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Anthroposophische Reformation II, oder: Bis zur Unkenntlichkeit… und noch viel weiter
„Was ist es übrigens, das die Meisten an der Materie so beleidigt, daß sie dieselbe so gar geringer Herkunft achten? … Gerade diese Unflaßlichkeit, dieses thätliche Widerstreben gegen alles Denken, dieses aktive Dunkel, diese positive Neigung zur Finsterniß musste sie [die Philosophie] zu ihrer Erklärung machen. Aber lieber wollte sie das Unbequeme ganz auflösen in Verstand oder auf irgend eine Weise in Vorstellung. Ein jeder, der dies tut … läugnet die Realität an sich und heißt mit Recht (in der gemeinen Bedeutung des Wortes) Idealist.“
– Schelling: Die Weltalter. Urfassungen (1811), München 1946, 46, 50f.
Weitere Überlegungen zur Transformation des anthroposophischen Komplexes im 21. Jahrhundert, zu Christian Clements Versuch einer Steiner-Rehabilitierung sowie zur liberalen Anthroposophie.
Atlantis im Astralen
Während die anthroposophische Scheibenwelt munter weiter rotiert, hat mein Blog leider länger pausiert. Auf Facebook habe ich zwischenzeitlich immer wieder Beiträge von Michael Eggerts „Egoistenblog“ geteilt, der vermutlich die informativste Diskussionsplattform zur Anthroposophie im deutschsprachigen Internet darstellt. Die „Egoisten“ kann man insgesamt der liberal-anthroposophischen Spielart zuordnen, was nicht heißt, dass dort Anthroposophie light betrieben würde. Zu beobachten sind vielmehr ganz konkrete Neujustierungen – von denen ich eine gleich zum Ausgangspunkt diverser Überlegungen machen möchte. Eggert ist aber vor allem einer der wenigen, die auch die rechten und verschwörungstheoretischen Ausläufer der anthroposophischen Szene kritisch im Blick behalten – so spottet er über Daniele Ganser und hat dem anthroposophischen Faschisten Rüdiger Keuler mehrere Artikel gewidmet. Viele Irrwege der zeitgenössischen Anthroposophie finden abgesehen vom „Egoistenblog“ kaum kritische Aufmerksamkeit. Neulich folgte eine Kritik Eggerts an dem Anthroposophen Andreas Delor, der versucht, die geologisch-spirituelle Existenz von Atlantis zu beweisen. Zweikommafünf Methoden, um sich bereit zu machen, an Hellseher zu glauben titelt Eggert Polemik. Interessanterweise werden darin zwar Delors Allianzen mit jüngerer esoterischer „Atlantisforschung“ demontiert. In den Kommentaren gibt Eggert jedoch eine ganz eigene Variante des anthroposophischen Atlantismythos preis. An ihr lässt sich studieren, wie sich Eggerts Kritik am breiten Spektrum des anthroposophischen Aberglaubens mit seinen eigenen esoterischen Überzeugungen vermittelt. Das sei hier nicht festgestellt, um sich darüber lustig zu machen, sondern weil sich daran wiederum die modernisierende Transformation theosophisch-anthroposophischer Themenkomplexe insgesamt griffig illustrieren lässt. Was Steiner, Delor und Co als physisch-geistige Evolution imaginieren, sei, so Eggert letztlich, eigentlich gar nicht materiell, sondern auf der „Astralebene“ abgelaufen und entsprechend nicht durch exoterische Quellen zu be- oder widerlegen. Auf diese Weise ins Unsichtbare verlagert, kann der okkulte Befund nicht mehr in Konflikt mit dem naturwissenschaftlichen geraten:
„Ich sehe keinerlei Widersprüche zwischen Wissenschaft und Steiner, da letzterer mAn eine ganz andere Perspektive hat. Vieles scheint datierbar- etwa der große Gesamtkontinent dort, wo Steiner Lemurien verortet. Aber was “Menschsein” unter diesen Bedingungen betrifft, so schildert Steiner Ereignisse auf der Astralebene. Für ihn beginnt – die gesamte Evolution bejahend- Menschsein im engeren Sinne erst da, wo Selbstbewusstsein entsteht. Das meint er dann mit “Physischwerden” am Ende der Atlantis: Das Selbstgefühl schritt bis zum Körperlichfühlen voran. Alles vorher ist eine Sache auf der Astralebene, die parallel, und immer wieder mit Berührungspunkten, zur geologischen und humanen Entwicklung verläuft. Die Welt, in der man sich aus dem in der Luft schwimmendem Lebensstoff ernährt, ist keine irdische, sondern himmlische.“
Das macht deutlich, wie sich Anthroposophie durch relativ geringfügige Umschreibungen von Steiners Evolutionsschilderungen aktualisiert.
Kein Äther im Karbongestein
Ein anderes Beispiel wäre der anthroposophische Evolutionsbiologe Wolfgang Schad, der in einem Sammelbandbeitrag von 2011 eine genau umgekehrte Neuinterpretation vornahm. In Steiners Weltbild hat sich die Erde aus “übersinnlichen” Welten heraus erst zu ihrer heutigen Gestalt verdichtet, was er mit zahlreichen pittoresken Details anreicherte. So meinte Steiner, wie Schad ausführt, “dass die Pflanzen der Karbonzeit keine physischen Pflanzen gewesen seien, sondern, was so aussieht, seien nur hauchartige Eindrücke von Ätherwirkungen [sprich: “übersinnlich”-subtilen “Lebenskräften” – AM] in einem undifferenzierten Kohlebrei.” (Schad in Uhlenhoff: Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart, 156, vgl. Steiner: GA 300). Das kann und muss Schad als Evolutionsbiologe kritisieren:
“Wer selbst einmal im Karbongestein Pflanzenfossilien gesammelt hat, kann sich leicht davon überzeugen, dass es sich einst um reale, physisch lebendige Pflanzenfossilien gehandelt hat. Im Mikroskop ist die Zellstruktur der Pflanzengewebe noch gut zu erkennen … auch schon fossile Amphibien und erste Reptilien sind aus dem Karbon gut bekannt.” (ebd.)
Schad wirft Steiner so wenig über Bord wie Eggert dies tut, vielmehr werden die hellsichtigen Schilderungen jeweils so gut als möglich an die vorhandenen exoterischen Erkenntnisse angepasst. Beide verfolgen jedoch unterschiedliche Taktiken. Der eine plädiert angesichts der krausen Produkte pseudo-empirischer „Atlantisforschung“ für mehr Vergeistigung, der andere weiß um die Tücken gerade des spiritualistischen Reduktionismus. Religions- und ideengeschichtlich sind solche Neuinterpretationen freilich nichts Ungewöhnliches, sondern Alltag im permanenten historischen Wandel. Schon Steiners Evolutionsgeschichte ist ein Versuch, vorgefundene okkulte Doktrinen derart zu modifizieren, und zwar eher nach dem Modell Eggert als nach dem Modell Schad. Das lässt sich an seiner Rassenlehre zeigen. Die Adyar-Theosophie, deren zentraler Mythos eine ständige Höherentwicklung ist, hatte verschiedene Evolutionsstufen diversen sog. „Wurzelrassen“, „Zweigrassen“ und „Unterrassen“ zugeordnet, die einander in einem historischen Staffellauf als Akteure des Fortschritts ablösen. Steiner führte ab etwa 1906 eine Neufassung ein: Seiner Ansicht nach könne man erst auf Lemuria bzw. (später nur noch) Atlantis von echten „Rassen“ reden, weil der Mensch erst dort einen tatsächlich physischen Leib annehme (Steiner datiert dies also weit, weit früher als Eggert). Es sei, so Steiner, eine theosophische „Kinderkrankheit“, anders als physisch beschaffene Evolutionszustände mit dem Rassebegriff zu belegen. Steiners Einschränkung des theosophischen Rassebegriffs versuchte, Rassentypologie und Entwicklungsbegriff partiell zu entflechten, was am Ende dazu führte, dass Steiner das vor-evolutionäre Rassenschema Blumenbachs (Äthiopier, Malayen, Mongolen, Europäer, Amerikaner) aufgriff und die Evolutionsphasen, wenn auch inkonsequent, in „Kulturepochen“ umbenannte. (vgl. dazu Rassismus und Geschichtsmetaphysik, 52-98) Eggert wiederum, der sich von Steiners Rassismus sehr deutlich abgrenzt, könnte nun eben antworten, Steiner habe astrale mit körperlichen Zuständen verwechselt und prähumanoide astrale Formen, was auch immer das sein sollte, mit seinen geliebten Weißen usw. – keine Ahnung, ob er das auch tatsächlich tun würde.
Auch wenn derlei interpretative Verschiebungen theosophischer Doktrinen historisch nicht überraschen: Religionsphilosophisch ist die Sache komplizierter – die ständigen Modifikationen der anfänglichen Konzeption des Absoluten sprechen eher gegen als für dieses Absolute. Nach der berühmten „Gärtnerparabel“ stirbt Gott den „Tod der tausend Qualifikationen“, da permanente Falsifikationen und reaktive Neuformulierungen nichts als die Vergeblichkeit solcher Fixierungen kundtun. Der Ausgangspunkt wird durch die tausend Qualifikationen bis zur Unkenntlichkeit verflüchtigt. Ganz abgesehen davon, dass schon die theosophisch-anthroposophische Evolution der Rassen und Kulturen in ihrer Ausgangsform nicht eben durch in- oder externe Plausibilität zu glänzen vermag.
Apologetik, Polemik und Religionismus: Christian Clement
Von diesem Problem her lässt sich die Herangehensweise Christian Clements verstehen, der, obwohl er selbst kein Anthroposoph, sondern eher akademischer Steiner-Sympathisant ist, die radikalste Variante liberaler Anthroposophie auf den Markt geworfen hat – und zwar in der von ihm herausgegebenen „SKA“ (vgl. Die Mystik im Aufgang, Anthroposophische Erkenntnisschulung), der ersten kritischen Ausgabe der Hauptwerke Steiners. Übrigens publiziert auch Clement auf Michael Eggerts Blog und hat sich dort in kurzer Zeit als einer der interessanteren Autoren etabliert. Seine Einträge betreffen meist Sujets aus dem Kontext „SKA“. Ich nutze die Gelegenheit, um Clements zwischenzeitlich erhobenem Vorwurf zu widersprechen, Helmut Zander, Hartmut Traub und meine Wenigkeit würden ihn kritisieren, weil er Anthroposoph sei oder eine ideologische Nähe zur Anthroposophie habe. Die beiden anderen mögen tun, was sie wollen: Ich plädiere dafür, Clements Steinerdeutung als Ausdruck der Säkularisierung und Diffusion des Steinerschen Denkens in einem postmodernen Wissenschaftsbetrieb zu sehen, der alles diskutierbar macht. Der voluntaristische Konstruktivismus, den er Steiners Weltenbauerei nach 1900 zuschreibt, ist selbst Ausdruck davon und ermöglicht zugleich eine zeitgemäße Relativierung der Anthroposophie. Das ist ideologisch, aber aufgrund eines speziellen inhaltlichen Verhältnisses zu Steiners Doktrin, nicht weil es dieser besonders nahe stünde (das ist gerade nicht der Fall).
Dass Steiners Bücher inzwischen nach ganz normalen wissenschaftlichen Standards in einem wissenschaftlichen Verlag ediert werden, gilt natürlich, aber albernerweise allenthalben als bösartiger Betrug, hat Clement anthroposophischerseits alle möglichen wutschäumenden Reaktionen und üble Kampagnen eingebracht. Selbst Wissenschaftlern wie Helmut Zander und Peter Staudenmaier fällt derweil allerdings nichts besseres ein, als Clement anthroposophische Deutungsmuster nachzutragen, während dessen spezifische (und eben konkret zu kritisierende) Deutung mehr oder weniger unter den Tisch fällt. Sie sollte vielmehr selbst Gegenstand von Esoterikforschung werden und kommt ohne Tod durch tausend Qualifikationen aus, weil sie das Dilemma Geist/Welt, Geist/Leib gänzlich zugunsten des Geistes, nämlich in eine Art autotheistischen Solipsismus auflöst, so dass alle evolutionären Stadien, um die sich Eggert und Schad bemühen, nurmehr als überflüssiges Beiwerk erscheinen – und Steiner als eine Art kontemplativer Bewusstseinspädagoge. Steiners ‚höhere‘ Erkenntnisse seien tatsächlich Selbstbeobachtungen eines universalen Bewusstseins und die sinnlichen Bilder des Übersinnlichen nicht weiter wörtlich zu nehmen. Durch diese einseitige Interpretation verblassen die Inhalte von Steiners Schriften zur Unkenntlichkeit – womit Clements Lesart auf eigentümliche Weise sein Projekt einer Kritischen Ausgabe von Steiners Werken konterkariert. Er versucht, das zu umgehen, in dem er die theosophische Abkunft der Anthroposophie zwar zur Genüge dokumentiert, aber interpretativ marginalisiert – zugunsten einer Verortung Steiners im „deutschen Idealismus“, wobei Kant, Fichte, Schelling und Hegel dabei eher genannt als konkret mit Steiner abgeglichen werden. Hartmut Traub, der Steiners philosophische „Frühwerke“ überzeugend auf Fichte zurückgeführt hat, kommt dabei kaum vor – ich erlaube mir, Clements Band zu den besagten philosophischen Frühschriften an eigener Stelle bald ausführlicher zu besprechen.
Clement vertritt so einen ganz eigenen Monismus der Bewusstseinsimmanenz, der die Problematik von Steiners okkultistischem Empirismus und phänomenologischem Konkretismus ebenso relativiert wie er ‚den‘ Idealismus zurechtbiegt. Dogmatische Anthroposophen wie Holger Niederhausen, Thomas Meyer usw., die Clement verketzern (vgl. Willy, Thomas und der Wolf im Schafspelz), übersehen, dass dieser nicht den Geist, sondern die Welt leugnet. Anthroposophiekritikern ist das spezifische Dilemma seines Ansatzes wie gesagt anscheinend ohnehin entgangen. Hier soll die philologische Nützlichkeit und Leistung von Clements Edition nicht im Mindesten in Abrede gestellt werden. Ich würde mich freuen, mit ihm über die großen Denker des Idealismus zu disputieren. Selbst seine Interpretationshypothese wäre, würde sie nicht derart alternativlos hypostasiert, anregend. Davon abgesehen ist es aufschlussreich, dass ausgerechnet Clement Steiner textkritisch ediert: In seinen ausgesprochen langen und detailreichen Vorwörtern ordnet er die Ansätze einer historischen Kritik so an, dass sie seinem monistischen Neo-Steiner Nahrung geben. Clement betreibt gewissermaßen Steinerkitik, wie Spinoza Bibelkritik betrieb (dass Steinerkritik im emphatischen Sinne unwahrer ist als Bibelkritik, liegt auf der Hand). Clements Lieblingsgeschichte zu Steiner lautet in etwa wie folgt:
„In diesem Durchgang wird sich zeigen, soviel sei an dieser Stelle vorweggenommen, dass Steiner seine Esoterik in unmittelbarer Anlehnung an und Auseinandersetzung mit vor allem neotheosophischen Vorbildern ausgebildet hat (Blavatsky, Sinnett und Besant), wie er aber zugleich in dieser Auseinandersetzung die theosophischen Vorbilder zunehmend von innen her um- und weitergebildet hat, und zwar auf Grundlage derjenigen philosophischen Fragen und Überzeugungen, die er in den drei hauptsächlichen Phasen seines vortheosophischen Werkes in Auseinandersetzung mit dem Weimarer Klassizismus und dem deutschen Idealismus, insbesonders mit Fichte, Goethe und Schelling, ausgebildet hatte.“ (Clement: Rudolf Steiners ‚Geheimwissenschaft‘)
Damit, nicht als Anthroposoph, mindert Clement immer wieder den Wert seiner Edition. Die Strategien, mit denen dabei die offensichtlichen Unterschiede und Brüche zwischen deutschem Idealismus und Steiners Esoterik verwischt werden, zeigen sich etwa darin, dass Clement sich eines reichlich undifferenzierten Begriffs von Theosophie bedient. Schellings Theosophiebegriff von 1811 aus den oben zitierten „Weltaltern“ soll beispielsweise nach beiden der oben verlinkten Texte Clements irgendwie relevant für Steiner sein. Diese Suggestion funktioniert in den Texten nur, weil dieser Theosophiebegriff nicht näher erläutert wird. Tatsächlich präsentiert Schelling in der „Weltalter“-Einleitung sein Programm in Abgrenzung vom ‚reinen Schauen‘ (Theosophie – weder Blabatsky noch Steiner beanspruchten in ihren esoterischen Schriften genau diese Form des Eingehens in den Gegenstand) und einer bloß rationalistischen ‚Dialektik‘. Außerdem tut Clement so, als seien die „Weltalter“ in Konzeption und Inhalt der Blavatsky/Steiner-Theosophie vergleichbar – sind sie allenfalls in dem Sinne, als alle drei Clements bewusstseinsphänomenologischem Reduktionismus eine reale, in sich differenzierte Außenwelt wie eine in Potenzen gespaltene Gottheit entgegenhalten könnten. (vgl. zur dabei findigsten, der Schellingschen Version Habermas: Dialektischer Idealismus im Übergang zum Materialismus. Geschichtsphilosophische Folgerungen aus Schellings Idee einer ‚Contraction Gottes‘, in: ders. Theorie und Praxis, Frankfurt a.M. 1971, 172-227) Steiner dagegen setzte stets das Bewusstsein als primäre Tatsache: Als die Menschen im physischen Stadium zuerst in der verschlossenen Wärme des „Alten Saturn“ auftauchten, standen ihnen schon die hoch entwickelten Hierarchien der Engel bis hinauf zu den Seraphim zur Seite.
Im oben zitierten Text wagt Clement erste Fingerübungen zur Kontextualisierung von Steiners ‚Geheimwissenschaft im Umriss‘, es geht also wieder um die Evolutionserzählung. Anstelle von Steiners Quellen wird dabei neben Schelling u.a. C. G. Jung herangezogen, dem die moderne Esoterik eine große Neuerung verdankt: Die Verlegung der „höheren Welten“, die Steiner noch annahm, in ein „kollektives Unbewusstes“, das die Menschheitsgeschichte in Form diverser Archetypen dominiert. Kollektivistischer Psychologismus anstelle des Postulats übersinnlicher Sphären. Dieser Versuch Clements, theosophische Metaphysik in eine spätere esoterische Neuerung aufzulösen, verfehlt ebenfalls das Ziel einer Plausibilisierung Steiners, weil er dessen Ansatz übergeht und allenfalls weiter zur Verzerrung der konkreten Kontexte beiträgt. Einem weiteren esoterischen Publikum, dem bereits Gerhard Wehr eine „Synopse“ von Jung und Steiner vorgelegt hat, kommt eine solche beiläufige Rehabilitierung Jungs sicher gelegen. Jungs Lehre ist selbst bemerkenswert fluid einsetzbar: 1933 als Pionierentwurf einer Psychologie für Arier, im ‚New Age‘ als spiritueller Hintergrund zur Verortung der millenarischen eigenen Erwartungen und heute in etablierten Therapierichtungen. (vgl.Gess: Vom Faschismus zum neuen Denken. C. G. Jungs Theorie im Wandel der Zeit, Lüneburg 1994) Abgesehen davon hätte auch Jung sich gegen eine bewusstseinsphilosophische Erklärung seiner Archetypenlehre gewehrt: Die Seele habe „die Wurzeln … nicht nur über die Erde im engeren Sinn, sondern in die Welt überhaupt gesenkt“ als „eigentlich der chtonische Anteil der Seele … durch den sie an die Natur verhaftet ist oder in dem wenigstens ihre Verbundenheit mit Erde und Welt am sichtbarsten erscheint.“ (Jung: Seele und Erde (1931), Gesammelte Werke 10, 45) Nach Steiner kristallisierten sich eher bestimmte seelische Aspekte umfassenderer spiritueller Wesen im Zeitalter der Erd-Periode bis ins Physische aus. Dies wird sich künftig evolutionär respiritualisieren, was einer parallelen Bewusstseinsintensivierung der Menschheit entspricht. Nicht, dass ein Vergleich dessen mit Jungs sehr viel statischerem Modell nicht aufschlussreich sein könnte, Clement jedoch geht nicht soweit, die Divergenzen und Schnittflächen beider Weltanschauungsgebäude auszutragen.
Ferner ist Christian Clement von der anthroposophischerseits üblichen Opposition zu Helmut Zander geprägt, der 2007 den Nachweis geführt hat, dass und wie sehr die Anthroposophie in all ihren Grundlagen und vielen Details eine „mitteleuropäisch“ eingeebnete Adyar-Theosophie ist, deren multireligiösen Bezugsrahmen Steiner allerdings mit der Zeit auf ein vermeintlich christliches Programm reduzierte. Obwohl Clement selbst munter gegen Zander polemisiert, nutzt er derweil u.a. dessen Kritik, um sich als Verfolgter eines anti-esoterischen wissenschaftlichen Mainstreams zu inszenieren:
„Wer heute dem akademischen Publikum eine kritische Ausgabe der Schriften Rudolf Steiners vorlegt, begibt sich ebenfalls in das von Hanegraaff angedeutete unsichere Terrain zwischen gesellschaftlich ›akzeptierten und akzeptablen‹ und ›nicht akzeptablen‹, vom wissenschaftlichen Establishment geächteten Theoriediskursen.[2] Er hat sich darauf einzustellen, dass, wenn er Steiners Denken nicht ausdrücklich als in irgendeiner Hinsich[t] illegitim ausweist, es gar in seinem eigenen Anspruch ernst nimmt und somit »in den Bereich des akzeptierten und akzeptablen Wissens hineinzieht«, von seinen akademischen Kollegen unter Umständen mit derselben Ächtung belegt wird, wie der in ihren Augen ›illegitime‹ Gegenstand seiner Untersuchung selbst.[3] Eine solche Delegitimierung droht also nicht nur dann, wenn ein Autor bestimmten vom akademischen Establishment geächteten Wissensformen ausdrücklich zustimmt oder sie gar in das eigene Denken aufnimmt; sie kann bereits dann erfolgen, wenn er sich nur in sachlicher, nicht-wertender und nicht-derogativer Art mit der theoria non grata auseinandersetzt.“ (Clement: Über Schwierigkeiten und Aussichten)
Dem eigenen Anspruch Steiners, der seine ‚höhere‘ Wissenschaft doch gerade als unendlich viel besseres Gegenprogramm zur akademischen verstand, kann man akademisch so wenig gerecht werden wie er es je der Akademie wurde. Als ob das nötig wäre (oder auch nur hilfreich), um seine Vorstellungen wissenschaftlich zu untersuchen. Dabei gibt Clement überdies die Kritiken an seiner Editionspraxis verkürzt wieder und behauptet, die bemängelten blinden Flecken seiner Texte würden aufgrund ihrer vermeintlichen Nähe zu Steiner kritisiert und nicht vor allem, weil sie blind sind. Im Prinzip reduziert Clement die Kritik an seinem Unterfangen damit auf genau das, was ihm Andreas Lichte bescheinigt hat: Steiner ’neue Kleider‘ zu verpassen, alten Wein in neuen Schläuchen schmackhaft machen zu wollen. Im zitierten Absatz spinnt Clement tatsächlich fiktive neue Kleider, aber für sich selbst, wie seine verkürzte Wiedergabe Wouter Hanegraaffs zeigt. Letzterer rekonstruiert die Entstehung der ‚westlichen Esoterik‘ zwischen zwei Paradigmen: (1) Einer protestantischen Polemik gegen heidnische Residuen im Katholizismus, die sich in die (protestantisch geprägte) Aufklärung fortsetzte, und (2) einem ‚religionistischen‘ Ansatz, der sich strukturell von der Hermetik mit ihren Konzepten von prisca theologia und philosophia perennis bis ins 20. Jahrhundert im Eranos-Kreis findet. (vgl. Hanegraaff. Esotericism and the Academy, Cambridge 2012) ‚Religionismus‘ ist die Annahme einer im wörtlichen Sinn ‚esoterischen‘ Seite der Religionsgeschichte, deren Reduzierung auf eine interkonfessionelle ‚Mystik‘ als ihren vermeintlichen wahren Kern. Clements Versuch, Steiner einer diffusen ‚theosophischen‘ Tradition vom Mittelalter über ‚den‘ Idealismus zu Jung zuzuordnen, ist ein musterhaftes Beispiel für solchen Religionismus. Paradoxerweise bedient Clement dabei gleichzeitig den ‚polemischen Diskurs‘, indem er versucht, die theosophischen Einflüsse auf Steiner als Oberflächenphänomene sublim zu disqualifizieren, während man den Esoteriker immer bloß von seinen vor-theosophischen Schriften her zu interpretieren habe. Es wird sozusagen eine Zwei-Klassen-Ideengeschichte betrieben, die Steiner vor esoterisch-okkulten Einflüssen bewahren will.
Es bleibt zu hoffen, dass Clement sich endlich auch entschließt, seine aufgeblähte Interpretationshypothese näher auszuweisen, entsprechend zu relativieren und in seiner Steiner-Edition mit anderen Deutungsmöglichkeiten abzugleichen. Das wäre schon deshalb wervoll, weil man diesen Ansatz tatsächlich gewinnbringend für Steiners Veränderungen um und kurz nach 1900 heranziehen könnte. Auf die Veränderungen in seinem Konzept der Subjektkonstitution zwischen dem atheistischen Höhepunkt seiner Ich-Philosophie über die „Seelenwandelung“ zur theosophischen Evolutionlehre trifft in der Tat jene Kurve der ‚Umstülpung‘ zu, die Clement reklamiert: Was von innen angeschaut wurde, wird nun in eine übersinnliche Um- und Außenwelt verlegt. (vgl. Die Mystik im Aufgang) Immerhin will Clement Hanegraaff und andere prominente Forscher für Vorworte in künftigen Bänden der SKA zu Wort kommen lassen. Ich fürchte, die Ausführungen Clements, die in die nächsten „SKA“-Teilen auf uns zu kommen, werden sich trotzdem nicht wesentlich von seiner bisherigen Lieblingsgeschichte unterscheiden. Es war zu viel erwartet, dass eine erste Steiner-Edition außerhalb anthroposophischer Verlage frei von ideologisch-apologetischen Verzerrungen sein würde, mag sie auch wissenschaftlich noch so nützlich sein. Sie steht aber auch nicht im Zeichen der Kontinuität anthroposophischer Hermeneutiken. Sondern Clements Texte zeigen, ähnlich wie Eggert, eben Weiterentwicklungen der Anthroposophie an, die parallel zum Verfall ihrer alten Institutionen (vgl. Sergej, du hast dich selbst gegeben) in immer transparentere und durchlässigere Formen schlüpft und dabei, zäh wie alle Ideologie, in der Lage ist, naturwissenschaftliche wie philologische Probleme gleichsam in sich aufzusaugen – vorläufig allerdings um den Preis ihrer eigenen Verbindlichkeit.
Anthroposophische Reformation. Dogmen der liberalen Anthroposophie
„Anthroposophie im 20. Jahrhundert ist weit mehr als Traditionsverwaltung. Zu den Innovationen gehört vor allem eine Neudefinition der Rolle Rudolf Steiners: Vielen gilt er heute weniger als der Guru oder der Eingeweihte, der ein System letzter Wahrheiten eröffnet hat, sondern als ein Schlüssel zur Ermöglichung individueller Sinnsuche. Hier sehe ich eine der dramatischen Verschiebungen gegenüber den ersten Jahrzehnten der Interpretation seiner Person und seines Werks.“
– Helmut Zander: Wie kann man mit Rudolf Steiner sprechen?
Das traditionelle anthroposophische Milieu stirbt aus. Überalterung und schwindende Mitgliederzahlen der „Anthroposophischen Gesellschaft“ (vgl. „Sergej, du hast dich selbst gegeben“) sprechen aber nicht dafür, dass die Steinersche Ideologie sich damit endgültig verflüchtigt. Helmut Zander geht zweifelsohne zutreffend davon aus, dass die Steiner-Interpretation individualisiert und pluralisiert werde – in rein selektiver Aneignung, vermischt mit anderen esoterischen Weltanschauungen oder durch die Sprachgrenzen einer sich globalisierenden anthroposophischen Gemeinde. Ich meine zusätzlich, dass man – für den deutschsprachigen Raum – aber durchaus ideologische Konturen sehen kann, in denen sich so manche „Individualisierung“ und „Pluralisierung“ einpendelt. Die Alternative lautet nicht: orthodoxe Anthroposophie oder irgendwie geartete Erosion. Die „liberale“ Anthroposophie, die sich als solche von den traditional-anthroposophischen Dogmen loslöst, ist nicht mit dem Unsichtbarwerden von Anthroposophie identisch. Sondern hier formen sich ganz eigene Dogmen: Betont wird ein verkitschtes Steinersches „Frühwerk“, das als einzige legitime Urteilsgrundlage für die gesamte Steinerdeutung gelten soll. Ferner werden die höheren Wesen und Welten Steiners als Bilder und Veranschaulichungen ins Subjekt hineingelegt. Schließlich werden so auch Steiners Selbstdeutungen relativiert: Aus dem „Mysterium von Golgatha“ werden biographisch-psychologische Phasen des Gurus gemacht.

„SKA“ 7: In den Einleitungen zu Christian Clements kritischer Steiner-Ausgabe findet sich die reformierte Steiner-Lesart detailliert
Diese Umdeutungen lösen im ortodoxen Lager scharfe, meist unfaire Anfeindungen aus. Denn in der Tat reagieren die liberalen Anthroposophen (bewusst oder unbewusst) auf die Unzugänglichkeit des verquasten Steinerschen esoterischen Werks, und Zweifel an diesem können die Orthodoxen nicht aufkommen lassen. Freilich gehen die Liberalen genauso fehl, wenn ihnen die anthroposophische Esoterik dann nur wieder eine nette, bilderreiche Illustration oder methodische Verlängerung des „Frühwerks“ zu sein scheint. Im Stillen aber bereitet sich so mancherorts eine anthroposophische Reformation vor: Wer Steiners Aussagen über „höhere Welten“ nicht mehr unmittelbar für evident hält, ist in Bezug auf diese offener gegenüber historischen Deutungen oder punktueller Kritik. Im Ganzen freilich ist diese Neo-Anthroposophie nicht minder ideologisch als die orthodoxe Variante, wie sich an ihrem prominentesten Verfechter, dem Germanisten Christian Clement zeigen lässt.
Obwohl die im Folgenden zitierten Autoren sich zweifelsohne nicht als homogene Gruppe sehen würden und jeder Standpunkte einnimmt, denen andere untere den Aufgeführten widersprechen würden, scheinen mir doch die folgenden Punkte geeignet, das Credo eines kleinen, aber wachsenden Flügels von Steiners-Fans zusammenzufassen:
- Depotenzierung der Inhalte: Was Steiner über Engel, Elementarwesen und Weltzeitalter sagte, sei inhaltlich nicht, jedenfalls nicht ganz ernst gemeint, sondern methodische oder heuristische Veranschaulichung von ganz anderen Philosophemen.
- Prospektive statt retrospektive Deutung: Beurteilen die Orthodoxen das Leben des vor-theosophischen Steiner durch die Augen des Theosophen, so drehen die Liberalen den Spieß um. Steiners Aussagen nach seiner Kehre um 1902 werden auf das früher liegende Werk reduziert.
- Radikale Selbstdeutung: Wie jede religiöse Innovation versteht auch diese sich nicht als solche. So behaupten die Neo-Anthroposophen, zum „echten“ Steiner zurückzukehren, „es“ so zu sehen, wie „es wirklich gemeint“ war.
- Individualisierung: Der klassische Steinerjünger sieht sich in einem sehr festgelegten Kosmos von übersinnlichen Kräften und Welten, der liberale, der an diese nicht glaubt, sucht jene Potenzen im Individuum. Jeder muss sich selbst, neu, kreativ, individuell mit ihnen verbinden.
Nochmal: Steiner-Verkürzung in der „SKA“
Manchmal sieht man sich zu peinlichen Schritten gezwungen: zum Beispiel heute ich und zu dem garstigen Schritt, Lorenzo Ravagli zuzustimmen, jenem Verteidiger der Steinerschen Rassenlehre und Möchtegernkritiker der Anthroposophiekritik, der zu allem Überfluss noch pathetisch einen (Wieder-)“Aufstieg zum Mythos“ predigt. (vgl. Ravagli, die Rassen und die Rechten) Nun hat Ravagli allerdings eine geschwätzige Rezension zu Band 7 der von Christian Clement herausgegebenen Kritischen Steiner-Ausgabe (SKA) geschrieben, die auf das zentrale Defizit in Clements Ansatz hinweist. In diesem Band sind Steiners „Schriften zur Erkenntnisschulung“ ediert worden: Anweisungen, Übungen und Schilderungen für seine „Geistesschüler“, um den Pfad in die „höheren Welten“ anzutreten. Clements meisterlicher Stellenkommentar kontextualisiert viele Äußerungen Steiners, weist ausführlich die Quellen nach, aus denen Steiner (natürlich ohne sie zu nennen) geschöpft hat und geht auf inhaltliche Zusammenhänge ein, die jenseits der herausgegebenen Schriften liegen.
Aber. In Vorwort und besagtem Stellenkommentar nähert Clement sich Steiners Konzept der „höheren Erkenntnis“ in ähnlicher Manier wie Ravagli dem Steinerschen Rassismus: Alles sei irgendwie ganz anders gemeint. Konkret meint Clement offenbar, Steiner kenne keine Objekte höherer Erkenntnis. All die Auren, Wesen und Kräfte, die Steiner da umschreibe seien lediglich Bilder und Symbolisierungen. (vgl. Zu Band 7 der Kritischen Steiner-Ausgabe) Clement: “Muss man nicht, gerade im Sinne seines Frühwerks, die von Steiner beschriebenen ‘Lotusblumen’, ‘Astralleiber’ oder ‘Schwellenhüter’ als Gestalten ansehen, die er selbst, wie Faust seine Helena, aus dem ‘Weihrauchnebel’ seiner eigenen Imagination hervorzauberte?“ (SKA 7, XXVIII) Das wäre vielleicht zu bejahen, wenn man es anthroposophiekritisch in dem Sinne wendete, dass es sich bei Steiners „Hellsichtigkeit“ um idiosynkratische Projektionen und Autosuggestionen gehandelt habe. Das jedoch ist Clements Anspruch nicht. Zwar wirft er dem Guru vor, dass er nicht Philosoph blieb, also dem Steiner nach 1900, dass er sich nicht wie vor 1900 verhalten habe – versucht dann aber doch weitgehend ohne Belege, Steiners esoterisches Programm als bloße mythologische Veranschaulichung seiner vormaligen Philosophie zu verkaufen.
Was Steiner über die “höheren Welten” gesagt hat, sei lediglich “eine bewusstseinsphilosophische Darstellung im Geiste Kants und Fichtes, d.h. … eine Phänomenologie der Inhalte des menschlichen Bewusstseins. Das einzige Wesen, dem der Mensch in der Meditation begegnet, ist nach Steiner letztlich das eigene, und zwar als zugleich individuell-persönliches und universell-absolutes.” (ebd., XXIX) Abgesehen davon, dass man Fichte und besonders Kant vor dieser Zuschreibung zumindest partiell in Schutz nehmen muss, ist auch Steiner gegen diese Verzerrung zu verteidigen: Dass er selbst Meditation bzw. „höheres Forschen“ bloß als Selbstbegegnung eines Universalsubjekts sah, lässt sich nicht nur nicht belegen, sondern Steiner selbst sagt verschiedentlich explizit das Gegenteil. In dieser Hinsicht nun ist auf Lorenzo Ravagli Verlass, der Clements Steinerverzerrung ebenfalls, wenn auch vom orthodox-anthroposophischen Standpunkt, nicht nachvollziehen kann:
„Ich sehe keinen Weg, solche Äußerungen Steiners als mythologisierende Redewendungen wegzuraisonnieren, zu denen er nur gegriffen hätte, weil sein Publikum zu dumm war, die Sprache der Aufklärung zu verstehen. Vielmehr erscheint mir dieser Rationalisierungsversuch seinerseits als eine Art Rückfall in den Feuerbachschen Anthropomorphismus. Die aus dem imaginierenden Bewusstsein hervorgehende bildliche Darstellungsform als Rückfall in ein vorwissenschaftliches Bewusstsein zu bezeichnen, widerspricht der gesamten Logik und Systematik der von Steiner nach 1900 entwickelten Anthroposophie …. Auch in den »Stufen der höheren Erkenntnis«, die Clement ja ebenfalls herausgibt und kommentiert, spricht Steiner deutlich aus, dass es sich bei der durch die Imagination erreichbaren Welt – die deswegen keine dualistisch gedachte metaphysische Hinterwelt sein muss – um eine höhere Wirklichkeit handelt, als jene, die dem gegenständlichen Bewusstsein der gewöhnlichen Wissenschaft zugänglich ist.“ (Ravagli: Die Anthroposophie: ein „Rückfall “ in Mythos?)
Ravagli natürlich hat seinen eigenen Anteil an der Genese des von Clement und anderen vertretenen Steinerbildes (vgl. Ravagli: Der esoterische Schulungsweg im Frühwerk Rudolf Steiners, in: ders. (Hg.): Jahrbuch für anthroposophische Kritik, 74ff.), vertritt, zumindest inzwischen, jedoch selbst seinen ganz dezidierten Remythologisierungsansatz. Seinem Vorbehalt gegen Clement ist zwar nicht im Impetus, aber in der konkreten Kritik an Clements Steinerdeutung zuzustimmen. Clement wiederum hat in einer Replik auf meinen Vorwurf, dass er eine ideologische statt analytische Steinerdeutung vornehme, die letztere als „ideogenetisch“ und wie folgt verteidigt:
„Dabei beziehe ich mich nicht nur auf die erkenntnistheoretischen Argumente Steiners bis 1894, sondern auch und vor allem auf die bewusstseinsphilosophisch geprägten Texte von 1901 und 1902 und dem darin von Steiner formulierten (und dann von mir in der Einleitung zu SKA 5 so genannten) „ideogenetischen Grundgesetz“. In dieser Herangehensweise sehe ich aber nicht eine „ideologische Verkürzung“, sondern eine legitime Methode der Deutung Steiners, welche sich zum einen problemlos von Steiner her rechtfertigen lässt und zudem den Vorteil hat, dass sich anhand seiner ohne Schwierigkeiten eine innere Kontinuität zwischen Steiners philosophischen Frühwerk und seiner späteren Esoterik behaupten lässt. So kann man Steiner durch Steiner auslegen lassen, ohne mit den Anforderungen kritischen Denkens in Konflikt zu kommen.“ (Clement: Ideologische vs. ideogenetische Steinerdeutung)
In der Tat lässt sich Steiner nach 1902 kohärent allein mit seinen vorherigen Schriften auslegen, jedoch wohl (jedenfalls bei Clement) um den Preis, das alle seiner späteren Verlautbarungen nicht ernst genommen bzw. auf frühere reduziert werden. In der Tat versucht Clement, Steiner mit seiner Mystik-Schrift von 1902 zu lesen, nach der die mystischen Inhalte menschliche Projektionen seien, in denen doch ein Universales mitschwingt: „dürfen dann nicht, in Anwendung der Steinerschen Konzeption auf seine eigene Gedankenproduktion,auch seine eigenen philosophischen Vorstellungen wie auch die Inhalte der Steinerschen Esoterik, also die Inhalte des imaginativen, inspirativen und intuitiven Bewusstseins, in eben derselben Weise aufgefasst werden? Was an diesem Deutungsansatz ideologisch sein kann, kann ich nicht sehen…“ (ebd.) Da sich Steiners Auffassungen um und nach 1902 (und bis 1925) in rasendem Tempo immer wieder weiterentwickelten, umlagerten und verschoben, ist es bestenfalls gedankenlos, alles nach 1902 willkürlich auf seine Positionen um 1902 zu reduzieren. Wenn das aber kein legitimer Ansatz sei, müsse ich doch wohl jeden hermeneutischen Ansatz als ideologisch brandmarken, so Clement.
Der ungeheure editorische Wert der „SKA“ bleibt ungemindert – ja, in seinem Vorwort zum Band mit den Mystik-Schriften Steiners erwies sich Clements Interpretationsansatz auch noch als treffend (vgl. Die Mystik im Aufgang), wohl weil glücklicherweise Texte bis 1902 untersucht wurden. Ich habe in meiner Rezension einige Aussagen Steiners zitiert, an der Clements Umdeutungsversuche abprallen, Ravaglis Rezension nennt einige mehr, und mühelos wären weitere zu finden. Steiners Aussagen über „höhere Welten“ auch als solche aufzufassen gelingt Clement nicht, er sähe darin wohl einen Dualismus – dass für Steiner monistisch zusammenhängende geistige Wesen mit unterschiedlichen ontologischen Strukturen und Aufgaben existierten, scheint keine Deutungsoption zu sein, die er auch nur heuristisch durchgedacht hätte.
Zur Ideogenese der reduktionistischen Steiner-Lesart
Ich behaupte, dass Clements hermeneutischer blinder Fleck seinerseits nicht im luftleeren Raum steht. Seine Steiner-Lesart ist jedenfalls keineswegs neu, sondern wurde längst in einem gewissen anthroposophischen Milieu vertreten, das auch zu seinen Ausführungen am lautesten applaudiert hat: dem liberal-anthroposophischen Umfeld von Info3. Dort hat Felix Hau, allerdings als „Arbeitshypothese“ gekennzeichnet, schon 2005 den theosophischen Steiner zur verkleideten Verlängerung des frühen Steiner erklärt, was einen bösartigen Aufschrei im anthroposophischen Mainstream nach sich zog.
„Zu keinem Zeitpunkt“ habe Steiner „Engelshierarchien, zwei Jesusknaben, Ätherleiber und soratische Mächte als Anschauungen“ in sich getragen, so Hau, sondern sich „lediglich später auf diese bestimmte Art“ ausgedrückt. Und nochmal:
„Ich bin im Übrigen nicht der Ansicht – und war es nie –, dass Steiner bei seiner Verbindung mit der Theosophie seine Ideen aufgegeben, wesentlich modifiziert oder erst danach die ihn kennzeichnende Auffassung entwickelt hat; ganz im Gegenteil [nämlich dass die Theosophie] … ein Feld bot, auf dem er in aller Seelenruhe seine ureigensten Auffassungen zu Anschauungen entwickeln und ausarbeiten konnte – lediglich um den Preis, sie in eine bestimmte Ausdrucksform zu gießen…“ (Felix Hau: Rudolf Steiner integral, in: Info3 5/2005, 30)
Ähnliches haben, ausführlicher, Haus Kollegen Christian Grauer und Sebastian Gronbach behauptet. Christian Grauer hat daraus einen eigenen, konstruktivistisch-solipsistischen philosophischen Ansatz geformt, der eine eigene Besprechung nötig machte. (vgl. Grauer: Am Anfang war die Unterscheidung. Der ontologische Monismus, Frankfurt 2007, siehe auf diesem Blog auch Grauer: Die Wunderwaffe jedes Fundamentalisten) Gronbach, der selbst als spiritueller Lehrer missioniert, sieht Steiners Engel usw. als bloße Symbole, die Steiner als Universaldidakt aus pädagogischen Gründen erfunden habe, um die Seele zu kultivieren:
„Die Erzengel, die Widersachermächte Luzifer und Ahriman, die Elementarwesen, am Ende auch Christus (ich komme noch dazu), das sind alles Steiners geniale und poetische Beschreibungen spezifischer Formen und Zustände der menschlichen Innenwelt. Es ist die wissenschaftliche Methode der Versinnbildlichung [!], ein Kunstgriff, um komplizierte menschliche Ideen in eine populäre Form zu gießen, mit denen wir über das Denken hinaus eine lebendige Beziehung eingehen können. Ideen finden so den Weg in unsere Seele. … Ist der Erzengel Michael nur ein Symbol? Er ist ein von Steiner, von mir, von Ihnen erschaffener Repräsentant einer Idee. Er ist Wesen, weil Steiner, ich und Sie es wollen, und er ist nur Symbol, wenn wir diese Beziehung zu beenden. Genau das ist für mich die zweite Wahrheit: Es ist Zeit, diese Beziehung zu beenden. Weil er für etwas steht, aber dieses Etwas, die Idee, dasjenige, was der Träger durch die Zeit trug, muss nun meine Sache werden.“ (Sebastian Gronbach: Missionen. Geist bewegt alles, Stuttgart 2008, 97f)
Mein Artikel wurde nicht ohne jeden Sinn „anthroposophische Reformation“ betitelt: Die protestantische Reformation schrieb Kirche und Konzile als relevante Institutionen zur Bibelexegese ab und gab dem einzelnen Gläubigen die Schrift in die Hand. Die anthroposophische Reformation lässt den Unmittelbarkeitsanspruch der Steinerschen Texte wegfallen und macht radikal den Rezipienten zum Dreh- und Angelpunkt. Der Leser muss die in Steiners Schilderungen niedergelegte Idee finden, verstehen und sich ganz individuell aneignen.
Welch radikaler Bruch zum anthroposophischen Mainstream in dieser Auffassung liegt, mag man behelfshalber an einem weiteren Beispiel illustrieren: Info3-Chefradekteur Jens Heisterkamp. Dessen Anliegen ist “eine Neubesinnung auf eine ursprüngliche, ‘nicht-theosophische’ Anthroposophie“, für die Steiners Entwicklung nach den Mystik-Schriften eine uneigentliche Phase bleibt. (Heisterkamp: Anthroposophische Spiritualität, 124) Heisterkamp begeistert sich zwar für eine spirituelle Evolution der Kultur, aber die läuft in Kapiteln wie „magisch“, „mythisch“, „rational“ und „integral“. Steiners Welten-, Wesen- und Rassen-Evolution wird als heuristischer, aber letztendlich gescheiterter Versuch der „Verbildlichung“ dieser Kulturgeschichte angesehen.
„Steiner hat hier offenbar keinen anderen Weg der Darstellung gesehen, als die Wirkmächtigkeit von Bewusstsein als evolutiver Kraft unter Rückgriff auf die Bildlichkeit ‘höherer Wesen’ zu schildern. Entstanden sind dabei äußerst bilderreiche Erzählungen speziell in seinem Buch Geheimwissenschaft im Umriss, die seiner als Philosoph aufgestellten Maxime eines Verzichts auf ‘außermenschliche’ und ‘außerweltliche’ geistige Kräfte zu widersprechen scheinen.” (ebd., 87f.)
Auch die Vorstellung der Reinkarnation wird zwar ästhetisch bejaht, aber ontologisch depotenziert: ob man nun wirklich und wörtlich wieder geboren wäre, das scheint dem Info3-Chefredakteur nicht so wichtig zu sein. (ebd., 75f.) Heisterkamps Ansatz scheint mir unter allen referierten der sympathischste, denn er verfährt dezidiert ekklektisch: “‘Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden’ – diese von Steiner selbst formulierte Lebensregel gilt es auch im Blick auf sein eigenes Werk zu beherzigen.” (ebd., 36) Hier wird Steiner unter weitgehender Ausklammerung der theosophischen Inhalte (nicht aber aller esoterischen) richtiggehend umgeschrieben. Das hat große Vorteile, weil Heisterkamp etwa Rassismus und Antisemitismus verabschiedet, die in der gegenwärtigen orthodoxen Anthroposophie entweder noch virulent, oder zumindest ein latenter Fundus sind. Das zeigt die empörte Reaktion des Kreuzritters Holger Niederhausen auf Heisterkamps Buch: „Eine konkrete geistige mit realen Wesen wird also einfach nicht mehr ertragen. Ebenso wenig aber eine konkrete Geschichte, die neben der Bewusstseinsgeschichte sehr wohl immer bestimmte Völker kannte, die jeweils spezifische Impulse in die Menschheitsentwicklung einfließen ließen. Aber all dies ist ja „diskriminierend“…“, so Niederhausen.
Interpretative Folgen
Die Parallelen zwischen Clement, Hau, Gronbach und Heisterkamp sind schlagend: Steiners „Erforschung“ geistiger Welten wird zum Bild, zur Metapher, zur Einkleidung für Positionen, die er vor oder um 1900 vertreten hat. Das Spätwerk Steiners wird so radikal depotenziert, dass es nur aufgrund des philosophischen Frühwerks (oder was in dieses so hineingelegt wird) überhaupt noch legitim angegangen werden kann. Alle vier würden es als lächerlich verwerfen, wenn man glaubte, Steiner habe wirklich von Engeln gesprochen. Hinzu tritt ein merkwürdiger Begriff von Monismus, der angeblich mit Engeln unvereinbar sein soll. Tatsächlich ist die „Geistige Welt“, die Steiner ab 1903/4, beispielsweise im ersten Fragment seiner „Geheimwissenschaft“ (vgl. GA 89), entfaltete, kein ontologischer Widerpart zu Materie oder zum menschlichen Bewusstsein, sondern die letzteren können sich als Teil des binnendifferenzierten monistischen Geisterkosmos erkennen.
Diese Umdeutung Steiners ist selbst Anthroposophie. Anthroposophie, der die Widersprüche von Steiners Früh- und Spätwerk bewusst geworden sind und die deshalb letztlich versucht, das Inkommensurable am zugänglichsten Schopf zu packen und den Widerspruch durch eine exegetische Monopolstellung des „frühen“ Steiner auszutreiben. Das orthodoxe Lager steht Steiner zwar näher, insofern es das esoterische Weltbild ernst nimmt, verfolgt aber die liberalen Steinerdeuter mit großer Wut. Die wird psychologisch zu erklären sein, denn an den wie auch immer falschen Pointen Neo-Anthroposophie wird deutlich, dass Steiners Werk Interpretation erfordert – während die Orthodoxen sich im Aberglauben wiegen, dass aus Steiners Worten unvermittelt “die Wahrheit sofort hervorginge.” (Niederhausen: Unwahrheit und Wissenschaft, 29) Gegenüber solchem Unsinn zeigt sich das doch hohe reflexive Niveau, das die reformierten von den traditionalen Anthroposophen scheidet.
Natürlich kaufen die orthodoxen Steinerverehrer sich munter Steiners Rassismus und seine Verschwörungsideologie ein. Christian Clements Steiner-Edition wird in den Augen ihrer anthroposophischen Möchtegernkritiker zum diabolischen Plan mormonisch-jesuitisch-freimaurerischer Weltverschwörungen, die natürlich nichts besseres zu tun haben, als zur Zerstörung der Anthroposophie häretische Steinerinterpretationen auf den Markt zu werfen. (vgl. Willy, Thomas und der Wolf im Schafspelz)
Denkend begreifen statt hellseherisch wahrnehmen
Mögen Info3 und Clement die prominentesten Sprachrohre der neuen Steiner-Leküre sein, so sind die ihr zugrundeliegenden Probleme doch auch einigen anderen Anthroposophen bewusst. David Marc Hoffmann, Leiter des Steiner-Archivs (und vormals des Basler Schwabe-Verlags, dem wir übrigens eine exzellente Untersuchung von Steiners Beziehung zum Nietzsche-Archiv verdanken) versucht ebenfalls, durch das „Frühwerk“ Schneisen ins esoterische Spätwerk zu schlagen. Hoffmanns Ausführungen gehören, das sei klargestellt, zu den besten im anthroposophischen Milieu seit Steiners Zeiten überhaupt. Er erkennt „eklatante Widersprüche“ an und geht methodisch viel sorgfältiger vor als Clement. Auch Hoffmanns Feindbild heißt Dualismus, auch er hält es für nötig, Steiners Monismus zu beweisen, auch er will Steiner aus der esoterischen Ecke holen. Hoffmann sieht jedoch Steiners esoterisches Gedankengebäude nicht unbedingt als „Verbildlichung“ vorher ausgearbeiteter Inhalte, sondern hofft Kontinuität zu stiften, indem er die „höhere Erkenntnis“ des „späten“ Steiner als inhaltliche Erweiterung unter den methodischen Prämissen des „frühen“ ausgibt:
„Die eklatanten Widersprüche zwischen Steiners früherem Atheismus und seinem späteren esoterischen Christentum erscheinen unter dem Aspekt der Methode in einem ganz anderen Licht. Wenn Wahrnehmung und Begriff als Maßstab für die Erkenntnis gelten, dann ist alles bloß eine Frage der Grenzen der Wahrnehmungen und des verwendeten Begriffsinventars des erkennenden Individuums. Bei erweiterten Wahrnehmungen und neuen Begriffen ist plötzlich erkennbare Realität, was vorher unwahrnehmbar und undenkbar war – ohne dass die anerkannte Erkenntnismethode preisgegeben wurde. Unter diesem Gesichtspunkt kann auch die (vermeintliche) Esoterik der Anthroposophie relativiert werden. Wenn die Anthroposophie einem Unvorbereiteten oder naiv Gläubigen als Spiritualismus oder gar Dualismus erscheinen mag, kann sie sich bei näherer Betrachtung als monistisches Verständnis der Welt entpuppen … In diesem Sinne lässt sich die geistige Seite der Welt denkend begreifen statt hellseherisch wahrnehmen.“ (David Marc Hoffmann: Rudolf Steiners Hadesfahrt und Damaskuserlebnis. Vom Goetheanismus, Individualismus, Nietzscheanismus, Anarchismus und Antichristentum zur Anthroposophie, in: Uhlenhoff: Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart, 118)
In gewisser Hinsicht hat man es hier durchaus mit einer anthroposophischen Graswurzelrevolution zu tun. Bereits Steiner selbst betonte notorisch, er wolle verstanden statt gläubig verehrt zu werden. Natürlich würden aber orthodoxe Anthroposophen genau das auch betonen, ohne einen einzigen Buchstaben seines Werks in Frage zu stellen. Das gelingt den Neo-Anthroposophen durchaus glaubwürdiger, weil sie mit der Negation einer objektiv existenten „Geistigen Welt“ nur noch eines haben: das von Steiner gleichfalls beschworene Individuum, dem sich um so mehr annehmen wollen – statt auf die ontologische Struktur der Geistwelt muss der Adept nun auf die methodische Struktur seines Denkens hoffen.
Mysterium von Golgatha
Diese Subjektivierung wird auch auf Steiner selbst übertragen. Der beschreibt in seiner Autobiographie seine geistige Wende nach der Jahrhundertwernde zwar nicht als solche, aber durchaus, wie er sich aus inneren Krisen und dämonischen Kräften durch Vertiefung in’s esoterische Christentum rettete, das er natürlich schon hellseherisch wahrnehmen konnte:
„In der Zeit, in der ich die dem Wort-Inhalt nach Späterem so widersprechenden Aussprüche über das Christentum tat, war es auch, daß dessen wahrer Inhalt in mir begann keimhaft vor meiner Seele als innere Erkenntnis-Erscheinung sich zu entfalten. Um die Wende des Jahrhunderts wurde der Keim immer mehr entfaltet. Vor dieser Jahrhundertwende stand die geschilderte Prüfung der Seele. Auf das geistige Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha in innerster ernstester Erkenntnis-Feier kam es bei meiner Seelen-Entwickelung an.“ (GA 28, 388)
Bei unseren anthroposophischen Reformern wird das visionäre „Gestanden-Haben vor“ zu einer Art psychologischem Hindurchgegangensein-durch das „Mysterium von Golgatha“. Statt dass Steiner nach absolvierter Seelenprüfung die Opferung Christi geschaut habe, ja selbst zum Diener der Christus-„Wesenheit“ geworden sei, wird diese autobiographische Äußerung zum biographischen Narrativ. Steiners geistige Kehre um 1900 kulminiert in dieser Deutung nicht in seiner geistigen Präsenz auf Golgatha. Sondern Kreuzigung, Tod und Auferstehung Christi werden zum Muster psychologisiert, nach dem auch Steiners früher Idealismus durch einen atheistischen „Tod“ hindurchgegangen sei, um als neuer Idealismus nach 1900 aufzuerstehen. Hoffmann bedient sich des auch von Clement zum neuen Kanon erhobenen Buchs „Das Christentum als mystische Thatsache“, um Steiners viel spätere autobiographische Behauptung zu deuten.
„Was Steiner in den beschriebenen ‚Ismen‘ (Monismus, Individualismus, Egoismus, Anarchismus) und seiner Opposition zum Christentum erfahren hat, ist ein vollständiger Verlust aller alten Werte, ein Verlust von Mensch und Welt, ein Moment, ‚wo der Geist für ihn alles Leben für Tod erklärt‘. Steiner hat eine derart beschriebene Hadesfahrt durchlebt. Dass sich ihm eine neue Welt, eine neue Sonne und eine neue Erde aufgetan haben, kann man als eine Art Damaskuserlebnis bezeichnen.“ (Hoffmann: Rudolf Steiners Hadesfahrt, a.a.O., 112)
Auch János Darvas, der Kritik am anthroposophischen Antisemitismus übt und gegen diesen eine supra- oder interreligiöse Anthroposophie zu stellen versucht, sieht das ähnlich:
„Rudolf Steiner hat in seiner Freiheitsphilosophie und den anderen erkenntnistheoretischen Schriften eine völlige Ausklammerung aller vorangegangener Tradition vollzogen. Das geschah nicht bloß im Sinne einer methodischen Voraussetzungslosigkeit intellektueller Art, sondern als ein durchaus existenzielles Abkoppeln … Ist ein solches Abkoppeln in diesem existenziellen Sinn vollzogen, dann ist ein totaler Nullpunkt erreicht, der zunächst Determinationen vorausliegender Prägungen durch die Tradition auslöscht. In der Art indes, wie dieser Nullpunkt erlebt wird, bleibt er von dieser Tradition mitgeprägt … Es [Steiners ‚Mysterium von Golgatha‘] ist selbst als Null und Anfang zu erfahren. Dem spirituellen Todeserlebnis im Hindurchgehen durch die Nacht des agnostischen, existenziell erfahrenen ‚Gott-ist-tot‘ steht das ‚Gott-ist-tot‘ des Gekreuzigten auf Golgatha als Entsprechung gegenüber, freilich so, dass in der Überwindung dieser Situation auch eine Qualität erlebt wird, die im christlichen Sprachgebrauch als Auferstehung bezeichnet wird.“ (Darvas: Gotteserfahrungen. Perspektiven der Einheit. Anthroposophie und der Dialog der Religionen, Frankfurt am Main 2009, 21f.)
Steiner selbst spricht davon, dass er sich aus geistigen Krisen durch Vertiefung ins Christentum rettete, das er in den Bekenntnissen nirgends gefunden, sondern aus der geistigen Welt geholt habe. Sein „Gestanden-Haben“ ist ein punktuelles, aber bahnbrechendes Ereignis: Die Auflösung der Krise und die Frucht der Vertiefung ins Christentum. Darvas und Hoffmann dehnen das Muster von Tod und Auferstehung zur Allegorie für Steiners geistige Biographie aus. Auch damit ist eine Depotenzierung, hier des „Mysteriums von Golgatha“, verbunden. Christus, auf den orthodoxe Anthroposophen nichts kommen lassen, ist nicht mehr der Fluchtpunkt von Steiners geistiger Entwicklung, sondern Tod und Auferstehung sind bloß noch Metaphern für Phasen von Steiners Leben. Steiners Goetheanismus, Nietzscheanismus, Theosophie usw. sind keine ernst zu nehmenden Positionen mehr, die Steiner wirklich vertreten hätte, sondern symptomatische Stufen auf dem Bogen durch Nullpunkt/Hadesfahrt und Auferstehung/Damaskuserlebnis.
Anthroposophische Reformation. Eine erste Zwischenbilanz
Über die Folgen der solcherart reformierten Anthroposophie kann man immer wieder erfreut und erleichtert sein. (vgl. Die Scheidung der Geister) Aus diesem Lager wird man wohl kaum über Wurzelrassen, atlantische Planeten-Orakel und Nazi-Mysterien belehrt werden. Dafür hört man aber immer mehr zur „Philosophie der Freiheit“, die transzendentalphilosophisch entkernt und existenzialistisch gewendet wird. Dass im Info3-Verlag mein Buch zu Steiners Rassenlehre wie die kommentierte Edition von Hans Büchenbachers „Erinnerungen“ erscheinen konnte, liegt auch daran, dass die nationalistischen, konspirationstheoretischen und rassistischen Ideologeme dort als überflüssiger Ballast für die „echte“ Anthroposophie gesehen werden. Dass Christian Clement eine solide kritische Edition von Steiners Hauptwerken herausgibt, wie auch immer entstellt das Steinerbild seiner Vorwörter ist, liegt daran, dass die konkreten esoterischen Inhalte für Clement uneigentlichen Charakter gegenüber der „ideogenetischen“ „Bewusstseinsphilosophie“ Steiners haben, die in ihnen lediglich illustriert würde.
Orthodoxe Anthroposophen, und dort vor allem das „Europäer“-Milieu mit seiner Neigung zu antiamerikanistischen Verschwörungsthesen, halten Clement für einen „Vernichter“ Steiners und haben immer wieder den Ausschluss der Info3-Fraktion aus der Anthroposophischen Gesellschaft gefordert. Die Stoßrichtung ihrer Argumentation gegen Info3 entsprach dabei einem Fazit, das auch der Anthroposophiekritiker Andreas Lichte zu Jens Heisterkamps „Anthroposophischer Spiritualität“ zog: Da werde Steiner zur Unkenntlichkeit verdünnt. Lichte:
„… ‚dann mach ich mir ‘nen Schlitz ins Kleid und find es wunderbar‘: Herr Heisterkamp kann ja gerne versuchen – und sich dabei grossartig fühlen – seine EIGENE Anthroposophie zu erschaffen, nur sollte er ihr dann auch einen EIGENEN Namen geben – mit Rudolf Steiner hat das ganze nichts mehr zu tun.“ (Lichte, Kommentar vom 3.11.2014)
Anthroposophiekritik, die ihre Objekte bloß aufgrund einer mehr oder weniger engen Übereinstimmung mit Steiner zu kritisieren wüsste, wäre blind oder eben allenfalls so hilfreich wie die Kritik traditionaler Anthroposophen an ihren heterodoxen Glaubensgenossen. Natürlich muss Anthroposophiekritik den realen Steiner, soweit er sich quellentechnisch erschließen lässt, im Auge behalten. Aber erforderlich ist darüber hinaus, die Rezeption und Transformation des anthroposophischen Steinerbildes zu analysieren. Ich wage zu prognostizieren, dass Stimmen im Stile Heisterkamps und Clements in den nächsten Jahren lauter werden, jedenfalls am Rand des (bis heute vom traditionellen Lager dominierten und somit schrumpfenden) anthroposophischen Establishments. Das ist mit Blick auf Dogmatismus, Rassismus usf. im anthroposophischen Mileu auch äußerst begrüßenswert. Zugleich hat sich ein Gronbach’sches oder Clement’sches Steinerbild längst zum neuen Dogma aufgespreizt. Weiß der traditionale Steinerjünger sich von einer Beziehung zu den Engeln getragen, so der liberale, dass die Engel für „etwas“ „in mir“ stehen, mit dem ICH mich total radikal selbst, individuell, schöpferisch und in Weiheernst verbinden muss. Den anthroposophischen Reformern wäre gleichfalls nachzutragen, was Marx über Luther schrieb:
„Luther allerdings hat die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Er hat den Menschen von der äußern Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum innern Menschen gemacht hat. Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz in Ketten gelegt. Aber, wenn der Protestantismus nicht die wahre Lösung, so war er die wahre Stellung der Aufgabe.“
(Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, 386)
Das trifft auch auf die reformierte Anthroposophie zu. Der „bilderreiche“ Ballast wird aus den „höheren Welten“ nur noch radikaler ins Individuum verlagert. Aber in zweifacher Hinsicht wird auch hier die Aufgabe richtig gestellt: Anthroposophiekritik darf nicht an Steiners albernen Proklamationen von Atlantis bis Zarathustra hängenbleiben, sondern muss die idealistisch-objektlose Innerlichkeit des Selbst ins Auge fassen, die als deren epistemische Grundlage vorausgesetzt und im ‚anthroposophischen Protestantismus‘ auf einen Sockel gestellt wird.
Auch der historischen Steinerforschung stellt die anthroposophische Reformation eine Aufgabe: Nicht nur, dass Christian Clements Steineredition die Textgrundlage auf eine neue Basis stellt. Vor allem David Hoffmanns Publikationen zu Steiner und dem Nietzsche-Archiv gehören zu den besseren Arbeiten zu Steiner überhaupt, sein zitierter Artikel über Steiners geistige Kehre ist im philologischen Sinne auch letztlich viel steinerkritischer als Clements Kommentare. Die Aufgabe, die ich sehe, besteht aber nicht darin, Texte von Steiner-Fans zur Kenntnis zu nehmen, auch vorher war die anthroposophische Literatur logischerweise Basis für die kritische Auseinandersetzung. Die Aufgabe mag mehr eine Warnung sein: Dass dem verklärten Steinerbild der orthodoxen Anthroposophie nun das gleichfalls verkehrte des „philosophischen“ Bilderbauer-Individualisten Steiner entgegengestellt wird, zeigt einmal mehr die Vielfalt ideologischer Umbrüche in seinem Werk, von denen jeder einzelne esoterisch hypostasiert werden kann. Dem Versuch einer vereindeutigenden Festlegung muss man widerstehen, wie das Beispiel von Clements Verwischung des übersinnlichen Erkenntnisanspruchs zeigt.