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Steiner auf der Siegessäule
Vorwort AM – In diesem Fall mit ausdrücklicher Leseempfehlung der Artikel eines anthroposophischen Autoren: von Ramon Brüll, Geschäftsführer der Frankfurter Zeitschrift Info3. Diese Rezension erscheint in der März-Ausgabe von Info3, die auch als kostenloses Probeheft verfügbar ist.
Brüll zerpflückt eine neue 2000-seitige Rudolf Steiner-Biographie des Autoren Peter Selg als „Restauration eines Heiligenbildes“, „der Doktor“ stehe „wieder da, wo er hingehört – auf seinem Sockel.“ Streiten kann man über das „Ansehen Rudolf Steiners in der Öffentlichkeit“ – aber der Artikel zeigt mehr als die (schlechte) Qualität einer neuen Steiner-Biographie: Es ist ein Dokument zur inneren Diversität der anthroposophischen Szene. Der Kampf darum, wie das Werk des Anthroposophie-Gründes Steiner zu lesen und zu verbreiten sei, wird dort vielleicht gerade neu entschieden.
von Ramon Brüll
Peter Selgs neue Steiner-Biographie bemüht sich über 2.000 Seiten um die Restauration eines Heiligenbilds. Das ist nicht nur unwissenschaftlich, es bleibt auch weit hinter dem Stand der Diskussion zurück und schadet dem Ruf der Anthroposophie.
Dieses Werk ist Restauration. Diejenigen Anthroposophen, für die Steiner immer schon unfehlbar, seine Arbeit widerspruchs- und sein Leben tadellos war, werden über das Erscheinen der drei Bände jubeln: 2.000 Seiten Salbe für die geschundenen theosophischen Seelen, die Zurechtrückung ihres Weltbildes aus berufenem Munde. Endlich beschreibt einer den wahren Steiner, so wie „wir“ ihn immer schon haben wollten. Der Doktor steht wieder dort, wo er hingehört – auf seinem Sockel. Denn, wir wissen doch, das einzig Tragische im Leben Rudolf Steiners war sein früher Tod, und, vielleicht, die fehlende Anerkennung von Seiten seiner Zeitgenossen. Aber daran waren natürlich diese selber schuld.
Was Peter Selg mit seiner neuen Steiner-Biographie in Wahrheit leistet ist mehr als nur die Restauration eines Heiligenbildes. In seinen Augen steht Steiner hoch erhoben über dem gemeinen Volk der zeitgenössischen Denker. Nicht auf einen Sockel erhebt ihn Selg, sondern höher noch: auf eine Siegessäule. Das dürfte aus der Sicht der genannten, zahlenmäßig nicht ganz unerheblichen Fraktion innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft unerlässlich gewesen sein und wäre harmlose Nahrung für die Gemeinde, wäre da nicht noch die Öffentlichkeit. Im Kulturleben, im Wissenschaftsbetrieb, in den Feuilletons der ernstzunehmenden Medien ist im 21. Jahrhundert kein Platz für einen Heiligen (und war es auch im 20. Jahrhundert nicht), und wenn einer als solcher vorgeführt wird, erscheint er schlicht unglaubwürdig. Mit der Veröffentlichung seiner „Lebens- und Werkgeschichte“, so der Untertitel, disqualifiziert Selg sich als Wissenschaftler. Und schadet, was schlimmer ist, der Akzeptanz Rudolf Steiners in der Öffentlichkeit.
Unseriöse Auslassungen
Nehmen wir etwa das Geburtsdatum. Laut Selg wurde Rudolf Steiner am 27. Februar 1861 geboren. Dass es widersprüchliche Angaben dazu gibt, dass Steiner selbst ein anders Datum nennt als in den amtlichen Dokumenten vermerkt, davon erfährt der Leser kein Wort. Es wäre ja fatal, wenn die Geburt eines Unfehlbaren nicht zweifelsfrei feststünde. Dass Selg die Problematik kennt, aber verschweigt, ergibt sich aus einer Fußnote, die auf einen Beitrag aus Das Goetheanum hinweist, wo eine heftige Debatte, mit (beiderseits) stichhaltigen Argumenten für den 25. oder 27. Februar geführt wurde. Warum sich Selg für das spätere Datum entscheidet, erfährt man ebenso wenig, wie die Tatsache der geführten Diskussion. Das ist unseriös. Ähnlich wie der handfeste Streit um den Verbleib von Steiners Urne nach der Kremation, den Selg nicht erwähnt . „Allzumenschliches“ wollte Selg nach eigener Angabe nicht behandeln. Bei diesem Streit ging es aber nicht vorrangig um ein Eifersuchtsdrama (obwohl es das auch war), sondern um erste Anzeichen einer tiefen Kluft durch die Anthroposophische Gesellschaft.
Warum fehlt, um ein sehr viel früheres Beispiel zu nennen, die Ambivalenz Steiners zum Judentum? Warum erwähnt Selg mit keinem Wort die Hamerling-Besprechung, die Steiner fast die Freundschaft mit Ladislav Specht gekostet hat, in dessen Familie er Hauslehrer war? Stattdessen finden wir in Bezug auf das Judentum ein einziges Zitat von Lorenzo Ravagli, das Steiners unumstößliche Ablehnung jeglichen Antisemitismus belegen soll. Warum kommt die ganze problematik rassistischer Aussagen Steiners nicht einmal als Fragestellung vor?
Jede Klippe umschifft
Warum wird die Dramatik um die Umbenennung des Goetheanum-Bauvereins am 8. Februar 1925, kurz vor Steiners Tod, nicht erwähnt, obwohl sie jahrelang die Gemüter bewegt hat, bis die Wahrheit ans Licht kam und die endgültige Zunichtemachung der mit der Neugründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft verbundenen Sozialgestalt nicht mehr zu vermeiden war? Peter Selg umschifft jede Klippe, die das idealisierte Steinerbild, oder, wie er es nennt, die „innere Kontinuität einer unvergleichlichen Lebensarbeit“ ankratzen könnte. Dazu passt natürlich auch, dass die rätselhafte Verehelichung Rudolf Steiners mit seiner Hauswirtin Anna Eunike ebenso wenig auffindbar ist wie die Entfremdung der beiden voneinander, als Steiner in theosophischen Kreisen und insbesondere bei Marie von Sivers Gehör fand.
Vielleicht sind diese „allzumenschlichen“, aber für eine Biographie selbstverständlichen Gegebenheiten irgendwo im Kleingedruckten versteckt. Leicht auffindbar sind sie jedenfalls nicht. Ein Personenregister fehlt. Das Inhaltsverzeichnis ist extrem grobmaschig und wenig hilfreich, wenn die Leser konkreten Fragestellungen nachgehen wollen. Zum Schluss dachte der Rezensent, dann wenigstens im Literaturverzeichnis nachschlagen zu können, welche Quellen Selg zu Rate gezogen hat – und fand dort ausschließlich eine Auflistung der Bände der Rudolf Steiner Gesamtausgabe! Damit erfüllt das Werk nicht einmal formal wissenschaftliche Kriterien und bleibt weit, sehr weit hinter dem Stand der Diskussion über die Bedeutung des Gründers der Anthroposophie zurück. Dies ist kein Beitrag „für die Zukunft der anthroposophischen Bewegung“, wie Selg seine umfangreiche Arbeit verstanden wissen will, sondern ein Bärendienst für die Rezeption des tatsächlich unvergleichlichen Lebenswerkes Rudolf Steiners.