen an Stahls Unterricht werden aus anderen Quellen bestätigt. Verschiedene ehemalige Schüler haben v.a. die Betonung der Werte „Freiheit und Gewissen“ auf Grundlage eines patriotischen Geschichtsbewusstseins als charakteristisch für diesen Unterricht empfunden. Da war die Rede von einer „Erziehung zum Menschen, der sich selbst erkennt und sich selbst überwindet nach dem Vorbild des Georgsritters, der für das Gute streitet und das Böse besiegt“ (Belege bei Zankel a.a.O., 533). Diese etwas pathetischen Erinnerungen wurzeln in Stahls wohl deutlich artikulierter Abneigung von Personenkult, Uniformierung und Militarisierung (ebd.) und zeigten sich konkret etwa darin, dass Stahl ihre Schüler nach der Machtübernahme weiterhin mit „Guten Morgen, Herrschaften“ (statt „Heil Hitler“) begrüßte. Auf eine Ausstellung der Nazis zur „Entarteten Kunst“ reagierte die Kunsthistorikerin, indem sie mit ihren Schülern die Künstler der „Brücke“ und des „Blauen Reiters“ behandelte. Als sie für die Osterferien 1935 eine Klassenfahrt nach Berlin organisierte, um die Originalbilder dieser Künstler anzusehen, führte das zu ihrem Rausschmiss.
Die Lichtwarkschule, bei den Nazis als das „rote Mistbeet von Winterhude“ bekannt (vgl. Maria Krebs, Michael Verhohen: Die Weiße Rose. Der Widerstand gegen Hitler, Frankfurt 1982, 63), wurde 1937 „gesäubert“: Die Lehrer wurden entlassen und versetzt – Erna Stahl, wie erwähnt, schon zwei Jahre vorher –, die Schule selbst wurde aufgelöst. Stahl hielt aber Kontakt zu einigen ihrer ehemaligen Schüler. Schon vor 1935, aber von da ab über ein Jahr regelmäßig, fanden bei ihr wöchentlich private Treffen statt, die die Beschäftigung mit den angedeuteten Personen und Werken fortsetzten und erweiterten.
„Dort herrscht eine literarisch-philosophische Atmosphäre mit stark religiösen Akzenten und anthroposophischem Hintergrund. So liest man Texte der Bibel, die Gralssage, Dantes ‚Göttliche Komödie‘, Dichtungen der Romantiker oder des Expressionismus. Man befasst sich zugleich mit den Malern, die inzwischen zur ‚entarteten Kunst‘ gerechnet werden (Marc, Kandinsky).“ (Krebs/Verhohen a.a.O., S. 64 – Hervorhebung AM)
Vielleicht waren die dominanten anthroposophischen Elemente z.T. der Anthroposophin Hilde Meyer-Froebe zu verdanken, die 1924/25 in Wien mit Stahl studiert hatte, sie nach dem 2. Weltkrieg unterstützte und die Waldorfschule Rendsburg gründete. Stahl wurde aufgrund ihrer Verwicklungen mit den antinazistischen Tätigkeiten der Weißen Rose am 4.12.1943 von der Gestapo verhaftet. Wegen Vorbereitung zum Hochverrat, Feindbegünstigung, Wehrkraftzersetzung, Rundfunkverbrechen und „planmäßiger Verseuchung der Jugend“ wurde ihr der Prozess gemacht. Im April 1945 wurde sie mit einer Mitangeklagten von amerikanischen Truppen befreit. Auch Lafrenz war im März 1943 verhaftet worden. “Öde gleichförmige Tage, lange Nächte, jedes Klagen verbot sich von selber angesichts des Schicksals der sechs anderen.” (so Lafrenz im Erfahrungsbericht für Inge Scholl: Die Weiße Rose, a.a.O., 176).
Stahls heute bekannteste Hinterlassenschaft ist allerdings die zusammen mit Meyer-Froebe und Hilde Ahlgrimm gegründete Albert-Schweitzer-Schule Hamburg. Insbesondere im Rahmen dieses Blogs ist die Einrichtung bemerkenswert: Sie ist die einzige Schule, die explizit Waldorfpädagogik ohne Anthroposophie macht – und dadurch die einzige öffentliche Schule, die auf waldorfpädagogischen Grundlagen steht: Kein Sitzenbleiben bis Klasse 10, starke musisch-kreative Ausrichtung, Lernen mit „Kopf, Herz und Hand“. Dass es eine solche Schule gibt, wird in den affirmativen wie kritischen Publikationen zur Waldorfpädagogik gern übersehen. Waldorfkritiker, die sich das kritisierte Modell als ideologische Kaderschmiede imaginieren, halten Waldorfpädagogik ohne Anthroposophie für ebenso unmöglich wie viele Anthroposophen sie für karikiert und schädlich halten. In ihrer (unfreiwillig) prästabilisierten Harmonie haben diese einander so entgegengesetzten Diskutanten offenbar beide ihre Scheuklappen.
Karl Rössel-Majdan
Wie für Erna Stahl (vgl. Zankel a.a.O., 533) war auch für den österreichischen Anthroposophen in zweiter Generation, Karl Rössel-Majdan, das Motiv des Drachentöters St. Georg wichtig. Der Deckname Rössel-Majdans im politisch konservativen Widerstandskreis „Großösterreichische Freiheitsbewegung“ lautete Georg Michael, und unter diesem Pseudonym sollte er später Gedichte veröffentlichen. Im Hintergrund stand die anthroposophische Angelogie Rudolf Steiners, die den Erzengel Michael neben allerlei kosmologischen Spekulationen als Verteidiger des menschlichen „Ich“ deutete: „Wenn der Mensch die Freiheit sucht ohne Anwandlung zum Egoismus, wenn ihm Freiheit wird reine Liebe zur auszuführenden Handlung, dann hat er die Möglichkeit, sich Michael zu nahen…“ (Steiner: GA 26, 117). Schon im Elternhaus kam der Sohn eines in der Österreichischen Anthroposophischen Gesellschaft engagierten Sängers mit dem Steinerschen Gedankengut in Berührung. In einem (im Ganzen kritischen) Bericht der Zeitschrift Profil fasste Hubertus Czernin zusammen:
„Rössel war vom ersten Anschlusstag im Widerstand, er verweigerte den Hitlergruß, beschädigte eine Gedenktafel für die Dollfuß-Mörder, war dann in der legendären Gruppe Dr. Kastelic aktiv, wurde verhaftet, vom Volksgerichtshof zu zehn Jahren verurteilt. Sein Bruder wurde von SSlern totgeprügelt. Er selbst floh im Frühjahr 1945, kurz vor dem Einzug der Roten Armee, aus dem Lager Lohau – und dennoch fällt etwa dem früheren Leiter des Dokumentationsarchivs des Widerstandes, Herbert Steiner, zu Rössel nicht mehr ein als: ‚Er war eine positive Figur im Widerstand.'“ (Profil 47/1985)
Dasselbe Dokumentationsarchiv stellt online drei sehr detaillierte autobiographische Berichte zu den eben zitierten Tätigkeiten zur Verfügung, die ich hier aus Platzgründen nicht wiedergebe. Die idealistischen Motive Rössel-Majdans lassen sich dort (mit allen Tücken autobiographischer Memoirenliteratur) gut nachlesen. Hier seien vor allem organisatorische Details aufgelistet: Die „Großösterreichische Friedensbewegung“ gruppierte sich um drei Personen: den christlichsozialen Jacob Kastelic, den sozialistischen Journalisten Hans Schwendenwein und eben den „parteilosen Schriftsteller“ Rössel-Majdan. An der Universität hatten sich „unabhängige Studenten“ getroffen, es bildete sich eine Gruppe, die zu dem nach London emigrierten Juden „Dr. Hecht“ Kontakt hielt, 1938 fand im Hietzinger Café Wunderer ein Treffen des eben aufgezählten Trios statt. Decknamen wurden verabredet, Strukturen eingerichtet, in denen jeder Beteiligte nur zwei andere kennen durfte.
„Um diesen größeren Kreis bildete sich schon bald eine größere Gruppe, der unter anderem der Schriftsteller Günther Loch und als militärischer Berater Oberst Buchinger und Oberstleutnant Dr. Hans Blumental angehörten. Über den Ottakringer Arbeiter Rudolf Zetsche, den Rössel-Majdan kannte, wird die Verbindung zum sozialistischen Kreis um den alten Arbeiterführer Sever hergestellt.“ (Otto Molden: Der Ruf des Gewissens, München 1958, 76)
Weitere Aktivitäten folgten, vor allem aber begeisterte man sich für Vorstellungen einer vermeintlichen politischen Reorganisation Österreich-Ungarns nach dem Ende der Nazi-Diktatur. Im Sinne einer parlamentarischen Monarchie sollte der ‚Vielvölkerstaat Habsburg‘ reanimiert und nationalstaatliche Abgrenzung verschiedener ‚Ethnien‘ verhindert werden. Rössel-Majdan: „Wir waren der Ansicht, dass der Donauraum wieder eine Familie werden muss.“ (zit. in Erich Witzmann: Charakter zeigen (Salzburger Nachrichten, 26.10.1988), in: Anton Kimpfler (Hg.): Aufstand des Geistes gegen den Ungeist der Zeit. Zur Lebensarbeit von Karl Rössel-Majdan, Kiel 2002/3, 10). Unübersehbar waren die anthroposophischen Einflüsse: „Das neue, nach sachlichen Gesichtspunkten gegliederte Parlament sollte anstelle der einzelnen Parteien aus einem Staatsrat, einem Wirtschaftsrat und einem Kulturrat bestehen.“ (Witzmann ebd.), diese Entflechtung von Staat, Wirtschaft und Kultur ist der organisatorische Nucleus von Steiners Politentwurf für eine „Dreigliederung des Sozialen Organismus“.
So romantisch-regressiv man diese Vorstellung von der Überwindung des Nationalstaats finden kann, so tollkühn war doch Rössel-Majdans Aktionismus: 1940 wurde er eingezogen und an die Westfront geschickt und landete, von einem Granatensplitter verwundet, im Lazarett. Dort schlich er sich nachts nach draußen, um Truppenbewegungen zu registrieren und Bekannten zu vermitteln. Die Briefe wurden abgefangen und Rössel-Majdan vom Lazarettbett weg von der Gestapo verhaftet. Das Leben retteten ihm seine Notizen von einem Treffen verschiedener Widerstandsgruppen in der Hietzinger Prinz-Eugen-Straße. „Rössel-Majdan verzeichnete das Treffen in seinem Kalender, aber er schrieb bewusst das Gegenteil dessen auf, was tatsächlich gesprochen und verabredet wurde.“ (ebd., 11). Dieses Treffen war bereits aufgedeckt worden und der Volksgerichtshof wertete seine Berichte als unglaubwürdig, was ihm die Todesstrafe ersparte.
Nach 1945 bemühte sich Rössel-Majdans Vater zusammen mit Julius Breitenstein um den Wiederaufbau einer Anthroposophischen Gesellschaft in Österreich. Die Episode ist erwähnenswert, da ihm hier unerwartet Hürden in den Weg gelegt wurden. Ehemalige Mitglieder der AG zeigten sich „ängstlich“, und auch nachdem Rössel-Majdan junior vor der russischen Geheimpolizei vorgesprochen hatte, blieben sie der Anthroposophischen Gesellschaft fern. „Später erwies sich, dass manche von ihnen Mitglieder der NSDAP oder Mitläufer waren.“ (Wolfgang Peter: Falsche oder echte Freunde, in Kimpfler a.a.O, 42). Bald darauf wurde in Graz (englische Besatzungszone) eine neue, vom Dornacher Anthroposophenvatikan anerkannte Anthroposophische Gesellschaft gegründet, was zur Spaltung der österreichischen Anthroposophen führte. Rössel-Majdans Aktivitäten wurden systematisch zurückgedrängt, so dass er in der Anthroposophischen Geschichtsschreibung anscheinend einfach vergessen wurde – der Dornacher Archivar Uwe Werner soll sich noch zu Lebzeiten Rössel-Majdans bei diesem entschuldigt haben, dass er ihn in seiner Studie über „Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus“ (München 1999) kein einziges Mal erwähnt hatte. Auch an anderer Stelle geriet Rössel-Majdan in Konflikt mit der organisierten Anthroposophie. So begleitete er die Gründung mehrerer Waldorfschulen in seiner Heimatregion und handelte sich deshalb juristische Streitigkeiten mit dem „Bund der Freien Waldorfschulen“ ein, der die Namensrechte an „Waldorf“ innehat. Die Auseinandersetzung bezeichnete er ungnädig als „Sektenkrieg“: „Wir werden schauen, dass wir dieses Kartell auch in Deutschland abwürgen.“
Rössel-Majdans umfangreiche anthroposophische Aktivitäten waren aber nur eine Seite seines politischen Engagements. Neben Reisen nach Israel und in die USA legte er insgesamt drei Dissertationen vor (Dr. jur. 1939, Dr. phil. 1949, Dr. rer. pol. 1951), arbeitete beim Rundfunk und wurde vor allem durch seine Tätigkeit bei der „Gewerkschaft für Kunst, Medien und freie Berufe“ bekannt. Dort setzte er sich unter dem Motto „Kultur als dritte Kraft“ (neben Wirtschaft und Politik) weiterhin für die anthroposophische Dreigliederung ein. Wie Erna Stahl kommt Rössel-Majdan in der anthroposophischen Geschichtsschreibung praktisch nicht vor. Ob das auch daran liegt, dass sie eben nicht nur gegenüber dem Nationalsozialismus, sondern auch der anthroposophischen Orthodoxie opponierten, bleibt eine Spekulation, aber eine naheliegende.
Valentin Tomberg
Bei Tomberg trifft diese Spekulation allerdings in Schwarze. Während zu dessen Fans etwa Hans Urs von Balthasar oder Robert Spaemann zählen, rechnen ihn breite anthroposophische Kreise zu „jesuitisch“ motivierten Feinden der Anthroposophie, denn Tomberg, aus der Anthroposophischen Gesellschaft herausgeekelt, wandte sich schließlich der Katholischen Kirche zu. Im Alter von 25 Jahren und noch zu Lebzeiten Steiners war er Vorsitzender der Anthroposophischen Gesellschaft in Estland geworden. 1938, nach dem Verbot der deutschen Anthroposophischen Gesellschaft durch die Nazis, übersiedelte Tomberg mit seiner Familie in die Niederlande. Dort kam es zum Konflikt mit der Anthroposophischen Zentrale in Dornach. Im chaotischen Zustand der anthroposophischen Szene nach Steiners Tod konnte es nicht ausbleiben, dass der in religiösen Fragen umtriebige und keinesfalls linientreu anthroposophische Tomberg
“…bei Anthroposophen alsbald den Eindruck einer zu großen geistigen Selbstständigkeit erweckte. Dergleichen pflegt meist nicht ohne Spannungen und Missverständnisse abzugehen. Sollte dieser Mann spirituelle Ansprüche erheben und damit das Tun der von Steiner selbst ernanten ’esoterischen’ Vorstandsmitglieder [der Anthroposophischen Gesellschaft – AM] in den Schatten stellen wollen? … Für einen aus eigener spiritueller Erfahrung Schöpfenden, für einen (durchaus im Sinne Steiners) aktiven Selbstdenker schien in einer desolaten Anthroposophischen Gesellschaft kein Platz zu sein.” (Wehr: Spirituelle Meister, Kreuzlingen 2007, 242)
“In Tomberg und seinem Werk war eine spirituelle Autorität entstanden, die Steiners de facto monokratischen Geltungsanspruch als Hellseher in Frage stellte. Im Dezember 1933 wurde ihm im ‘Goetheanum’ die Kompetenz als authentischer Interpret Steiners abgesprochen, Marie Steiner blies 1936 zum ‘unvermeidlichen Kampf’ gegen den ‘wahnbefangenen okkulten Lehrer’ und betrieb seinen Ausschluss aus der Anthroposophischen Gesellschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg soll es, so Martin Kriele, ein Verbot gegeben haben, Tombergs Bücher in den Zimmern der Studenten im Priesterseminar der Christengemeinschaft aufzubewahren, und noch 1995 wurde dem inzwischen Verstorbenen vorgehalten, er habe ‘Schmeichelei und Dolchstich mit jesuitischer Raffinesse’ gehandhabt und sei ‘in das Lager [der] unerbittlichsten Erzfeinde der Anthroposophie, also der katholischen Kirche, gewechselt, so dass sein Verhalten ‘nicht anders denn als geistiger Verrat bezeichnet werden’ könne. Diese Position wird heute längst nicht mehr von allen Anthroposophen geteilt [Tombergs Werk steht zB in der Bibliothek am Goetheanum direkt bei den anthroposophischen Periodika, vor allem im ehemals Schaffhausener Novalis-Verlag werden viele „Tombergianer“ vermutet – AM]. Aber diese Polemik legt das Konfliktpotential in dem Anspruch offen, Steiner gleich in die verborgene ‘übersinnliche’ Welt einzutreten.” (Zander a.a.O., S. 727)
Bis zur deutschen Besatzung der Niederlande arbeitete Tomberg im estnischen Vize-Konsulat in Amsterdam, danach hielt er sich mit Sprachunterricht über Wasser. Bekannt ist sein Austausch mit Ita Wegman und Elisabeth Vreede, zwei der wenigen Anthroposophinnen, deren unzweideutige Ablehnung des Nationalsozialismus leidlich sicher dokumentiert ist. Die genauen Tätigkeiten Tombergs im Widerstand sind dagegen leider nur spärlich überliefert, weder in der positiven noch ablehnenden Literatur sind Einzelheiten zu finden, wenn auch nirgendwo bestritten wird, dass es diese gab. Exemplarisch für diese relativ vage Literatur sei Gerhard Wehr zitiert, “…dass er den Nationalsozialismus kompromisslos ablehnte und er dies während der deutschen Besatzung in den Niederlanden auf der Seite des Widerstandes auch durch die Tat bewies.” (Wehr a.a.O., 242f.). Die einzige Ausnahme ist Wolfgang Garvelmann, selbst nicht unumstrittener Anthroposoph, der Tomberg 1944/45 kennenlernte. Nach Garvelmann half Tomberg, abgeschossene englische Flieger zu verstecken und zum Ärmelkanal zu schleusen (Wolfgang Garvelmann: Valentin Tomberg – ein Versuch, ihm gerecht zu werden, in: info3, 5/1988, S. 6, vgl. Elisabeth Heckmann: Valentin Tomberg. Leben – Werk – Wirkung: Eine Biografie, Schaffhausen 2001, 380f., die ebenfalls Garvelmann zitiert).
Spärlich sind auch die Informationen über den Einfluss von Tombergs im Widerstand geknüpften Kontakten auf seine “innere” Biographie, seine weltanschauliche Entwicklung. Fest steht, dass es Freundschaften mit katholisch gläubigen Widerständlern gab, von denen einige mit dem Leben für ihre Tätigkeit bezahlten (Heckmann a.a.O., 377). Hatte Tomberg der Katholischen Kirche nach anthroposophischem Konsens anfangs sehr kritisch gegenüber gestanden, äußerte er sich 1942/43 fast kryptisch in seinem “Vater-Unser-Kurs”, in dem er sich auch unmissverständlich gegen den Nationalsozialismus als verstandesvernebelnde “Überschwemmung” und Verlust humaner Werte geäußert hatte, positiv über die Rolle der Katholischen Kirche. Tomberg beschwor, die natioanlsozialistische “Überschwemmung” der “Seelen” könne nur durch inneren, persönlichen Widerstand, überstanden werden, durch
“das Bauen einer Arche … alle Kulturwerke und Wahrheiten im Extrakt sammeln und bewahren. Unausgelöschte Erinnerung an alles Wesentliche des Wahren und Guten. Das ist das Schwimmzeug, um nicht zu ertrinken.” (zit. n. ebd., 375),
In diesem Zusammenhang sprach Tomberg neben einem “esoterischen”, “johanneischen”, verborgen wirkenden “innerlichen” Christentum anerkennend von der „in der Gegenwart gegen das Böse kämpfende[n] katholische[n] Kirche” – wohinter sich weniger eine Wertschätzung römischer Ideenpolitik als vielmehr sein Kontakt zu aufrichtig antinazistischen Katholiken spiegelt (ebd., 377). Nach seinem unsanften Rausschmiss aus der Anthroposophischen Gesellschaft trat er schließlich 1942 nach sorgfältiger Überlegung in die Katholische Kirche ein, von deren spiritueller Kraft er seit dieser Zeit überzeugt war. Die Nachwirkungen seiner Rettungsversuche abgeschossener englischer Piloten zeigten sich erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs:
“Als ausländischer Akademiker in Diensten der britischen Streitkräfte erhielt Tomberg den Rang eines Offiziers sowie eine entsprechende Uniform. Beides kennzeichnete ihn nach außen hin als Engländer, auch wenn er eigentlich Este und nach der sowjetischen Annexion seines Heimatlandes staatenlos war. Von den Mülheimern wurde er jedoch als britischer Offizier wahrgenommen und dementsprechend mit respektvoller Distanz behandelt … Da Tomberg neben Russisch auch schon früh die deutsche Sprache erlernt hatte und diese hervorragend beherrschte, übernahm er für den stellvertretenden Mülheimer Stadtkommandanten William (“Billy”) Reynolds Dolmetscheraufgaben. Zudem sollte Tomberg auf Wunsch von Reynolds in die Umerziehungsmaßnahmen der Engländer, die sogenannte “reeducation”, miteinbezogen werden. Diese Maßnahmen zielten auf die demokratische Neuorientierung (“reorientation”) der deutschen Bevölkerung und bezogen sich somit im Wesentlichen auf das Schul- und Bildungswesen … Tombergs Wirken in Mülheim machte ihn über die Stadtgrenzen hinaus bekannt und brachte ihm zunehmend Vortragsanfragen aus anderen Städten ein. Die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule (RWTH) in Aachen bot ihm im Herbst 1946 sogar einen Lehrauftrag für “Ethik und Recht” an.” (Jens Roepstorf: Valentin Tomberg)
Deutschtum und Deutschtum
Tombergs Einbindung in Entnazifizierungskommissionen allein ist allerdings kein politischer Persilschein: Einer seiner Bekannten, der Anthroposoph Ernst von Hippel, widmete sich als Juraprofessor in der Naziära leidenschaftlich der „Entjudung“ der Universitäten (vgl. Peter Bierl: Wurzelrasen, Erzengel und Volksgeister (1999), Hamburg 2005, 186f., 198f., Peter Staudenmaier: Between occultism and fascism: Anthroposophy and the politics of race and nation in Germany and Italy, 1900-1945, Connell University 2010, 268ff.) auch wenn seine eigenen Bücher teilweise auf den Verbotslisten der Nazis standen (Uwe Werner a.a.O., 249). Später gehörte Hippel ironischerweise zum Entnazifizierungsausschuss der Universität Köln (Bierl a.a.O., 198). Zu seinem 70. Geburtstag erhielt er das Bundesverdienstkreuz (ebd., 199). Genau wie der Jurist Rössel-Majdan beschuldigte Hippel vor allem den Rechtspositivismus und namentlich Hans Kelsen, durch seine „geistlose“ Rechtsphilosophie dem Nationalsozialismus Tür und Tor geöffnet zu haben. Der jüdische Jurist Kelsen wurde von den Nazis natürlich in keiner Weise hofiert, 1934 in den „Ruhestand“ versetzt und musste emigrieren.
Tomberg selbst, vor allem an Steiners christologischen Entwürfen interessiert, entkam den antijudaistischen Implikationen der anthroposophischen Geschichtstheorie weitgehend und bezog sich etwa positiv auf die Idee des Volkes Israel.
“Sie haben 7000000 Juden ermordet. Das Ergebnis? Ein neues Volk Israel ist entstanden. Das sind wir, wir alle – Sie und ich und unsere Kinder und Sasche Benckendorf und Popescu und Anghelatos und jene Polen mit abweisenden Gesichtern – wir alle sind ein einziges Volk. Unser Land ist unsichtbar und unser Weg ist ohne Wegweiser und ohne Spuren von Menschenfüßen, denn niemand ist uns voraus gegangen. … Wir stehen äußerlich unter dem zufälligen Gesetz dieses oder jenes Landes, aber unser wahres Gesetz ist, dass wir alle eins sind, ohne Worte, ohne Vorträge, ohne Konferenzen. Jeder allein für sich – wir gehen durch die Wüste. Denn wir haben keine Heimat…” (zit. n. Heckmann a.a.O., S. 312f.)
Und doch schlug das anthroposophische Rassedenken auch bei ihm zu: Die Mutter des in St. Petersburg geborenen Tomberg wurde in den Wirren der Oktoberrevolution 1918 erschossen, Tomberg ging daraufhin nach Estland. Eine ähnliche Biographie hatte auch dem zeitweiligen Anthroposophen und nachherigen (bekennend nationalsozialistischen) Steinergegner Gregor Schwartz-Bostunitsch zum Befürworter antibolschewistischer Argumentationen gemacht (vgl. Goodrick-Clarke: Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Wiesbaden 2004, 149). Auch Tomberg war überzeugt, im Kommunismus dämonische Kräfte zu erkennen. In mehreren Aufsätzen aus dem Jahr 1931 wandte er sich in der Zeitschrift „Anthroposophie“ gegen böse geistige Mächte, die in seiner Phantasie an der Unterwanderung Osteuropas durch antichristliche Gedanken aus Fernost arbeiteten (vgl. Tomberg: Das Chinesentum und der europäische Osten, in: Anthroposophie 2/1931, 49-51).
Aus dem Denken von Traute Lafrenz, Karl Rössel-Majdan und Erna Stahl sind mir solche völkerpsychologischen Abwertungen nicht bekannt. Bei den letzten beiden findet sich allerdings ein affirmativer Bezug auf Deutschland. So begründete Erna Stahl ihre antinazistischen Ambitionen u.a.:
“Hinzu kommt, dass ich zutiefst überzeugt war von der verheerenden, nie wieder zu reparierenden, dämonischen Vernichtung aller eigentlich menschlichen und besonders der Deutschen Seelenkräfte [im Nationalsozialismus – AM]. Ich machte mir zur Pflicht, in den Kreis, in den ich gestellt war, zu jeder Minute und mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln zu wirken, dass innere Gegengewichte in den Schülern gegen jene verheerenden Wirkungen entwickelt würden.” (Erna Stahl zit. n. Zankel a.a.O., 532)
Und Rössel-Majdan berichtete:
„Im Gestapo-Verhör die Frage: ‚Sie waren nicht Marxist, sie sind arisch, warum sind Sie gegen uns?‘ Meine Antwort kam prompt: ‚Aus meinem Deutschtum, weil Goethe und Schiller und der deutsche Humanismus gerade das Gegenteil von dem ist, was Hitler vertritt.'“ (zit. n. Witzmann a.a.O., 8)
Diese Erzählung mag stimmen oder nicht, sie entspricht recht exakt dem „Deutschtum“, das in anthroposophischen Kreisen gern gegen das nationalsozialistische abgehoben wird:
„Nicht jener gefährliche Nationalstolz der Nazis war damit gemeint, der die Welt in Flammen gesetzt hatte, sondern das gerade Gegenteil, die geistige Wiege genialer Geister wie Schiller, Goethe und Fichte … und nicht zuletzt Rudolf Steiners. Jedes Volk, und sei es noch so klein und politisch unbedeutend, hat seinen Beitrag zur Menschheitskultur zu leisten.“ (Wolfgang Peter, ebd., 3)
In dieser Verflechtung von Völkerpsychologie und Universalismus liegt der Schlüssel, um das Verhalten von Anthroposophen im Nationalsozialismus zu verstehen. An Steiners esoterische „Mission“ Deutschlands ließ sich sowohl im pronazistischen Sinne anknüpfen als auch die Bekämpfung des Faschismus fordern. In vielleicht noch stärkerer Weise war dies im italienischen Faschismus möglich, wo AnthroposophInnen lange Zeit unbehelligt blieben: Hier gediehen üble Rassismen und waren politische Anthroposophen an der Judenverfolgung beteiligt – und doch gleichzeitig Steiner im Widerstand präsent, wie Peter Staudenmaier enthüllte:
“Fascist anti-esoteric measures were a potential danger to anthroposophy, not least because several anthroposophists were involved in antifascist activities. Violet Gibson, the eccentric Anglo-Irish aristocrat who tried to assassinate Mussolini in 1926, traveled in theosophical and anthroposophical circles. Antifascist author and literary figure Armando Cavalli was an anthroposophist, and Eugenio Curiel, a prominent figure in the antifascist resistance, was for a time drawn to anthroposophy as well. Curiel (1912-1945), a physicist from a Jewish family in Trieste, played an important role in Resistance groups in the late 1930s and 1940s. He was murdered by Fascist soldiers in February 1945. In the early 1930s Curiel was deeply influenced by anthroposophical ideas. His commitment to anthroposophy, lasting approximately three years, was part of a turbulent ideological and political development … Alongside Colonna di Cesarò, Curiel’s ideological trajectory indicates the political volatility of anthroposophical engagement in the Fascist era … Briamonte argues that Curiel’s early dedication to Steiner left significant traces in his later thought. Though Curiel’s adherence to anthroposophy was transitory, it was not an anomaly in antifascist circles; Briamonte, 126 quotes a 1944 correspondence between two young antifascists interested in anthroposophy.” (Staudenmaier: Between S. 417f.)
Mein Artikel beansprucht kein abschließendes Urteil zu diesem Thema. Die Darstellung zu den Aktivitäten der Weißen Rose ist beispielsweise unzulässig verkürzt und Valentin Tombergs weltanschauliche Kehren wären ein völlig eigenes Kapitel. Hier ging es darum, die bisher publizierten Fakten zum Thema zusammenzutragen und dabei hoffentlich Fragen aufzuwerfen. Welche Rolle spielte zum Beispiel die erwähnte Anthroposophin Hilde Meyer-Froebe für Erna Stahl? Wie begründete Stahl ihre Rezeption anthroposophischer Praxis bei gleichzeitiger Umgehung der ideologischen Grundlagen? In welchem Personenkreis las Traute Lafrenz Steiners „Philosophie der Freiheit“? Wie kam Valentin Tomberg in Kontakt mit dem Widerstand? Spielte Steiners Dreigliederungskonzept wirklich eine Rolle in der für gewöhnlich katholisch eingestuften Großösterreichischen Friedensbewegung oder liebäugelte allein Rössel-Majdan damit? Warum sind die vier hier vorgestellten Personen in der anthroposophischen Literatur zum Thema fast durchweg unauffindbar?
Die Geschichte der Anthroposophie im Nationalsozialismus muss nicht umgeschrieben werden. In keinem Fall dürfen diese (wenigen) Figuren im Umfeld des Widerstands als Ablenkung vom Verhalten vieler profaschistischer Anthroposophen instrumentalisiert werden. Interessant sind sie vielleicht vor allem, um die beträchtlichen Differenzen im „Deutschland“-Bild esoterischer Strömungen des 20. Jahrhunderts aufzuzeigen, und auch den deutschen Pathos bei vielen Widerständlern (Stichwort: Stauffenberg). Die Steinersche Version davon machte viele Anthroposophen zu „nützlichen Idioten“ der NS-Ideologie, konnte sich aber auch zu einer Konkurrenz und Bedrohung derselben auswachsen, nicht nur im Falle der anthroposophisch motivierten Widerständler:
„[Steiner] hatte es bereits geschafft, sich bei den Unterstützern eines organischen Nationalismus unbeliebt zu machen, indem er in der Frühzeit des Ersten Weltkrieges eine Lehre der ‚Volksseele‘ vorgetragen hatte. Die britische Volksseele sei – natürlich – ein Ausdruck des puren Materialismus, die deutsche allein kommuniziere unmittelbar mit dem Geist. Das war ein weiteres unbefugtes Eindringen in die geheiligten Gefilde der völkischen Orthodoxie. Eckart sah Steiner als Internationalisten und Kommunisten an – und daher als einen verschwörerischen Juden, der mit dem Hass der ‚Erleuchteten‘ auf seine zurückgewiesenen Genossen übergossen werden musste.“ (James Webb: Das Zeitalter des Irrationalen (1976), Wiesbaden 2008, 340)