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„Sergej, du hast dich selbst gegeben“. Nachlese zum Aussterben der Theosophie und zu anthroposophischen Erinnerungen an Sergej Prokofieff
„Mein Prokofieff-Bild beruhte vollständig auf dem, was mir meine Großmutter zu ihm sagte. Er sei für sie der wichtigste Anthroposoph nach Rudolf Steiner und auch – das betonte sie sehr – ein Wunder. Denn er habe, ohne von Rudolf Steiner und der Anthroposophie in Kenntnis zu sein, isoliert in der UdSSR sitzend, eben die gleichen wahrhaft anthroposophischen Erkenntnisse gehabt. Prokofieff war für sie eine Art zeitgenössischer anthroposophischer Heiliger. Außerdem passte das gut in die Russland-Affinität, die sie, wie andere auch, pflegte.“
– Christoph Kühn, in: Endstation Dornach, Rinteln 2011, S. 307f.
Rückgang der Mitgliederzahlen
Die Entwicklung der Mitgliederzahlen der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland verläuft für letztere nicht unbedingt erfreulich. In der aktuellen Ausgabe der „Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland“, Beilage von „Anthroposophie Weltweit“ (August/September 2014), heißt es:
„Zunächst ist wahrzunehmen, dass der Rückgang unserer Mitgliederzahlen sich von Jahr zu Jahr verstetigt. Im vergangenen Jahr sind die Mitgliederlisten nach tiefgreifenden Klärungen der Mitgliedschaften in den Zweigen, Arbeitszentren und in der Landesgeschäftsstelle auf den neuesten Stand gebracht worden. Danach stellen wir fest, dass die Mitgliederzahl im Berichtsjahr von 14.740 um 1.008 auf 13.732 zurückgegangen ist, das sind fast 6,9 %.“ (Jahresrechnung 2013. Bericht des Schatzmeisters und des Geschäftsführers für das Jahr 2013, S. 9)
Die Mitgliederzahlen sinken seit 1989 stetig, es kommt offensichtlich kaum oder jedenfalls: zu wenig Nachwuchs. (vgl. Miriram Gebhardt: Rudolf Steiner, 15) Der anthroposophische Blogger Michael Eggert sieht darin eine „Quittung für das engstirnige und selbstbezogene Treiben“ der organisierten Anthroposophie: „Sieben Prozent Schwund in einem Jahr auf ohnehin schwachen Beinen mag der genaueren Zählung mit geschuldet sein, gleicht aber doch einem Offenbarungseid, der zumindest vor der Tür steht. Das Mutterschiff Anthroposophische Gesellschaft ist leck geschlagen, aber die an Bord scheinen ihre seltsam entrückte Party unbeeindruckt weiter zu zelebrieren.“ (Eggert: Die anthroposophische Gesellschaft als die FDP der Esoterikszene)
Eggert spricht von jenen traditionellen und betagten Anthroposophen, die Gegenstand von Klischees und doch in anthroposophischen Kreisen die Regel sind: Unbeirrten Lehnstuhl-Michaelsritteln, die jeden Mittwoch im örtlichen „Zweig“ Steiner lesen, zu Vorträgen populärer anthroposophischer Autoren in ihrer Umgebung fahren oder sie ggf. organisieren und liebevoll ihre die nächstgelegene Waldorfschule besuchenden Enkel und Urenkel versorgen. Mit dieser anthroposophischen (Kern-)Generation können deren jüngere Mitglieder zahlenmäßig bei Weitem nicht mithalten. In der Außenperspektive freilich ist dies mehr als die „Quittung“ für die selten überschnittene Selbstbespiegelung in anthroposophischen Kreisen. Die Anthroposophie als Form der Esoterik gleicht nach wie vor der Bewegung, der sie entstammt, von der sie sich stets manisch abgrenzte und deren Probleme sie ebendeshalb nie überwunden hat: Der theosophischen. (Eine Ausnahme bildet Robin Schmidt: Rudolf Steiner. Skizze seines Lebens, Dornach 2011) Auf sie scheint denn auch zuzukommen, was die englischsprachige Theosophie-Forschung über das schlichte Aussterben ihres Gegenstands berichtet. Die ältere Theosophie Nordamerikas zeigt vielleicht, was für die Anthroposophische Gesellschaft in nicht allzu langer Zeit zu erwarten sein dürfte:
„The infusion of counterculture youth and their ideas in the 1960s and 1970s undoubtly strengthend the movement for a time, but today it has lapsed into a relatively quiescent state, and few if any indications point to it experiencing dramatic resurgence in the future … The old days of big public meetings and, numerous lodges in major cities, massive output of periodical and other literature – these are gone … No doubt individuals will continue to network. But the shrinking membership of the three [Theosophical] societies appears to be an irreversible process. If the organizational forms of the movement are to play important roles in the spiritual developments of the twenty-first century, then at present those roles are not clear …“ (W. Michael Ashcraft: The Third Generation of Theosophy and Beyond, in: Olav Hammer/Mikael Rothenstein (Hg.): Handbook of the Theosophical Current, Leiden 2013, 86f.)
Kein Zweifel: Die Waldorfschulen boomen. Zugleich zeigen sie denselben Befund: Immer weniger und vor allem ältere Lehrer bekennen sich offenbar noch zur Anthroposophie (Vgl. „Die richtige Gesinnung“), auch wenn sich ebendiese Exemplare gern zu „Despoten“ der Schule aufzuschwingen scheinen, wie Valentin Hacken anmerkte. Längst aber haben nicht mehr die meisten Eingestellten – auch wegen des chronischen Mangels an Lehrkräften – eine Waldorflehrer-Ausbildung absolviert. Den anthroposophischen Tochterbewegungen mag in den kommenden Jahrzehnten eine immer weitergehende Transformation und Diffusion in das ungebrochen große, ja wachsende ökologisch-esoterische, alternativ-„bewusste“, progressistisch-„spirituelle“ Milieu usw. bevorstehen, das sich ja bereits gegenwärtig an Waldorfschulen tummelt. Noch freilich wird es dauern, bis sich massive Struktureinbrüche der Anthroposophischen Gesellschaft zeigen. Vielleicht gelingt auch auf irgendeinem Wege ein Umschwung. Auf ihrer Jahrungstagung Mitte Juni in Stuttgart hat die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland sich an „neuen Wegen“ versucht, bewusst jüngere Mitglieder in Vorbereitung, Ablauf und Vorstand zu integrieren. Anthroposophie solle „nahbar“ werden, man sah sich „im Licht am Ende eines langen Tunnels“, wie NNA berichtete.
Sergej Prokofieff: Ein anthroposophischer Star
In der anthroposophischen Szene wird schon länger um die Beantwortung der Frage gekämpft, wie es mit der anthroposophischen „Arbeit“ weitergehen soll. Hierzu kann ein Blick auf einen Autor helfen, den viele Anthroposophen als einen Fels in der Brandung einer krisengeschüttelten Anthroposophie- und überhaupt irgendwie allgemeinen Menschheits-Situation wahrnehmen. Der kürzliche Tod Sergej Prokofieffs, eines unter Anthroposophen eben auch der scheidenden Generation über alles geliebten Okkultisten, Buchautoren und Vortragsredners ruft in der Szene die Frage nach der künftigen Bedeutung seines esoterischen Erbes wach. Prokofieff, bis vor Kurzem Mitglied des Vorstands der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, ist einer derjenigen Anthroposophen, an denen sich ein Liberaler wie der oben zitierte Michael Eggert regelmäßig kritisch bis empört abarbeitet. Wer die abnehmenden Mitgliederzahlen als „Quittung“ versteht, zweifelt auch nicht, welche Stars der anthroposophischen Szene die Verantwortung dafür haben müssen: Jüngst machte Egert sich über Prokofieffs „Seeligsprechung“ in den Landesnachrichten der Schweizer Anthroposophischen Gesellschaft lustig.
„Das Wesentliche ist offenbar die Emotion, dass wir (wer immer sich dazu rechnen mag) mit dem „Strom“ und dem „Ziel“ verbunden seien- ein Versprechen, eine Aussicht, vielleicht auch eine Anmaßung. Aufgrund dieser Vagheit und der pompösen Selbstzuschreibung bleibt es für den Betrachter doch sehr fraglich, ob Prokofieff denn nun tatsächlich einer war, dem das «Verbinden von Intelligenz mit Spiritualität» , wie behauptet, in vollendeter Weise gelungen sei.“ (Eggert: Sergej Prokofieffs Seeligsprechung)
Prokofieff war habitueller Anthroposoph par excellence, er hatte und verbreitete eine Mission. In seinen Schriften und Reden hatte er es nie nötig, sich auf irgendwelche Anthroposophie-externen Quellen zu stützen. Prokofieffs Wirkung auf seine Fans beschränkte sich ganz auf den okkulten Arkanbereich der Anthroposophischen In-Group und beruhte noch ganz auf seinem Charisma – von ihm gesetzte Thesen galten aus seiner eigenen auratisch-rhetorischen Kraft und brauchten keine weitere Herleitung. Prokofieffs Ideologieproduktion war dabei m.E. letztlich nicht produktiv oder erweiternd – sondern übersteigerte, kombinierte und potenzierte im Wesentlichen irgendwelche Aussagen Rudolf Steiners zu einer noch komplizierteren esoterischen Maschinerie. Dabei wurden Steiners vielfach anlassgebundene und mit dezidierten Problem- oder Fragestellungen verknüpften esoterische Vorträge aus ihren historischen und werkimmanenten Kontexten gelöst und zu universal anwendbaren und aneinandersetzbaren Modulen. Eine ähnliche Steiner-Exegese scheint auch viele „Zweigabende“ zu dominieren, was wohl seinen Teil zur Affinität des älteren anthroposophischen Kernpublikums zum Prokofieff beitrug. Ein anderer Grund war die Verpflichtung auf eine anthroposophisch durch-gestaltete Lebenswelt, für die etwa das Internet eine Falle des Erzdämonen Ahriman darstellen kann. Prokofieff hat auch den Wissenschaftler Helmut Zander als Werkzeug Ahrimans bezeichnet. (zit. bei NWA: Gefährliche Wissenschaften) Ein Interview mit der dem anthroposophischen Mileu verhafteten alternativen Nachrichtenagentur „NNA“ sagte Prokofieff vor Jahren wohl aufgrund seiner habitualisierten Internetabstinenz ab, wie es in einem Nachruf dieser Agentur angedeutet wird.
Diese Steinerdeutung sorgte dafür, dass Prokofieff in den öffentlichen Debatten um die Anthroposophie selten eingriff und in der Außenwahrnehmung fast keine Rolle spielte. Lediglich Peter Bierl bemerkte mit Blick auf Prokofieffs Erzählungen „über die Besonderheiten der diversen europäischen Volksgeister und den ganz besonderen deutschen Voksgeist“ hämisch: „Prokofieffs Werk sei jedem empfohlen, der sich aus erster Hand davon überzeugen möchte, was für eine wirre Phantasiewelt Anthroposophie ist.“ (Bierl: Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister, Hamburg 2005, S. 256, vgl. Prokofieff: Die geistigen Aufgaben Mittel- und Osteuropas, Dornach 1993) Zuletzt ist Prokofieff mit einem Hieb gegen seine charismatische Konkurrentin Judith von Halle, die durch Christus-Visionen und Stigmata von sich reden machte, aufgetreten. Dies war Prokofieffs letzte offiziöse Handlung, kurz zuvor hatte er seine Mitgliedschaft im Vorstand der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ ruhig gelegt und sich aus Krankheitsgründen zurück gezogen.
Trauergäste
Darüber und über Prokofieffs Thesen und Werdegang habe ich im Artikel „Sinn und Sinnlichkeit“ mehr geschrieben. Hier soll es um das „Phänomen“ Prokofieff gehen. Repräsentativ ist dafür die eingangs zitierte Erinnerung von Christoph Kühn aus „Endstation Dornach“. An Ort und Stelle beschrieb auch Christian Grauer Prokofieff als „den Lieblingsanthroposophen meiner alten Tante.“ Die habe immer gesagt: „Das ist so ein bescheidener Mensch! Und doch kann er so tief in die geistige Welt blicken, er muss sein Wissen schon von irgendwoher mitgebracht haben.“ Als vor Jahren Prokofieffs Wiederwahl in den Vorstand der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ anstand, sollen aneblich Fans ganze Busse organisiert haben, um wiederwahlwillige Mitglieder zur Dornacher Abstimmung zu bringen. Weitere meinungsbildende Anthroposophen wie Peter Selg beziehen sich wohlwollend auf ihn.
Am 26. Juli 2014 nun ist Prokofieff nach dreijähriger Krankheit verstorben. Von der Trauerfeier, die übrigens wohl altersmäßig sehr heterogen besucht war, berichtete NNA:
„Viele der Trauergäste konnten im großen Saal der Schreinerei am Goetheanum keinen Platz mehr finden, in Warteschlangen vor den geöffneten Saaltüren stehend, erlebten sie die Feierlichkeit. Vor einer Saaltür war ein großes Foto des Verstorbenen aufgestellt. Er selbst hatte gebeten, von Blumen- und Kranzspenden abzusehen und stattdessen für die Anthroposophische Gesellschaft in seiner Heimat Russland zu spenden. In Anwesenheit eines internationalen und auch von den Generationen her sehr gemischten Publikums zelebrierte Pfarrer Rolf Herzog aus Basel das Bestattungsritual der Christengemeinschaft. Auch manche Angehörige von Prokofieffs weitverzweigter Familie waren nach Dornach gekommen, um dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen ebenso wie die Vorstandsmitglieder der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft. Prokofieff hatte dem Vorstand bis 2013 angehört, zuletzt als emeritiertes Mitglied. Innerhalb des Aussegnungsrituals der Christengemeinschaft gab Pfarrer Herzog einen kurzen Lebensrückblick. Der mit Prokofieff befreundete Arzt und Autor Peter Selg, der bis zuletzt mit ihm in Verbindung gestanden hatte, würdigte die Verdienste des Verstorbenen als Redner und Schriftsteller im Dienste der Anthroposophischen Gesellschaft. Ausführlich schilderte Selg wesentliche Lebensstationen und Wendepunkte seines verstorbenen Freundes.“
Es ist aufschlussreich, wie Prokofieffs jetzt unter Anthroposophen gedacht wird. Man hat in der Tat das Gefühl, die „Seligsprechung“ eines in die Geistige Welt zurückgekehrten anthroposophischen Apostels mitzuerleben. Der NNA-Nachruf bemühte sich vor allem, Temperament und Auftreten des Staranthroposophen aus seinen jugendlichen künstlerischen Ambitionen zu erklären. Nicht weniges spricht dafür.
In den von Eggert kritisierten „Mitteilungen“ der Schweizer Anthroposophen drehte sich eine Ausgabe komplett um ihn (IX, 2014). Nach dem Abdruck eines Prokofieff-Vortrags über den Erzengel Michael schreibt Peter Selg über „Sergej O. Prokofieff und das Michael-Mysterium“ (S. 7-10), anschließend erzählt Clara Steinemann eine „Erinnerung an Sergej O. Prokofieff und seine ‚Winterarbeit‘ am Goetheanum“ (S. 10-11), gefolgt von Marc Desaules‘ „Rencontre avec Sergej Prokofieff“ ( S. 11-12). Darauf wiederum folgt Thomas O’Keefe mit dem Titel „Sergej Prokofieff verband beispielhaft Intelligenz und Spiritualität in seinem Herzen“ (S. 12), bevor Günther von Negelein noch „Gedanken am Sarg von Sergej Prokofieff“ mitteilt. Der Meister wird, ähnlich wie Steiner, fast, aber dann doch nicht unnahbar hoch gestellt. Und, wie im anthroposophischen Vehältnis zum Anthroposophie-Gründer, wird das eigene Verhältnis zu dieser riesigen spirituellen Figur als menschlich-allzumenschliches Versagen vor seinen erhabenen Intentionen dargestellt.
Figurationen eines Helfers der Menschheitsentwicklung
Prokofieff repräsentierte nicht nur, er inkarnierte für seine Anhänger das Wesen der Anthroposophie. Dazu Günther von Negeleins „Gedanken am Sarg“:
„Ich betrachte seinen Mund, dessen Lippen den Eindruck vermitteln, als ob sie sich gleich wieder öffnen würden, warum dürfen sie es nicht mehr? Welches Opfer ist hier gebracht worden? Unter wie viel Unverständnis und Widerständen hatte er zu leiden? Und trotzdem diese hohe, von Sorgenfalten unberührte Stirn. Was für ein Reichtum an Gedanken sind hinter ihr gespiegelt worden! Die in dem Verstorbenen gelebte Geisteswissenschaft wird der geistigen Welt erweisen, was auf Erden gedacht werden kann. Möge er trotz der im neuen Prospekt seiner Werke ausgedrückten Enttäuschung über das Nicht-verstanden-worden-Sein bezüglich seiner Intentionen uns beistehen, dass wir unsere Aufgaben auf geisteswissenschaflicher Ebene in der rechten Weise erkennen.“ (S. 13)
Eine ganze Ausgabe des anthroposophischen Zentralblatts „Das Goetheanum“ (35/2014) ist Prokofieff ebenfalls gewidmet worden. Deren Titelblatt zitierte den sakralen Verstorbenen trotzdem widersprüchlicherweise mit den Worten: „Keine Bilder, keine Lobeshymne. Ein Jahrhundert lang. Möge Schweigen mich umgeben.“
Ganz ähnlich wiederum geschehen anthroposophische Erinnerungen an die Person Steiners – jede noch so dogmatische Abhandlung weiß Steiners „Keine Dogmen!“ zu zitieren und gutzuheißen. Noch zwei Ausgaben später empörten sich allerdings Leserbriefe über die in der Tat performativ widersprüchliche Wahl des Titelspruchs. Tomás Bonek etwa glaubt, die „Goetheanum“-Redaktion sei hier unfreiwillig vom „Bösen“ beeinflusst worden, schließlich dürfe man über Prokofieff niemals schweigen, ja: es zu tun, wäre menschheitlich gefährlich.
„Da es in diesen Strophen auch um ein ‚hundertjähriges Schweigen‘ geht, ist die Sache noch bedenklicher und ernster. Die Worte sind aus dem Zusammenhang der lyrischen Jugenddichtung Sergej Prokofieffs gerissen, die er vor mehr als 40 Jahren in einem völlig anderen Kontext geschrieben hat – sie wurden gewissermaßen durch die Verwendung zu einer testamentarischen Willensäußerung erhoben. Wenn es so wäre, dann würden selbst die Gebete und Sprüche, die für Sergej Prokofieff weltweit gesprochen werden, infrage gestellt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es seinem aktuellen Willen und der Situation entspricht. Sergej Prokofieff erhoffte sich auch für die Zukunft eine positive und fruchtbare Wirksamkeit seiner Werke, die mit seinem Namen und seiner Individualität verbunden sind und bleiben.“ (Das Goetheanum, 37/14. September 2014, S. 12)
Auf derselben Seite steht ein Gedicht über Prokofieff aus der Feder von Irene Johanson, die Prokofieff schon kannte, als er noch in Russland „wirkte“ und die sogar mit ihm gesprochen habe („Von daher fühle ich mich sehr mit ihm verbunden“). In den Zeilen heißt es u.a.:
„Sergej, du hast dich selbst gegeben,
Zu zeugen für des Geistes Leben.
Als Russland noch vom Geist verlassen,
Hast du geebnet ihm die Straßen,
…
In viele Sprachen zog er ein;
Um jedem Volk ein Licht zu sein.
…
Wer dich gekannt hat, darf vertrauen
Und Geist im Erdenleben schauen.“
Auch in die oben zitierten Schweizer Mitteilungen wurde ein Gedicht von Ruth Dubach mit dem Titel „Für Sergej Prokofieff“ aufgenommen (S. 7). Darin liest man, der Verstorbene sei schon längst über die Schwelle, weite sich geistig, sei auf dem Weg zum „Strahlenkreis der Götter und der Geistgefährten in der auserwählten Stunde“. In dieser Apotheose wird Prokofieffs höheres Wesen jedoch zugleich als weltzugewandt vorgestellt (sein „Herz“ wende sich mit „Feuerkraft“ „erdenwärts“). Er ist offensichtlich ein geistiger, den Göttern naher Menschheitshelfer. Zum Unheil unserer „kranken Welt“ schaue der große Geist mit seinem „Flammenblick“: „Je grösser Deiner Menschenbrüder Not, je mehr das ferne Götterziel bedroht, nur umso mächtiger Dein Helferwille loht.“ Man beachte einmal mehr die Sinnlichkeit dieser Beschreibungen: sakraler Leib (von Nägelein), tiefe Berührung durch persönliche Begegnung (Johanson), eine wiederholt als feurig-flammenhaft beschriebene Geisteskraft, die von ihm ausstrahle (Dubach).
Weisheit vom Menschen
Es wäre unangemessen, diese Seligsprechung ironisch abzutun. Sie folgt einer internen Logik, die aus Steiners Zeiten herrührt, vor allem aber viel über den religiösen Kern der Anthroposophie und seine rituellen Auswirkungen mitteilt. Tore Ahlbeck schreibt über das anthroposophische Steinerbild der Gründergeneration: „they regarded him as a human being, not as a devine or semi-devine being.“ (vgl. Ahlbäck Rudolf Steiner as a Religious Authority, in: Western Esotericism, hg. v. Tore Ahlbäck, Donner Institute for Research in Religious and Cultural History, 2008, S. 14) Das klingt nach einer simplen Feststellung, lenkt aber den Blick auf das Wichtigste: Steiner wie Prokofieff galten oder gelten als hoch entwickelte menschliche Individuen, denen Wertschätzung eben darum zu zollen ist, weil sie sich als Menschen auf das Göttliche hin vollendeten und die aufgrund der so erworbenen geistigen Kraft auch nach ihrem Tod auf die Welt einwirken. Fest steht dabei: Prokofieff arbeitet im Dienste der weit umfassenderen Entelechie und Signifkanz Rudolf Steiners, der er aber mustergültig gerecht wurde.
Höchst wahrscheinlich stammt der überwiegende Anteil der Prokofieff-Anhänger tatsächlich aus dem überalterten Mainstream der anthroposophischen Szene. „Schuld“ an der Überalterung trifft ihn freilich nicht, vielmehr ist sein Erfolg Ausdruck der spirituell-autoritativen Wünsche einer bestimmten anthroposophischen Generation. Es bleibt abzuwarten und beobachtenswert, welche weiteren Transformationen der aufgestiegene Geisteslehrer im anthroposophischen Diskurs durchlaufen wird.
Mehr auf diesem Blog:
Sinn und Sinnlichkeit: Sergej Prokofieff, Judith von Halle und das „Volkstümlich-Mondhafte“
Sinn und Sinnlichkeit: Sergej Prokofieff, Judith von Halle und das „Volkstümlich-Mondhafte“
„Der Leser aber wird mit einiger Wehmut an die veralteten Broschüren zurückdenken, die für zehn Pfennig Glück im Spiele oder in der Liebe in Aussicht stellten und sich gestehen, wieviel lauterer sie erscheinen als ein Schrifttum, das Ophir und Atlantis, Buddha und Christus, Totenbuch und Sohar aufbietet, um die Barbarei an jenen Platz zu stellen, den vor hundert Jahren die Bildung einnahm.„
– Walter Benjamin: Erleuchtung durch Dunkelmänner (1932), Gesammelte Schriften III, S. 360
Mindestens in einem Punkt ähnelt die anthroposophische Szene der radikalen Linken: Sie ist jederzeit spaltungsbereit. Die Interessenten, Sympathisanten, Rezipienten, Adepten, Schüler, Interpreten, Fans und Deuter von Rudolf Steiners 360-bändigem Gesamtwerk haben sehr unterschiedliche Zugänge zur „Geistigen Welt“ des Meisters. Im weltanschaulichen Sammelbecken der Anthroposophie müssen daher immer auch unterschiedliche religiöse Bedürfnisse und politische Ausrichtungen, verschiedene Umgangsformen und diverse klassische Steiner-Lesarten miteinander konkurrieren. Das führte schon zu Lebzeiten des Gurus zu allerlei Querelen. Aber zum Glück für sich und den Hausfrieden konnte Rudolf Steiner zaubern – und damit wie nebenbei seine herausragende kosmische Stellung sichern.
„Hofrat Seiling hatte einen sogenannten ‚Odmesser‘ mitgebracht, einem kleinen Kompass ähnlich sehend, dessen Nadel sich von links nach rechts im Sinne des Sonnenlaufes langsamer oder schneller drehte, je nach der Odkraft dessen, der den auf dem Tisch liegenden Odmesser mit beiden Händen umschloss. Das ‚Od‘ hängt, wie Dr. Steiner erklärte, mit gewissen ätherischen Wirkungen zusammen. Nachdem verschiedene ihre Odkraft gemessen hatten, wollte der Hofrat absolut, dass Dr. Steiner dies auch tue. Dr. Steiner setzte sich und tat wie die andern, aber der Zeiger –anstatt zu drehen, zitterte nur. ‚Er mus sich von links nach rechts drehen!‘ rief ungeduldig der Hofrat. – ‚Ich möchte aber, dass er sich von rechts nach links dreht‘, sagte Dr. Steiner, und gleich darauf begann der Zeiger sich im entgegengesetzten Sinne, so wie er es wollte, zu drehen.“ (Max Gümbel-Seiling: Mit Rudolf Steiner in München, Den Haag 1946, S. 27, zit. n. Wolfgang Vögele: „Sie Mensch von einem Menschen“. Rudolf Steiner in Anekdoten, Basel 2012, S. 34f.)
Das Charisma des „Eingeweihten“, die Integrationskraft der anthroposophischen Bewegung und das Erfolgsversprechen ihrer gesellschaftspolitischen Praxisfelder beruhten, jedenfalls in der Frühphase der Anthroposophie, zu einem bedeutenden Teil auf dem Glauben an Rudolf Steiners paranormale Fähigkeiten. Er persönlich repräsentierte, was seine Vorträge und Schriften weitschweifig verkündeten: den Einbruch „des Geistigen“ bis in die verstecktesten Winkel des Alltags. Nur deshalb konnten Lehrer Priester sein, konnten homöopathische Hochpotenzen die Physis ergreifen, konnten Kuhhörner zu Antennen kosmischer Strahlen werden, weil Steiner jedem bestimmten Sein seinen bestimmten Geist, eine konkrete Entsprechung unter den Wesen der „Höheren Welten“ zuordnete. Steiners Anthroposophie gipfelt in der restlosen Verdinglichung des Heiligen. Geist verliert alles Inkommensurable – darf dafür aber restlos determinierend auf die Materie wirken.
Judith von Halle
Es folgt einer gewissen Logik, dass Steiner, der natürlich nicht immer und überall gleichzeitig kleine Wunder wirken konnte, Christus zur Gallionsfigur seiner Esoterik wählte. Das fleischgewordene Wort Gottes, zwischen die beiden Dämonen Luzifer (spirituelle Flüchtigkeit) und Ahriman (materialistische Pedanterie) gestellt, steht für die erhoffte Schnittstelle zwischen Stoff und Geisterwelt, die die Anthroposophie permanent umkreist.
Obwohl Anthroposophen ihre Weltanschauung gern als Wissenschaft verstehen, nähern sie sich dieser Schnittstelle doch meist im Modus des Glaubens. Zuweilen mit bemerkenswerten Nebeneffekten. So erfuhr in der Karwoche 2004 die Berliner Architektin und Anthroposophin Judith von Halle die Wundmale Jesu am eigenen Leibe. Seitdem trägt sie, wie man hört, weiße Handschuhe, um ihre blutigen Stigmata zu verhüllen, und ist nicht mehr auf physische Nahrung angewiesen, im Gegenteil: angeblich drohen Vergiftungssymptome sogar von kleinsten Mengen Zahnpasta. Die Story schaffte es bis in den „Spiegel“:
„Während im Rest der Republik Familien fröhlich ihren Karfreitagsfisch verzehrten, will sie am eigenen Leib den Leidensweg Jesu nach Golgatha nachempfunden haben – einschließlich „der stundenlangen Misshandlungen, Folterungen, schließlich der Kreuzigung und des Todeskampfes“. Seit dieser Zeit hat die Gebeutelte nach eigenem Bekunden keinen Bissen gegessen. Selbst Wasser vertrage ihr Körper nur in geringen Maßen. Alles nur Spinnereien einer Aufmerksamkeit heischenden Egozentrikerin? … Die polyglotte Akademikerin von Halle lebte zeitweilig in Tel Aviv und Houston, Texas, und arbeitet als Architektin. … Dem Bild einer christlichen Eiferin entspricht sie kaum: Sie wurde in eine jüdische Familie hineingeboren und fühlt sich den Lehren Rudolf Steiners verpflichtet. Mit dessen Ideen erklärt sie auch die verstörenden Vorgänge an sich selbst. Demnach müsse der stigmatisierte Körper „derjenige Leib sein, der den Menschen über die Erdentwicklung hinaus in das Jupiter-Dasein trägt“.“ (Frank Thadeusz: Vier Jahre Nulldiät)
Die Liste der Kuriositäten ließe sich (wie so oft) beliebig lang fortsetzen. Interessanter als die Details des Wunderberichts sind jedoch seine ideellen und sozialen Folgen in der anthroposophischen Szene. Eigentlich sollten von Halles ziemlich körperliche Christusreminszenzen gestandenen Anthroposophen nicht weiter verwunderlich erscheinen. Nach Steiner wohnt Christus immerhin seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in der Ätherwelt, heißt: dem spirituellen Pendant organischer Lebensprozesse. Dass die geistigen Wesen in der Materie und eben auch im menschlichen Körper unterwegs sind, war die Kernbotschaft Steiners – da könnten ein paar Stigmata sterbensnormal, eigentlich fast langweilig wirken.
So sollte man meinen, aber weit gefehlt: Dass eine Anthroposophin tatsächlich Spuren der Geistigen Welt vorzuweisen meint, stößt auf enorme Resonanz. Judith von Halle zeigt, wie tief die Suche nach Zeugnissen des Glaubens, die Sehnsucht nach post-spiritistischen Zeichen aus dem Jenseits in anthroposophischen Gemütern verankert ist: Sie fand glühende Fans, zärtliche Bewunderer und erzürnte Gegner. Das umfassend verwaltete „freie Geistesleben“ der Anthroposophen wusste sich zu helfen. 2007 sollte eine „Urteilsfindungskommission“ den Status der Vorfälle klären. Da die Pro-/Contra-Fraktionen innerhalb wie außerhalb der Kommission allerdings keinen Fuß breit von ihrer Position abwichen (Gutachterin Rahel Uhlenhoff ließ sich indes von der Authentizität der Wundmale überzeugen), endete dieser Schritt nur in einer noch breiter losgetretenen Debatte. In diesem Streit macht es von Halle ihren Gegnern und Bewunderern leicht. Sie behauptet, in ihrer spirituellen Entwicklung sensationelle Fähigkeiten freigelegt zu haben:
„Der sinnlich-optische Eindruck entsteht dann allein durch die physisch-gestaltenden Kräfte des Phantomleibes. Daher kann jede Sinneswahrnehmung über eine Entfernung von Tausenden von Kilometern stattfinden oder auch in einer anderen Zeit.“ (Judith von Halle: „Und wäre er nicht auferstanden…“, Dornach 2005, S. 51)
Der Erfolg dieser grenzenlosen Wahrnehmungen bleibt nicht aus: von Halle berichtet etwa über Details vom Tisch des letzten Abendmahls – und stößt damit auf spirituelle Neider und energische Opponenten. Deren Leidenschaftlichste ist zweifellos Mieke Mosmuller, die sich selbst gelegentlich zum Plausch mit Rudolf Steiner in die höheren Welten begibt und deshalb aus erster Hand berichtet, dass dieser das mit den Stigmata nicht gutheißen würde. In der Tat hatte Steiner dem Anthroposophen Richard Pollak-Karlin, der am Ersten Goetheanum arbeitete und ebenfalls Jesu Wundmale tragen wollte, Meditationen gegeben, die sie zum verschwinden bringen sollten.
Die davon unbeeindruckte Judith von Halle wirkt attraktiv, sympathisch und gewinnend: angeblich besonders für zahlungskräftige ältere Herren in der anthroposophischen Szene. Man gründete nach Anfeindungen gegen von Halle eine Freie Vereinigung für Anthroposophie, finanzierte im Schweizer Anthroposophenvatikan Dornach eine „Schreinerei“ (denn in einer solchen hatte schon Steiner Vorträge gehalten). Eine Präsenz vor Ort, die sich auszahlte. Die Anhänger Judith von Halles sind inzwischen weit verbreitet und gut aufgestellt. Verbreitet genug, um Sergej O. Prokofieff auf den Plan zu rufen.
Der „Repräsentant des Ostens“
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs (und um auf die globalen politischen Folgen zu reagieren) wurde unter Manfred Schmidt-Brabant der Vorstand der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ um drei Mitglieder erweitert: Cornelius Pietzner, Bodo von Plato und Sergej Prokofieff. Wie Hartwig Schiller (Vorstand der deutschen anthroposophischen Landesgesellschaft) kürzlich behauptete, stand dahinter auch der Glaube an Volks- und Kultur-„Missionen“:
„Die Berufung von Menschen aus dem nordamerikanischen Westen, dem russischen Osten und der Mitte Europas schien auf diese [die politische] Entwicklung einzugehen und machte einen Auftrag für die Zukunft sichtbar. Die Anthroposophische Gesellschaft hat eine menschheitliche Zielsetzung und insofern kann sie nur als Weltgesellschaft konzipiert sein. Dafür standen Cornelius Pietzner, Bodo von Plato und Sergej Prokofieff stellvertretend. Westen, Mitte und Osten galten da nicht bloß als geographische Ortsbestimmungen, sondern als geistige Qualitäten.“ (Schiller: Konferenz der europäischen Generalsekretäre in Amsterdam, in: Anthroposophie Weltweit. Mitteilungen Deutschland, Januar/Februar 2013, S. 3)
Prokofieff, der den „russischen Osten“ repräsentieren sollte, hat seinerseits einen einflussreichen und äußerst hemmungslosen Kreis von Anhängern. In Russland verortete Steiner die „sechste nachatlantische Kulturepoche“ – und ein Hauch dieser zukünftigen Evolutionsstufe wird Prokofieff von vielen seiner anthroposophischen Adepten zugeschrieben. Die „östlichen“ „Mysterien“ sind aber nur eines von vielen Kompetenzfeldern. In seinen Schriften werden alle geistigen Hierarchien, alle Wesenheiten und Potenzen bemüht, die Steiner ersann, allerdings auf durchaus eigene Weise. Prokofieffs Werk zeichnet sich durch die stupende Permanenz, Redundanz und Dichte aus, mit der der anthroposophische Wesenszoo rekombiniert, durch- und übereinandergeworfen wird. An Engeln und Elementarwesen wird zu keinem Anlass gespart, vor allem aber sind Steiner und Christus wichtig:
“Das, was der Christus für die ganze Menschheit tat, als er ihr Karma auf sich nahm, das tat Rudolf Steiner für die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft als ein wahrer Schüler des Christus Jesus auf der Weihnachtstagung. … Dessen sollte sich jedes Mitglied der Gesellschaft bewusst sein.” (Prokofieff: Rudolf Steiner und die Grundlegung der neuen Mysterien, Stuttgart 1986, S. 129)
Prokofieff ist ein Mensch, der „wirklich die ganze kosmisch-tellurische Dimension des Mysteriums, das auf dem Golgathahügel stattgefunden hat, durchschaut“, wie jetzt ein neues Buch nahelegt (Prokofieff: „Zeitreisen“. Ein Gegenbild anthroposophischer Geistesforschung, Dornach 2013, S. 30). Zumindest aber, so der Tenor des Pamphlets, besser durchschaut als Judith von Halle, der er schlicht die hellseherische Kompetenz abspricht. Die stille Konkurrenz anthroposophischer Christentümer wird in der eben zitierten Streitschrift immerhin unverhüllt ausgetragen. Mit allerlei Steinerzitaten bemüht sich Prokofieff, von Halle als Verräterin an der Anthroposophie, und das heißt auch, an Christus selbst darzustellen.
Das Buch erscheint nicht zufällig 2013. Es ist Prokofieffs letzte Amtshandlung als Vorstandsmitglied. Seit Längerem stand fest, dass sein Gesundheitszustand nicht der beste war, wobei die genaue Diagnose bisher nicht bekannt geworden ist. Im Januar kündigte Prokofieff nun in einem Offenen Brief seinen Rücktritt an und bedauerte, künftig keine Kontakte mehr pflegen, Vorträge halten oder Aufgaben übernehmen zu können. Neben der Krankheit hatten auch Meinungsverschiedenheiten an seiner Position gezehrt. In Schillers eigentümlicher Völkerpsychologie des Dornacher Vorstands liest sich das so:
„Für das östliche Willensfeuer der Seele ist die Formkälte des Westens jedoch unerträglich und für die westliche Formkraft das lodernde Seelenfeuer des Ostens schwärmerisch religiöse Zumutung. Dem Verständnis des fremden Wollens treten individuelle, aber auch typologische Krafthindernisse entgegen. Zu den unverheilten Wunden und Spätfolgen des Zweiten Weltkrieges gehört die aus dem Gleichgewicht gebrachte Menschheit. Was heute als osteuropäisch gilt, war Jahrhunderte zuvor Mitte und was sich heute Mitte dünkt, ist zumeist nur Appendix des Westens. Die ehemalige Mitte denkt, fühlt und lebt westlich. Da kann einem Repräsentanten des Ostens [also Prokofieff, AM] unbemerkt und ungewollt nicht nur der Platz eingeschränkt oder beeinträchtigt, – er kann ihm genommen werden. Da erscheinen als persönliche Mängel, was als Folgen eines Raumes- und Zeitenschicksals Nachsicht erforderte.“ (Schiller: Bericht, a.a.O., S. 6)
Hochverrat
Raumes- und Zeitenschicksal waren aber anscheinend wenigstens so gnädig, Prokofieff einen letzten 120-seitigen literarischen Kreuzzug gegen Judith von Halle zu gestatten. „Zeitreisen. Ein Gegenbild anthroposophischer Geistesforschung“, so der Titel. Auf der Innenseite findet sich ein einschränkender Zusatz: „Eine Darstellung für Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft“. Prokofieffs Strategie ist einfach und wirkungsvoll: Erstens werden von Halles Wundmale als irrelevant marginalisiert, davon ausgehend wird zweitens der Fokus auf ihre Sinneserweiterungen in Raum und Zeit eingeschränkt, drittens soll gezeigt werden, dass letztere mit Anthroposophie nichts zu tun hätten.
Wer das Buch in der Hoffnung aufschlägt, ein Steinerianisches Zauberduell zu finden, wird enttäuscht: Prokofieff liefert einen immer beleidigt wirkenden Lehrgang in theosophischer Dogmatik. Das vermeintliche „Wunder“ der Stigmatisation wird dabei nur am Rande und beeindruckend verzerrt dargestellt. Prokofieff übersieht die Pointe, die von Halle für viele Anthroposophen so attraktiv macht: Die vermeintliche Kausalwirkung des Geistes auf die Materie. Er zielt auf das Glück im clairvoyanten Geist. „Alle leiblichen Manifestationen, welcher Art auch immer, gehören nicht dazu.“ (S. 8) Dies führt zu einer unerwarteten, fast überraschenden Position. Im Gegensatz zu früheren Verlautbarungen gipfeln Prokofieffs Polemiken in einer fast dualistischen Gegenüberstellung von Geist und Materie. Christus, der für die biblische Theologie ja nicht umsonst körperlich auferstand, muss dafür als „Geistleib“ herhalten, der „seinem Ursprung und Wesen nach nichts mit irdischer Materie zu tun“ habe. (S. 29) Aus dieser Figur leitet Prokofieff nur konsequent (aber wortreich) ab, dass auch von Halles vermeintliche Sinneserweiterungen dem Profanen angehörten und keinen „übersinnlichen“ Status einnehmen dürfen. Judith von Halle sei wie ihre katholische Leidensschwester Anna Katharina Emmerich nicht in der Lage, die Auferstehung zu erfassen. Sie sei zu „stark auf die Geschehnisse des Karfreitags“ konzentriert. Eine „ins Materialistische führende Richtung,“ (S. 75)
Selbstredend hat Prokofieff nicht das leiseste Verständnis, nicht einmal einen adäquaten Begriff von Materialismus. Das Schlagwort ist anthroposophisches Jargon mit der Bedeutung: Hochverrat. Nur an wenigen Stellen im Buch wird dessen eigentliche Botschaft offen ausgesprochen, die doch überall durchscheint: neben Steiner ist kein eigener Gedanke, erst recht kein neuer Prophet zugelassen. Prokofieff verlängert seinen alten Hass auf Valentin Tomberg (einen weiteren Anthroposophen mit dem Anspruch eigener Hellsichtigkeit) auf ein neues Opfer. Die Anthroposophie ist für Prokofieff kein „Erkenntnisweg“, sondern dessen Ziel. Seine Kritik an von Halle läuft auf die Mahnung hinaus, sich gefälligst devoter zu verhalten:
„Weil Anthroposophie ein Wesen in der geistigen Welt ist, gebührt ihr gegenüber ein selbstloses Dinenen und nicht der Versuch, sie als Mittel zum Zweck zu benutzen.“ (S. 31)
„Monden-Blutsopfer“
Neben seinen aufgewärmten Anti-Tomberg-Polemiken hat Prokofieff weitere Feindbilder, etwa von Halles berühmte Phantasien über „das jüdische Passahfest“. Sie hatte imaginiert, dass Jesus am Gründonnerstag ein Lamm geopfert und damit den Brauch des Pessachfestes erfüllt habe. Diese Anekdote (bei deren Kritik er sich einem Buch von Mosmuller anschließt) ruft in Prokofieff „Erschütterung und innere Abscheu“ hervor (S. 36). Denn, so heißt es im typischen Schreibstil:
„Der wahre Sonnen-Gott, der nach dem Zeugnis des Briefes an die Hebräer, sein ganzes Werk auf der Erde im Sinne der Priesterwürde der Sonnenmysterien des Melchisedek ausgerichtet hatte – das heißt nicht im Dienste der nationalen Gottheit Jahve, sondern im Sinne des höchsten Gottes El-eljôn, den Christus in seinen Abschiedsreden als seinen Vater bezeichnet – konnte niemals ein Monden-Blutopfer [Jahwe gilt in der Anthroposophie als Mondgottheit, AM], in welcher Form auch immer, durchführen.“ (S. 34)
Prokofieff reißt den biblischen Gott damit in zwei Stücke: erstens den wahren „Vater“ mit seinem Sohn, dem sonnenhaften Christus, zweitens der „nationalen Gottheit“ Jahwe. In seiner Schilderung Jahwes, dem er noch den Mond und das Blut zuordnet, bedient Prokofieff, ob unbewusst oder wissentlich, Steiners antijudaistische Geschichts- und Symbolkonstruktionen. Die Mond- und Blutsucht projeziert er anschließend auf Judith von Halle: Sie wolle das Abendmahl von den Sonnenkräften weg und in eine „einseitig volkstümlich-mondenhafte Richtung“ lenken. Der inhaltliche Haupteinwand gegen von Halle besteht schließlich darin, dass ihr, so Prokofieff, „nicht die wahren Bilder aus der Akasha-Chronik erscheinen, sondern deren in der Mondensphäre vielfach entstellte Widerspiegelungen“ (S. 36) An anderer Stelle heißt es:
„Dass sich Jahve von den Erdengeschicken des hebräischen Volkes schon viel früher getrennt hatte, das erfuhr Jesus von Nazareth noch vor der Jordantaufe, als er durch seine jahrelange Beschäftigung mit der jüdischen Geistigkeit feststellen musste, dass Bath Kol, die noch die Propheten inspirierende geistige Stimme, nicht mehr im Volke wirkte.“ (S. 51)
Auch von Halles Jünger haben Prokofieff gern mit völkerpsychologischen Ausfällen attackiert. So meint Peter Tradowsky, Prokofieff sei Anhänger eines „gnostisch platonisierenden Christentums“.
Der Gegenvorwurf lautet nun: latenter Katholizismus. Prokofieff beschäftigt sich im Hauptteil des Buches mit Zitatabgleichen zwischen Steiner, von Halle und Anna Katharina Emmerich, die ebenfalls die Wundmale Jesu, Nahrungslosigkeit und göttliche Visionen beanspruchte. In der Tat kann er zahlreiche (im Einzelfall auch wirklich aufschlussreiche) Gemeinsamkeiten der Stigmata-Fraktion konstatieren. Die unterstellten Differenzen zu Steiner spielen sich derweil ausnahmslos auf der Ebene von Nichtigkeiten ab. Das Ergebnis ist eine Schlammschlacht in den verästeltsten Details anthroposophischer Obskuritäten. Judith von Halle hat beispielsweise ihre eigene Version von der Herkunft des Abendmalskelches Jesu. Der stamme vom „Alten Mond“, einer früheren Inkarnation des Planeten Erde. Nach Steiner handelte es sich um eine Schale aus Jaspis. Für Prokofieff sind die Irrtümer von Halles dabei ganz offensichtlich, da Steiners Forschungsergebnisse stets „vom gesunden Menschenverstand erkenntnismäßig nachvollzogen werden können.“ (S. 28) Dabei verwickelt er sich immer weiter im eigenen performativen Widerspruch: Prokofieff vertraut keineswegs auf einen „gesunden Menschenverstand“, was immer das sein soll, sondern muss seitenweise Steiner-Zitate anschleppen, um Judith von Halle des „Irrtums“ zu überführen. „Irrtum“ heißt freilich nicht mehr, als dass man Steiner auch anders lesen kann.
Natürlich sind Sergej Prokofieff und Judith von Halle sich in der Außenperspektive in allem Grundsätzlichen einig: Christus, die höheren Welten, das Golgathamysterium, die planetarische Evolution… Das scheint auch unser Pamphletist zu bemerken, jedenfalls hält er es für unverzichtbar, auch noch in die Schatzkiste anthroposophischer Dämonologie zu greifen. Zu Beginn seiner Ausführungen erzählt Prokofieff, er habe einen einzigen Vortrag von Halles besucht, der „interessant und zum Teil sogar anregend“ war. Aber plötzlich konstatierte der Erleuchtete, dass hier andere Kräfte am Werk waren:
„Dann jedoch machte die Vortragende beim weiteren Verlesen eine Pause und sprach plötzlich (nach meiner Wahrnehmung) mit einem veränderten Gesichtsausdruck und auch nicht mehr mit derselben Stimme weiter. Es war, als spräche jetzt ein anderer Mensch. Und nun folgte zu meiner völligen Überraschung eine schaurige Geschichte, die mit der ganzen vorhergehenden Betrachtung nichts zu tun hatte…“ (ebd.)
Spätestens auf Seite 28 weiß der treue Prokofieff-Fan, womit wir es zu tun haben. Der Meister lässt sich Zeit bis zur letzten Seite, um die Konsequenz zu ziehen, die bereits hier feststeht: In Judith von Halle, ihren Stigmata und ihren hellsichtigen Mitteilungen wirken böse Mächte.
„Es besteht kein Zweifel, dass hinter diesem visionären Element auch ganz konkrete geistige Mächte wirken. Dies kann aus der Anthroposophie mit Sicherheit geschlossen werden. Und dass diese Mächte Rudolf Steiner und seinem Werk gegenüber feindlich gesonnen sind, liegt ebenfalls auf der Hand. Denn alle raffinierten Angriffe auf die Anthroposophie, die zu ihrer Entstellung und sogar Aufhebung führen sollen, sind okkult intendiert, was den Sachverhalt, um den es in diesem Buch geht, so gravierend macht.“ (S. 114)
„Verleumdung“
Der Klappentext winkt dagegen mit dem Schleier objektiver Nüchternheit: „Die angeführten Tatsachen können die Grundlage für ein eigenständiges Urteil des Lesers bilden“. Die anthroposophischen Reaktionen sind gespalten. Unübersehbar ist, dass weniger über Judith von Halle als über Prokofieff gestritten wird, dessen Duktus man in der Szene seit über zwanzig Jahren debattiert. Michael Eggert wusste sich gleich nach dem Erscheinen über Prokofieff lustig zu machen: „Wenn er das sagt – Grundlage für ein eigenständiges Urteil des Lesers -, dann weiß man immer, was das Stündlein geschlagen hat, High Noon. Wenn Herr Prokofieff dieses sich herab läßt zu sagen – ’solche Strömungen‘, dann gefriert ja schon die Milch im Topf. Die Stunde der edlen Ritter, die Stunde des Tournamentes.“ (Eggert: Sergej Prokofieff schlägt zurück) Dagegen meint Michael Mentzel, das Buch biete „eine umfangreiche Materialsammlung“, die es dem Leser „ermöglicht, nachzuvollziehen, warum die Darstellungen Judith von Halles für Prokofieff ein solches Problem darstellen. Seine Sorge, die Anthroposophie könne sich durch die Mitteilungen über „Zeitreisen“ und die Gesichte Judith von Halles zu einer Glaubensgesellschaft statt zu einer Erkenntnisgesellschaft entwickeln, ist dabei – für mich – durchaus nachvollziehbar.“ (Mentzel: Sergej Prokofieff vs. Judith von Halle)
Andere Anthroposophen halten Judith von Halle für blanken Horror und dürften das Buch mehr als nur nachvollziehbar finden. Prokofieff zitiert „eine junge englische Zuhörerin“ eines von Halle-Vortrags:
„My own reaction was one of hurt and anger that anyone could describe Christ in this way. The scene that she described seemed so fundamentally un-Christian that I had to conclude, if this were indeed an accurate description of the last supper, that Christ was not the God I believed in and I was not a Christian.“ (Brief an Prokofieff, 1. Januar 2013, zit. n. S. 118)
Solche Briefe, ob für oder gegen Prokofieff, ob für oder gegen Judith von Halle, müssen auch den aktuellen Dornacher Vorstand in rauen Mengen erreicht haben. In Glaubenskrisen wenden sich empörte Anthroposophen gern an ihre (eben nicht nur organisatorische) Führungsebene. Die Vorstandsmitglieder erklärten deshalb höflich, aber vage, ihre Neutralität:
„Grundsätzlich betrachten es der Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und das Hochschulkollegium als ihre Aufgabe, einen Freiraum der Erkenntnissuche und des vielschichtigen anthroposophischen Lebens zu ermöglichen. Dazu gehört selbstverständlich die Freiheit eines jeden Autors – auch als Mitglied des Vorstandes –, seine Einsichten und Erkenntnisse zu publizieren. Ebenso zieht jede Veröffentlichung die Möglichkeit der kritischen Stellungnahme oder Diskussion nach sich. Das gilt gleichermaßen für die Publikationen von Sergej Prokofieff und Judith von Halle.“ (Virginia Sease, Paul Mackay, Bodo von Plato, Seija Zimmermann, Justus Wittich, Joan Sleigh: Zum Buch ‹Zeitreisen› von Sergej Prokofieff, in: Anthroposophie weltweit Nr. 5/13, S. 18)
Derweil haben 38 prominente Anthroposophen, darunter etwa Götz Werner, Gründer und aktuell Aufsichtsratsmitglied der dm-Drogeriemarktkette, in einem Offenen Brief gegen das Buch protestiert. Die 38 anthroposophischen Wutbürger finden Prokofieffs „Anschuldigungen“ „weder nachvollziehbar noch haltbar noch akzeptabel. Sie sind Ihnen zu einer Verleumdung geraten. Noch gäbe es allerdings eine Möglichkeit zur Korrektur: Entschuldigen Sie sich bei Frau v. Halle, distanzieren Sie sich öffentlich von dem Buch und fordern Sie den Verlag auf, es zurückzuziehen.“
Beide Lager unterscheiden sich letztlich nur in Einzelheiten – der Geisteszustand der von Halle-Fans kann mit dem der Prokofieff-Jünger durchaus mithalten. Trotzdem sind gerade die Differenzen entscheidend: Es geht um nicht weniger als den Offenbarungsrang Steiners, darum, ob es gestattet sei, ihm gleich in die höheren Welten einzudringen. Ferner darum, was die Bühne anthroposophischer Frömmigkeit sein soll: Leib oder Geist, die Suche nach Manifestationen des Spirituellen oder die Versenkung in Steiners Texte.
Nicht zuletzt macht die Offenherzigkeit, mit der der Prokofieff/von Halle-Streit ausgetragen wird, gefährliche Tendenzen sichtbar. Offenbar prägen auch noch im Jahr 2013 verkappt antijüdische und manifest völkerpsychologische Themen den aktuellen anthroposophischen Diskurs. Das macht kritische Aufmerksamkeit von außerhalb der „Bewegung“ nötiger denn je.