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Neue Waldorfpädagogik? André Sebastiani kritisiert Jost Schieren
Vor kurzem wurde hier Jost Schieren, Professor für Waldorfpädagogik an der Alanus-Hochschule (Alfter) interviewt, der sich um eine Annäherung von anthroposophischer „Erziehungskunst“ und akademischer Erziehungswissenschaft bemüht. Der folgende Kommentar von André Sebastiani sieht diese Bemühungen skeptisch:
Jost Schieren entwirft hier ein vermeintlich neues, moderneres Bild der Waldorfpädagogik. Die Waldorfpädagogik soll auf Augenhöhe mit den Wissenschaften gehoben und ein zeitgemäßer Diskurs auf wissenschaftlicher Grundlage ermöglicht werden. Dabei stört der esoterische Überbau der Waldorfpädagogik, weshalb esoterische Aussagen Rudolf Steiners marginalisiert und relativiert werden. Steiners Freiheitsbegriff mit Anknüpfungspunkten beim deutschen Idealismus und der Romantik rückt in den Mittelpunkt von Joost Schierens „neuer Waldorfpädagogik“. Steiner wird damit vom Esoteriker zum Philosophen, die Waldorfpädagogik öffnet sich dem wissenschaftlichen Diskurs. Ich habe meine Zweifel an dieser Darstellung und halte sie im Kern für widersprüchlich.
Schieren sagt, man könne „nicht einfach über Steiners ‚esoterische‘ Aussagen verfügen und sie operational einsetzen“, man könne sie „lediglich als Annahmen und als Denkmöglichkeiten verwenden.“ Als Beispiel nennt er die Reinkarnation, von der man nicht wissen könne, ob sie stattfinde oder nicht. Aber der „Gedanke der Reinkarnation“ beinhalte ein „Individualitätsverständnis“, das es erlaube, den Menschen nicht nur als „allein fremdbestimmtes Wesen“, als Produkt seiner Gene und verschiedener Umweltfaktoren, zu begreifen. Das erscheint wenig schlüssig und seltsam konstruiert. Es macht für einen Pädagogen doch wohl keinen Unterschied, ob der Mensch nun als Produkt vorangegangener Inkarnationen, oder als Produkt seiner Gene und seiner Umwelt vor ihm steht. Er hat es in beiden Fällen mit einmaligen Individuen zu tun. Der ganz reale und nachweisbare Einfluss, den Gene und Umweltfaktoren auf den einzelnen Menschen haben, wird zudem nicht kleiner, wenn der Lehrer seine Schüler als reinkarnierte Wesen betrachtet, er gerät höchstens aus dem Blickwinkel.
Doch auch das angepriesene „Individualitätsverständnis“ hat seine Tücken, schließlich gibt es eine ungute anthroposophische Tradition auch Krankheiten und Behinderungen karmisch, als Resultate vorangegangener Inkarnationen, zu deuten. Der kranke oder behinderte Mensch erscheint unter diesem Blickwinkel eher als Sklave seiner angeblichen Verfehlungen aus früheren Leben, denn als freies Individuum. Schieren scheint sich dieses Problems bewusst zu sein, denn er warnt vor „Inkarnationsforschungen“. Er vermag es aber nicht aufzulösen. Seiner Forderung, „dass der Pädagoge die Kinder und Jugendlichen sehr genau beobachtet und nicht mit vorgefassten Begriffen operiert“, läuft die Vorstellung der Reinkarnation zuwider, schließlich ist sie selbst ein vorgefasstes Konzept (mit vorgefassten Begriffen). Für die Konzepte von Freiheit und Individualität leistet die Vorstellung von Reinkarnation nichts, die Spekulation über vorangegangene Inkarnationen (vor der Schieren warnt), kann aber umgekehrt zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden. Wer jungen Menschen vorurteilsfrei gegenübertreten möchte, tut gut daran auf solche Grundüberlegungen zu verzichten.
Die Anthroposophie ist und bleibt die Grundlage der Waldorfpädagogik, auch nach Jost Schierens neuer Lesart, wie er selbst klarstellt. Dabei gehe es in der Waldorfpädagogik primär um die Freiheitsentfaltung. „Die Waldorfpädagogik schafft lediglich den Entwicklungsraum der Freiheit, aber dies auf sehr praktische Art und Weise.“ Auch diese These erscheint nicht schlüssig, denn anthroposophische Konzepte wie die Jahrsiebte- oder die Temperamentenlehre schränken letzten Endes den postulierten Entwicklungsraum der Freiheit ganz entscheidend und aus wissenschaftlicher Perspektive völlig unbegründet, ein.
Jost Schieren nimmt für sich und seine Kollegen in Anspruch einen „auch nach heutigen Standards vertretbaren wissenschaftlichen Umgang mit der Waldorfpädagogik und mit den entsprechenden Aussagen Rudolf Steiners“ einzufordern. Was die Verfahren der quantitativen und qualitativen Sozialforschung einschließe. Das wäre glaubhafter, wenn dieses Ansinnen in der Praxis eingelöst würde.
Grundsätzlich ist die Öffnung der Waldorfschule für die pädagogische Forschung, wie sie unter anderem durch die Untersuchungen von Heiner Barz und Dirk Randoll betrieben wurden und werden zu begrüßen. Betrachtet man die bisher vorgelegten Arbeiten genauer, so mischt sich ein bitterer Beigeschmack hinzu. In der Studie „Bildungserfahrungen an Waldorfschulen“ von Liebenwein, Barz und Randoll, wird beispielsweise eine Fragebogenerhebung mit 827 Waldorfschülern mit einem Datensatz verglichen, der an hessischen Gesamtschulen gewonnen wurde. Ein „wissenschaftlich vertretbarer Umgang“ würde eine wirklich vergleichbare erfordern, zumindest aber müsste problematisiert werden, dass hessische Gesamtschüler wohl kaum repräsentativ für alle Schüler an staatlichen Schulen sind. Auch der soziokulturelle und ökonomische Hintergrund der Elternhäuser müsste in den Vergleich einfließen. All das passiert aber nicht. Stattdessen vergleicht man munter Äpfel mit Birnen und versucht (manchmal mit Gewalt) einen waldorffreundlichen Schluss zu ziehen. Wenig schmeichelhafte Befunde, werden ignoriert oder relativiert. 30 Prozent der Waldorfschüler fühlen sich unterfordert, gleichzeitig nimmt die Hälfte der Waldorfschüler Nachhilfe in Anspruch.
So entsteht der Eindruck, dass es im Kern eher darum geht die Waldorfpädagogik durch ein wissenschaftliches Feigenblatt gegen Kritik zu immunisieren, als sie einem wissenschaftlich-kritischen Diskurs zu öffnen. Das zeigt auch die Aussage Schierens, es gehe im Kern darum „Steiner aus der Ecke einer nebulosen Esoterik herauszuholen und zu zeigen, wie zentrale Thesen beispielsweise der pädagogischen Anthropologie, der Entwicklungspsychologie und der Didaktik der Waldorfpädagogik tatsächlich zeitgemäß formuliert und diskutiert werden können.“ Zu einem wissenschaftlichen Umgang würde auch eine ergebnisoffene Herangehensweise gehören. Es würde auch die Bereitschaft dazugehören, sich von zentralen Thesen zu trennen, wenn diese sich als nicht haltbar erweisen. All das ist für mich in der Praxis bisher nicht erkennbar.
Ob die Einschätzung zutrifft, dass die inneranthroposophische Kritik an der Arbeit der Alanus-Hochschule tatsächlich, wie behauptet, als marginal zu bewerten ist, kann ich nicht beurteilen. Bis hin zu einem Diskurs mit den akademischen Wissenschaften auf Augenhöhe ist es noch ein sehr langer Weg. Ob man ihn überhaupt gehen will, bleibt abzuwarten.

André Sebastiani lebt in Bremen und arbeitet dort als Lehrer an einer Grundschule. Er setzt sich in der Skeptikerorganisation GWUP für wissenschaftlich-kritisches Denken ein und veröffentlichte mehrere kritische Artikel zur Waldorfpädagogik.