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Anthroposophische Reformation II, oder: Bis zur Unkenntlichkeit… und noch viel weiter
„Was ist es übrigens, das die Meisten an der Materie so beleidigt, daß sie dieselbe so gar geringer Herkunft achten? … Gerade diese Unflaßlichkeit, dieses thätliche Widerstreben gegen alles Denken, dieses aktive Dunkel, diese positive Neigung zur Finsterniß musste sie [die Philosophie] zu ihrer Erklärung machen. Aber lieber wollte sie das Unbequeme ganz auflösen in Verstand oder auf irgend eine Weise in Vorstellung. Ein jeder, der dies tut … läugnet die Realität an sich und heißt mit Recht (in der gemeinen Bedeutung des Wortes) Idealist.“
– Schelling: Die Weltalter. Urfassungen (1811), München 1946, 46, 50f.
Weitere Überlegungen zur Transformation des anthroposophischen Komplexes im 21. Jahrhundert, zu Christian Clements Versuch einer Steiner-Rehabilitierung sowie zur liberalen Anthroposophie.
Atlantis im Astralen
Während die anthroposophische Scheibenwelt munter weiter rotiert, hat mein Blog leider länger pausiert. Auf Facebook habe ich zwischenzeitlich immer wieder Beiträge von Michael Eggerts „Egoistenblog“ geteilt, der vermutlich die informativste Diskussionsplattform zur Anthroposophie im deutschsprachigen Internet darstellt. Die „Egoisten“ kann man insgesamt der liberal-anthroposophischen Spielart zuordnen, was nicht heißt, dass dort Anthroposophie light betrieben würde. Zu beobachten sind vielmehr ganz konkrete Neujustierungen – von denen ich eine gleich zum Ausgangspunkt diverser Überlegungen machen möchte. Eggert ist aber vor allem einer der wenigen, die auch die rechten und verschwörungstheoretischen Ausläufer der anthroposophischen Szene kritisch im Blick behalten – so spottet er über Daniele Ganser und hat dem anthroposophischen Faschisten Rüdiger Keuler mehrere Artikel gewidmet. Viele Irrwege der zeitgenössischen Anthroposophie finden abgesehen vom „Egoistenblog“ kaum kritische Aufmerksamkeit. Neulich folgte eine Kritik Eggerts an dem Anthroposophen Andreas Delor, der versucht, die geologisch-spirituelle Existenz von Atlantis zu beweisen. Zweikommafünf Methoden, um sich bereit zu machen, an Hellseher zu glauben titelt Eggert Polemik. Interessanterweise werden darin zwar Delors Allianzen mit jüngerer esoterischer „Atlantisforschung“ demontiert. In den Kommentaren gibt Eggert jedoch eine ganz eigene Variante des anthroposophischen Atlantismythos preis. An ihr lässt sich studieren, wie sich Eggerts Kritik am breiten Spektrum des anthroposophischen Aberglaubens mit seinen eigenen esoterischen Überzeugungen vermittelt. Das sei hier nicht festgestellt, um sich darüber lustig zu machen, sondern weil sich daran wiederum die modernisierende Transformation theosophisch-anthroposophischer Themenkomplexe insgesamt griffig illustrieren lässt. Was Steiner, Delor und Co als physisch-geistige Evolution imaginieren, sei, so Eggert letztlich, eigentlich gar nicht materiell, sondern auf der „Astralebene“ abgelaufen und entsprechend nicht durch exoterische Quellen zu be- oder widerlegen. Auf diese Weise ins Unsichtbare verlagert, kann der okkulte Befund nicht mehr in Konflikt mit dem naturwissenschaftlichen geraten:
„Ich sehe keinerlei Widersprüche zwischen Wissenschaft und Steiner, da letzterer mAn eine ganz andere Perspektive hat. Vieles scheint datierbar- etwa der große Gesamtkontinent dort, wo Steiner Lemurien verortet. Aber was “Menschsein” unter diesen Bedingungen betrifft, so schildert Steiner Ereignisse auf der Astralebene. Für ihn beginnt – die gesamte Evolution bejahend- Menschsein im engeren Sinne erst da, wo Selbstbewusstsein entsteht. Das meint er dann mit “Physischwerden” am Ende der Atlantis: Das Selbstgefühl schritt bis zum Körperlichfühlen voran. Alles vorher ist eine Sache auf der Astralebene, die parallel, und immer wieder mit Berührungspunkten, zur geologischen und humanen Entwicklung verläuft. Die Welt, in der man sich aus dem in der Luft schwimmendem Lebensstoff ernährt, ist keine irdische, sondern himmlische.“
Das macht deutlich, wie sich Anthroposophie durch relativ geringfügige Umschreibungen von Steiners Evolutionsschilderungen aktualisiert.
Kein Äther im Karbongestein
Ein anderes Beispiel wäre der anthroposophische Evolutionsbiologe Wolfgang Schad, der in einem Sammelbandbeitrag von 2011 eine genau umgekehrte Neuinterpretation vornahm. In Steiners Weltbild hat sich die Erde aus “übersinnlichen” Welten heraus erst zu ihrer heutigen Gestalt verdichtet, was er mit zahlreichen pittoresken Details anreicherte. So meinte Steiner, wie Schad ausführt, “dass die Pflanzen der Karbonzeit keine physischen Pflanzen gewesen seien, sondern, was so aussieht, seien nur hauchartige Eindrücke von Ätherwirkungen [sprich: “übersinnlich”-subtilen “Lebenskräften” – AM] in einem undifferenzierten Kohlebrei.” (Schad in Uhlenhoff: Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart, 156, vgl. Steiner: GA 300). Das kann und muss Schad als Evolutionsbiologe kritisieren:
“Wer selbst einmal im Karbongestein Pflanzenfossilien gesammelt hat, kann sich leicht davon überzeugen, dass es sich einst um reale, physisch lebendige Pflanzenfossilien gehandelt hat. Im Mikroskop ist die Zellstruktur der Pflanzengewebe noch gut zu erkennen … auch schon fossile Amphibien und erste Reptilien sind aus dem Karbon gut bekannt.” (ebd.)
Schad wirft Steiner so wenig über Bord wie Eggert dies tut, vielmehr werden die hellsichtigen Schilderungen jeweils so gut als möglich an die vorhandenen exoterischen Erkenntnisse angepasst. Beide verfolgen jedoch unterschiedliche Taktiken. Der eine plädiert angesichts der krausen Produkte pseudo-empirischer „Atlantisforschung“ für mehr Vergeistigung, der andere weiß um die Tücken gerade des spiritualistischen Reduktionismus. Religions- und ideengeschichtlich sind solche Neuinterpretationen freilich nichts Ungewöhnliches, sondern Alltag im permanenten historischen Wandel. Schon Steiners Evolutionsgeschichte ist ein Versuch, vorgefundene okkulte Doktrinen derart zu modifizieren, und zwar eher nach dem Modell Eggert als nach dem Modell Schad. Das lässt sich an seiner Rassenlehre zeigen. Die Adyar-Theosophie, deren zentraler Mythos eine ständige Höherentwicklung ist, hatte verschiedene Evolutionsstufen diversen sog. „Wurzelrassen“, „Zweigrassen“ und „Unterrassen“ zugeordnet, die einander in einem historischen Staffellauf als Akteure des Fortschritts ablösen. Steiner führte ab etwa 1906 eine Neufassung ein: Seiner Ansicht nach könne man erst auf Lemuria bzw. (später nur noch) Atlantis von echten „Rassen“ reden, weil der Mensch erst dort einen tatsächlich physischen Leib annehme (Steiner datiert dies also weit, weit früher als Eggert). Es sei, so Steiner, eine theosophische „Kinderkrankheit“, anders als physisch beschaffene Evolutionszustände mit dem Rassebegriff zu belegen. Steiners Einschränkung des theosophischen Rassebegriffs versuchte, Rassentypologie und Entwicklungsbegriff partiell zu entflechten, was am Ende dazu führte, dass Steiner das vor-evolutionäre Rassenschema Blumenbachs (Äthiopier, Malayen, Mongolen, Europäer, Amerikaner) aufgriff und die Evolutionsphasen, wenn auch inkonsequent, in „Kulturepochen“ umbenannte. (vgl. dazu Rassismus und Geschichtsmetaphysik, 52-98) Eggert wiederum, der sich von Steiners Rassismus sehr deutlich abgrenzt, könnte nun eben antworten, Steiner habe astrale mit körperlichen Zuständen verwechselt und prähumanoide astrale Formen, was auch immer das sein sollte, mit seinen geliebten Weißen usw. – keine Ahnung, ob er das auch tatsächlich tun würde.
Auch wenn derlei interpretative Verschiebungen theosophischer Doktrinen historisch nicht überraschen: Religionsphilosophisch ist die Sache komplizierter – die ständigen Modifikationen der anfänglichen Konzeption des Absoluten sprechen eher gegen als für dieses Absolute. Nach der berühmten „Gärtnerparabel“ stirbt Gott den „Tod der tausend Qualifikationen“, da permanente Falsifikationen und reaktive Neuformulierungen nichts als die Vergeblichkeit solcher Fixierungen kundtun. Der Ausgangspunkt wird durch die tausend Qualifikationen bis zur Unkenntlichkeit verflüchtigt. Ganz abgesehen davon, dass schon die theosophisch-anthroposophische Evolution der Rassen und Kulturen in ihrer Ausgangsform nicht eben durch in- oder externe Plausibilität zu glänzen vermag.
Apologetik, Polemik und Religionismus: Christian Clement
Von diesem Problem her lässt sich die Herangehensweise Christian Clements verstehen, der, obwohl er selbst kein Anthroposoph, sondern eher akademischer Steiner-Sympathisant ist, die radikalste Variante liberaler Anthroposophie auf den Markt geworfen hat – und zwar in der von ihm herausgegebenen „SKA“ (vgl. Die Mystik im Aufgang, Anthroposophische Erkenntnisschulung), der ersten kritischen Ausgabe der Hauptwerke Steiners. Übrigens publiziert auch Clement auf Michael Eggerts Blog und hat sich dort in kurzer Zeit als einer der interessanteren Autoren etabliert. Seine Einträge betreffen meist Sujets aus dem Kontext „SKA“. Ich nutze die Gelegenheit, um Clements zwischenzeitlich erhobenem Vorwurf zu widersprechen, Helmut Zander, Hartmut Traub und meine Wenigkeit würden ihn kritisieren, weil er Anthroposoph sei oder eine ideologische Nähe zur Anthroposophie habe. Die beiden anderen mögen tun, was sie wollen: Ich plädiere dafür, Clements Steinerdeutung als Ausdruck der Säkularisierung und Diffusion des Steinerschen Denkens in einem postmodernen Wissenschaftsbetrieb zu sehen, der alles diskutierbar macht. Der voluntaristische Konstruktivismus, den er Steiners Weltenbauerei nach 1900 zuschreibt, ist selbst Ausdruck davon und ermöglicht zugleich eine zeitgemäße Relativierung der Anthroposophie. Das ist ideologisch, aber aufgrund eines speziellen inhaltlichen Verhältnisses zu Steiners Doktrin, nicht weil es dieser besonders nahe stünde (das ist gerade nicht der Fall).
Dass Steiners Bücher inzwischen nach ganz normalen wissenschaftlichen Standards in einem wissenschaftlichen Verlag ediert werden, gilt natürlich, aber albernerweise allenthalben als bösartiger Betrug, hat Clement anthroposophischerseits alle möglichen wutschäumenden Reaktionen und üble Kampagnen eingebracht. Selbst Wissenschaftlern wie Helmut Zander und Peter Staudenmaier fällt derweil allerdings nichts besseres ein, als Clement anthroposophische Deutungsmuster nachzutragen, während dessen spezifische (und eben konkret zu kritisierende) Deutung mehr oder weniger unter den Tisch fällt. Sie sollte vielmehr selbst Gegenstand von Esoterikforschung werden und kommt ohne Tod durch tausend Qualifikationen aus, weil sie das Dilemma Geist/Welt, Geist/Leib gänzlich zugunsten des Geistes, nämlich in eine Art autotheistischen Solipsismus auflöst, so dass alle evolutionären Stadien, um die sich Eggert und Schad bemühen, nurmehr als überflüssiges Beiwerk erscheinen – und Steiner als eine Art kontemplativer Bewusstseinspädagoge. Steiners ‚höhere‘ Erkenntnisse seien tatsächlich Selbstbeobachtungen eines universalen Bewusstseins und die sinnlichen Bilder des Übersinnlichen nicht weiter wörtlich zu nehmen. Durch diese einseitige Interpretation verblassen die Inhalte von Steiners Schriften zur Unkenntlichkeit – womit Clements Lesart auf eigentümliche Weise sein Projekt einer Kritischen Ausgabe von Steiners Werken konterkariert. Er versucht, das zu umgehen, in dem er die theosophische Abkunft der Anthroposophie zwar zur Genüge dokumentiert, aber interpretativ marginalisiert – zugunsten einer Verortung Steiners im „deutschen Idealismus“, wobei Kant, Fichte, Schelling und Hegel dabei eher genannt als konkret mit Steiner abgeglichen werden. Hartmut Traub, der Steiners philosophische „Frühwerke“ überzeugend auf Fichte zurückgeführt hat, kommt dabei kaum vor – ich erlaube mir, Clements Band zu den besagten philosophischen Frühschriften an eigener Stelle bald ausführlicher zu besprechen.
Clement vertritt so einen ganz eigenen Monismus der Bewusstseinsimmanenz, der die Problematik von Steiners okkultistischem Empirismus und phänomenologischem Konkretismus ebenso relativiert wie er ‚den‘ Idealismus zurechtbiegt. Dogmatische Anthroposophen wie Holger Niederhausen, Thomas Meyer usw., die Clement verketzern (vgl. Willy, Thomas und der Wolf im Schafspelz), übersehen, dass dieser nicht den Geist, sondern die Welt leugnet. Anthroposophiekritikern ist das spezifische Dilemma seines Ansatzes wie gesagt anscheinend ohnehin entgangen. Hier soll die philologische Nützlichkeit und Leistung von Clements Edition nicht im Mindesten in Abrede gestellt werden. Ich würde mich freuen, mit ihm über die großen Denker des Idealismus zu disputieren. Selbst seine Interpretationshypothese wäre, würde sie nicht derart alternativlos hypostasiert, anregend. Davon abgesehen ist es aufschlussreich, dass ausgerechnet Clement Steiner textkritisch ediert: In seinen ausgesprochen langen und detailreichen Vorwörtern ordnet er die Ansätze einer historischen Kritik so an, dass sie seinem monistischen Neo-Steiner Nahrung geben. Clement betreibt gewissermaßen Steinerkitik, wie Spinoza Bibelkritik betrieb (dass Steinerkritik im emphatischen Sinne unwahrer ist als Bibelkritik, liegt auf der Hand). Clements Lieblingsgeschichte zu Steiner lautet in etwa wie folgt:
„In diesem Durchgang wird sich zeigen, soviel sei an dieser Stelle vorweggenommen, dass Steiner seine Esoterik in unmittelbarer Anlehnung an und Auseinandersetzung mit vor allem neotheosophischen Vorbildern ausgebildet hat (Blavatsky, Sinnett und Besant), wie er aber zugleich in dieser Auseinandersetzung die theosophischen Vorbilder zunehmend von innen her um- und weitergebildet hat, und zwar auf Grundlage derjenigen philosophischen Fragen und Überzeugungen, die er in den drei hauptsächlichen Phasen seines vortheosophischen Werkes in Auseinandersetzung mit dem Weimarer Klassizismus und dem deutschen Idealismus, insbesonders mit Fichte, Goethe und Schelling, ausgebildet hatte.“ (Clement: Rudolf Steiners ‚Geheimwissenschaft‘)
Damit, nicht als Anthroposoph, mindert Clement immer wieder den Wert seiner Edition. Die Strategien, mit denen dabei die offensichtlichen Unterschiede und Brüche zwischen deutschem Idealismus und Steiners Esoterik verwischt werden, zeigen sich etwa darin, dass Clement sich eines reichlich undifferenzierten Begriffs von Theosophie bedient. Schellings Theosophiebegriff von 1811 aus den oben zitierten „Weltaltern“ soll beispielsweise nach beiden der oben verlinkten Texte Clements irgendwie relevant für Steiner sein. Diese Suggestion funktioniert in den Texten nur, weil dieser Theosophiebegriff nicht näher erläutert wird. Tatsächlich präsentiert Schelling in der „Weltalter“-Einleitung sein Programm in Abgrenzung vom ‚reinen Schauen‘ (Theosophie – weder Blabatsky noch Steiner beanspruchten in ihren esoterischen Schriften genau diese Form des Eingehens in den Gegenstand) und einer bloß rationalistischen ‚Dialektik‘. Außerdem tut Clement so, als seien die „Weltalter“ in Konzeption und Inhalt der Blavatsky/Steiner-Theosophie vergleichbar – sind sie allenfalls in dem Sinne, als alle drei Clements bewusstseinsphänomenologischem Reduktionismus eine reale, in sich differenzierte Außenwelt wie eine in Potenzen gespaltene Gottheit entgegenhalten könnten. (vgl. zur dabei findigsten, der Schellingschen Version Habermas: Dialektischer Idealismus im Übergang zum Materialismus. Geschichtsphilosophische Folgerungen aus Schellings Idee einer ‚Contraction Gottes‘, in: ders. Theorie und Praxis, Frankfurt a.M. 1971, 172-227) Steiner dagegen setzte stets das Bewusstsein als primäre Tatsache: Als die Menschen im physischen Stadium zuerst in der verschlossenen Wärme des „Alten Saturn“ auftauchten, standen ihnen schon die hoch entwickelten Hierarchien der Engel bis hinauf zu den Seraphim zur Seite.
Im oben zitierten Text wagt Clement erste Fingerübungen zur Kontextualisierung von Steiners ‚Geheimwissenschaft im Umriss‘, es geht also wieder um die Evolutionserzählung. Anstelle von Steiners Quellen wird dabei neben Schelling u.a. C. G. Jung herangezogen, dem die moderne Esoterik eine große Neuerung verdankt: Die Verlegung der „höheren Welten“, die Steiner noch annahm, in ein „kollektives Unbewusstes“, das die Menschheitsgeschichte in Form diverser Archetypen dominiert. Kollektivistischer Psychologismus anstelle des Postulats übersinnlicher Sphären. Dieser Versuch Clements, theosophische Metaphysik in eine spätere esoterische Neuerung aufzulösen, verfehlt ebenfalls das Ziel einer Plausibilisierung Steiners, weil er dessen Ansatz übergeht und allenfalls weiter zur Verzerrung der konkreten Kontexte beiträgt. Einem weiteren esoterischen Publikum, dem bereits Gerhard Wehr eine „Synopse“ von Jung und Steiner vorgelegt hat, kommt eine solche beiläufige Rehabilitierung Jungs sicher gelegen. Jungs Lehre ist selbst bemerkenswert fluid einsetzbar: 1933 als Pionierentwurf einer Psychologie für Arier, im ‚New Age‘ als spiritueller Hintergrund zur Verortung der millenarischen eigenen Erwartungen und heute in etablierten Therapierichtungen. (vgl.Gess: Vom Faschismus zum neuen Denken. C. G. Jungs Theorie im Wandel der Zeit, Lüneburg 1994) Abgesehen davon hätte auch Jung sich gegen eine bewusstseinsphilosophische Erklärung seiner Archetypenlehre gewehrt: Die Seele habe „die Wurzeln … nicht nur über die Erde im engeren Sinn, sondern in die Welt überhaupt gesenkt“ als „eigentlich der chtonische Anteil der Seele … durch den sie an die Natur verhaftet ist oder in dem wenigstens ihre Verbundenheit mit Erde und Welt am sichtbarsten erscheint.“ (Jung: Seele und Erde (1931), Gesammelte Werke 10, 45) Nach Steiner kristallisierten sich eher bestimmte seelische Aspekte umfassenderer spiritueller Wesen im Zeitalter der Erd-Periode bis ins Physische aus. Dies wird sich künftig evolutionär respiritualisieren, was einer parallelen Bewusstseinsintensivierung der Menschheit entspricht. Nicht, dass ein Vergleich dessen mit Jungs sehr viel statischerem Modell nicht aufschlussreich sein könnte, Clement jedoch geht nicht soweit, die Divergenzen und Schnittflächen beider Weltanschauungsgebäude auszutragen.
Ferner ist Christian Clement von der anthroposophischerseits üblichen Opposition zu Helmut Zander geprägt, der 2007 den Nachweis geführt hat, dass und wie sehr die Anthroposophie in all ihren Grundlagen und vielen Details eine „mitteleuropäisch“ eingeebnete Adyar-Theosophie ist, deren multireligiösen Bezugsrahmen Steiner allerdings mit der Zeit auf ein vermeintlich christliches Programm reduzierte. Obwohl Clement selbst munter gegen Zander polemisiert, nutzt er derweil u.a. dessen Kritik, um sich als Verfolgter eines anti-esoterischen wissenschaftlichen Mainstreams zu inszenieren:
„Wer heute dem akademischen Publikum eine kritische Ausgabe der Schriften Rudolf Steiners vorlegt, begibt sich ebenfalls in das von Hanegraaff angedeutete unsichere Terrain zwischen gesellschaftlich ›akzeptierten und akzeptablen‹ und ›nicht akzeptablen‹, vom wissenschaftlichen Establishment geächteten Theoriediskursen.[2] Er hat sich darauf einzustellen, dass, wenn er Steiners Denken nicht ausdrücklich als in irgendeiner Hinsich[t] illegitim ausweist, es gar in seinem eigenen Anspruch ernst nimmt und somit »in den Bereich des akzeptierten und akzeptablen Wissens hineinzieht«, von seinen akademischen Kollegen unter Umständen mit derselben Ächtung belegt wird, wie der in ihren Augen ›illegitime‹ Gegenstand seiner Untersuchung selbst.[3] Eine solche Delegitimierung droht also nicht nur dann, wenn ein Autor bestimmten vom akademischen Establishment geächteten Wissensformen ausdrücklich zustimmt oder sie gar in das eigene Denken aufnimmt; sie kann bereits dann erfolgen, wenn er sich nur in sachlicher, nicht-wertender und nicht-derogativer Art mit der theoria non grata auseinandersetzt.“ (Clement: Über Schwierigkeiten und Aussichten)
Dem eigenen Anspruch Steiners, der seine ‚höhere‘ Wissenschaft doch gerade als unendlich viel besseres Gegenprogramm zur akademischen verstand, kann man akademisch so wenig gerecht werden wie er es je der Akademie wurde. Als ob das nötig wäre (oder auch nur hilfreich), um seine Vorstellungen wissenschaftlich zu untersuchen. Dabei gibt Clement überdies die Kritiken an seiner Editionspraxis verkürzt wieder und behauptet, die bemängelten blinden Flecken seiner Texte würden aufgrund ihrer vermeintlichen Nähe zu Steiner kritisiert und nicht vor allem, weil sie blind sind. Im Prinzip reduziert Clement die Kritik an seinem Unterfangen damit auf genau das, was ihm Andreas Lichte bescheinigt hat: Steiner ’neue Kleider‘ zu verpassen, alten Wein in neuen Schläuchen schmackhaft machen zu wollen. Im zitierten Absatz spinnt Clement tatsächlich fiktive neue Kleider, aber für sich selbst, wie seine verkürzte Wiedergabe Wouter Hanegraaffs zeigt. Letzterer rekonstruiert die Entstehung der ‚westlichen Esoterik‘ zwischen zwei Paradigmen: (1) Einer protestantischen Polemik gegen heidnische Residuen im Katholizismus, die sich in die (protestantisch geprägte) Aufklärung fortsetzte, und (2) einem ‚religionistischen‘ Ansatz, der sich strukturell von der Hermetik mit ihren Konzepten von prisca theologia und philosophia perennis bis ins 20. Jahrhundert im Eranos-Kreis findet. (vgl. Hanegraaff. Esotericism and the Academy, Cambridge 2012) ‚Religionismus‘ ist die Annahme einer im wörtlichen Sinn ‚esoterischen‘ Seite der Religionsgeschichte, deren Reduzierung auf eine interkonfessionelle ‚Mystik‘ als ihren vermeintlichen wahren Kern. Clements Versuch, Steiner einer diffusen ‚theosophischen‘ Tradition vom Mittelalter über ‚den‘ Idealismus zu Jung zuzuordnen, ist ein musterhaftes Beispiel für solchen Religionismus. Paradoxerweise bedient Clement dabei gleichzeitig den ‚polemischen Diskurs‘, indem er versucht, die theosophischen Einflüsse auf Steiner als Oberflächenphänomene sublim zu disqualifizieren, während man den Esoteriker immer bloß von seinen vor-theosophischen Schriften her zu interpretieren habe. Es wird sozusagen eine Zwei-Klassen-Ideengeschichte betrieben, die Steiner vor esoterisch-okkulten Einflüssen bewahren will.
Es bleibt zu hoffen, dass Clement sich endlich auch entschließt, seine aufgeblähte Interpretationshypothese näher auszuweisen, entsprechend zu relativieren und in seiner Steiner-Edition mit anderen Deutungsmöglichkeiten abzugleichen. Das wäre schon deshalb wervoll, weil man diesen Ansatz tatsächlich gewinnbringend für Steiners Veränderungen um und kurz nach 1900 heranziehen könnte. Auf die Veränderungen in seinem Konzept der Subjektkonstitution zwischen dem atheistischen Höhepunkt seiner Ich-Philosophie über die „Seelenwandelung“ zur theosophischen Evolutionlehre trifft in der Tat jene Kurve der ‚Umstülpung‘ zu, die Clement reklamiert: Was von innen angeschaut wurde, wird nun in eine übersinnliche Um- und Außenwelt verlegt. (vgl. Die Mystik im Aufgang) Immerhin will Clement Hanegraaff und andere prominente Forscher für Vorworte in künftigen Bänden der SKA zu Wort kommen lassen. Ich fürchte, die Ausführungen Clements, die in die nächsten „SKA“-Teilen auf uns zu kommen, werden sich trotzdem nicht wesentlich von seiner bisherigen Lieblingsgeschichte unterscheiden. Es war zu viel erwartet, dass eine erste Steiner-Edition außerhalb anthroposophischer Verlage frei von ideologisch-apologetischen Verzerrungen sein würde, mag sie auch wissenschaftlich noch so nützlich sein. Sie steht aber auch nicht im Zeichen der Kontinuität anthroposophischer Hermeneutiken. Sondern Clements Texte zeigen, ähnlich wie Eggert, eben Weiterentwicklungen der Anthroposophie an, die parallel zum Verfall ihrer alten Institutionen (vgl. Sergej, du hast dich selbst gegeben) in immer transparentere und durchlässigere Formen schlüpft und dabei, zäh wie alle Ideologie, in der Lage ist, naturwissenschaftliche wie philologische Probleme gleichsam in sich aufzusaugen – vorläufig allerdings um den Preis ihrer eigenen Verbindlichkeit.
Ideologische vs. ideogenetische Steiner-Deutung
Eine Replik auf Ansgar Martins Kritik an der Einleitung zu SKA 7
von Christian Clement
Ansgar Martins war so freundlich, eine Besprechung des soeben erschienenen 7. Bandes der Kritischen Ausgabe von Schriften Rudolf Steiners (SKA) – Schriften zur Erkenntnisschulung –auf seinen blog zu setzen. Darin hob er viel Positives hervor und sprach manches Lob aus, fand aber auch einige Kritikpunkte, besonders an der Einleitung zu dem Band, und darunter einiges, von dem er meinte, es füge der Edition als solcher „schweren Schaden“ zu. Auf Martins lobende Aussagen zum Band brauche ich hier nicht einzugehen; die verdienten nehme ich dankend hin, auf die unverdienten werde ich mich hüten, hier näher einzugehen. Zu seinen kritischen Punkten aber möchte ich einiges zu bedenken geben.
Zunächst sei versucht, die Kritik von Martins kurz zusammenzufassen. Dabei stellen sich mir drei Hauptpunkte dar: zum einen bemängelt er, dass ich in meiner Kontextualisierung des anthroposophischen Erkenntnisweges wesentliche Zusammenhänge ausgeblendet hätte, etwa die religionsgeschichtliche Literatur zum Thema ritueller Handlungen, die neuesten Publikationen aus dem Bereich der Esoterikforschung sowie die binnenanthroposophische Literatur über die Arbeit der anthroposophischen Hochschule und über neuere anthroposophische Meditationsrichtungen.
Ein zweiter Punkt betrifft die Tatsache, dass ich in dem Band die Thematik des Wissenschaftsanspruches der übersinnlichen Erkenntnis bei Steiner nichtbehandelt habe. Da sich der Band zentral mit der Thematik der durch Meditation zu erwerbenden höheren Erkenntnisstufen dreht (Imagination, Inspiration und Intuition) und Steiner auf die systematische Ausbildung und Anwendung derselben den Wissenschaftsanspruch der Anthroposophie begründet hat, so Martins, hätte dieses Problem doch in der Einleitung zum 7. Band ausführlich besprochen werden müssen.
Ein dritter Kritikpunkt schließlich ist, und dies scheint für Martins der schwerwiegendste zu sein, dass ich in der Einleitung den Versuch unternehme, die Texte des späten Steiner (also ab der „Theosophie“ von 1904) aus der Perspektive von Steiners philosophischem Denken vor 1904 zu verstehen. In diesem Versuch sieht Martins eine Infragestellung der Eigenständigkeit des Esoterikers Steiner zugunsten des Philosophen. Steiner werde so eine intellektuelle Entwicklung nach 1900 abgesprochen, was sich aber von seinen eigenen Äußerungen her nicht rechtfertigen ließe. Ja noch mehr: es entstehe so eine „ideologische Verkürzung“, durch welche der späte Steiner massiv „umgedeutet“ und „verzerrt“ dargestellt werde. Ausserdem rede ich damit, so Martins, einer gewissen „anti-esoterischen“ Einstellung das Wort, welche doch gerade die jüngere Esoterikforschung endlich zu überwinden beginne.
Im Folgenden möchte ich auf diese drei Hauptpunkte kurz eingehen. Dabei sei vorweg gesagt, dass ich die ersten beiden Einwürfe von Martins gut nachvollziehen kann und prinzipiellberechtigt finde, wobei die monierten „Lücken“ jedoch nur teilsweise als Versäumnisse gelten können, während manches bewusst in Band 7 nicht thematisiert wurde, weil die Besprechung an anderer Stelle sinnvoller erscheint bzw. nicht in den Zusammenhang des Themas „Erkenntnisschulung“ gehört. Den dritten Einwurf hingegen möchte ich entschieden zurückweisen indem ich plausibel zu machen versuche, dass sich mein Versuch einer Deutung der steinerschen Esoterik aus der Perspektive des philosophischen Steiner, besonders des bewusstseinsphilosophischen Steiner der Schriften um 1901/02, durchaus kohärent durchführen und auch von Steiner selbst her rechtfertigen lässt, ohne dadurch zur Ideologie zu werden. Im Gegenteil bietet sie eine Möglichkeit, in kritischer Weise Steiner durch Steiner selbst deuten zu lassen.
Zu Punkt 1: Martins hat recht, wenn er darauf hinweist, dass ich in meiner Betrachtung von Steiners Texten zur Erkenntnisschulung die religionsgeschichtliche Literatur weitgehend ausblende. Dies geschieht vor allem, weil dies nicht mein Feld und nicht mein Ansatz ist und ich mich mit der vertieften Einarbeitung in dieses Feld überfordern würde. Ich betrachte Steiner und seine Darlegungen zur Erkenntnisschulung nicht primär im Rahmen der Religionsgeschichte (denn da gehört sie meiner Meinung nach nicht hin, trotz aller Bemühungen mancher Kritiker, sie so zu interpretieren, und mancher Anthroposophen, sie faktisch zum Religionsersatz umzufunktionieren), sondern in ihrem philosophiegeschichtlichen Kontext. Das ist natürlich eine interpretatorische Verengung, die mir aber durchaus legitim erscheint. Ich bleibe lieber bei meinen Sohlen und lasse hier Lücken, die zu füllen ich Berufeneren überlasse, als zu dilletieren, Falsches hinzustellen oder bloß einige Gemeinplätze zu referieren. Und so gesteht mir ja auch Martins zu, dass ich auch ohne explizites Eingehen auf die entsprechende Sekundärliteratur allein durch meinen umfassenden Stellenkommentar die notwendige Kontextualisierung Steiners, etwa in Bezug auf das theosophische Umfeld, durchaus zufriedenstellend vorgenommen hätte.
Mit der Literatur zur Esoterikforschung verhält es sich ähnlich, obwohl deren Einbeziehung schon viel eher in den von mir gewählten Zugang zu Steiner passen würde, besonders die erwähnte Arbeit von Olav Hammer. Ich muss hier allerdings frei bekennen, dass ich mich in diese Literatur derzeit erst hineinarbeite und nicht, um eines pseudowissenschaftlichen Vollständigkeitsanspruches willen, den Abschluss von SKA 7 auf unbestimmte Zeit herausschieben wollte. Die Zeiten, in denen ein wissenschaftlicher Herausgeber sich die Pose des „allwissenden Erzählers“ geben musste, liegen glücklicherweise hinter uns. Zudem sind die meisten der Werke, die einzubeziehen Martins mir rät, 2012 oder 2013 erschienen, also zu einer Zeit, als die Arbeit an Band 7 bereits weit fortgeschritten war bzw. dieser sich schon in der Korrektur- und Satzphase befand. Ich gebe Martins also prinzipiell recht, dass zumindest ein kursorischer Überblick über diese Literatur meiner Einleitung gut getan hätte, und kann mich nur mit den gegebenen Umständen, der Begrenztheit meines Wissens und der Konzentration auf meine fachlichen Stärken entschuldigen.
Andererseits freut es mich denn doch zu hören, dass sich meine Einleitung trotz dieser Ausblendung der Esoterikforschung laut Martins „auf der Höhe von Fragestellungen der aktuellen Esoterikforschung“ bewege (etwa indem ich das Thema Erkenntnisschulung nicht auf einen rein ideengeschichtlichen Diskurs verkürze) und durch meine überwiegend philosophiegeschichtliche Heraungehensweise durchaus „zu ähnlichen Schlussfolgerungen“ komme wie diese. Anscheinend kann man also nicht nur durch Studium der Sekundärliteratur, sondern auch durch Eingehen auf den Primärtext zu den für diesen Text relevanten Fragestellungen kommen. (Womit ich freilich nicht einer wissenschaftsfeindlichen Position oder einer Forscherfaulheit das Wort reden möchte. Es soll nur angedeutet werden, dass ein gewisser„Mut zur Lücke“ sich rechtfertigen lässt, wenn dadurch der Blick auf die mannigfachen Facetten des Primärtextes nicht verstellt wird; ja dass diese Reduktion gewissermaßen notwendig ist, wenn eine Aufgabe zu bewältigen ist, welche die Kräfte und Möglichkeiten einer Einzelperson in Lebenszusammenhängen wie den meinen im Grunde übersteigt.) Martins versucht dann noch ein geistreiches Apercu indem er bemängelt, dass ich zwar Mitglied der ESSWE sei, aber die Publikationen dieser Gesellschaft nicht hinreichend berücksichtigen würde. Hätte er nachgefragt und erfahren, dass ich von der Existenz der Gesellschaft erst nach Drucklegung von SKA 7 erfahren habe und daraufhin Mitglied wurde, hätte er sich diese Bemerkung wahrscheinlich verkniffen.
Mit Blick auf die binnenanthroposophische Literatur stimme ich Martins uneingeschränkt zu. Deren Einbeziehung hätte in die Einleitung gehört und besondern den Abschnitt zur Wirkungsgeschichte der erkenntnisschulischen Schriften gutgetan. Die hier einschlägige mir von Martins anempfohlene Studie von Johannes Kiersch war mir schlicht nicht bekannt, und es liegt hier somit ein klares Versäumnis vor, ähnlich wie die Nichteinbeziehung von Christoph Lindenbergs Studie bei der Einleitung zu Band 5. Hier kann ich mich für den Hinweis nur bedanken und werde die Anregungen in meiner künftigen Arbeit beherzigen.
Zu Punkt 2: Auch in Bezug auf den ausgeblendeten Wissenschaftsanspruch der Anthroposophie ist Martins Frage einerseits natürlich völlig berechtigt: wenn man Steiners Darstellungen zur Ausbildung der übersinnlichen Erkenntnis behandelt, gehört in diesen Zusammenhang nicht eine Darstellung des Wissenschaftsanspruches, der sich mit dieser Erkenntnis verbindet? Ich habe mich gegen diese Option entschieden, weil in den Texten des 7. Bandes selbst, also in „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“ und „Die Stufen der höheren Erkenntnis“ dieser Anspruch nicht explizit erhoben wird und auch inhaltlich keine große Rolle spielt. Steiner benutzt zwar hier gelegentlich die Begriffe „Geheimwissenschafter“ und „Geheimforscher“, doch sind diese Ausdrück hier weitgehend synonym mit „Geheimlehrer“ und bezeichnen nicht einen expliziten Anspruch, dass das sich in der übersinnlichen Erfahrung ergebende in dem Sinne eine Wissenschaft sei, wie dies die Naturwisseschaften für sich in Anspruch nehmen. Steiner geht es hier vor allem um die praktische Frage des „Wie“ von übersinnlichem Wissenserwerb, nicht um die theoretisch-systematische Frage nach dem „Was“ derselben. Dies geschieht meines Erachtens nach erst in der „Geheimwissenschaft im Umriss“ von 1910, wo die Frage nach dem Wissenschaftscharakter der Anthroposophie schon im Titel und dann in den Vorworten ausführlich von Steiner behandelt wird. (Ähnliches gilt übrigens auch für einen anderen Aspekt anthroposophischen Denkens, dessen Ausklammerung Martins mir vorwirft, und zwar die „geschichtsmetaphysische“ Dimension.) Hier möge man also einfach etwas Geduld haben und sich auf die Einleitung zum 8. Band der SKA freuen; vielleicht auch aufatmen, dass die 130seitige Einleitung nicht noch länger geworden ist.
Zu Punkt 3: Da diese Kritik wohl die zentrale und schwerwiegendste ist, sei der Kernvorwurf kurz in Martins eigenen Worten wiederholt:
»Clement […]ist nicht bereit, Steiners intellektuelle Entwicklung zum theosophischen Erforscher der geistigen Welten ernst zu nehmen. Vielmehr wird der späte Steiner überall dort, wo er mit dem philosophischen Frühwerk nicht mehr übereinstimmt, auf das philosophische Frühwerk reduziert. Dass Steiner mit dem “kritisch-philosophischen Diskurs” tatsächlich gebrochen hatte, ist aber nicht zu leugnen […] Scheinbar kann Clement Steiner den Glauben an Transzendenz nicht zugestehen. Das mag eine legitime Perspektive sein, sofern sie Steiner-kritisch auftritt: Freilich handelt es sich bei Steiners Visionen um “innere Erlebnisse”, die zu real existierenden geistigen Zuständen und Wesen zu hypostasieren eine dogmatische Setzung darstellt. Daraus geht aber nicht hervor, dass Steiner deshalb selbst nur der Auffassung gewesen sei, es handle sich um lediglich innere Erlebnisse, die ohne spirituell-übersinnliches Objekt auskommen. Tragischerweise leugnet Clement also den Sinn und Zweck von Steiners Geistesschau – mit naturwissenschaftlicher Präzision in geistige Seiten des Kosmos vorzudringen und valide Erkenntnisse mitzubringen, die sich dann z.B. in Pädagogik, Medizin usw. verwirklichen ließen –, und zwar leugnet er ihn per se. Clements Herangehensweise zeigt sich hier als ideologische statt analytische. […] Clement trifft offenbar die nicht inhaltlich begründete Vorentscheidung, Steiner die Entwicklung nach 1900 abzusprechen und seine meditativen “Anweisungen und Schilderungen im Lichte seiner zuvor erschienenen epistemologischen und bewusstseinsphilosophischen Schriften” allein zu lesen. (XXX) Dieser reduktionistischen Lesart stehen die eindeutigen Aussagen Steiners zu Legionen entgegen […]«
Diese Deutung von Martins möchte ich hiermit in Frage stellen. In der Tat deute ich die Texte des späteren Steiner aus derjenigen Perspektive, die Steiner selbst in seinen früheren vortheosophischen Schriften entwickelt hat. Dabei beziehe ich mich nicht nur auf die erkenntnistheoretischen Argumente Steiners bis 1894, sondern auch und vor allem auf die bewusstseinsphilosophisch geprägten Texte von 1901 und 1902 und dem darin von Steiner formulierten (und dann von mir in der Einleitung zu SKA 5 so genannten) „ideogenetischen Grundgesetz“. In dieser Herangehensweise sehe ich aber nicht eine „ideologische Verkürzung“, sondern eine legitime Methode der Deutung Steiners, welche sich zum einen problemlos von Steiner her rechtfertigen lässt und zudem den Vorteil hat, dass sich anhand seiner ohne Schwierigkeiten eine innere Kontinuität zwischen Steiners philosophischen Frühwerk und seiner späteren Esoterik behaupten lässt. So kann man Steiner durch Steiner auslegen lassen, ohne mit den Anforderungen kritischen Denkens in Konflikt zu kommen. Dass diese hermeneutische Herangehensweise an Steiner nicht die einzig mögliche ist und, wie alle alternativen Deutungsversuche, auch ihre Schwierigkeiten hat, ist ja selbstverständlich. Wenn aber Martins sie als „ideologisch“ bezeichnet und ihr vorwirft, den späteren Steiner bis zur Unkenntlichkeit zu verzerren, so kann ich dem nicht folgen. Nicht „ideologisch“ gehe ich an den späteren Steiner heran, sondern „ideogenetisch“ in Sinne einer von Steiner selbst formulierten bewusstseinsphilosophischen Konzeption.
Diesevon mir in SKA 5 als „ideogenetisches Grundgesetz“ bezeichete Konzeption besagt,dass sämtliche Formen, welche die Wirklichkeit im Bewusstsein des Menschen annimmt, nicht als Repräsentationen einer vom innersten Wesen des Menschen substantiell getrennten bzw. verschiedenen „Außenwelt“ zu verstehen sind, sondern vielmehr als Repräsentationen bzw. Manifestationendes absoluten, in der menschlichen Erkenntnis sich selbst entwickelnden Weltwesens. Man vergleiche dazu folgende Darstellung aus meinem Aufsatz „Die bewusstseinsphilosophische Grundlegung der Philosophie“:
»[Steiners] Darstellung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Mystik; seine Deutungen der ägyptischen, griechischen, jüdischen und indischen Mystik wie auch seine Darstellung der Essäer und Therapeuten und seine Interpretation des Neuplatonismus, des Augustinismus und der Scholastik orientieren sich überall an seinen eigenen Vorstellungen vom Wesen der mystischen Erfahrung und seinen Anschauungen über den Projektionscharakter der menschlichen Gottes- und Jenseitsvorstellungen.Die gesamte geistige Geschichte des Abendlandeswird so zum Kaleidoskop verschiedener Ausprägungenjenereinen Erfahrung der wahren Natur des Selbst, die Steiner schonin seiner Philosophie der Freiheit zu beschreiben versucht hatte.Und so erweist sich die Schrift [„Das Christentum als mystische Tatsache“, C.C.], die äußerlich als eine Geschichte des Christentums bzw. des Mysteriengedankens in der abendländischen Kultur daherkommt, im Kern als eine fundamentale bewusstseinsphilosophische Untersuchung von Wesen und Entwicklung des menschlichen Wissens, die in vielem an hegelsche und schellingsche Vorbilder anknüpft.
In einem Brief vom 2. Oktober 1902 zeigt Steiner, dass er selbst seine Schriften aus dieser Zeit in genau dieser programmatischen Weise verstand. Dort schreibt er über seine Christentums-Schrift: «Ich weiß, dass ich etwas Ähnliches wage wie einst Fritz Schultze, von dessen positiven Aufstellungen heute nichts mehr als richtig gilt, während das biogenetische Gesetz – vielleicht noch korrigiert – in alle Zukunft weiterleben wird» (GA 39, S. 422f.). Fritz Schultze (1846-1908) hatte in verschiedenen Schriften den Versuch unternommen, das von Haeckel aufgestellte biogenetische Grundgesetz auf die psychologische und moralische Entwicklung des Menschen anzuwenden. Nun besagt dieses haeckelsche Gesetz, dass jede Formgestaltung im Werden eines individuellen Lebewesens als Ausdruck der in diesem Wesen sich auslebenden Art oder Gattung zu verstehen ist, indem jedes individuelle Lebewesen im Lauf seiner Embryonalentwiclung die gesamte Stammesentwicklung seiner Art wiederholt. In ähnlicher Weise versuchte nun Steiner, das Grundprinzip der Entstehung kulturgeschichtlich charalkteristischer Vorstellungen im menschlichen Bewusstsein in Analogie zur Embryonalentwicklung von Säugetieren zu verstehen und somit ein dem «biogenetischen» entsprechendes «ideogenetisches» Entwicklungsgesetz zu formulieren. Dieses besagt: jede im menschlichen Bewusstsein auftretende Gestalt- jeder Mythos, jedes philosophische System, jede naturwissenschaftliche Theorie, jedes Kunstwerk – ist nicht nur als Ausdruck einer Persönlichkeit oder einer bestimmten Kulturstufe zu verstehen, sondern muss als von bestimmten Entwicklungsgesetzen geleitete Projektion derim Denken wirksamen universellen Weltwesenheit in ein als äußerlich vorgestelltes Sein verstanden werden.«
Meine Deutung der Steinerschen Esoterik in SKA 7 orientiert sich an diesen von Steiner selbst entwickelten Vorstellungen. Wenn Steiner in der Tat (zumindest in der Schrift von 1902) die mythischen, philosophischen und wissenschaftlichen Vorstellungen innerhalb der Menschheitsgeschichte als Projektionen verstand, in denen der Mensch das Erleben des in seinem Erkennen zur Offenbarung kommenden Wesens (wohlgemerkt: nicht das bloße Erleben der eigenen Individualität oder Einzelseele) als Begegnung mit einer als von diesem Wesen getrennt vorgestellten „Außenwelt“ erlebt, dürfen dann nicht, in Anwendung der Steinerschen Konzeption auf seine eigene Gedankenproduktion,auch seine eigenen philosophischen Vorstellungen wie auch die Inhalte der Steinerschen Esoterik, also die Inhalte des imaginativen, inspirativen und intuitiven Bewusstseins, in eben derselben Weise aufgefasst werden? Was an diesem Deutungsansatz ideologisch sein kann, kann ich nicht sehen – es sei denn, Martins wolle jeden hermeneutischen Ansatz mit diesem Adjektiv brandmarken, also auch seine eigene, von Prämissen des religionsgeschichtlichen Diskurses geprägte Herangehensweise.
Ich spreche Steiner keineswegs eine intellektuelle Entwicklung nach 1902 ab; ich nehme mir lediglich die Freiheit, die Ausbildung der theosophischen und dann anthroposophischen Vorstellungen Steiners ab 1904 mit demselben Prinzip zu erklären, mit dem Steiner selbst sämtliche von der Menschheit vor ihm hervorgebrachten Vorstellungen erklärt hat. Es liegt mir auch fern, „Steiners intellektuelle Entwicklung zum theosophischen Erforscher der geistigen Welten“ zu leugnen oder „Sinn und Zweck von Steiners Geistesschau – mit naturwissenschaftlicher Präzision in geistige Seiten des Kosmos vorzudringen und valide Erkenntnisse mitzubringen“ abzulehnen. Denn zu diesen Fragen sage ich in SKA 7, wie Martins selbst an anderer Stelle vorwurfswoll anmerkt, – nichts.
Wenn hingegen Martins schreibt: „Scheinbar kann Clement Steiner den Glauben an Transzendenz nicht zugestehen“, hat er völlig recht. Mit dem Glauben hatte Steiner, so wie ich ihn verstehe, nicht viel am Hut. Und auch die Vorstellung einer Transzendenz hat Steiner in seinen philosophischen Schriften so vehement abgelehnt, dass ich die von mir behauptete innere Kontinuität im Werk Steiners nicht länger guten Gewissens vertreten könnte, wenn ich meinte, Steiner habe sich in dieser Hinsicht irgendwann „bekehren“ lassen.
Umgekehrt finde ich es hochproblematisch, wenn Martins zu der Vorstellung einer solchen Konversion Steiners zu einem „Glauben an eine Transzendenz“ kommt, und frage mich, wo denn die „Legion“ von Steinerzitaten sein soll, die dies seiner Ansicht nach belegen. Martins führt ein paar Beispiele an, in denen Steiner mahnt, das in der imaginativen Erkenntnis Erlebte nicht als bloßes Sinnbild, sondern als reales Wesenhaftes zu verstehen. Recht wohl; aber behauptet Steiner irgendwo, das in der geistigen Erfahrung erlebte Wesenhafte sei etwas anderes, als eine Manifestation eben jenes Wesens, das da im und durch den imaginierenden Menschen erlebt? Behauptet er irgendwo, der Erlebende und das Erlebte, das „Geistige im Menschen“ und das „Geistige im Weltall“, „Innenwelt“ und „Aussenwelt“ seien, ausser in der subjektiven menschlichen Erfahrung, zwei verschiedene Dinge und nicht vielmehr das eine durch das andere vermittelt?Nur dann könnte man zurecht von einer Transzendenz bei Steiner sprechen, aber mir sind solche Passagen nicht bekannt. Und hätte ein zum „Glauben an eine Transzendenz“ bekehrter Steiner über die monistische Grundhaltung seiner Frühschriften noch 1925 sagen können, sie erscheine ihm auch jetzt noch als theoretische Fundierung all dessen, was er später in der Anthroposophie erarbeitet hat?
Martins’ Deutung meiner Position scheint sich an einer zugespitzten Formulierung von mir aus der Einleitung zum 7. Band aufzuhängen. Nach Martins soll ich nämlich dort behauptet haben: „der Mensch begegne laut Steiner in der Meditation nur sich selbst.“ Dies deutet er in dem Sinne, dass ich mich in meiner Auffassung gefährlich dem Solipsismus nähere, ja er nennt meinen Ansatz in der Tat an einer Stelle ausdrücklich „solipsistisch“:
»Clement verkehrt Steiners esoterische Epistemologie in ihr Gegenteil: Die Geistige Welt wird in ein einerseits solipsistisches, andererseits zum Absoluten aufgeblähtes menschliches Subjekt verschoben.«
Was ich aber tatsächlich geschrieben habe ist dies:
„Das einzige Wesen, dem der Mensch in der Meditation begegnet, ist nach Steiner letztlich das eigene, und zwar als zugleich individuell-persönliches und universell-absolutes.”
Das scheint mir etwas ganz anderes zu sein. Kein Solipsismus und keine Aufblähung des Subjekts zum Absoluten, sondern vielmehr die dialektisch verstandene Identität von Subjekt und Objekt, Ich und Welt, wie sie sowohl von den Mystikern aller Zeiten wie auch von respektierlichen Philosophen wie Fichte, Schelling und Hegel – aber auch von Rudolf Steiner in der „Philosophie der Freiheit“ –behauptet worden ist.
Zur Rechtfertigung meiner Deutung Steiners hatte ich in SKA 7 folgendes hinzugefügt:
»Wer gegen solche Vorstellungen einwenden wollte, dass Rudolf Steiner im Rahmen seiner esoterischen Vorstellungen schließlich eine ausgearbeitete Hierarchienlehre entwickelt habe, muss bedenken, dass Steiner getreu seinermonistischen Grundhaltung auch dieseHierarchien letztlich wieder in das Wesen des Menschen hineingenommen hat: »[. . . ] durch die ›Philosophie der Freiheit‹ erhebt sich der Mensch zur Wahrnehmung des Menschen als rein geistigen Wesens. Und obwohl die Philosophie der Freiheit nur diesen schildert, so ist es doch wahr, daß der, welcher sich zu dem Freiheitserlebnis durchringt, dann in der Umgebung des geistigen Menschen, den er dann wahrnimmt, die Hierarchien findet. Denn sie [die Hierarchien, C. C.] sind alle im Menschen, und im geistigen Schauen erscheint, was im Menschen ist, als geistige Umgebung« (Steiner 1922 im Gespräch gegenüber Walter Johannes Stein, zit. n. Meyer [1985], 299, Hervorhebung C.C.).«
Wenn also nach dieser Aussage Steiners in den „geistigen Hierarchien“ dem Menschen im geistigen Schauen tatsächlich nichts anderes als sein eigenes Wesen entgegenkommt, ist es dann nicht legitim anzunehmen, dass das auch für alle sonstigen „Wesen“ gilt, sie sich sonst noch im „anthroposophischen Wesenszoo“ tummeln? Ich denke, das lässt sich widerspruchsfrei annehmen. Und wenn das Solipsismus sein sollte: war dann nicht auch Steiner Solipsist? – Steiner hingegen zu unterstellen, er habe sich, entgegen seinen tiefinnersten Überzeugungen im Frühwerk, irgendwann zu einem „Glauben“ an eine Transzendenz bekehrt, welche von „Wesen“ bevölkert wird, die als solche unabhängig vom demjenigen Wesen existierten, welches sie und in welchem sie erkennend erlebt werden, scheint mir mit Steiner selbst nicht belegbar zu sein, ja es scheint mir die Steinersche Esoterik dem Vorwurf eines naiven metaphysischen Realismus auszusetzen.
Dem stehen auch die von Martins zitierten Äußerungen Steiners nicht entgegen, dass sich in der Meditation ZUNÄCHST des Meditierenden eigene Seele als von außen an ihn herankommend offenbare, er DANN aber „zu Höherem“ aufsteige. Denn das Aufsteigen vom Erleben der Eigenseele zu höheren Erlebnissen darf schließlich nicht gleichgesetzt werden mit einem Herauskommen aus dem, was hier das „eigene“ „universelle“ Wesen des Menschen genannt wurde. Es kann sehr wohl, ja muss meiner Ansicht nach von Steiner her als ein kognitiver Aufstieg innerhalb der verschiedenen Manifestationen ein und desselben, für alle begrifflichen Dichotomien unerreichbaren Wesens verstanden werden, welches sich sowohl in der „gewöhnlichen“ wie auch in der „höheren“ Erkenntnis offenbart.
Und so lautet mein Fazit: meine Deutung Steiners, wie sie der Einleitung von SKA 7 zugrundeliegt, erscheint mir weiterhin in sich kohärent und in völliger Übereinstimmung mit Steiners eigenen Aussagen zu sein. Ich kann aber Martins Kritik insofern nachvollziehen, als ich meine Deutung Steiners vielleicht stärker als meineDeutung hätte herausstreichen und deren Zusammenhang mit meinen Darlegungen zur Ideogenese in SKA 5 kräftiger betonenmüssen. Mir schien das selbstverständlich zu sein angesichts dessen, was ich bisher über meine Editions- und Interpretationsprinzipien veröffentlicht habe. (Neben der Einleitung zum 5. Band vor allem mein Aufsatz „Die bewusstseinsphilosophische Grundlegung der Anthroposophie“). Darin, dass dies nicht zureichend geschehen ist, kann ich mit Martins eine Schwäche sehen, wie auch darin, dass eine Ausfüllung einiger der oben erwähnten „Lücken“ innerhalb der Kontextualisierung wünschenswert gewesen wären. Für seine Hinweise darauf bin ich ihm daher dankbar. Seine Schlussfolgerung hingegen, dass damit meine Steiner-Deutung insgesamt untragbarund der Edition schwerer Schaden zugefügt worden sei,wird sich hoffentlich als zu weitgehend und als zu pessimistisch erweisen. Ich gebe mich der Hoffnung hin, dass die Stärken der Einleitung ihre Schwächen mindestens auszugleichen in der Lage sind. Und dass, wenn dies nicht der Fall sein sollte, zumindest der Diskurs um die Anthroposophie um eine bedenkenswerte Deutungsposition bereichert worden ist.
Und auch dies kann ich immer wieder nur betonen: dass der eigentliche Wert und Zweck der Ausgabe in der erstmaligen vollständigen Dokumentation der Texte und ihrer Entwicklung besteht, wogegen meine persönlichen Deutungen und Kommentare derselben eher nebensächlich sind.
Literatur
Christian Clement. Die bewusstseinsphilosophische Grundlegung der Anthroposophie. Rudolf Steiners Schriften in textkritischer Beleuchtung, in: Archivmagazin 2 (2013), 169-192.
Rudolf Steiner: Schriften. Kritische Ausgabe (SKA). Band 5: Schriften über Mystik, Mysterienwesen und Religionsgeschichte. Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung – Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums. Herausgegeben und kommentiert von Christian Clement. Stuttgart-Bad Cannstadt, 2013.
Rudolf Steiner: Schriften. Kritische Ausgabe (SKA). Band 7: Schriften zur Erkenntnisschulung
Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? – Die Stufen der höheren Erkenntnis. Samt einem Anhang mit Materialien aus Rudolf Steiners erkenntnisschulischer und erkenntniskultischer Arbeit. Herausgegeben und kommentiert von Christian Clement. Stuttgart-Bad Cannstadt, 2014.
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Zu Band 7 der kritischen Steiner-Ausgabe: Anthroposophische „Erkenntnisschulung“ und Theoriefragen der Esoterikforschung von Christian Clement zu Olav Hammer
„We are not dealing with weird anomalies that conflict with our knowledge of how reality is, so that scholars should refuse to lend credence to them or dismiss them as irrational or crazy delusions. On the contrary, specific types of unusual experiences and bodily phenomena are simply to be expected if one exposes people to specific psychophysiological conditions, for instance in a ritual context or through applying spiritual techniques. Particularly if this happens in the framework of an esoteric worldview or symbolic system that has the capacity of integrating such experiences in a meaningful context … This hiatus will not be filled unless scholars in the field are willing to combine expertise in such domains as anthropology, psychology, neurobiology or cognitive studies, with precise textual study of the source materials of Western Esotericism.“
– Wouter Hanegraaff: Western Esotericism, London u.a. 2013, 97, 101
Bei Fromman-Holzboog erscheint seit 2013 eine Kritische Ausgabe der Hauptwerke Rudolf Steiners (SKA). Band 7 (von acht), Steiners „Schriften zur Erkenntnisschulung“ ist soeben erschienen, nachdem zuerst 2013 Steiners Schriften zur Mystik (Bd. 5) ediert worden sind. Das Vorwort stammt aus der Feder von Gerhard Wehr, den Helmut Zander den „Vater der kritischen Steiner-Forschung“ genannt hat. Wehr hat auch ein Buch über Steiner und C. G. Jung geschrieben, und der Vergleich der anthroposophischen „Schulung“ mit dessen Tiefenpsychologie zieht sich durch den Band. In einer sehr langen und unglaublich facettenreichen Einleitung führt Herausgeber Christian Clement zu den beiden herausgegebenen Schriften Steiners hin: „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ (1904/5) und „Die Stufen der höheren Erkenntnis“ (1905-1908). Erstere wurde von Steiner vielfach überarbeitet, woran man die kontinuierliche Entwicklung, Ausarbeitung und Veränderung seiner Konzeption übersinnlicher „Erkenntnis“ mitverfolgen kann. Im Anhang der Edition sind Texte Steiners aus seiner persönlichen Tätigkeit als esoterischem „Lehrer“, der Mantren und Meditationen anleitete, sowie aus seiner Adaption maurerischer Riten abgedruckt. Den größten Gewinn bieten die Stellenkommentare: Minutiös werden hier werkimmanente Bezüge herausgearbeitet und ideengeschichtliche Kontexte des Steinerschen „Schulungswegs“ präsentiert, von der deutschen Klassik über Romantik und Mesmerismus zu den unmittelbaren theosophischen Vorlagen Steiners. Clements historische Kontextualisierung blendet wichtige Teile von Steiners Selbstverständnis und spart ganze Segmente der relevanten Sekundärliteratur aus, bewegt allerdings oft die auch dort systematisch relevanten Fragestellungen. Im Folgenden versuche ich daher, eine Diskussion der Thesen Clements mit deren Rückkopplung an theoretische und methodologische Fragen der Esoterikforschung zu verbinden.
Genese des „Schulungswegs“
Steiner folgt in „Wie erlangt man Erkenntnisse“ (im Folgenden: WE) einem theosophischen Erkenntnispfad, der durch allerlei Charakterschulung und meditative Techniken, zunächst auch durch die Anleitung eines spirituellen Lehrers (im Rahmen der „Esoterischen Schule“ der Theosophischen Gesellschaft) beschritten werden sollte. Ziel war die Entwicklung „höherer Organe“, und durch diese dann das Schauen einer realen geistigen Welt, in einem Bewusstseinszustand, der die Unterschiede zwischen Außen- und psychischer Innenwelt aufhebt. Eine stets angekündigte Fortsetzung des Bandes erschien nie. In „Die Stufen der höheren Erkenntnis“ (im Folgenden: SE) arbeitete Steiner ein paralleles, aber in großen Teilen ganz anders konzipiertes Programm aus: Hier tauchen die in der anthroposophischen Steiner-Rezeption und vielen seiner Vorträge weit zentraleren Begriffe „Imagination“, „Inspiration“ und „Intuition“ als drei Stufen der hellseherischen Entwicklung und künftigen Evolution auf.
Vor allem das 1914 und 1918 von Steiner stark überarbeitete „Wie erlangt man…“ zeigt sich als editorisch umfangreiches Unternehmen. Insbesondere, weil, wie Clement zurecht kritisiert, die inhaltliche und genetische Entwicklung dieses Texts, die im vorliegenden Band dokumentiert ist, meist ignoriert wurde. „Vielmehr herrscht die überhaupt in der anthroposophischen Literatur zu findende Tendenz, das Buch als Werk aus einem Guss zu sehen und selbst offensichtliche, aus der sukzessiven Entstehungsgeschichte und der späteren Entwicklung des Textes sich ergebende disparate Elemente zu ignorieren.“ (LXXXIIIf.) Clement zeigt einmal mehr, dass Steiners „Schulungsweg“ ursprünglich aus theosophischen Vorlagen stammt, ebenso seine persönlich formulierten Anweisungen an esoterische Schüler.
„Vor allem Besants Buch ‚The Path of Discipleship‘, das ebenso aus Vorträgen hervorgegangen war wie das Steinersche aus Aufsätzen, muss inhaltlich und formal als direktes Vorbild und Quelle für WE angesehen werden … Für die Schilderungen der Inhalte des seelischen und geistigen Wahrnehmens hingegen, wie schon bei der Abfassung der ‚Theosophie‘ (vgl. SKA 6), war Charles Leadbeater ein weiterer wichtiger Bezugspunkt Steiners… Darüber hinaus stellten, was konkrete Übungsanweisungen und Meditationsinhalte angeht, Blavatskys ‚Voice of the Silence‘ und Mabel Collins ‚Light on the Past‘ wichtige Quellen dar. Aus erhaltenen Briefen und Übungsanweisungen für Schüler lässt sich entnehmen, dass Steiner die in diesen Schriften zu findenden Texte und Übungen zunächst übernahm und dann nach und nach durch eigene ersetzte, wobei jedoch grundsätzliche Motive und Strukturen erhalten blieben.“ (XXXVII)
Clement schaut jedoch noch tiefer, indem er die spiritistischen und mesmeristischen Quellen der theosophischen Meditation bis in ihre sublimierten Spuren in Steiners Werk verfolgt. (vgl. XXXVIII) Steiner verstand die „Einweihung“ anfangs als rituell, personell und örtlich fixiertes Phänomen, während er in späteren Auflagen von WE die Rolle des esoterischen Lehrers immer mehr relativierte und stattdessen einen sicheren, individuell und ohne Lehrerautorität gangbaren Weg zur höheren Einsicht propagierte. (vgl. CXX) Clement weist darauf hin, dass Steiner die der Konzeption esoterischer Initation inhärente Dialektik von Autorität und Autonomie aber niemals ganz auf eine Seite auflösen konnte. Die autoritäre Pose Steiners betrachtet Clement kritisch (vgl. XXVII), dazu mehr unten im Abschnitt Synkretismus als Konstituens esoterischer Epistemologie.
Diesseits der Mystik
Im Vorwort weist Gerhard Wehr auf Parallelen Steiners zur mittelalterlichen christlichen Mystik hin, die schon Gegenstand von Band 5 der SKA waren, besonders hebt Wehr Jakob Böhme und Thomas von Kempen hervor. Clement sieht die Parallelen zur Mystik freilich ebenfalls, seine dichte Kontextualisierungsarbeit macht es jedoch möglich, auch die hintergründige Funktion der Mystiker für Steiners Theosophie zu sehen, statt bloß auf etwaige Ähnlichkeiten und Entsprechungen hinzuweisen. Ein Beispiel: Steiner zitiert (im Übrigen nicht nur in diesem Kontext) den Satz „Wenn die Rose selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten“ (SKA 7, 110), der von Angelus Silesius (i.e. Johann Scheffler) stammt. Clement versteht es, hier sowohl die mystischen Quellen dieser Anspielung als auch deren Parallelen zur Theosophie zu entdecken, dabei aber überdies die spezifischen politisch-weltanschaulichen Hintergründe Steiners zu betonen. Im Stellenkommentar heißt es zum zitierten Silesius-Satz:
„Inhaltlich findet sich der Gedanke auch im theosophischen Schriftgut, vgl. etwa Besants ‚Path‘, wo es vom ‚disciple‘ heißt: ‚Everything that he gains, he gains for all; everything that he wins, he wins for all‘ (Besant [1896], 105). Ein interessantes Licht auf die Frage, warum Steiner immer wieder gerade auf diesen Mystiker zu sprechen kam, obwohl Scheffler keine eigentlichen theoretischen Texte von Bedeutung verfasst hat, wirft ein Brief an Günther Wagner vom 2. Januar 1905: „Unsere E[soteric].S[chool].-Mitglieder sollen zunächst folgendes wissen: ‚Die deutsche theosophische Bewegung ist von besonderer Wichtigkeit. Die Deutschen sind die Avantgarde der sechsten Unterrasse und werden sich dieser ihrer Sendung immer mehr bewußt werden. Das sollen sie in aller Demut. Sie sollen sich vertiefen in ihre eigenen Idealisten.‘ Das ist Meisters Stimme. Und dazu: ‚Lest Euere großen Idealisten: J.G. Fichte, Jacob Böhme, besonders aber Angelus Silesius‘.“ (GA 264, 85) (Clement, 297)
Dies, wie gesagt, nur als Beispiel für die wendige und kluge Kontextualisierungsarbeit, die diese Edition leistet. Selbst wer die unterschiedlichen Auflagen und Überarbeitungsschritte von WE bereits kennt, wird hier manch unerwarteten Hintergrund und manche verborgene literarische Anspielung Steiners entdecken. Immer weist Clement auf die diesseitige Dimension der Steinerschen Jenseitsreisen hin: Es gehe ihm darum, Meditation „in handfeste politische und soziale Projekte umzusetzen“, die „in der meditativen Arbeit erworbene höhere Wachheit“ in „der konkreten Alltagswirklichkeit“ einzubringen. (XXVI) An dieser Stelle referiert Clement nicht zum einzigen Mal auf Anna-Katharina Dehmelt („Institut für anthroposophische Meditation“), von der er auch viele Überlegungen zur Genese des Steiner’schen Schulungswegs übernimmt. Tatsächlich ist auch Band 7 der SKA, was Helmut Zander mit Band 5 initiiert sah: eine „Zeitenwende“. Mit Vorliegen dieses Bandes wird man Steiners Schulungsweg künftig in neuem Licht und mit vertieftem Verständnis lesen. Dies wird bei orthodoxen Anthroposophen zweifellos weiterhin Angst und Schrecken verbreiten. (vgl. Willy, Thomas und der Wolf im Schafspelz)
Facettenreiche Kontextualisierung und ideologische Verzerrung
Clements Einleitung geht in vielerlei Hinsicht über eine rein philologische und editionsgeschichtliche Einordnung der edierten Texte hinaus, stets mit dem zutreffenden Hinweis, „dass das volle Spektrum der anthroposophischen Erkenntnisschulung nicht ins Auge gefasst würde, wenn man nur die in diesem Band abgedruckten Schriften Steiners berücksichtigte und nicht dessen Gesamtwerk.“ (XCIII) Stets werden Steiners Psychologie und Anthropologie eingebunden. Clement gleicht die Inhalte der beiden Bücher zur „Erkenntnisschulung“ mit Steiners Freimaurerei, „Erkenntniskult“ oder Mysteriendramen ab und weist vor allem darauf hin, wie viel hier wissenschaftlich noch offen und zu klären ist. Besonders hervorzuheben sind einige wegweisende Überlegungen zu Steiners Sprachphilosophie (XCVII-CI), denn freilich ist die suggestive Kraft der Sprache im Rahmen esoterischer Unterweisungen einzubeziehen, was hier nur illustrieren soll, auf welch vielfältige Weise psychoinvasive Techniken wie die beschriebenen Meditationen wissenschaftlich untersucht werden müss(t)en.
Diesbezüglich ist Clements Einleitung, die dank der Stellenkommentare stets der ideengeschichtlichen Abhängigkeiten gewahr bleibt, ein mutiger Text, sozusagen am Puls der Zeit gegenwärtiger Esoterikforschung. „Auf der anderen Seite waren … die Gewässer, in denen Steiner da angelte, denjenigen so unähnlich nicht, in welchen die Pioniere der modernen Psychotherapie fischten“, schreibt Clement. (CIII) In Bezug auf einen Vergleich von Psychotherapie Freud’scher und Jung’scher Methode geht Clement noch weiter als Helmut Zander und Miriam Gebhardt in ihren Steiner-Biographien. (vgl. Der Besuch der toten Tante) Zur simplen Identifizierung von seelsorgerisch-therapeutischen Implikationen der Steinerschen „Schulung“ mit der Psychoanalyse kommt er jedoch nicht: „Zwischen neomystischer Esoterik und wissenschaftlich betriebener Tiefenpsychologie als charakteristischen Erscheinungen des europäischen fin de siècle nehmen die Schriften Rudolf Steiners zur Erkenntnisschulung eine eigentümliche Mittelstellung ein.“ (XXXIII) Und das ist nicht der einzige Aspekt: von Schillers „höherem Menschen“ zu den jenseitigen Eskapaden von Faust II sucht Clement nach Parallelen und Vorbildern. Man merkt, dass er Steiner lieber Goethe als Blavatsky zuschieben möchte, trotzdem marginalisiert er die direkte Vorbildfunktion der Theosophie für Steiners „Erkenntnisschulung“ nicht.
Längst nicht alle zentralen Aspekte werden von Clement behandelt: Eine regelrecht entstellende Lücke ist die Vernachlässigung von Steiners primärem Ziel einer empirischen Wissenschaft von der „Geistigen Welt“, Clement versucht Steiner stattdessen als Bewusstseinsphänomenologen und die Inhalte der höheren Welten als rein bildlich-symbolischen Ausdruck für geistig-monistische Selbsterfahrung zu deuten. Peter Staudenmaiers Kritik (in: Between Occultism and Fascism, 21), Clement reproduziere „standard anthroposophical assumptions“, ist schlicht falsch – Anthroposophen haben den empirizistischen Szientizismus Steiners stets überernst genommen. Clement jedoch macht sich zum Anwalt ganz anderer Dinge.
Eine ebenso gravierende Lücke: Steiners Fortsetzung der esoterischen „Schulung“ in der „Freien Hochschule für Geisteswissenschaft“ in den 20er Jahren kommt in Clements Band in einem Maße zu kurz, dass wesentliche späte Positionen Steiners und die Praxis der „Klassenstunden“ bis in die heutige Anthroposophie praktisch ignoriert werden.
Eine auch nur in Umrissen repräsentative Darstellung von Steiners Positionen zur „Erkenntnisschulung“ stellt der Band somit keineswegs dar. Auch die relevante anthroposophische wie religionswissenschaftliche Literatur zum Thema wird nur teilweise zur Kenntnis genommen.
Reduktionistisches Steinerbild
Ein augenscheinlicher Kritikpunkt Clements an Steiner lautet, dass dieser in seiner Phänomenologie der geistigen Welt allzu anschaulich und plastisch verfahre. Dass dies gerade das Ziel eines Hellsehers sein könnte, erwägt Clement nicht, sondern spricht von einer in der esoterischen Tradition (was immer das sein soll) „nicht unübliche[n] Veranschaulichung und Verdinglichung innerer Erlebnisse“. (XXVIII) Ein „kritischer Leser“ müsse fragen, „ob und inwieweit Steiner hier mit seiner eigenen intellektuellen Vergangenheit und mit allen Gepflogenheiten eines kritisch-philosophischen Diskurses gebrochen hat und möglicherweise in eben jenen ’naiven metaphysischen Realismus‘ verfiel, den er selbst zehn Jahre zu vor … leidenschaftlich bekämpft hatte.“ (ebd) Und weiter:
„Muss man nicht, gerade im Sinne seines Frühwerks, die von Steiner beschriebenen ‚Lotusblumen‘, ‚Astralleiber‘ oder ‚Schwellenhüter‘ als Gestalten ansehen, die er selbst, wie Faust seine Helena, aus dem ‚Weihrauchnebel‘ seiner eigenen Imagination hervorzauberte? Und fällt man nicht, wie der goethescher Geisterseher, in grenzenlose Verwirrung und Träumerei, wenn man diese selbstgeschaffenen Nebelgestalten in naiver Weise für ‚Wirklichkeiten‘ hält? … Damit traf Steiner eine Grundsatzentscheidung, die seinen Aufstieg zur führenden Gestalt der modernen abendländischen Esoterik begründete, sich aber fatal auf die akademische und öffentliche Rezeption seiner Schriften nach 1904 ausgewirkt hat.“ (ebd, XXVIIIf.)
Clement formuliert die Konsequenzen dieser Kritikpunkte nicht aus. Und er ist nicht bereit, Steiners intellektuelle Entwicklung zum theosophischen Erforscher der geistigen Welten ernst zu nehmen. Vielmehr wird der späte Steiner überall dort, wo er mit dem philosophischen Frühwerk nicht mehr übereinstimmt, auf das philosophische Frühwerk reduziert. Dass Steiner mit dem „kritisch-philosophischen Diskurs“ tatsächlich gebrochen hatte, ist aber nicht zu leugnen. Stattdessen hatte er sich in einen neuen, von Clement nicht als solchen berücksichtigten Diskurs begeben: den einer quasi-naturwissenschaftlichen Diskussion übernatürlicher Zu- und Umstände, wie in seiner kritischen Diskussion von Leadbeaters „Erforschung“ der Aura und ihrer Farben deutlich wird. Scheinbar kann Clement Steiner den Glauben an Transzendenz nicht zugestehen. Das mag eine legitime Perspektive sein, sofern sie Steiner-kritisch auftritt: Freilich handelt es sich bei Steiners Visionen um „innere Erlebnisse“, die zu real existierenden geistigen Zuständen und Wesen zu hypostasieren eine dogmatische Setzung darstellt.
Daraus geht aber nicht hervor, dass Steiner deshalb selbst nur der Auffassung gewesen sei, es handle sich um lediglich innere Erlebnisse, die ohne spirituell-übersinnliches Objekt auskommen. Tragischerweise leugnet Clement also den Sinn und Zweck von Steiners Geistesschau – mit naturwissenschaftlicher Präzision in geistige Seiten des Kosmos vorzudringen und valide Erkenntnisse mitzubringen, die sich dann z.B. in Pädagogik, Medizin usw. verwirklichen ließen –, und zwar leugnet er ihn per se. Clements Herangehensweise zeigt sich hier als ideologische statt analytische.
Was Steiner über die „höheren Welten“ gesagt hat, sei lediglich „eine bewusstseinsphilosophische Darstellung im Geiste Kants und Fichtes, d.h. … eine Phänomenologie der Inhalte des menschlichen Bewusstseins. Das einzige Wesen, dem der Mensch in der Meditation begegnet, ist nach Steiner letztlich das eigene, und zwar als zugleich individuell-persönliches und universell-absolutes.“ (XXIX) Zur Begründung dafür soll an Ort und Stelle lediglich eine von Walter Johannes Stein überlieferte mündliche Aussage Steiners herhalten. Clement verkehrt Steiners esoterische Epistemologie in ihr Gegenteil: Die Geistige Welt wird in ein einerseits solipsistisches, andererseits zum Absoluten aufgeblähtes menschliches Subjekt verschoben. Auch die großen Namen Kant und Fichte lassen sich dieser Steiner in jeder Hinsicht zu Unrecht untergeschobenen Position nicht eingliedern. Kant sah in der Vernunft zwar das Medium, das subjektiv objektiv gültige Gedanken, Denknotwendigkeiten hervorbringt, doch für ihn war das Intelligible Reich eben zu denken, nicht zu erfahren. Begriffe ohne (sinnliche) Anschauung blieben ihm blind, so dass man hier kaum von einer Bewusstseinsphänomenologie sprechen kann. Hätte ich dagegen Clements Einschätzung, dass die Fichtesche Theorie der Geisterwelt tatsächlich nur bildliche Umschreibung bewusstseinsphänomenologischer Akte sei, früher zugestimmt, musste ich mich inzwischen durch Hartmut Traub eines Besseren belehren lassen:
„Dass sich Fichtes Zugang zur Esoterik und zum Okkulten eher abgeklärt protestantisch als überbordend und bildreich katholisch wie bei Steiner gestaltet, ändert nichts an der Tatsache, dass eine gewisse Nähe, wenn nicht gar Affinität Fichtes zum Okkulten zu konstatieren ist. Ein Zug, der, wenn man I. H. Fichtes Berichten über sein Elternhaus folgt, auch durch Johanne Marie Fichte, der Gattin des Philosophen, unterstützt wurde. Ein Letztes: Sie haben auf den Unterschied zwischen der Annahme objektiver okkulter Wesenheiten bei Steiner und den eher subjekttheoretischen Charakter in Fichtes Lehre vom „höheren Sehen“ hingewiesen. Dem kann ich nur bedingt zustimmen. Denn in Fichtes Theorie des Geisterreichs tritt die „ideale Individualität“ (Originalität) des einzelnen Menschen in Beziehung zu anderen, durchaus objektiven Geistern.“ (Die „Optik des Geistes“ und der „Geist“ des Okkulten. Ein Gespräch mit Hartmut Traub)
Clement trifft offenbar die nicht inhaltlich begründete Vorentscheidung, Steiner die Entwicklung nach 1900 abzusprechen und seine meditativen „Anweisungen und Schilderungen im Lichte seiner zuvor erschienenen epistemologischen und bewusstseinsphilosophischen Schriften“ allein zu lesen. (XXX) Dieser reduktionistischen Lesart stehen die eindeutigen Aussagen Steiners zu Legionen entgegen, in knapper Formulierung etwa: „Dabei müssen wir uns immer klar sein, dass das, was der Hellseher sieht, nicht etwa eine allegorisch-symbolische Bezeichnung ist, sondern daß das Wesenheiten sind.“ (GA 121, 161) In WE schreibt Steiner, nachdem er den „Hüter der Schwelle“ beschrieben hat, dessen Auftritt tatsächlich symbolisch bzw. metaphorisch wirkt, um ebendas auszuräumen: „Was hier, in eine Erzählung gekleidet, angedeutet ist, hat man sich nicht etwa als etwas Sinnbildliches vorzustellen, sondern als ein im höchsten Grade wirkliches Erlebnis des Geheimschülers“ (SKA 7, 145) Zurecht deutet Clement an, dass Steiner in der Neuauflage von WE ab 1914 Hinweise darauf verstärkte, seine Schilderungen „nicht im naiven Sinne als Objekte oder Dinge misszuverstehen.“ (ebd., CXV) Daraus zu schließen, Steiner habe Objekte der höheren Erkenntnis abgelehnt, ist aber falsch. Steiner wies stattdessen auf die qualitative Differenz von sinnlichen und übersinnlichen Erkenntnisobjekten hin.
Clements Lieblingsbeispiel zur Illustration seiner Theorie ist Steiners Darstellung von Farben des Astralleibs, der er meistens hinterherschiebt, dass etwa eine „blaue“ Färbung nicht wirklich im optischen Sinne blau sei. Denn schließlich zeichnet der Astralleib sich gegenüber allen blauen physischen Gegenständen zunächst durch seine Unsichtbarkeit aus – der uneigentliche Charakter von Steiners Schilderung höherer Welten, den Clement kontrafaktisch suggeriert, wird damit keineswegs belegt. Ein anderes Beispiel. Steiner behauptet in WE (S. 150f.), „daß in der höheren Anschauung das menschliche Innere, die eigene Trieb-, Begierden- und Vorstellungswelt sich genauso in äußeren Figuren zeigt wie andere Gegenstände und Wesenheiten.“ Dazu schreibt Clement, dass hier laut Steiner „Jenseitsvorstellungen“ ein „Spiegel der eigenen seelisch-geistigen Tätigkeit“ seien. (298) Steiner stellt jedoch gleich fest, dass die „Vorstellungswelt“, der das Subjekt wie einer Außenwelt entgegentrete, nicht schon die geistige Welt sei, sondern letztere erst nach Bewältigung dieser subjektiven Welten sichtbar werde: „Es ist durchaus notwendig, daß der Geheimschüler durch den geistigen Anblick seiner eigenen Seele hindurchgehe, um zu Höherem vorzudringen … Nicht etwa bloß im bildlichen, sondern im ganz wirklichen Sinne hat man es mit einer Geburt in der geistigen Welt zu tun.“ (WE, 155)
Durch seine Verzerrungen fügt Clement dem Wert der Edition schweren Schaden zu. Im Gegensatz zu Jens Heisterkamps ähnlich gelagerter Rücknahme von Steiners metaphysischem Weltbild, die allerdings als dezidiert selektive Interpretation gekennzeichnet ist (vgl. Jens Heisterkamps „Anthroposophische Spiritualität“) ist diese wie auch immer originelle Umdeutung Steiners in einer kritischen Edition allenfalls als Interpretationshypothese legitim, auch wenn es eine schwache wäre.
Clement und die jüngere Diskussion um eine kritische Geschichte der Anthroposophie
Zentrale Referenz Clements ist über weite Strecken die von Helmut Zander (Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, 580-615, 696-721) vorgelegte erste historische Kontextualisierung von Steiners „Schulungsweg“ im Rahmen der theosophischen Literatur und der „Esoterischen Schule“, dem spirituellen Arkanbereich der Theosophischen Gesellschaft. Im Gegensatz zu Band 5 der SKA, in deren Einleitung Clement Zanders Position zur esoterischen Konversion Steiners recht apologetisch abfertigte (vgl. „Die Mystik im Aufgang“, Die Farbe des Astralleibs ist Privatsache), findet sich im aktuellen Buch eine kongeniale Diskussion. Clement widerspricht zwar, dass SE einen völligen epistemologischen „Neuansatz“ gegenüber WE darstelle, wie Zander behauptet hatte. Die Kontinuitäten werden in Clements Vorwort und in den textkritischen Stellenkommentaren ersichtlich und zurecht schreibt der Herausgeber der SKA, man werde „der Eigenheit dieser Schrift wohl besser gerecht werden, wenn man es sich zur Aufgabe macht, zu untersuchen, wie und warum Steiner trotz tiefgehender inhaltlicher Übereinstimmungen in SE einen begrifflich, stilistisch und methodisch durchaus anderen Weg gewählt hat als in WE.“ (SKA 7, CXXV)
Zugleich verweist Clement die anthroposophische Anti-Zander-Polemik auf ihren Platz: trotz z.T. überzeugender Beispiele seien die Schriften eines Karen Swassjan und Lorenzo Ravagli „von heftiger Polemik geprägt und offenbaren auch ihrerseits ideologische Voreingenommenheit, indem sie auf die von Zander zurecht aufgezeigten formalen und inhaltlichen Probleme der steinerschen Texte kaum je eingehen…“ (LXXIII) Vielfach ist Zanders Diskussion der Heterogenitäten und Entwicklungen in Steiners Texten detaillierter, das ist jedoch nicht verwunderlich, weil die textlichen Veränderungen, die Zander diskutiert, in der kritischen Edition ohnehin alle abgedruckt und beim Lesen der Texte unübersehbar sind. Teilweise lässt Clements Einleitung Zanders Pionierstudie weit hinter sich, wenn zum Beispiel gezeigt wird, dass sich auch in der Neuauflage von WE 1918 starke inhaltliche Eingriffe Steiners fanden, was Zander, der sich auf die Sprünge in der Auflage von 1914 konzentriert hatte, schlicht nicht untersucht, ja abgestritten hat. (vgl. CIV) Clement stellt jedoch klar fest, dass auch mit seiner Einleitung die Text- und Ideengeschichte des Steinerschen Schulungswegs noch in einer Pionierphase steckt. Eine hinreichende Rechtfertigung für die angedeuteten massiven Lücken und Verzerrungen, die Clements Kontextualisierung enthält, ist dies freilich nicht, aber dennoch eine Teilerklärung. Hier gilt, dass wer viel erarbeitet hat, sich auch Fehler leisten darf.
Kiersch, Heindel, Hanegraaff. Vernachlässigung der relevanten Literatur und Theoriediskussion (I)
Schlicht irritierend ist, dass Johannes Kierschs monumentale ideogenetische Rekonstruktion der „Freien Hochschule für Geisteswissenschaft“ und von Steiners Rolle als esoterischem Lehrer bei Clement nicht vorkommt. Die vernachlässigte Darstellung der „Hochschule“ hätte wenigstens durch den Hinweis auf diese Arbeit abgeschwächt werden können! Hinter Kierschs Darstellung fallen Clements Bemerkungen zu Steiner als esoterischem Lehrer immer wieder zurück. (vgl. Johannes Kiersch: Steiners individualisierte Esoterik einst und jetzt. Zur Geschichte der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, 2. Auflage, Dornach 2012) Auch Clements blasses Kapitel zur Rezeptionsgeschichte der „Erkenntnisschulung“ hätte hier reiches Material gefunden, jedenfalls für die inneranthroposophische Rezeption. In diesem Kapitel erwähnt Clement auch die jüngeren anthroposophischen Meditationsbewegungen (von Anna-Katharina Dehmelt über Robin Schmidt zur „Bildekräfte“-Bewegung) nicht, geschweige denn nichtanthroposophische Rezipienten: Max Heindel etwa, der hier Steiner so nahe steht wie dieser der Theosophie oder das Lectorium Rosicrucianum, das sich wiederum von Heindels „Rosicrucian Fellowship“ abspaltete. Vor allem jedoch Heindels Steinerrezeption (die dieser wie Steiner seine Theosophierezeption nicht als solche gedeutet haben wollte) wäre eigentlich unumgänglich gewesen, weil hier wichtige Bezugspunkte auftauchen (Rosenkreuzer, Erkenntniskult, konkrete Meditationstechniken). Das führt dazu, dass auch Clements Bemerkungen zur Rezeption Steiners Schulungsweg an der realen Situation einfach vorbeigehen. Wieder: schade!
Hinzufügen muss man auch, dass Clements Analyse auf dem religionswissenschaftlichen Auge, mit Verlaub, beinahe blind bleibt. Obwohl er mit großer Prägnanz auf die praktischen, psychologischen, rituellen und ästhetischen Dimensionen des „Schulungswegs“ hinweist, die sich u.a. in Freimaurerei, Mysterientheater und Esoterischer Schule manifestierten, finden die hier eigentlich unentbehrlichen Ritualtheorien bei Clement keine Resonanz. (vgl. zur Einführung Jens Kreinath/Jan Snoek/Michael Strausberg (Hg.): Theorizing Rituals. Issues, Topics, Approaches, Concepts, Leiden 2006) Die Einleitung und Kommentierung von Steiners Texten ist auch im Kontext der neueren wissenschaftlichen Esoterikforschung relevant. Die SKA wird auch auf der Webseite der „European Society for the Study of Western Esotericism“ (ESSWE), deren Mitglied Clement ist, präsentiert. Schade, dass er die materialen Beiträge der Esoterikforscher nur in Ausnahmefällen (bzw. in einem: Karl Baiers großartige Studie „Meditation und Moderne“ [2009]) zur Kenntnis genommen hat!
Die Literatur zur für Steiner denkbar relevanten Theosophie wird beispielsweise nicht hinreichend berücksichtigt. (vgl. für einen ersten Überblick Olav Hammer/Mikael Rothenstein: Handbook of the Theosophical Current, Leiden 2013) Clements ausführlicher Vergleich von Steiners Vorstellungen mit deren theosophischen Quellen (v.a. Blavatsky, Besant, Leadbeater…) in den Stellenkommentaren und eine so ausführliche wie permanente Auseinandersetzung mit Baier, der hierzu viel Material auswertet, führt trotzdem zu einer recht umfangreichen Offenlegung der theosophischen Kontexte Steiners.
Trotz allem bewegt sich Clement auf der Höhe von aktuellen Fragestellung der „Esoterikforschung“. Der derzeit prominenteste Verterter dieses Feldes, Wouter Hanegraaff, wies erst kürzlich auf das Desiderat von Analysen zur esoterischen „Praxis“ hin. (vgl. Hanegraaff: Western Esotericism. A Guide for the Perplexed, London u.a. 2013, 102-118) Unter anderem sei da „the Problem of (crypto)Protestant bias. Classical approaches to the study of religion have been heavily influenced by Protestant assumptions … resulting in a structural over-emphasis on doctrine and belief and a corresponding lack of attention to ritual and other forms of practice.“ (ebd, 103) Er zählt folgende typische Dimensionen und Ansprüche esoterischer Praktiken dar, die freilich alle miteinander verknüpft oder auch isoliert vorkommen könnten und die sich alle bei Steiner finden: 1. Control, 2. Knowledge, 3. Amplification, 4. Healing, 5. Progress, 6. Contact, 7. Unity, 8. Pleasure. (ebd, 104) Neben vielem anderen weist Hanegraaff auf die Probleme mit Quellen und Methoden der Erforschung esoterischer Praxis hin, die auch eins zu eins auf die Anthroposophie zutreffen, nur unter anderem die „Esoterische Schule“, Steiners mauererische Rituale sowie die inzwischen etablierten Konventionen anthroposophischer Meditation:
„There is often no great need to describe religious practice in detail: in most cases, religious practioners learn by oral instruction, daily experience or observation and imitation of ‚how things are done‘, and have very little need of written reminders about what everybody knows. As a result, we are usually better informed about religious or esoteric beliefs than about practices … even if we have sources …, they tend to be incomplete … Finally, there is a problem of method. Even if the importance of practice is acknowledged in principle, it is not easy to decide on appropriate methodologies for studying it. Anthropologists have built up much experience with participant reasearch, and have become increasingly interested in contemporary forms of esotericism, but attempts to apply anthropological approaches to historical materials remain a relative exception.“ (ebd, 102f.)
Clements Ansatz geht nicht in diese Richtung, dennoch haben ihn dieselben methodischen Probleme umgetrieben: Dass meditative, kontemplative, psychoaktive und rituelle Praktiken in der Anthroposophie sich nicht rein ideengeschichtlich abhandeln lassen, darin ist er sich mit Hanegraaffs Ansatz offenbar einig. Er plädiert dafür, die pädagogisch-didaktischen, ästhetischen und psychotherapeutischen Konsequenzen und Dimensionen der Anthroposophie als zentrale Zugänge zum Verständnis der Absichten, Gehalte und Konkretionen von Steiners „Geistesschulung“ zu betrachten. Clement geht sogar noch einen Schritt weiter, „nicht nur die Historiker, Philologen, Philosophen und Theologen, sondern auch und vielleicht mehr noch die Künstler, Psychologen, Therapeuten und Pädagogen“ seien gefragt, ob die „Anschauungen und Praktiken, die Steiner von den Theosophen übernahm und … in den anthroposophischen Erkenntnisweg verwandelte, auch heute noch Relevanz … haben.“ (SKA 7, CIII)
Freilich wäre das zu klären in einer eben doch philologischen Edition zu viel verlangt. Überdies wäre, so nähme man an, nicht nur der Praxisaspekt, sondern auch dessen faktisches Ziel, wissenschaftlich ‚objektive‘ Erkenntnis übersinnlicher Welt- und Wesensbereiche, in einer Edition zur „Erkenntnisschulung“ Steiners, zu berücksichtigen. Clement jedoch deutet Steiners diesbezügliche Schilderungen (was ebenso aufschlussreich ist wie in dieser Einseitigkeit verfälschend) als bildliche Umschreibung einer Bewusstseinsphänomenologie, deren Gegenstände irgendwo zwischen deutschem Idealismus, C. G. Jung und Fausts Gang ins Reich der Mütter zu suchen seien.
Synkretismus als Konstituens esoterischer Epistemologie. Vernachlässigung der relevanten Literatur und Theoriediskussion (II)
Mit Blick auf letzteres wäre ein anderer materialreicher Band aufschlussreich gewesen: Olav Hammers „Claiming Knowledge. Strategies of Epistemology from Theosophy to New Age“ (Leiden 2004). Hier wird eine ganz andersartige Kontextualisierung von Steiners „Erkenntnisschulung“ vorgelegt, die den Vorteil hat, Steiners empirischen Wissenschaftsanspruch als solchen ernst zu nehmen, obwohl sie teilweise zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt wie Clement. Hammer versteht es im Rahmen seiner breit angelegten Geschichte von Meditationsauffassungen, die Geistesschulung Steiners komplexer geistig zu situieren, und zwar neben Alice Bailey und Edgar Cayce als „post-theosophischen“ Typus esoterischer Epistemologie. (63ff.)
Steiners Standpunkt wird in seinen Übereinstimmungen und Differenzen zur Theosophie und zum New Age deutlich, siehe etwa die Ausführungen zur Reinkarnation. (474-477) Auch weitere Bezüge und Parallelen der Anthroposophie zum New Age (vgl. 77f.), zu esoterischen Farbtherapien (93), theosophischen und New Age-Deutungen des Christentums (151ff.) oder Figurationen alter Hochkulteren, namentlich Ägyptens (114f.) und Indiens (126f.) helfen, Steiner auch innerhalb esoterischer Epistemologien des weiteren 20. Jahrhunderts zu sehen. Gerade im unmittelbaren esoterischen Kontext lässt sich so Steiners Position komplexer bestimmen als im Abhängigkeitsverhältnis zur Theosophie allein, worum Clement ja ebenfalls bemüht ist. Denn hier zeigt sich, an welchem Punkt esoterischer Theorieinnovation Steiner stand, welche bei ihm angelegten (post-)theosophischen Vorstellungen auch im New Age zur Entfaltung kamen, aber auch, welche Elemente Steiner und die Theosophie von der jüngeren Esoterik trennen. Clements Versuch, Steiner abgesehen von der Theosophie nur im besser beleumundeten Teil der Geistesgeschichte von Goethe zu Freud zu kontextualisieren, reproduziert implizit die anti-esoterische Polemik (vgl. zur apologetisch-polemischen diskursgeschichtlichen Dynamik, in der sich „Westliche Esoterik“ überhaupt erst formierte Wouter Hanegraaff: Esotericism and the Academy. Rejected Knowledge in Western Culture, Cambridge 2012, dazu auch „Die Pythagoräische Wende“: Esoterikforschung auf der Suche nach ihrem Gegenstand), die er in Bezug auf Steiner überwinden möchte, hinsichtlich anderer Traditionen. Sieht man Steiner dagegen in einer epistemologischen Kontinuität von Blavatsky zum New Age, wird sein innovativer Standpunkt innerhalb struktuell und/oder materialiter ähnlicher Weltanschauungen besser erkennbar.
Clement weist auf disparate Elemente der Genese und Inhalte von „Wie erlangt man…“ hin, nimmt dies auch als Kohärenzproblem wahr, kommt aber nicht darauf, dass ähnliches auf viele esoterische Epistemologien zutrifft und nicht bloß ein merkwürdiger genetischer Umstand der anthroposophischen Initationsvorstellung ist. Überhaupt ist ein Moment von Synkretismus bei retrospketiver Dogmatisierung der theosophischen Esoterik wesenhaft eigen, die das Herz von Steiners christologisch ummantelter Esoterik bildet. (vgl. dazu u.a. Siv Ellen Kraft: „To Mix or Not to Mix“. Syncretism/Anti-Syncretism in the History of Theosophy, in: Numen, 2/2002, 142-177) Hammer zeigt dies auch für Konzeptionen esoterischer Epistemologie:
„The most eclectic constructions are presented as a logically coherent structure culled from a single source. This study will amply demonstrate that Esoteric doctrines can indeed be seen as a form of bricolage, but that they appear so only from the scholar’s, not the adherent’s, perspective.“ (Hammer: Claiming Knowledge, 10)
Als mustergültiges Beispiel dafür nennt Hammer die Anthroposophie: „As an example, few modern revelations draw on as many and as diverse sources as Rudolf Steiner’s anthroposophy. Nevertheless, his followers adamantly insist that his entire teachings are perfectly consistent and have sprung directly from Steiner’s spiritual insights.“ (ebd, 10f.) Mit Katharina Brandt hat Hammer dies 2013 vertieft und gerade in der Dialektik von doktrinärer Heteronomie und rhetorischer Eigenständigkeit ein Konstituens der Steinerschen Esoterik herausgestellt. Ja, Steiners empirischer Wissenschaftsanspruch wird hier erst in der subversiven Dynamik von Annäherung an die Theosophie und Abgrenzung von ihr verständlich. Auch die Ravagli’sche Polemik gegen Helmut Zanders Historisierung wird hiermit als rhetorischer Reflex ersichtlich, der der Anthroposophie seit ihrer Begründung eingeschrieben ist.
„Anthroposophy developed partly by adopting concepts current in the occultist and Theosophical milieus around 1900, and partly by dissociating itself from these same concepts. In this respect, Steiner followed a mode of pursuing identity politics well known in the history of religions … Claude Lévi-Strauss coined the nearly untranslateable term ‚bricolage‘ to describe how mythical innovation takes place. The ‚bricoleur‘ is a handyman who arranges various preexistent elements into a new configuration. In the world of religion, ‚bricolage‘ is ubiquitous … New religions therefore tend to resemble their predecessors … Nevertheless, similarity with competing organizations is also a problematic trait. The success of a schismatic group depends on striking a balance between continuity with one’s predecessors and drawing boundaries against them … A key element in what we could call a rhetoric of dissociation, is the fact that Steiner positions his views on world history, anthropology, and Christology as the result of a quasi-scientific visionary method, resulting from a carefully controlled epistemological process. Steiner presents the details of this method in several of the century, and up to the present day the existence of such a visionary technique is highlighted by commentators sympathetic to the Anthroposophical perspective as a key argument for understanding Anthroposophy as a unique spiritual path … One recent example … of this rhetoric of dissociation is a volume by Lorenzo Ravagli … Ravagli rejects any suggestion of doctrinal links to Theosophy as ’nicht näger geprüfte Vermutung‘, whereas a more profound understandig of Anthroposophy purportedly will show that Steiner’s texts are the result of ‚Erfahrung und Selbsterlebtem'“ (Katharina Brandt/Olav Hammer: Rudolf Steiner and Theosophy, in: Hammer/Rothstein: Handbook of the Theosophical Current, Leiden 2013, 128ff.)
Diese Untrennbarkeit von Ähnlichkeit und Differenzproklamationen ist nicht die einzige dialektische Kontraktion, auf die eine Theorie der anthroposophischen „Erkenntnisschulung“ eingehen muss. Eine andere ist die von Clement sehr wohl differenztiert dargestellte Spannung zwischen Steiners Autorität und dem Freiheitsversprechen seiner Theorie sowie der komplizierten Rechtfertigungsbestrebungen seiner Anhänger, die permanent beides, die eigene Autonomie und gleichzeitig die alles garantierende Autorität Steiners absichern müssen. (Hammer: Claiming Knowledge, 348, 376) Dies führt nicht selten zu Tautologien und Zirkelschlüssen: „The implicit goal of the anthroposophical path to knowledge is to reproduce the doctrinal statements already presented by Steiner.“ (ebd, 418) Clement schreibt zwar auch:
„Anders als in seinen frühen philosophischen Schriften, und auch noch anders als in den bewusstseinsphilosophisch geprägten Texte der Jahre 1901 und 1902, hatte Steiner in ‚Wie erlangt man Erkenntnisse‘ den argumentativen und analytischen Stil seiner früheren Publikationen ganz aufgegeben. Hier spricht nicht mehr eine Stimme, die ein kritisches Publikum durch Argumentation von der eigenen Position zu überzeugen sucht, sondern eine solche, welche die Autorität eines Wissenden für sich in Anspruch nimmt und als Lehrer zu Schülern spricht, d.h. zu Menschen, die den ‚Pfad der Erkenntnis‘ schon beschritten und dadurch für sich eine Vorentscheidung über die Validität des Vorgebrachten getroffen haben.“ (SKA 7, XXVII)
Zwar ist dies richtig, aber nur unter der Prämisse, dass eine autoritäre unhinterfragte spirituelle Lehrerfigur keineswegs wünschenswert ist. Diese Prämisse teile ich und sie findet sich durchaus in Steiners Frühschriften. Trotzdem kann man letztere nicht heranziehen, um quasi immanent-kritisch Steiner vorzuwerfen, er sei seinem eigenen Anspruch nicht gerecht geworden. Denn dieser Anspruch hatte sich umgedreht: Steiner sprach nun tatsächlich als wissenschaftlicher Hellseher, dessen Erkenntnisse zu teilen seine Schüler ja gerade suchten. Die Vorentscheidung der Schüler ist zwar ein Zirkel, es wird etwas gesucht, das bereits vorausgesetzt wird, aber dies ist, obwohl es freilich gegen sie spricht, ein Teil, keine Ausnahme esoterischer Erkenntnissuche.
Im Gegensatz zu Clement hebt Hammer auch einen wichtigen Aspekt von Steiners Vorstellung der Erlangung höheren Wissens hervor: die geschichtsmetaphysische Konstruktion, zur Entwicklung bestimmter Bewusstseinseigenschaften habe die Menschheit lange Jahrhunderte ohne übersinnliche Erkenntnis auskommen müssen, was sich nun nach dem Ende des Kaliyuga 1899 ändere. (Hammer: Claiming Knowledge, 166) Clement legt so viel Wert darauf, Steiners Konstruktionen in Analogie zu Mystik, Deutschem Idealismus und Tiefenpsychologie zu setzen, dass diese evolutionäre Komponente nicht genügend deutlich wird.
Vor allem aber legt Hammer Wert auf die bei Clement weitgehend ausgeblendete empirisch-‚wissenschaftliche‘ Dimension von Steiners Epistemologie der „Höheren Welten“. (vgl. ebd, 225-228, 418-428) Dabei wären viele Ausführungen Hammers zur Untermauerung von Clements Kontinuitätsthese bezüglich Steiners intellektueller Entwicklung geeignet: Auch Steiners Konzeption des Denkens in der „Philosophie der Freiheit“ wird bei Hammer zur Genese seines esoterischen Wissenschaftsverständnisses herangezogen. In der Tat liegt in diesem (theosophischen) Wissenschaftsanspruch Steiners auch eine wesentliche Differenz zu anderen „posttheosophischen“ Meditationsformen. (vgl. ebd, 237, 496) Gefolgt wird das Kapitel über Steiner von einem über „Do-it-yourself Channeling“:
„As we have seen, Rudolf Steiner set out the details of a spiritual do-it-yourself project, but in reality, only Steiner’s own “spiritual science” is truly valid within anthroposophical circles. Several New Age positions have taken the next step: the writer gives detailed instructions on how to open up for channeled messages, but there is no organization with the authority to silence and exclude those who channel the “wrong” messages.“ (427f.)
Ein weiteres Element nennt Hammer „invention of tradition“, was ein weiteres Reflexionsfeld der Esoterikforschung aufmacht (ebd, 497, vgl. auch Egil Asprem/Kenneth Granholm: Constructing Esotericism. Sociological, Historical and Critical Approaches to the Invention of Tradition, in: Asprem/Granholm: Contemporary Esotericism, Sheffield/Bristol 2013, 25-48). Phantasievolle Traditionskreation findet sich bei Steiner vor allem, indem östliche Bezüge zurückgedrängt und ein genuin westliches, „rosenkreuzerisches“, oder eben „modernes“ Wissenschaftsverständnis hervorkehrt. Ironischerweise reflektiert Clement diese gegen die Theosophie konstruierte Traditionskonstruktion der Anthroposophie nicht, sondern hält das Identitäts- für ein materiales Argument, als dessen glühender Anhänger er argumentiert.
Trotz aller Lücken und Entstellungen ist Clements Einleitung als mutig zu bezeichnen. Noch niemand hat eine so umfassende Kontextualisierung von Steiners „Schulungsweg“ gewagt. Dass sie in vielerlei Hinsicht zu kurz greift, darf nicht über die wesentlichen Leistungen hinwegtäuschen. Besonders im Stellenkommentar zeigt sich Clements große handwerkliche Leistung. Für die Kommentierung der nächsten Bände hofft man, dass Clement seine ideologische Herangehensweise an die Texte hinter sich lässt.
Welten, die sie trennen! Rezension des ersten Bandes der kritischen Ausgabe von Steiners Schriften
von Hartmut Traub
Hartmut Traub, der 2011 die erste umfassende Diskussion und Kritik von Steiners vor-theosophischer Philosophie vorgelegt hat, hat nun eine ausführliche Rezension der von Christian Clement herausgegebenen „SKA“ geschrieben.*
Die Erwartungen waren hoch. Endlich eine kritische Ausgabe von Steiners Schriften. Endlich besteht Hoffnung, seine Arbeiten bekenntnisfrei vorgestellt und kommentiert zu bekommen. Ihr Erscheinen bei einer der ersten philosophischen Verlagsadressen Deutschlands schien dazu die besten Voraussetzungen zu bieten. Und wahrlich, der erste der auf acht Bände angelegten Ausgabe ist ein schönes Buch; und, was die Steinertexte betrifft, auch ein sehr nützliches. So zeigt die Ausgabe im Fußnotenapparat und in den Stellenkommentaren die Überarbeitungsspuren, die Steiners geistiger Wandlungsprozess in den unterschiedlichen Ausgaben seiner Schriften hinterlassen hat. Besonders hilfreich ist das umfangreiche Literaturverzeichnis, das dem Leser die Möglichkeit bietet, sein Interesse an Steiner in unterschiedlichen Richtungen – anthroposophisch oder nicht anthroposophisch – weiter zu vertiefen. Kleines editorisches Manko ist das fehlende Sachregister.
Soviel im Allgemeinen. Der nähere Blick in das von Alois Maria Haas verfasste Vorwort und die von Christian Clement gelieferte Einleitung offenbart ein differenziertes, vielleicht exemplarisches Bild vom mentalen Zustand der gegenwärtigen Steiner-Forschung. Der Titel meines Vortrags „Welten, die sie trennen“ deutet auf die Heterogenität der Geistes-Welten hin, in denen die beiden Verfasser beheimatet zu sein scheinen.
Während die Vorrede von Haas als der insgesamt, sowohl formal als auch inhaltlich, misslungene Versuch anzusehen ist, Steiners Weg in die Mystik zeit- und ideengeschichtlich auszuleuchten, kann Clements Einleitung über weite Strecken und im Wesentlichen ihres Anliegens überzeugen. Auch wenn an der meines Erachtens zu engen anthroposophischen Auslegung von Steiners vortheosophischen Schriften zur Mystik Fragen und Kritik angebracht sind.
* der Text basiert auf einem Vortrag, der am 24. Mai 2014 im Kolloquium „Philosophie und Anthroposophie“ an der Alanus-Hochschule Bonn/Alfter gehalten wurde.
Mehr zu und von Hartmut Traub:
Schwierigkeiten und Chancen einer Vermittlung von Philosophie und Anthroposophie im Werk Rudolf Steiners (Hartmut Traub)
Rudolf Steiner und Baruch de Spinoza. Ein Diskussionsbeitrag (Hartmut Traub)
Die “Optik der Geistes” und der Geist des Okkulten. Ein Gespräch mit Hartmut Traub
Philosophie und Anthroposophie. Zu Hartmut Traubs Steiner-Exegese (Rezension)
Mehr zu Christian Clement und zur kritischen Steiner-Ausgabe:
Willy, Thomas und der Wolf im Schafspelz
Die Mystik im Aufgang: Christian Clement liest Steiners esoterische Konversionsbiographie neu
Dr. Hartmut Traub ist Studiendirektor am Seminar für schulpraktische Lehrerbildung in Essen und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft. Promotion über Fichtes Populärphilosophie und Herausgeber u.a. des Briefwechsels zwischen Schelling und Fichte, der Fichte-Studien und der Fichte-Studien Supplementa. Lehraufträge in Philosophie und Philosophie-Didaktik an der Mercator Universität Duisburg, der Universität Duisburg/Essen und der Alanus-Hochschule Alfter.
Willy, Thomas und der Wolf im Schafspelz
„Um einer wachsenden, den eigenen Absichten gefährlich scheinenden geistigen Bewegung den Garaus zu machen, verbanden sich die sonst sich gegenseitig befehdenden Parteien. Alldeutsche, Katholiken, protestantische Pastoren, Kommunisten und Vertreter der Wissenschaft waren in diesem Bestreben einig. Und die finanzmächtigen und pressegewaltigen jüdischen Kreise taten alles, um durch Hetzartikel den Vernichtungswillen der Feinde zu stützen und zu schüren.“
– Marie Steiner 1944 über die „Gegner“ der Anthroposophie
Der Angreifer hat viele Namen und Gesichter. Juden, Katholiken, Protestanten, Alldeutsche, Kommunisten, Wissenschaftler – und neuerdings: Mormonen. Eine Hand voll anthroposophischer Konspirationstheoretiker versucht erfolglos, eine historisch-kritische Edition der Hauptwerke Rudolf Steiners zu desavourieren. Da sachliche Argumente nicht zu finden sind, muss die ganze Galerie anthroposophischer Ur-Feindbilder herhalten (vom Antisemitismus lässt man sorgsam die Finger). Steiner historisch-kritisch zu edieren, sei Einfluss der erzdämonischen „Wesenheit Ahriman“, die „die Geisteswissenschaft“ attackieren wolle, findet etwa Thomas Meyer, Chefredakteur von „Der Europäer“. Solche dummdreisten Diffamierungsversuche stehen natürlich in alter Tradition, die Frage ist, wie weit die (über Clement mehrheitlich erfreuten) anthroposophischen Medien dem derzeit entwachsen.
„Feuer und Flamme“
„Dass von anthroposophischer Seite hilfsbereit und begeistert darauf reagiert wird, wie das schriftliche Werk eines Mannes, dessen Goetheanum schon mal von Gegnern abgebrannt wurde, dessen Werk also ohne jeden Zweifel wachsamen Schutz braucht, in den Händen unverbindlicher Menschen liegt, mutet eigenartig, weltfremd und gar skurril an. Es braucht Menschen, die in Feuer und Flamme stehen für die Anthroposophie und dessen [!] Schöpfer, die offen zu diesem Werk stehen, und die sich keine überlebten wissenschaftlichen Maßstäbe auferlegen lassen.“
Alles klar? Wir sind einmal mehr zurück im tiefsten Akasha-Dschungel, der Autor der zitierten Zeilen heißt Arnold Sandhaus und Objekt seines Hasses ist die sog. „SKA“, die erste historisch-kritische Ausgabe von Rudolf Steiners Werken. Dass bei einer so grässlichen Sache wie einer Steinerausgabe, in der die Textüberarbeitungen ihres Autoren kenntlich gemacht sind, niemand an den Brandanschlag auf’s „Erste Goetheanum“ denkt, findet Sandhaus „eigenartig, weltfremd und gar skurril“. Denn nichts Besseres haben auch die „unverbindlichen Menschen“ als „Gegner“ zweifellos im Sinn. Makabererweise will unser kosmischer Feuermelder statt Gebäuden lieber eine anthroposophische Gesinnung „in Feuer und Flamme“ haben.
Was zuvor geschah
Das Sakrileg: Die „SKA“ wird sukzessive Steiners Hauptwerke nach wissenschaftlichen Standards herausgeben. Im ersten Band hat Herausgeber Christian Clement die Textveränderungen in verschiedenen Auflagen nachgewiesen. Überdies hat er hunderte Quellen Steiners aufgetan – und gezeigt, welcher Vorstellungen der Esoteriker sich für seine Interpretation der christlichen Mystik bediente. Quellenarbeit, wie sie jede historisch-kritische Edition erfordert. Dass dabei die Sprünge in Steiners Argumentation, die zeitgenössischen Wurzeln vieler seiner Vorstellungen, die Ungenauigkeit vieler seiner Recherchen zum Vorschein kommt, sollte niemanden überraschen. Steiner selbst betonte in einem Brief, er habe das unter den Begriffen „Mystik“ oder „Christentum“ Behandelte absichtlich nicht im historisch üblichen Sinne verwendet, sondern damit eigene Konzepte verschlagwortet:
„Mein «Christentum» nehmen Sie bitte für nicht mehr, als es sein will. Ich kenne seine Fehler, namentlich die historischen, ganz genau. Der Zusatz «als mystische Tatsache» will ganz ernst genommen werden. Und ich wollte mir den Eindruck nicht dadurch verderben, daß ich an gewissen Punkten auf andere, zum Beispiel auf Strauß hinwies. Ich lege den Wert auf die Erkenntnis-Gesinnung, die ich zum Ausdruck bringe.“ (GA 39, 422)
Clements interpretativer Trick besteht denn auch darin, Steiners „ideogenetische“ „Erkenntnis-Gesinnung“ den Kontingenzen seiner philologisch-historischen Arbeit gegenüberzustellen. Es sei Steiner um die Illustration seiner eigenen Einstellung gegangen, nicht um eine geistesgeschichtlich korrekte Abhandlung zur Mystik. Wie weit das schon die Grundbotschaft Steiners gewesen ist, wäre allerdings zu diskutieren. (vgl. zu Clements Thesen auch Helmut Zander: Zeitwende)
Juden, Jesuiten, Freimaurer und – Mormonen!
Die großen anthroposophischen Zeitschriften reagierten erfreut: In „Info3“, „Die Drei“ und „Das Goetheanum“ lobten Jens Heisterkamp, David Marc Hoffmann und Johannes Kiersch Clements Steiner-Deutung und seine philologische Arbeit. Sogar mein besonderer Freund Lorenzo Ravagli war glücklich. Hoffmann, Nietzsche-Experte, ehemaliger Leiter des Basler Schwabe-Verlags und gegenwärtiger des Rudolf Steiner-Archivs, gefiel Clements Steinerdeutung so gut, dass er den Steiner-Verlag zur Kooperation mit dem fromann-holzboog-Verlag aufforderte, der die „SKA“ druckt. Das Kooperationsprojekt kam zustande. Ein Aufschrei über diesen „Verrat“ des Steinerverlags ging durch’s fundamentalistisch-anthroposophische Lager. Wilfried Hammacher fühlte sich sogar bemüßigt, das frommann-holzboog in einem mehrseitigen Brief mitzuteilen. Clement pflege einen „aggressiven Ton“ und „pharisäische Verdrehungen“, mache Steiners Werk zum „Kriminalroman“ usw. usf.
Die positiven Stimmen werden (kaum qualitativ, sehr wohl aber quantitativ) von einem lautstarken Splitter der Steiner-Anhänger übertönt, der die Anthroposophie als letzte Insel des Lichts in einer „angloamerikanisch“-freimaurerischen Weltverschwörung sieht. Freilich, solche Verschwörungstheorien sind unter vielen Anthroposophen noch mehrheitsfähig (vgl. Anthroposophischer Geschichtsrevisionismus). Sie auf einen Steiner so geneigten Forscher wie Clement anzuwenden, blieb jedoch dem rechten Rand der heutigen Anthroposophie vorbehalten. Zwei Umstände dienen als Grundgerüst der kunstvollen Kampagne: 1. Clement arbeitet an der mormonischen „Brigham Young University“, 2. der Steiner-Verlag unterstützt und fördert das Editionsprojekt. Willy Lochmann, der in Kooperation mit Ravagli schon dem anthroposophischen Shoa-Banalisierer Gennadij Bondarew ein Forum verschafft hat, zog daraus den Schluss:
„Wer mit der Anthroposophie Rudolf Steiners vertraut ist, der weiss, dass es neben den Jesuiten vor allem die Freimaurer sind, die ausschliesslich deren Zerstörung mitsamt dem Ansehen Rudolf Steiners beabsichtigen. Und dazu ist ihnen jedes Mittel und auch jede Allianz recht. Im Moment sind es die Mormonen, die ihren Assistant-Professor Christian Clement dafür finanzieren, dass er eine sog. „Kritische Textausgabe“ Rudolf Steiners herausgeben kann … Doch es ist dies nur ein taktisches Verwirrspiel … Er betäubt uns, damit wir sein Machwerk nicht durchschauen. Und er wird solche Unterstellungen selbstverständlich wieder als „paranoide Phantasien“ brandmarken … Clement ist natürlich ein Wolf im Schafspelz … [der sich] als ein „Verständiger“ darzustellen versucht, als einer, der sich in die Gedankenwelt der Anthroposophie eingearbeitet hätte. … Er betäubt uns, damit wir sein Machwerk nicht durchschauen.“
Pietro Archiati hat gar ein Buch über Clements „Willen zur Vernichtung der Anthroposophie“ geschrieben.
Aus der fabelhaften Welt des Thomas Meyer
Thomas Meyer vom „Europäer“ konstatierte dann auch noch Bezüge zum weltpolitischen Zeitgeschehen. Im Oktober war das für ihn der syrische Diktator Assad, der gegen die bösen machthungrigen Amerikaner (die selbstverständlich in Wirklichkeit von schwarzmagischen Geheimlogen regiert werden) beschützt werden musste. Klar, dass auch 9/11 (natürlich von der hinterlistigen Bush-Regierung inszeniert) irgendwie eine Rolle spielt. Meyer:
„Das Kesseltreiben gegen Assad schaukelt nach wie vor um einen gefährlichen Höhepunkt herum, an dem eine reale Kriegsgefahr besteht. Atomsprengköpfe wurden für den Ernstfall in aller Heimlichkeit von Texas an die Ostküste verlegt. Wenn auch Präsident Obama die Kongress-Abstimmung über eine Militärintervention in seiner Rede an die Nation vom 10. September verschob und der diplomatischen Lösung den Vorzug geben wollte – das mit Lügen angefüllte Pulverfass Syrien bleibt explosiv: Die fortwährenden Behauptungen von Assads «mutmaßlichen» Giftgas-Einsätzen erinnern an die mutmaßlichen «Massenvernichtungswaffen» von Saddam Hussein, deren angebliche Existenz sich als verlogener Kriegsvorwand herausstellte …“
Für Meyer war es sachlich offenbar naheliegend, einen Absatz später zu Christian Clement und zur „SKA“ überzugehen. Der Umstand, dass Clement Professor an der Brigham Young University ist, hat auch bei Meyer Phantasien über den Zugriff „der Mormonen“ ausgelöst. Diese ohne jede Begründung (die ja auch nicht existiert) zuzugestehen, besitzt auch er die Chuzpe.
„Wir hatten zu Clement und seinen Aktivitäten bereits im Editorial vom Juli 2012 – zur Zeit der Präsidentschafts-Kandidatur des Mormonen Mitt Romney – berichtet. Wir schlossen das damalige Editorial mit einer durchaus berechtigten Frage: «Anthroposophie und Mormonentum? Eine (…) sich anbahnende neue Allianz? Sie würde jene von Kirche und ‹Anthroposophie› noch in den Schatten stellen.»
Denn ja: „Die Kirche“ ist ebenfalls nicht anthroposophisch und außerordentlich böse, überhaupt muss man ja auch immer wieder mit den fiesen Jesuiten rechnen. Aber Clement besaß auch noch die Frechheit, dieser „durchaus berechtigten Frage“ zu widersprechen. Meyer weiter:
Diese Bemerkung hat Clement jüngst auf Facebook folgendermaßen kommentiert: «Für Freunde von Verschwörungstheorien: nachdem zuerst Thomas Meyer öffentlich die kritische Steiner-Edition als Zeichen einer ‹unheiligen Allianz› zwischen Dornach und Salt Lake City gedeutet hat http://www.perseus.ch/archive/3021, hat sich nun auch Willy Lochmann angeschlossen und überbietet Meyer noch an Detailreichtum seiner paranoiden Phantasien (…)» … Dass sich der neue kritische Steiner-Herausgeber mit der Universalphrase «Verschwörungstheorien» in solcher Art als Verunglimpfer von Leuten betätigt (inkl. des Autors Wood des abgebildeten Buches!), die ihrerseits kritische Fragen stellen, ist, gelinde gesagt, erstaunlich. … Freunde der Geisteswissenschaft Steiners, die sich für deren sachgemäße Ausbreitung in der Welt mitverantwortlich fühlen, sollten sich die sich hier anbahnenden «pro-anthroposophischen Allianzen», die Steiners Werk historisieren, psychologisieren und «kontextualisieren», genau ansehen, bevor sie sie als unbedingten Fortschritt preisen. Nicht nur Kerry’s und Obamas Phrasen gegenüber, auch solchen neueren publizistischen Entwicklungen gegenüber tut geistige Wachheit und Klarheit not. Die Frage ist: Wes Geistes Kind sind sie?“
Was nicht sein darf, kann nicht sein
Auch diese Frage beantwortet Meyer sich selbst. Denn der einmal aufgekommene Verdacht wird von Clement niemals ausgeräumt werden, Verschwörungstheorie ist ja auch nur so eine „Universalphrase“. Thomas Meyer ist nicht nur Ankläger, sondern zugleich auch Richter der geistigen Welt. Den seiner Meinung nach „vielleicht bedeutendsten Schüler Steiners im Westen“, D. N. Dunlop, zitierend, erklärt er jüngst, welcher (Un-)Geist hinter der „SKA“ steckt: Ahriman, der neurotisch-materialistische Finsternis-Dämon in Steiners Geisterkabinett. Der, so Dunlop, wird „stärker werden und einen noch hinterhältigeren Charakter annehmen“ … und, wie es scheint, schließlich die hinterhältige Philologie ausbrüten, zum Ende aller esoterisch-christlichen Clairvoyance. Keiner von Clements anthroposophischen Möchtegernkritikern hat auch nur einen relevanten Fehler in dessen Arbeit gefunden. Ein Grund mehr, dem bösartigen Mormonenspitzel die wissenschaftliche (erst recht „geisteswissenschaftliche“) Befähigung schonmal vorsorglich abzusprechen.
Clement hatte darauf hingewiesen, dass dem Realschüler, Naturwissenschaftsstudenten und späteren Herausgeber, Archivar und Journalisten Steiner das „nötige philologische Rüstzeug“ fehlte, um „sich auf dem Felde klassischer, hellenistischer, mittel-alterlicher und frühneuzeitlicher Literatur“ (SKA V, S. XXXI) in dem Maße umzutun, dass er sein „Christentum als mystische Thatsache“ auf Originalquellen hätte aufbauen können. Meyer widerspricht allen ernstes mit dem Hinweis darauf, dass Steiner in seiner Autobiographie erwähnt, er habe nach autodidaktischem Lernen Latein- und Griechischnachhilfe gegeben. Dass Meyer 1. die Qualifikation eines Hauslehrers und Studienabbrechers mit einer philologisch-religionsgeschichtlichen für identisch hält und diesen einzigen (auch noch auf einem Missverständnis seinerseits beruhenden) „Fehler“ 2. zum Anlass nimmt, Clements gesamtem Werk die Wissenschaftlichkeit abzusprechen, ist charakteristisch für die Argumentationen im „Europäer“ wie das Verschwörungsdenken Marie Steiners. Wer braucht schon Beweise, wenn er die „wahre“ Natur der mit Nettigkeit getarnten „Feinde“ kennt.
Dass Clement Steiner hunderte von freien Paraphrasen, Übernahmen und Plagiaten nachweist und vielmehr noch erklärt, warum dies seiner Originalität nicht schade, wird weder kritisiert noch honoriert – sein beschönigendes Fazit „Saubere Quellenarbeit, Methodenschärfe und sachliche Distanz zum Gegenstand… waren Steiners Sache nicht“ halten die orthodoxen Anthroposophen für „Vorurteile“, Unterstellungen und „Gegnerschaft“. Was nicht sein darf, kann nicht sein. Lieber den Überbringer der Botschaft ohne Gründe diffamieren, als sich mit Steiner zu beschäftigen.
Rotkäppchen, der Wolf und die Erreger
Dass Meyer, Sandhaus, Lochmann, Pietro Archiati, Irene Diet, Marcel Frei usw. den von ihnen über Clement verbreiteten Unsinn wirklich für die Realität halten, ist vielleicht schwer zu glauben. Zu beachten ist allerdings, dass „Der Europäer“ seit vielen Jahrgängen zu einem großen Teil mit „angloamerikanischen“ finsteren Plänen vom Ersten Weltkrieg zu 9/11 und „dem kosmopolitischen wahren deutschen Geist“ beschäftigt ist. Meyers Behauptungen zur „SKA“ wenden den Gehalt der sonstigen Artikel nur auf einen neuen Gegenstand an. Dass Thomas Meyer sich jedoch mit etwas so Garstigem wie dem unqualifizierten Mormonenfreimaurerjesuitenahrimanamerikaner Clement überhaupt beschäftigen muss, hält offenbar mancher Stammleser trotzdem für eine große Zumutung (hier zu den Leserbriefen). Ein „Dr. med Olaf Koob“ schrieb in einem dreispaltigen „Europäer“-Leserbrief:
„Ich wünsche Thomas Meyer, dass er sich nicht zu sehr von den Lügen und Verdrehungen fesseln lässt und so andere Aufgaben vernachlässigt. Aber es ist gut, dass dies oben Genannte einmal im Europäer klar gestellt wurde und schon Kafka meinte treffsicher: ‚Einer muss wachen…'“
Der Dr. med hat natürlich auch eine Erklärung dafür, wie es Clements in jeder Hinsicht affirmativer Steinerdeutung gelingt, trotzdem perfideste Perfidie zu sein:
„…wie der Wolf im Rotkäppchen mit einer Stimme spricht, die der Großmutter ähnelt – um die innerste Substanz der Anthroposophie und Rudolf Steiner selber zu diskriminieren und zu zersetzen … Erreger können nur dann in einen Organismus eindringen und ihn zerstören, wenn sie sich tarnen, um das ohnehin schon geschwächte Immunsystem zu umgehen…“
Und Leser Alois Ratzlin schreibt:
„Christian Clements Kritische Ausgabe ist ein Symbol, das Symbol einer Krankheit. Fein, wie die Europäer-Redaktion wacker gegen diese Kritische Ausgabe, diesen «Morbus CC» mit all seinen Fiebersymptomen angeht. Frau Diet hat die Hilflosigkeit des Mormonen, Steiner zu beurteilen, sauber herausgearbeitet, erfrischend die Karikatur von Dilldapp. Clement hat sie bereits auf seine Fratzenbuchseite («Facebook-Homepage») genommen.“
Statt dass unseren „Europäern“ die von ihrer Hetze gezeugten Pathologisierungsversuche peinlich wären, werden letztere sogar noch abgedruckt. „Krank“ ist alles, was nicht auf Linie liegt. „Krank“, wer Steiner philosophisch gelehrt deutet. „Einer muss wachen“, „gut“ dass Thomas aufpasst, dass niemand die anthroposophische Bewegung aus ihrem dogmatischen Schlummer weckt.
1914 – 2014: Hundert Jahre Hass
Wer die Geheimnisse der göttlichen Hierarchien und des Elementarreichs kennt und weiß, dass Erster und Zweiter Weltkrieg hauptsächlich von dämonisch-„materialistischen“ Dunkelmännern (mit Sitz in der englischsprachigen Welt) vorbereitet wurden… wer jeden Menschen in die nächstliegende ideologische Schublade (hier eben: „Mormone“) einsortiert, um dann einen „geisteswissenschaftlichen“ Kübel Dreck über dessen Haupt auszugießen, wer dabei noch meint, eine „Freiheitsphilosophie“ zu vertreten – der kann es anscheinend auch schlicht nicht ertragen, wenn jemand den großen Menschheitsführer Steiner als beweglichen Menschen darstellt, der für seine Bücher und Vorträge sogar recherchieren musste.
Die überaus freundliche, ja bis in die Terminologie der Anthroposophie verwandte, aber liberale Steinerdeutung Clements gebiert Ungeheuer. Keine tatsächliche ideologische Entgegensetzung, sondern die Konkurrenz um die Deutung Steiners ruft die orthodoxesten Steinerjünger auf den Plan, die solange weitermachen werden, bis Clement selbst zu Steiner schweigt. Als „Morbus C[hristian]C[lement]“ erscheint er in der Tat für jene, denen das Universum eine notwendig gefügte Enzyklopädie ist, deren erbarmungs- und lückenlose Identität von einem ins Maßlose verzerrten Rudolf Steiner garantiert wird. Sie fordern ideologisch (mitnichten realpolitisch) ein, was Max Horkheimer als „Welt ohne Unterschlupf“ bezeichnete. Jeder Riss im Beton und die Blüten, die daraus für eine deviante Steinerlektüre treiben könnten, müssen weggewischt, die „Erreger“ ausgerottet werden – auf dass wieder Eindeutigkeit einkehre. Um die versteinerte Geisteswüste wieder in ein hellsichtig-durchsichtiges Panoptikum zu verwandeln, in dem nichts außen vor, transzendent, intim oder geheim bleibt – außer okkulten Logen und ihren dämonischen Herren, gegen die „einer wachen muss“. Der deus absconditus ist der deus malignus. Es ist eine Welt von Freund, der das heilige Wissen teilt oder zumindest hineinpasst – oder Feind.
Das Verschwörungsdenken, zu dem unsere „Europäer“ neigen, ist kein Unfall, sondern zutiefst mit alteingesessenen anthroposophischen Selbstwahrnehmungen verflochten. Die ganz oben zitierten Worte Marie Steiners stehen dafür exemplarisch. Ihre Einkreisungsphantasie wird von den „Europäern“ letztlich geteilt, die freilich den Seitenhieb gegen die „finanzmächtigen jüdischen Kreise“ heutzutage kaum noch bemühen werden (und Steiner wahrscheinlich für den größten Anti-Antisemiten halten). Dieselben dunklen Mächte, die den deutschen Propheten Steiner vernichten wollen, wollen auch Deutschland vernichten. Alldeutsche, Katholiken, Protestanten, Juden, Kommunisten – so leicht wie Steiners Witwe halluzinierte, sie alle hätten sich verbündet, um Steiner zu schaden, so leicht wurde diese anthroposophische Ungeschichtsschreibung seit 1944 weitergesponnen (unterbrochen in der Tat von Interventionen wie denen Christoph Lindenbergs oder, zu ganz anderen Themen, Hoffmanns).
Der ahrimanische Christian Clement, die bösartigen Alliierten und ihre freimaurerisch-jüdischen Geheimlogenherren, die den unschuldigen, friedliebenden Deutschen zwei Weltkriege zugejubelt haben, sind, so die pathische Projektion, ontologisch-kosmologisch letztlich identisch: „Widersachermächte“. Die angeblich verbündeten und verschwisterten „Anthroposophiefeinde“ sind austauschbar und duplizieren sich munter, je nach Anlass. Aus diesem (von Clement selbst nicht zu Unrecht als paranoisch bezeichneten) Kern sind alle Phantasien über Mormonen und heimliche Gegner, die geistigen „Erreger“ usw. usf. vielleicht unbewusst, aber konsequent abgeleitet. Die Mehrzahl seiner anthroposophischen Rezensenten steht solchen Gedanken zumindest im Hinblick auf Clement fern. Nur Ramon Brüll und Jens Heisterkamp (Info3) haben allerdings ausführlich gegen die Gerüchte von Diet, Lochmann, Meyer und Co Stellung bezogen (Brüll auch gegen jüngst neu aufgelegte Verschwörungsthesen zum Ersten Weltkrieg). In gewisser Hinsicht steht hier die anthroposophische Bewegung selbst an einem Scheideweg: Der Ball liegt im Feld der durchaus prominenten Herren Heisterkamp, Hoffmann, Ravagli oder Kiersch. Wird eine esoterische Strömung, die sich selbst die höchsten moralischen und spirituellen Güter und Tugenden zuschreibt, Mittel, Motiv und Mut aufbringen, sich mehrheitlich von diesem Konspirationsgeraune zu distanzieren? Ich fürchte, die Chancen stehen schlecht. Das Jahr 2014 wird vermutlich eine weitere von erstaunlich vielen verpassten Chancen sein.
Die Farbe des Astralleibs ist Privatsache. Über eine gewisse Differenz von Geographie, Zoologie, Esoterik und Ideengeschichte
Eine Antwort auf und fünf Fragen an Christian Clement und die „SKA“
„It is high time for scholars to drop the apologetic agenda and acknowledge that esoteric worldviews are products of historical circumstance and human invention just like anything else in the field of religion and philosophy.“
– Wouter Hanegraaff: Textbooks and introductions to Western Esotericism, in: Religion 2/2013, S. 193
Vor Kurzem habe ich über das interessante Projekt einer historisch-kritischen Ausgabe von Rudolf Steiners Schriften (SKA) berichtet (vgl. Historisch-kritische Steinerausgabe erstmals erschienen; Die Mystik im Aufgang). Herausgeber Christian Clement macht im ersten bisher erschienenen Band die Mystik-Schriften des Anthroposophengurus quellenkritisch zugänglich: Wie haben sich Steiners Ideologeme zwischen den unterschiedlichen Ausgaben verändert? Aus welchen Büchern bezog er seine Mystik-Kenntnisse? Wie fügen diese sich in sein eigenes ‚mystisches‘ Programm? Anthroposophen haben den Wert einer solchen Ausgabe im Wesentlichen anerkannt: Fast alle Rezensionen waren positiv. Nur Randfiguren wie Willy Lochmann und Irene Diet sowie die rechtsanthroposophische Zeitschrift „Der Europäer“ haben die üblichen Verschwörungstheorien gegen sog. „Anthroposophiegegner“ ausgebreitet. Clement dokumentiert sämtliche Rezensionen hier. Markiert die positive Aufnahme wissenschaftlicher Methoden, dass sich die Anthroposophie im Übergang aus der apologetisch-hagiographischen zu einer tragbaren Steinerdeutung befindet? Weit gefehlt, vielmehr kämpft anscheinend die SKA mit theosophisch-antihistoristischen Kinderkrankheiten. Da hier ein Problem der gesamten Debatte sichtbar wird, im Folgenden einige Überlegungen.
Die (lesenswerte) Facebook-Seite der SKA präsentierte heute einen Textausschnitt aus dem nächsten Band. Der wird 2014 erscheinen und sich um Steiners Schriften zum esoterischen „Schulungsweg“ („Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ und „Die Stufen der höheren Erkenntnis“) drehen. Unter anderem verhandelt Steiner darin in Auseinandersetzung mit der theosophischen Literatur das Aussehen des „Astralleibes“. Die wenig erstaunliche Tatsache, dass Steiner hier innerhalb einer esoterischen Debatte zum Thema stand, veranlasst Clement zu folgendem Kommentar:
„Innerhalb der Farbentsprechungen, mit denen Steiner die Inhalte der imaginativen Erkenntnis charakterisiert, lässt sich eine Systematik erkennen, die im Wesentlichen derjenigen folgt, die von Annie Besant und Charles Leadbeater in den Schriften Thought Forms und Man Visible and Invisible vorgegeben worden war. Diese wiederum entspricht weitgehend den Vorgaben, die H. P. Blavatsky in ihrer Schrift Secret Doctrine formuliert hatte. Steiner hat auf diese Ähnlichkeit selbst verschiedentlich hingewiesen [1] und sie damit begründet, dass sowohl seine wie Leadbeaters Darstellungen auf genuiner seelischer Beobachtung beruhten; Kritiker hingegen haben diesen Punkt immer wieder als »Beweis« dafür angeführt, dass Steiner bei seinen theosophischen Vorläufern einfach abgeschrieben habe. [2]
[1] So in der Erstauflage der Theosophie: »Ich möchte ausdrücklich betonen, daß ich mich gerne korrigieren lasse von anderen Forschern. Die Beobachtungen auf diesem Feld sind natürlich unsicher. Und diese Unsicherheit läßt sich gar nicht vergleichen mit der, die schon auf dem physischen Feld möglich ist, obwohl doch auch diese – Forscher wissen es – eine sehr große ist. Ich mache zur Vergleichung mit meinen Angaben auf die Schrift C. W. Leadbeaters: ’Man visible and invisible‘ aufmerksam, die 1902 in London, Theosophical Publishing Society, erschienen ist« (TH, 149; in GA 9 nicht nachgewiesen).
[2] Vgl. Zander, der davon ausgeht, dass »die Kongruenz der Inhalte« in den Beschreibungen Leadbeaters und Steiners das »Abhängigkeitsverhältnis« eindeutig belege (2007 I, 578).“
Auf der Seite heißt es nach dem Textausschnitt weiter:
Zur Formulierung dieser Aussage und der Fußnote schreibt mir ein Kommentator (sinngemäß):
„Ist nicht die Deutung Zanders, gemäß der Texthermeneutik des wissenschaftlichen Paradigmas, selbstverständlich? Und könnte die Neutralität Ihrer Formulierungen in dieser Frage nicht als Ausdruck einer Voreingenommenheit gegenüber Steiner aufgefasst werden?“
Dazu meine Gegenfrage: Wenn Dr. Stanley und später Dr. Livingstone beide ein Buch veröffentlichen, dass die Fauna Zentralafrikas beschreibt, und die Beschreibung beider Bücher sich im Wesentlichen deckt, dann wird man wohl nicht, im Paradigma wissenschaftlichen Denkens, für „selbstverständlich“ annehmen, dass Livingstone zwingend von Stanley abhängig ist. Man wird vielmehr annehmen, dass die Ähnlichkeiten daher rühren, dass beide Forscher tatsächlich Zentralafrika bereist haben – es sei denn, dass die Beschreibungen Livingstones nicht nur dieselben Beobachtungen enthalten, sondern auch sprachlich, stilistisch oder kompositorisch deutliche Ähnlichkeiten mit Stanleys Darstellung aufweisen.
Ist es, innerhalb des wissenschaftlichen Paradigmas, tatsächlich selbstverständlich von einer solchen Abhängigkeit auszugehen, nur weil es sich um die Beschreibung nicht äußerer sondern innerer Landschaften handelt, wie bei Leadbeater und Steiner? Nimmt man dadurch, dass man völlig neutral Steiners Selbstanspruch und die Deutung der Kritiker auflistet, bereits Partei für Steiner und seine Auffassung?
Stellen und Überlegungen dieser Art gehören zu den bedauerlichen und inkonsequenten Schnitzern der SKA. Eine Behauptung, die von Clement eloquent abgewiesen wird, sobald anthroposophische Hardliner sie gegen ihn richten (dass Steiner nämlich mieser Absichten und Praktiken „überführt“ oder sonstwie niedergemacht werden solle usf.): Er selbst überträgt sie leichtfüßig auf Helmut Zander. Der hat sich vor allem seit 2007 tatsächlich als der historisch-kritische Steinerforscher präsentiert. Indem Clement ideengeschichtliche Abhängigkeit mit stupidem „Abschreiben“ gleichsetzt, wird dagegen der dokumentarische Wert Zanders mit Kind, Bad und Wasseranschluss ausgeschüttet und obendrein die Scheinalternative: „spirituelle Authentizität“ vs. „Plagiat“ aufgemacht.

Der chaotische Astralleib eines „Wilden“ (in: Leadbeater: Man Visible and Invisible, London 1902): Auch für rassistische Vorlieben durfte bei Theosophen und Anthroposophen gern die Aura herhalten.
Das kennt man von einem vielgelesenen anthroposophischen Gegenwartsautoren: Lorenzo Ravagli, der keine Gelegenheit auslässt, um die historische Aufarbeitung der Anthroposophie als steinerhassende Verführung der Jugend zu brandmarken (vgl. Was hat man dir, du armes Kind, getan). Clement allerdings erhebt die Fehldeutungen und Vertuschungen Ravaglis zur seriösen Gegenthese zu Zanders religionshistorischen Deutungen. Währenddessen fallen wichtige Autoren wie Christoph Lindenberg, Robin Schmidt, Hartmut Traub oder Gerhard Wehr so gut wie unter den Tisch – zumindest im ersten bisher erschienenen Band. Solche Vorbehalte, die m.E. dem anthroposophischen Mainstream eher ähneln als wissenschaftlicher Philologie, gehören zu den Schwächen dieser handwerklich zuverlässigen und in ihren Interpretationshypothesen äußerst wertvollen Edition. Nichtsdestominder verspricht die Klärung der von Clement aufgeworfenen Frage interessante Aufschlüsse, auch wenn die Fragestellung m.E. verwirrend ist. Vor einer Beantwortung wäre mindestens das Folgende zu klären:
1. „Abhängigkeitsverhältnis“ bedeutet keineswegs „einfach abschreiben“, wie Clement Zander unterstellt, sondern eben schlicht und simpel: Abhängigkeitsverhältnis. Die ‚Abhängigkeit‘ ist nicht moralisch als Unoriginalität, sondern intellektuell als historische Konstellation zu verstehen. In historischer Perspektive wären die angeführten Dr. Stanley und Dr. Livingstone freilich ebenfalls nebeneinander zu halten und etwa Wissenschafts- und Ideenpolitik, kontingenten wissenschaftshistorischen Paradigmen- und Methodenwechseln uvm nachzugehen. Wenn, um ein anderes Beispiel zu nehmen, Ethnographen im späten 18. Jahrhundert von Göttingen in die weite Welt zogen, und „fremde Völker“ kartieren wollten: natürlich, dann muss man (wenn man historisch arbeitet) ihre Abhängigkeit von den Thesen eines Blumenbach oder Haller (und wer noch so in Göttingen lehrte) untersuchen. Clements Vergleich zwischen Astralleib- und Afrikaforschung halte ich nicht für einleuchtend: Selbstverständlich werden ideengeschichtliche Verbindungen und sonstige Kontexte weder bei inneren noch bei äußeren „Landschaften“ irrelevant. Was veranlasst Clement, zumindest in einem der beiden Bereiche, vom Gegenteil auszugehen?
2. gibt es tatsächlich eine nicht zu leugnende Differenz zwischen Kontinenten und Auren. Und eine noch größere zwischen den epistemologischen Verfahren, die uns erlauben, sie zu untersuchen (wenn man davon ausgeht, dass letzteres möglich sei – auch das hätte Clement, der beide als ‚Landschaften‘ beschreibt, die sich lediglich durch ‚äußere‘ bzw. ‚innere‘ Zugänglichkeit unterschieden, zu erweisen). Wie kommt Clement zu einer solchen Einheitswissenschaftsthese? Warum sollte für den ‚Astralleib‘ gelten, was für die Zoologie gilt? Warum sollte für den Erzengel gelten, was für ein Zwergmungo gilt?
3. Wird im zitierten Beispiel die „Deutung der Kritiker“ eben nicht wiedergegeben, sondern eine Ravagli’sche Zanderdeutung. Heißt: Die (m.E. leicht zu widerlegende) Unterstellung eines anthroposophischen Kreuzritters an „die materialistische Wissenschaft“. Das darf Ravagli selbstredend tun, wie er Lust hat, aber sein Geltungsanspruch dekontextualisiert historische Analyse und spannt sie vor den Wagen ideologischer Apologetik. Und das ist das Gegenteil offener Forschungswissenschaft. Was spricht dagegen, dass ’spirituelle‘ Erfahrung im nunmal historisch gegebenen Rahmen stattfindet? Gibt es ein Beispiel von einer so extramundanen Offenbarung, dass diese sich einer historischen Kontextualisierung schlichtweg entzöge? Steiner ist es jedenfalls nicht.
4. bewegen wir uns bei den spirituellen Angelegenheiten von Steiners „Schulungsweg“ in einem schwer diskutierbaren Bereich: Ob wir es mit einer christlichen Leib- und Seelenlehre, einer sehr viel monistischeren jüdischen, einer komplexen theravadabuddhistischen Ontik des Schein-Ichs, daoistischen Konzepten des leeren Herzens, lukrez’schen Atommodellen der Seele, mittelalterlich-mystischen Gottesschauen, Wilber’schen Strukturebenen des Bewusstseins, platonischer Ideenschau usw. usf. oder einer so konkretistisch-dinghaften Aurenschilderung wie in der Theo-/Anthroposophie zu tun haben – sie alle sind Gegenstände des Glaubens bzw. der eigenen religiösen oder spirituellen Evidenz. Heißt: Die Farbe des Astralleibs ist Privatsache von Anthroposophen. Oder es gelte (während jedermensch Afrika besuchen kann), sie religionsphilosophisch grundsätzlich zur Diskussion zu stellen. Dann müsste sich die Behauptung eines Astralleibes vor allen anderen Konzepten intersubjektiv einsehbar auszeichnen – oder fallengelassen werden, wenn sie das nicht tut: Lukrez‘ epikureische Atomlehre würde beispielsweise wohl niemand mehr systematisch vertreten. Diese Option sieht Steiner aber nicht vor, weshalb mir das Konzept des Glaubens der für alle Seiten der attraktivere Modus zu sein scheint. Auch Zander wählt diesen Weg einer Urteilsenthaltung, auch wenn Ravagli und Clement (aus welchen Gründen auch immer) das Gegenteil behaupten: „Insoweit seine [Steiners] persönliche Spiritualität berührt“ sei, entzöge sich seine Esoterik „einem abschließenden analytischen Zugriff und forderte Respekt vor Steiners forum internum.“ Der „Blick“ ins Letztere entziehe sich, so Zander, „als konfessorische Formulierung einer systematischen Kritik und hat Anrecht auf eine nicht weiter befragte Akzeptanz…“ (Zander: Anthroposophie in Deutschland, S. 855, 486). Clement spielt (gegenüber Ravagli freilich in homöopathischen Dosen) diese unterschiedlichen Bekenntnisse gegeneinander aus, wenn er behauptet, ein einziges davon entspreche einer ‚inneren Landschaft‘, die so allgemein beobachtbar sei wie diejenige Afrikas. Wenn letzteres der Fall sei, warum wird dann eine kritische Edition von Steiners Schriften angestrebt, statt dass wir eine Schilderung der Aura durch Christian Clement zu lesen bekommen?
5. Davon ausgehend, dass historische Abhängigkeiten und religiöse Erfahrung sich nicht ausschließen, und mit der Überzeugung, dass auch der Herausgeber der SKA dies vertreten würde, scheint mir eine andere Frage viel wichtiger: Wann entwickelt endlich jemand ein adäquates Verfahren religionswissenschaftlicher Hermeneutik, das weder in religionsphänomenologische Projektion noch in historistische Entkernung oder „religionistischen“ (Hanegraaff) Essentialismus zurückzufällt? Und: was müsste es beinhalten?
Die Mystik im Aufgang: Christian Clement liest Steiners esoterische Konversionsbiographie neu
„Und da eine von Wahrnehmung getrennt existierende Materie ein bloßes Gedankending ist … – die Erscheinungen unserer Ebene die Schöpfungen des wahrnehmenden Ich sind – die Veränderungen seiner eigenen Subjektivität – [haben] alle die Zustände der Materie, welche die Vereinigung aller wahrgenommenen Gegenstände darstellen, bloss ein verhältnismäßiges und rein der Erscheinung angehöriges Dasein … Das Zusammenwirken von Subjekt und Objekt bewirkt den sinnlichen Gegenstand, oder die Erscheinung, wie die modernen Idealisten sagen würden … Dieses Ich muss, fortschreitend auf einem Bogen im Emporsteigen der Subjektivität, die Erfahrung einer jeden Ebene ausschöpfen.“
– Helena Blavatsky: Die Geheimlehre, Bd I, S. 350f.
Er ist da: Der erste Band einer Kritischen Ausgabe der Schriften Rudolf Steiners (SKA). Die Reihe startet mit Steiners 1901 bzw. 1902 veröffentlichten Büchern „Die Mystik im Aufgang des neuzeitlichen Geisteslebens…“ und „Das Christentum als mystische Thatsache…“ – Zeugnissen seines Schwellenübertritts vom anarchischen Philosophen zum esoterischen Ideologen. Ein guter Startpunkt also für eine Editionsreihe, die zumindest eins verspricht: die Entwicklung, Gehalte, Quellen und Kontexte von Steiners Schriften in wesentlichen Aspekten transparenter zu machen. Die Veröffentlichung ist im prominenten Frommann-Holzboog Verlag positioniert, es werden die verschiedenen Überarbeitungsschichten der beiden Bücher dargestellt, ein ausführlicher Kommentar führt hunderte von Zitat- und Quellennachweisen sowie Zusatzinformationen an. Der Mystikforscher Alois Maria Haas hat ein umfangreiches Vorwort geschrieben und liest Steiner im Kontext mystischer und esoterischer Neuansätze um 1900. Herausgeber Christian Clement macht in einer noch umfangreicheren Einleitung Steiners Denken als erkenntnisoptimistischen Monismus subjektivistischer Prägung kenntlich – und gelangt darüber zu einer teilweise neuen, aber an dieser Stelle in jeder Hinsicht fruchtbaren Deutung des berüchtigten Anthroposophiegründers.
Steiner und die Theosophie 1901: Die Vorträge zum „Christentum“
Einer der wichtigsten Funde dieses ersten erschienenen Bandes der „Kritischen Ausgabe“ ist ein bereits publizierter. Es handelt sich um die 24 Vorträge, die Steiners Buch „Das Christentum als mystische Thatsache“ zugrundeliegen (während die zur „Mystik im Aufgang…“ als verschollen gelten) und die von Steiner publizierte Fassung an Ausführlichkeit beträchtlich überbieten. Ironischerweise wurden sie nicht in der umfangreichen „GA“, der Gesamtausgabe des Rudolf-Steiner-Verlags herausgegeben, sondern in einer zweibändigen Ausgabe des Archiati-Verlags, der sich unter Berufung auf abgelaufene Copyrights und mit dem Anspruch hervortut, von den edierten GA-Bänden abweichende Vortragsmitschriften als ‚Steiner im Originalwortlaut‘ zu verkaufen. Clements „Kritische Ausgabe“ erweist sich damit lustigerweise auch als Synopse der bisherigen Steiner-Editionen. Übrigens hat David Marc Hoffmann, Leiter der Rudolf Steiner-Archivs, sich begeistert für Clements Projekt ausgesprochen und der Archiati-Verlag sich deshalb einmal mehr im Recht gesehen, vom Archiv Manuskripte Steiners anzufordern, weil die Archiati-Versionen ja auch bekanntlich viel einfacher zu lesen seien (Offener Brief).
Wie auch immer: Clement notiert in seiner Paraphrase der ursprünglichen Vorträge zum „Christentum als mystische Tatsache“, dass diese sich bereits wesentlich ‚theosophischer‘ ausnehmen als man aufgrund der Buchausgabe vermuten würde. Und das heißt: Viele Elemente von Steiners Esoterik, unter anderem auch die Überzeugung von Reinkarnation und Karma, standen offenbar bereits Ende 1901 für Steiner fest. Er kannte dabei offenbar auch bereits wichtige Positionen theosophischer Autoren zu diesem Themen. Andererseits waren auch seine philosophischen Ausgangspunkte noch wesentlich präsenter als in der gekürzten Buchfassung. Clement:
„…auf die Verbindung mystisch-religiöser Vorstellungen mit naturwissenschaftlichem und philosophischem Denken geht die Vortrags-Fassung viel intensiver ein und beschreibt in ausführlichen Exkursionen Parallelen zwischen naturwissenschaftlichen und esoterischen Vorstellungen. So finden sich etwa Ausführungen über Reinkarnation und Karma als aus modern-naturwissenschaftlichem Denken notwendig hervorgehende Vorstellungen … häufige Exkurse zu Goethe und Fichte, den geistigen Übervätern seiner philosophischen Phase… Auch Steiners frühe Vertrautheit mit theosophischen Konzepten, Begriffen und Autoren tritt in den Vorträgen deutlicher hervor als im Buch. Der Text zitiert Autoren wie Besant, Leadbeater, Sinnett und Hübbe-Schleiden, verwendet wie selbstverständlich theosophische Termini und bezieht sich immer wieder auf siebenstufige Modelle, sowohl was den Aufbau des Menschen angeht, wie auch im Hinblick auf kosmische und individuell-menschliche Entwicklungsvorgänge. Die Idee der Wiedergeburt ist allgegenwertig, während die Buchfassung eher verhalten davon handelt und statt von ‚Reinkarnationen‘ von ‚Seelenwandelung‘ spricht. Der Vortragende kennt also die Vorstellungswelt seiner theosophischen Zuhörer gut und spricht zu ihnen in ihrer eigenen Sprache, ja bezieht sich selbst in ihre Gemeinschaft ein…“ (S. LXVI)
Der im Wortsinn bio-graphische Wert dieser Feststellung ist groß. Anthroposophischen Historikern waren die Vortragsmanuskripte zwar teilweise bekannt, aber in ihrem theosophischen Gepräge und ihrer Relevanz als Vorstufe für die später erweiterten und umgebauten Reinkarnationskonzepte wurden sie wenig einbezogen. Steiners Mitgliedschaft in der Theosophischen Gesellschaft 1902 wird vor diesem Hintergrund um einiges transparenter (vgl. zum Kontext Robin Schmidt: Rudolf Steiner und die Anfänge der Theosophie, Dornach 2010).
Relativierung des Christentums
Schließlich relativiert Clement mit seinem Hinweis den christologischen Hintergrund der Vortragsreihe: „In der Buchfassung schrumpfen all diese umfangreichen Exkurse auf kurze eingestreute Bemerkungen zusammen und es wird weniger deutlich als in den Vorträgen, dass es hier um viel mehr als eine bloße Deutung des Christentums geht.“ (S. LXVI) Hierin weicht Clement deutlich von der anthroposophischen Rezeptionsgeschichte der Mystik-Schriften als in erster Linie „Christologischen“ ab – dies ist nur der erste von zwei historisch-philologisch gewichtigen Einwänden gegen eine Überschätzung des „Christen“ Steiner in seinen frühen theosophischen Jahren. Denn Clement sieht in Steiners Esoterik eher eine Illustration und Transformation seiner Philosopheme denn umgekehrt in den philosophischen Schriften schon Niederschläge der okkulten Christus-Deutungen. Dies wird auch im Kommentarteil deutlich:
„Steiner geht es letztlich nicht nur um eine Deutung der christlichen Vorstellungen, sondern um eine Erklärung des Prinzips aller religiösen und mythischen Vorstellungen, ja der menschlichen Vorstellungsbildung überhaupt. Angeregt hierzu wurde Steiner möglicherweise von Schellings religionsphilosophischen Schriften, die einen vergleichbaren Ansatz verfolgen und auf die Steiner sich mehrfach bezogen hat.“ (S. 296)
In der Tat bezeichnete Steiner, worauf Clement hinweist, Schellings Philosophie der Mythologie in der Vortragsfassung als „die bedeutendste Schrift, die wir heute lesen können“. Mir scheint mit Blick auf die unten auszuführende Projektionstheorie Fichte als Quelle naheliegender. In den späteren Auflagen von „Das Christentum“ habe Steiner die christliche Religion auf Kosten der ursprünglich wichtigeren Mysterienreligionen verselbstständigt und ausgebaut:
„Die Erstauflage stellt das Schicksal der Mysterienidee im institutionalisierten Christentum überwiegend negativ dar, nämlich als eine Geschichte des Verdrängens und Vergessens. Die Vorstellungen von der göttlichen Natur des Menschen und einem in ihm schlummernden Potenzial zur Vergottung seien zunehmend als ketzerisch gebrandtmarkt und durch Anschauungen ersetzt worden, in der die Kluft zwischen Gott und Mensch, zwischen Wissen und Glauben immer größer wurde. Die Neuauflage hingegen bewertet die Wirksamkeit des Christus-Impulses auch im bloßen Glauben deutlich positiver.“ (S. LXX)
Die heute bekannte anthroposophische Christologie habe erst in den folgenden Jahren ihre Ausprägung erfahren:
„Im Vortragswerk der Jahre 1903 bis 1906 entfaltete Steiner das umrissene christologische Konzept weiter, wobei er die in ‚Mystik‘ und ‚Christentum‘ oft noch durchscheinende philosophische Diktion ganz aufgab und die biblischen Vorstellungen nun vollständig im Sinne esoterisch-theosophischer Anschauungen deutete.“ (S. LIV)
Clements Versuch, Steiners Deutung verschiedener Mystiker, konkret etwa Jakob Böhmes, kurzerhand zu dessen eigenen Erlebnis zu machen und daraus sein vielzitiertes persönliches „Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha“ zu erklären, greift m.E. zu kurz. (vgl. S. XLVII) Steiner sprach in dieser späten autobiographischen Schilderung eben nicht vom ‚Durchgegangen-Sein durch‘, sondern von einem ‚Gestanden-haben vor‘, also einem ihm externen Ereignis, einer visionären Schau jenes vermeintlich objektiv existenten ‚Mysteriums‘.
Exkurs: Methodisches und Quellenkritisches in der „Einleitung“
Die historisch-kritische Sichtung der beiden vorgelegten Steinerschriften bringt bald ans Tageslicht, dass aus diesen wenig über „die Mystik“ und umso mehr über Steiner zu lernen ist. Clements Kommentar in der Einleitung führt unter anderem aus,
„…dass Steiner in seiner Darstellung nicht sauber auseinandergehalten hat, wo er Gedanken anderer referiert, zitiert, paraphrasiert oder interpretiert, und wo er seine persönlichen Innenerfahrungen und Ansichten mitteilt. Weite Passagen, die sich wie Steiners eigene Gedankenentwicklung lesen, erweisen sich beim Quellenstudium als unausgewiesene Paraphrasen der von ihm benutzten Sekundärliteratur. Bisweilen finden sich gar wörtliche Zitate, die in keiner Weise als solche ausgezeichnet sind. Hinzu kommt, dass Steiner sich mit dem antiken Mysterien einem Bereich der Altertumswissenschaft zuwendet, zu dem es zu seiner Zeit kaum verlässliche Quellen gab und für deren Bearbeitung er das nötige philologische Rüstzeug nicht besaß … So kann es nicht überraschen … , dass seine Kenntnisse über diese Epochen und Autoren sowie sein Zitatenschatz aus einer relativ kleinen Sammlung einschlägiger Gesamtdarstellung stammten. Mehr als 50 Zitate hat er Otto Willmanns ‚Geschichte des Idealismus‘ entnommen und diese oft in derselben Reihenfolge in seiner Darstellung eingefügt.“ (S. XXXI)
Davon ist nichts unerwartet und alles ein Zeichen für die Notwendigkeit, Steiners Mystik-Bücher als Ausdruck seiner Überzeugungen zu lesen, statt als historische oder „geisteswissenschaftliche“ Erkundung der Mystiker, gar der antiken Mysterien. (vgl. S. XXXV) Und das tut Clement – bedauerlicherweise eher formal rekonstruierend denn problemorientiert-inhaltsbezogen. Dazu nur ein Beispiel: Clement stellt die nicht eben unbedeutende These auf, dass Steiners Esoterik bereits aus seinen Goethe-Schriften erkennbar gewesen und am Deutschen Idealismus „gedanklich gezeugt“ worden sei, allerdings (und darin liegt die Bedeutung) ohne dies wie übliche anthroposophisch-ahistorische Erbauungsliteratur nur retrospektivierend zu unterstellen. Bei Steiners Auseinandersetzung mit der Mystik werde man dann Zeuge der „eigentlichen Geburt“ dieser Esoterik, so Clement weiter. Dabei wird aber Steiner inhaltlich letztlich nicht ernst genommen oder auch nur am eigenen Erkenntnismaßstab kritisch gemessen: „Die im gegenwärtigen Diskurs kontrovers diskutierte Frage, ob Steiner dabei den Idealismus und die Mystik, ob er Eckart und Böhme, Goethe und Fichte ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ verstanden hat, ob er deren Impulse ‚weitergeführt‘ oder diese für seine Zwecke ‚instrumentalisiert‘ hat, ist für diesen Befund unserer Auffassung nach ohne Belang.“ (S. XLII) Die fehlende Auseinandersetzung mit Geltungs-Fragen versperrt Clement dabei aber auch die mit wichtigen Kontexten: Nämlich des aufgrund seiner Urteilsenthaltung blass bleibenden konkreten Erkenntnisinteresses Steiners an Fichte, Goethe oder diversen Theosophen, wie etwa dem in seinem Einfluss auf Steiner weithin unterschätzten Friedrich Eckstein.
Mit dem Kulturphilosophen Magnus Klaue könnte man hier entgegenhalten, dass der „pluralistische Wissenschaftsbetrieb“, „der alles diskutierbar macht und über nichts mehr urteilt, dem Aberglauben“ anheimfalle, „unabhängig von jedem Wissenschaftsanspruch ebenfalls alles gelten“ zu lassen, „was ihm in den Kram passt“ und damit formal selbst esoterischer Urteilsbildung verfalle. (vgl. Klaue: Praktische Idealisten, in: Bahamas, 62/2011, S. 20) Diese Warnung trifft m.E. insofern auf Clements Darstellung zu, als sie auf dem (und auch auf Steiners) normativem Auge diplomatisch jedes Urteil zurückzuhalten versucht und dann trotzdem, aber eben methodisch unreflektiert, gelegentlich metaphysische „Treffer“ des Hellsehers aus dem Hut zaubert. Dazu wieder nur ein Beispiel: so wird aus formalen Ähnlichkeiten von Steiners (wie oben zitiert, äußerst dünnem) Sachwissen mit historischen Forschungsergebnissen auf eine materiale Übereinstimmung zwischen Steiners (als „These“ kaschierter) Unterstellung und der Altertumsforschung geschlossen: „Ironischerweise war es gerade die von Steiner bisweilen so desavouierte historisch-kritische Forschung mit ihren Methoden, welche seine These vom Mysterien-Ursürung des Christentums im akademischen Diskurs hoffähig machte.“ (S. XLVII)
Es ist unverhältnismäßig, das muss sofort hinzugefügt werden, solche in der Sache nicht das kleinste bisschen illegitimen, aber methodisch von Clement selbst ausgeschlossenen normativen Schnitzer in einer Rezension überhaupt zu erwähnen – nicht nur die Ausgabe als Ganze, sondern auch und gerade ihre Einleitung gehört vielmehr in fast jeder Hinsicht zum Besten, das zu diesem Thema jemals zu lesen war.
Gerade deshalb scheint es mir jedoch auch im Sinne der von Clement weitergeführten und angestoßenen Debatten sinnvoll zu sein, in dieser Besprechung vor allem die argumentativen und rekonstruierten Details anzuschauen. Ich erlaube mir, mich somit stärker auf seine Steiner-Deutung zu konzentrieren denn auf die Einzelfunde der quellenkritischen Ergebnisse, vor allem aus drei Gründen:
Erstens werden letztere Ergebnisse eher weniger durch ausführliche Analyse und Diskussion von Steiners Aussagen begründet sondern von Clement meistens überblicksartig paraphrasiert.
Zweitens wird auch die im weiteren Sinne historiographische Sekundärliteratur nur eingeschränkt herangezogen. Dies gilt bedauerlicherweise für den zum Thema Steiner und die Mystik eigentlich unvermeidlichen Gerhard Wehr, aber auch für den großen Steinerbiographen Christoph Lindenberg, der gleichwohl vielem zustimmen würde (vgl. etwa zum Thema Steiners „Egoismus in der Philosophie“ im Verhältnis zu „Die Mystik im Aufgang…“ Lindenberg: Rudolf Steiner: Eine Biographie, Stuttgart 1997, S. 315f.) Bedauerlicherweise kommen auch die philosophiegeschichtlichen Kontexte, die Hartmut Traub kürzlich benannt hat, nur in einer Fußnote mit dem Hinweis vor, dass dessen „Goethesche Weltanschauung“ mehr mit Fichte und Hegel als mit Goethe zu tun habe. Dies ist verständlich, da die Goethe-Schriften auch nur eingeschränkte Behandlung im Kontext derjenigen zur Mystik erfahren können. Aber Traubs Hinweise auf die Einflüsse von J.G. und I.H. Fichte auf Steiners Theosophie- und Mystikbegriff wären einer Erwähnung zumindest im Kommentar mehr als wert gewesen. Die einzigen längeren Ausnahmen sind Klaus von Stieglitz, Werner Thiede, Helmut Zander und Lorenzo Ravagli. Zander muss als durchaus hilfreicher, aber draufgängerischer Historiker herhalten, der „nicht an scharfer Kritik“ spare. (S. XLVII) Ravagli ist dem Herausgeber offenbar lieber, wobei Clement den Kontext beider Publikationen wiederum kaum umrissen hat. Hier wäre die von Ravagli als „Gegenmodell zum Macchiavellismus“ präsentierte „Diskursgeschichte“ ausnahmsweise an ihrem richtigen Platz. Ravaglis Buch ist eine durch ihre inhaltliche Engführung sehr eingeschränkte Konterpolemik auf den härentischen Versuch, Steiner überhaupt nur als Menschen zu sehen und der historisch-kritischen Textlektüre die Möglichkeit zu einem substanziellen Steinerverständnis abzusprechen (vgl. dazu kürzlich Katharina Brandt/Olav Hammer: Rudolf Steiner and Theosophy, in: Olav Hammer/Mikael Rothstein (Hg.): Handbook of the Theosophical Current, Leiden 2013, S. 131f.)
Drittens ist Clements Einleitung auch weniger auf eine Exegese der beiden Mystik-Schriften als auf deren Bedeutung innerhalb der intellektuellen Entwicklung Steiners fokussiert – und auch vor allem darin äußerst fruchtbar.
„Umstülpung“ der Philosophie zur Esoterik
Clement betont hier, wie dann weiter en passant im Kommentar zu den beiden publizierten Schriften, die monistische Kontinuität zwischen Steiners Früh- und Späterwerk. Er überzeugt dabei mit dem wohl ersten affirmativen Steinerzugang, dem auch Kritiker in systematischer Hinsicht etwas werden abgewinnen können. Clements Interpretation von Steiners Entwicklungsgang wird von ihm selbst so zusammengefasst:
„Steiners Geist-Begriff hat … eine ähnliche Metamorphose durchgemacht, wie sein Christus-Bild: Was in der philosophischen Diktion seiner frühen Darstellungen primär als im Menschen sich realisierendes immanentes Prinzip erschien, wurde später gewissermaßen von außen angeschaut bzw. als einem Äußeren immanent vorgestellt: Der logos ‚inkarniert‘ sich in Jesus, der Geist ‚manifestiert‘ sich in der Natur. Die Steinersche Esoterik kann als eine zum Zweck der Anschaulichkeit vorgenommene ideelle Umstülpung seiner Philosophie verstanden werden, in welcher dasjenige, was zuvor Inneres war, als Äußeres angeschaut wird, und umgekehrt. Dass in einem solchen Denken in Umstülpungen, worauf Kritiker immer wieder hingewiesen haben, notwendig konzeptionelle Widersprüche auftreten, lässt sich nicht von der Hand weisen. Aber diese stellen aus Steiners Sicht nicht unbedingt eine Schwäche seiner Argumentation dar.“ (S. LXIV)
Sieht man einmal davon ab, dass „aus Steiners Sicht“ „konzeptionelle Widersprüche“ nicht nur keine Schwäche darstellten, sondern überhaupt nicht existierten, ist diese „Umstülpungs“-These meilenweit entfernt von üblichen kritischen Hinweisen auf Steiners theosophische Kehre. Aber ebenso weit entfernt von den üblichen anthroposophischen Projektionen, nach denen der Schlüssel zur Deutung von Steiners philosophischem Werk in den „spirituellen“ Sphären der „höheren Welten“ zu suchen sei, die ihr Autor Jahre später behauptete. Clement liest Steiner immanent und beobachtet die zitierte „Umstülpung“ von der Epistemologie des „frühen“ zum externalisierten Wesenszoo des „späten“ Steiner, wobei sich die „Mystik im Aufgang“ als zentraler Umschlagpunkt zeigt. Eine solche Lesart ist übrigens keineswegs neu, sondern thesenhaft bereits von Autoren wie Christian Grauer oder Felix Hau formuliert worden. Zumindest Hau rief mit dieser allzu un-spiritualistischen Lesart überall hysterischen Widerspruch hervor – wobei den anthroposophischen Rackets genug Opportunismus zuzutrauen ist, um das zu vergessen und Clement ebenso hysterisch zu applaudieren, schon weil die SKA Popularisierung ihres Gurus verspricht. Info3-Chefredakteur Jens Heisterkamp hat übrigens als erster rezensiert und den bescherten historisch-kritischen Punktsieg des Rudolf Steiner, wie Info3 ihn seit längerem gern liest – d.h. die „Mystik als Umstülpung der Philosophie“ – gefeiert.
Clement verdeutlicht besagte Dynamik in Steiners Biographie jedoch solide. Während Alois Maria Haas im Vorwort schreibt: „Der ganze Vorgang im Leben Steiners um 1900 herum spricht für die Vermutung Zanders, dass sein ‚Weg in die Anthroposophie als eine Geschichte von ‚Brüchen, Diskontinuitäten und Neujustierungen‘ zu lesen sei“ (S. XXI) findet Clement als eine Art Meta-Kontinuität einen ontologischen Monismus, der das subjektive Erleben zum eigentlichen Grund der Welterfahrung und jedes metaphysischen Postulats macht – während eben dieses Erleben später die metaphysischen Schauungen Steiners garantieren sollte. Genau wie diejenige Haus stellt Clements Interpretation eine Phänomenologie des Steinerschen Geistes in Aussicht, die ihren Ausgangspunkt von einem allzu selten zitierten Brief des 19-jährigen Rudolf Steiner an seinen Freund Julius Köck nimmt. Steiner schrieb darin 1881:
„Es war die Nacht vom 10. auf den 11. Januar, in der ich keinen Augenblick schlief. Ich hatte mich bis halb ein Uhr mitternachts mit einzelnen philosophischen Problemen beschäftigt, und da warf ich mich endlich auf mein Lager; mein Bestreben war voriges Jahr, zu erforschen, ob es denn wahr wäre, was Schelling sagt: «Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen.» Ich glaubte und glaube nun noch, jenes innerste Vermögen ganz klar an mir entdeckt zu haben – geahnt habe ich es ja schon längst-; die ganze idealistische Philosophie steht nun in einer wesentlich modifizierten Gestalt vor mir; was ist eine schlaflose Nacht gegen solch einen Fund!“ (GA 38, 13)
Steiners wechselhaftes Verhältnis zur Mystik
Der Rückzug aus dem Alltäglichen in das „geheime“ Vermögen, „unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen“ blieb ein reflexiver Ausgangspunkt für Steiners weitere Erkenntnistheorie und Naturphilosophie. Clement sieht in diesem Brief Steiners „ein klassisches Beispiel ‚mystischer‘ Erfahrung“. (S. XXXVIII) Dennoch habe Steiner diese „Erkenntniserlebnisse“ zunächst in Schelling, Fichte, Hegel und Goethe projiziert und in fast allen Briefen und Schriften vor 1900 den Terminus „mystisch“ vor allem negativ verwendet. In einem Brief an Eduard von Hartmann 1894 – also dem Jahr der Veröffentlichung seiner „Philosophie der Freiheit“ schrieb er jedoch:
„Die ganze Schwierigkeit scheint mir darin zu liegen, daß unser Leben ein individuelles, unsere Betrachtung als denkende eine ins Allgemeine gehende ist; beide Standpunkte scheinen mir aber im höheren Sinne wieder einer Vereinigung fähig zu sein, indem wir – zwar nicht in mystischer, wohl aber in logisch-ideeller Weise – das Individuelle des Bewußtseins abstreifen und erkennen, daß wir im Denken eigentlich gar nicht mehr Einzelne sind, sondern lediglich ein allgemeines Weltleben mitleben. Obwohl ich ein Feind aller Mystik bin, scheint mir hier der logische Kern der mystischen Lehren zu liegen.“ (GA 39, 227)
Clement zitiert diesen Brief nur kurz und einen weiteren, für Steiners Mystik-Verständnis zentralen, leider gar nicht. Ich meine eine Beichte aus dem Jahr 1891 aus Weimar an seine Wiener Freundin und vormalige Hausherrin Pauline Specht:
„Vorgestern nämlich war ich zum Diner beim Erbgroßherzog und gestern zum Souper bei der Großherzogin eingeladen. Es wird Sie vielleicht interessieren, wenn ich Ihnen mitteile, daß bei der Erbgroßherzogin recht flott über Yogi, Fakire und indische Philosophie gesprochen wurde. Sie können sich denken, daß ich da wieder recht gründlich untergetaucht bin in das mystische Element, in dem ich eine Zeitlang in Wien fast besorgniserregend geschwommen habe. Der Erbgroßherzog erklärte zwar, er halte «das alles für physiologisch unmöglich», da aber die Erbgroßherzogin sehr begeistert für die Sache ist, so kann es ja immerhin kommen, daß die Mystik hier noch ganz hoffähig wird. Da dies wohl das letzte Stadium vor ihrem Aussterben ist, so könnte man diese Erscheinung ja mit Freuden begrüßen.“ (ebd., 86)
Steiner bescheinigte sich hier selbst, „besorgniserregend“ im „mystischen Element“ „geschwommen“ zu haben und konstatierte „mit Freuden“ ein letztes Lebens-„Stadium“ der Mystik. Dass er selbst im Rückblick eine (historisch ebenfalls aufweisbare) Ambivalenz bei sich wahrnahm, sei hier nur festgehalten und weiter unten mit Blick auf sein theosophisches Intermezzo der 1880er diskutiert. Clement nimmt jedenfalls nur die anti-mystischen Äußerungen des frühen Steiner, vor allem der 1890er, wahr. Dies ist deshalb umso bemerkenswerter, als er gerade von diesen Kontinuitäten zu den Mystik-Schriften herstellen kann. Er verweist in der Folge pikanterweise auf Steiners Aufsatz „Der Egoismus in der Philosophie“ als erste große Vorstufe zu diesen Schriften. Darin waren u.a. Jakob Böhme und Descartes Thema: beider richtige Einsicht, so Steiner, sei die Wichtigkeit des menschlichen „Ich“ gewesen – doch Böhme habe dieses „Ich“ in „den Christengott“ und Descartes in die äußere Natur projiziert. Clement paraphrasiert diesen Aufsatz exzellent (ohne freilich zu erwähnen, dass Steiners Vorwurf bestenfalls völlige Unkenntnis der beiden geschmähten Denker zeigt). Er kommt zu der These, dass Steiner hier das Auseinanderdriften von „Mystik“ und „Naturwissenschaft“ beschrieb, das er dann zwei Jahre später in den Mystikschriften bzw. den Vorträgen, aus denen sie hervorgingen, einzuholen und zu schließen wünschte – mit dem Ich als subjektiver Bühne zur Erfahrung des Allgemeinen.In der Tat scheint dies Steiners „Mystik im Aufgang“ herzugeben, wenn es (in der sich kaum von der ersten unterscheidenden Fassung letzter Hand) heißt, der Mensch…
„…erschafft in sich eine geistige Welt. Mit dieser steht er der Natur einsam gegenüber. Er ist reicher geworden; aber der Reichtum ist eine Last, die er schwer trägt. Denn sie lastet zunächst auf ihm allein. Er muss aus eigener Kraft den Weg zurückfinden zur Natur … Seine Kraft kann leicht erlahmen. Statt die Eingliederung [in die Natur, AM] selbst zu vollziehen, wird er bei solchem Erlahmen seine Zuflucht zu einer von aussen kommenden Offenbarung nehmen, die ihn aus seiner Einsamkeit wieder erlöst, die das Wissen, das er als Last empfindet wieder zurückführt in den Urschoss des Daseins, in die Gottheit.“ (S. 69)
Diese „dialektische Konzeption“ (Clement) von Erfahrung des Innenlebens und objektiver Naturbeobachtung lässt sich in der Tat als inhaltlicher Nucleus betrachten, den Steiner von seinen Goethestudien in seiner Haeckel-Apologien und bis in die Theosophie durchhielt. Clement fasst zusammen:
„Die Natur des Wissens selbst, so Steiner, führe das menschliche Bewusstsein an die Schwelle zur Einsicht in den ich-haften Charakter allen Erkennens, und dieser Erfahrung seien die verschiedenen Spielarten von Mythologie, Philosophie, Kunst, Mystik oder eben von Naturwissenschaft entsprungen … indem nämlich der Mensch das Wissen von seinem eigenen innerseten Wesen als Wissen von einer Transzendenz aufgefasst habe … verschiedene, gesetzmäßig beschreibbare Metamorphosen des einen Ur-Vorgangs der Projektion des ‚Ich‘ in ein wie auch immer ausgestaltetes ‚Nicht-Ich‘.“ (XLIf.)
Religion und Projektion
Diese religionsphilosophische Projektionstheorie ist auch in der „Philosophie der Freiheit“ Thema, wofür Steiner eigens ein systematisch für den Rest seiner Argumentation völlig überflüssiges Konzept der „Person“ voranschickte. In der Buchfassung des „Christentums als mystische Thatsache“ ist dies mit der Erschaffung von Göttern durch den Menschen noch Thema (s.u.), verliert sich aber in den folgenden Jahren zusehends, während Steiner selbst eine übersinnliche Materialität etwa der Aura oder diverser feinstofflich-topographischer Verhältnisse bestimmter spiritueller Wesen und Sphären artikulierte und ausfeilte. In den Vorträgen zum „Christentum“ ist im 13. nach einer kritischen Diskussion von Feuerbachs Variante der Projektionsthese und Platons Ideenwelt folgende Psychologisierung und Esoterisierung in Steiners Idee zu finden:
„Es spürt fast jeder leicht, dass uns in unserer Ideenwelt etwas gegeben wird was über die Ideenwelt hinausgreift, wir könnten nicht einsehen, dass wir Individualitäten sind, wenn nicht ein Strahl in uns hineindränge, wenn wir nicht durch unseren Geist einsehen könnten, dass wir zum All gehören. Dieser Geist ist es, der hereinleuchtet. Das, was der Mensch als Individuellstes empfindet, das, von dem er sagen kann, dass es nur ihm angehört, das ist der Willensentschluss … Nicht nur der erkennende, der denkende, der den Pfad in der Anschauung suchende Mensch, sondern auch der tiefer Suchende lebt sich ein in das All … Nicht, dass dieses Urwesen mit dem Menschen nicht dieselbe Wesenheit hätte. Es ist, um mit Goethe zu sprechen, ein offenbares Geheimnis. Es ist immer und überall da und es kann von dem Menschen immer mehr und mehr erschaut und erkannt werden.“ (13. Vortrag, in: Das Christentum als mystische Tatsache. 24 Vorträge von Rudolf Steiner, Manuskript, S. 5f.)
Diese Philo von Alexandria zugeschriebene Position wird im folgenden eine psychologische Triade von Vater, Mutter und Kind als Spezifikum der „jüdischen Mystik“ zur Seite gestellt – und, man ahnt es schon, Steiner sieht in dieser ahistorischen, aber bei ihm mit dem jüdischen Kontext Philos gleichgesetzten Quelle auch den Ursprung seiner angeblichen Fehler, die zur „Unvernunft“ eines unerreichbaren Gottes geführt habe.
Clement unterschlägt nicht, dass dies noch nicht die „geistige Welt“ der Anthroposophie ist: In letzterer ist vielmehr das Ich Medium der Offenbarung jener Transzendenz, die der junge Steiner noch als Projektion des Ich wähnte und der späte aus persönlichem Umgang mit Christus, Luzifer, Erzengel Michael und ihren heiteren Freunden persönlich zu kennen behauptete. Zurecht aber sieht Clement in dieser Zuspitzung von Steiners subjektivistischem Monismus zum „Christentum als mystischer Tatsache“ eine „zweite methodische Grundlegung all dessen … was Steiner ab 1904 als Theosoph und ab 1913 als Anthroposoph ausgearbeitet hat.“ (S. XLII)
Mystik als „höhere Erkenntnis“ und die Dechiffrierung der religiösen Projektion
Weniger deutlich macht Clement, dass sich Steiners Mystik-Begriff 1901/2 im Gegensatz zum vorher pejorativen deutlich verändert hatte: Zwar blieb die subjektivistische Erklärung der mystischen Erfahrungen präsent und Steiner entfaltete in diesem Buch, dass das naturwissenschaftliche Evolutionsdenken das beste Erbe dieser Einsicht sei. Aber er schrieb im Oktober 1902 an einen Freund aus dem Giordano-Bruno-Bund, Wolfgang Kirchbach: „Ich brauchte, um das zu bezeichnen, was ich unter der «höheren Erkenntnis» verstehe, ein Wort und griff zu «Mystik».“ (GA 39, 420f.) Im selben Brief (S. 423) verwies Steiner auf den Brihadaranyaka-Upanishad. Sofern Steiner diesen tatsächlich gelesen und nicht erneut aus irgendeiner Sekundärliteratur gezogen hat, wäre ihm hier eine Ich-Philosophie begegnet, die seiner eigenen strukturell zutiefst verwandt war. Über die Erschaffung der Welt aus dem Âtman (als „Selbst“) heißt es darin zu Beginn (I, 4):
„Am Anfang war hier nur das Selbst; es war wie ein Mensch. Es blickte um sich und sah nichts anderes als sich selbst. ‚Das bin ich‘, was sein erstes Wort. Daher erhielt es den Namen ‚Ich‘ … Es fürchtete sich. Darum fürchtet sich einer, der allein ist. Es überlegte: ‚ Wenn es nichts anderes gibt als mich, vor wem fürchte ich mich denn da?‘ Da wich seine Furcht … Es empfand keine Freude. Darum empfindet ein Einsamer keine Freude. Es wünschte sich einen Zweiten. Es war so groß wie Mann und Frau bei der Umarmung. Es ließ sich in zwei Teile zerfallen. So entstanden Gatte und Gattin … Er nahte ihr. Darauf entstanden die Menschen … Sie wurde eine Kuh, er ein Stier … Sie wurde eine Ziege, er ein Bock, sie eine Schafmutter, er ein Widder … In dieser Weise erschuf es alles, was sich paart, bis hin zu den Ameisen … Dass es die höheren Götter schuf, ist eine Überschöpfung Brahmans. Weil es als Sterblicher die Unsterblichen schuf, darum ist es eine Überschöpfung. Wer so weiß, ist in dieser Überschöpfung enthalten … Das (Selbst) ist (in alles) bis in die Nagelspitzen eingegangen. Wie das Messer in der Scheide verborgen liegt … so nimmt man es nicht wahr, denn es ist zerteilt … All das sind nur Namen für seine Tätigkeiten.“
Dies weist nicht nur Analogien zu Fichtes Heraussetzung des Nicht-Ich aus dem Ich als „Thathandlung“ auf, sondern eben auch zu Steiners Christus-Bild um 1902, für das „die reale Christus-Einheitsgestalt nicht bloß fertiges atman, sondern lebendiges Tun, Karman, ist.“ (GA 39, 423) Clement liegt viel daran, die Eigenständigkeit Steiners gegenüber der Theosophie zu betonen. Dass ihm im theosophischen Rahmen aber auch Konzepte begegneten, die seine vor der Jahrhundertwende entwickelte Philosophie der subjektivistischen Immanenz bestärkten (siehe auch die eingangs zitierten Ausführungen Blavatskys). Eine der Brihadaranyaka-Schöpfungsgeschichte verwandte Tätigkeit der Erschaffung der „Unsterblichen“ als „Überschöpfung“ der Sterblichen beschrieb dann auch das „Christentum als mystische Tatsache“:
„Und so hielt es der Myste mit den Volksgöttern. Er leugnete sie nicht, er erklärte sie nicht für eitel; aber er wusste, dass vom Menschen sie geschaffen sind … Er will diese götterschaffende Kraft schauen … Denn nirgends – so stellte man sich vor [der kursive Text ist ein Zusatz Steiners zur späteren Neuauflage, mit der er sich offenbar von seiner eigenen konstruktivistische Auffassung von 1901/2 distanzierte] – ist er für den bloß sinnlichen Menschen zu finden. Wende deine Blicke hinaus auf die Dinge; du findest kein Göttliches. Strenge deinen Verstand an; du magst einsehen, nach welchen Gesetzen die Dinge entstehen und vergehen; aber auch dein Verstand weist dir kein Göttliches. Durchtränke deine Phantasie mit religiösem Gefühl; du kannst die Bilder von Wesen [1. Auflage nur: „dir Bilder“ statt „die Bilder von Wesen“, also weniger ontologisierend] schaffen, die du für Götter halten magst, doch dein Verstand zerpflückt sie dir, denn er weist dir nach, dass du sie selbst geschaffen und dazu den Stoff aus der Sinnenwelt entlehnt hast … Gott ist eben in der Welt verzaubert. Und du brauchst seine eigene Kraft, um ihn zu finden.“ (S. 131)
Die Selbstbeobachtung des Götterschaffens durch den Mysten sieht Clement als „ideelle Metamorphose“ der Selbstbeobachtung des Denkens in der „Philosophie der Freiheit“ (S. XLIX) Unkommentiert bleibt die Emanationsvorstellung des in der Welt verzauberten Gottes. Ein Bild von Gott, der sich pantheistisch in die Welt ausgegossen habe und im Denken des Menschen neu entstehe, ist eine der Lieblingsvorstellungen des frühen Goetheanisten Steiners gewesen, die in den 1890ern zunehmend verstummt war.
„Ich erschaffe eine Ideenwelt…“
Dies könnte bei Clement m.E. tiefer analysiert werden, wobei sicher in den Bänden der SKA zu den Goethe-Studien viele Klarstellungen zu erwarten sind. Der „Bruch“ bzw. die „Umstülpung“ in Steiners intellektueller Biographie liegt nicht nur um 1900, sondern hat ein Gegenstück in den 1890ern. Der Goethe-Editor war in den 1880ern noch von einer metaphysische Ebene überzeugt gewesen. In seiner Einleitung zur wegweisenden Edition der Naturwissenschaftlichen Schriften Goethes hieß es:
„Wer dem Denken seine über die Sinnesauffassung hinausgehende Wahrnehmungsfähigkeit zuerkennt, der muß ihm notgedrungen auch Objekte zuerkennen, die über die bloße sinnenfällige Wirklichkeit hinaus liegen. Die Objekte des Denkens sind aber die Ideen. Indem sich das Denken der Idee bemächtigt, verschmilzt es mit dem Urgrunde des Weltendaseins; das, was außen wirkt, tritt in den Geist des Menschen ein: er wird mit der objektiven Wirklichkeit auf ihrer höchsten Potenz eins. Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen. Das Denken hat den Ideen gegenüber dieselbe Bedeutung wie das Auge dem Lichte, das Ohr dem Ton gegenüber. Es ist Organ der Auffassung.“ (GA 1, 125f.)
Für den frühen Steiner hatte das Denken eine rezeptive Funktion, die ab der Mitte der 1890er zunehmend zu einer konstruktiven bzw. konstruierenden wurde. Der oben zitierte Mystik-Schwimmer Steiner war in der Wiener Zeit nicht nur mit Goethe, sondern auch mit Friedrich Eckstein bzw. über ihn mit Blavatskys Theosophie in Berührung gekommen und mit theosophischen Vorstellungen allermindestens rudimentär bekannt (vgl. Schmidt: Rudolf Steiner und die Anfänge der Theosophie, a.a.O, S. 83-106) Noch 1890 hatte Steiner seinem theosophischen Mentor Eckstein, dem er sich nicht anschloss, sehr wohl aber produktiv austauschte, geschrieben:
„Ich glaube, Goethe versteht nur der, welcher den Sinn dieser Worte versteht. Mir ist klar, daß Goethe mit seinem «Teilhaftigsein am Weitprozesse» unmittelbar die Selbstauflösung des Individuums und dessen Wiederfinden im Weltall meinte, die Vergottung des Menschen. Charakteristisch für ihn ist in dieser Hinsicht, daß er einmal offen sagte: Ich habe etwas zu hüten als mein Geheimnis, und wer mich von außen sieht, der hat nichts von mir gesehen … Dies alles sind mir fortlaufende Beweise dafür, daß Goethe ein Esoteriker in des Wortes bester Bedeutung war.“ (GA 39, 52/54)
Dies sind die kosmisch-pantheistischen Ausläufer einer von Steiner in seiner theosophischen Ära wieder warmgemachten Position. 1894, im oben ebenfalls zitierten Brief an Eduard von Hartmann, hat Steiners das behauptete trans-subjektive Element dann nur noch im Denken und vor allem in der Logik gesehen und seine Philosophie als eine „Philosophie der Immanenz“ bezeichnet (a.a.O.). Das „Wiederfinden im Weltall“ war verschwunden. In „Welt und Lebensanschauungen des 19. Jahrhunderts“ hieß es 1900:
„Wenn ich mit meinen Gedanken die Dinge durchdringe, so füge ich also ein seinem Wesen nach in mir Erlebtes zu den Dingen hinzu. Das Wesen der Dinge kommt mir nicht aus ihnen, sondern ich füge es zu ihnen hinzu. Ich erschaffe eine Ideenwelt, die mir als das Wesen der Dinge gilt. Die Dinge erhalten durch mich ihr Wesen. Es ist also unmöglich, nach dem Wesen des Seins zu fragen. Im Erkennen der Ideen enthüllt sich mir gar nichts, was in den Dingen einen Bestand hat. Die Ideenwelt ist mein Erlebnis. Sie ist in keiner anderen Form vorhanden, als in der von mir erlebten.“ (S. 188)
Und wenig früher:
„Die Erziehung der verflossenen Jahrhunderte hat energisch daran gearbeitet, das Bewußtsein nicht aufkommen zu lassen, daß die Welt des Idealen ein Geschöpf des Menschen ist … Das ist nun anders geworden. Die Wirklichkeit hat sich in unserem Bewußtsein als Siegerin erwiesen. Das Ideale findet bei uns nur insofern Verständnis, als wir seine Wurzeln in dem Rein-Natürlichen finden können. Sind solche Wurzeln nicht nachzuweisen, dann erscheint das Ideale uns als Daseinslüge oder als Idol, die der Menschengeist erfindet, weil er den Hang hat, eine Befriedigung, die er im unmittelbaren Leben nicht finden kann, sich in der Sphäre des Illusorischen zu suchen.“ (GA 32, 254)
Auch hier hat eine „Umstülpung“ stattgefunden, die Steiner nach 1900 sukzessive wieder rückgängig zu machen begann, indem er seine eigene „geistige Welt“ erfand und erlebte. In den Vorträgen zum „Christentum als mystische Thatsache“ war, aus dem strukturalistischen Allgemeinen des ‚Ich‘ wiederum der menschliche „Logos“ als ein Erkenntnissubjekt geworden, das jenseits von ‚Ich‘ und ‚Natur‘ stand. Er umgriff beide, wie das Denken für den jüngeren Steiner:
„Der Logos fängt an zu reden, wenn die Natur in einer höheren Natur wiedergeboren wurde. Sie tritt dann auf als Selbsterkenntnis. Aber diese liefert nicht das Selbst des Menschen, sondern das Wesen, das allem zugrunde liegt … [und folglich den Menschen, der] sich mit den Dingen innig vereint hat … so dass dieses kleine Selbst sich zum allgemeinen Weltselbst erweitert.“ (1. Vortrag, in: Das Christentum , Manuskript, a.a.O., S. 12)
Helmut Zander spricht deswegen auch von einer spiritualistischen Rekonversion Steiners in den Mystik-Schriften zu den idealistischen Vorstellungen seiner Wiener Zeit (Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, S. 552). Es ist bedauerlicherweise der „frühe“ Steiner, der bei Clement zu kurz kommt, auch wenn sich sein Erkläungsansatz ohne jeden Abstrich auf diesen erweitern ließe. Objektiv existente Ideen und ein in die Welt ausgegossener Gott wurden kurz vor der Jahrhundertwende in das projizierende, „eine Ideenwelt“ selbst erschaffende Ich zusammengezogen. Um 1900 war Steiner die Natur kein Ausfluss Gottes mehr, sondern erst im „Christentum als mystische Thatsache“ kehrte Steiners alte Emanationsvorstellung gänzlich wieder. Das macht Clement indirekt deutlich, indem er die erste Auflage von „Die Mystik im Aufgang“ mit Steiners fast nur in diesem Punkt revidierter Neuauflage desselben Buchs an seinem Lebensende vergleicht. Nach seiner Darstellung lässt sich „eine deutliche Revision seines früheren Geist-Begriffs erkennen“:
„So heißt es etwa in der Erstauflage, dass man den Geist ’nicht in der Wurzel der Natur, sondern nur in ihrer Frucht‘ zu suchen habe, dass der ‚Geist ein Entwicklungsergebnis‘ und dass ‚ein thatsächlich existierender Geist nur im Menschen zu finden‘ sei (MA, 119). Damit klingt ein Motiv an, welches an verschiedenen Stellen der Schrift auftaucht und und sich auch anderweitig in Steiners Texten kurz vor der Jahrhundertwende nachweisen lässt … Diesen Aussagen entspricht auch der ganze Gestus des ‚Ausklangs‘ mit seinen Huldigungen an Haeckel und die zeitgenössische Entwicklungsbiologie. Die Neuauflage hingegen schlägt einen ganz anderen Ton an, wenn es dort nun heißt, dass es sehr wohl einen ‚Geist in der Natur‘ gebe, nur eben keinen ’sinnenfälligen‘ …“ (LXII)
Reinkarnation, Evolution, Esoterik
1890, um erneut auf den oben schon mehrfach umschrittenen Punkt in Steiners Biographie zurückzukommen, erschien außerdem ein Buch von Wilhelm Hübbe-Schleiden, der „grauen Eminenz der deutschen Adyar-Theosophie“ (Peter Bierl). Unter dem Titel „Das Dasein als Lust, Leid und Liebe“ versuchte der Autor, aus einem „individualistischen Monismus“ die Evolutionsvorstellung Ernst Haeckels abzuhandeln und die biologistische Vorstellung der Höherentwicklung mit derjenigen des spirituellen Subjekts zu verbinden, das an der Entwicklung via Reinkarnation partizipiere. Steiner, der ähnliches über zehn Jahre später selbst behaupten sollte, rezensierte ein Jahr später:
„Wer im Individuum den Allgeist, im Einzelwesen die Summe von Existenzen, die dasselbe zu durchlaufen hat, erkennen will, der muß vor allen andern Dingen begreifen, daß dies nur durch Vertiefung in sein Inneres geschehen kann, nicht durch eine äußerliche Betrachtungsweise. Wer seine eigene Individualität als Menschenwesen versteht, der findet alle niederen Daseinsformen in sich; er sieht sich als oberstes Glied einer weiten Stufenleiter; er weiß, wie alles andere lebt, wenn er es nachzuleben, wiederzuleben versteht. Ein höheres Leben vermag jedes niedere in sich aufzunehmen und in seiner Art wieder zu vergegenwärtigen. Darauf beruht die Möglichkeit des Verstehens der Welt durch den Menschen. Diesen Gedanken als eine in der Zeitenfolge vor sich gehende Verkörperung des Individuums in verschiedenen, immer vollkommeneren Formen vorzustellen ist bloß bildliche Darstellung. So meint es die Esoterik. Wer die Bilder für die Sache nimmt, weiß nichts von Esoterik.“ (GA 30, 511)
Steiner bejahte also die Höherentwicklung und die Manifestation der „niederen Daseinsformen“ im menschlichen Subjekt. Im Hintergrund steht hier Haeckels „biogenetisches Grundgesetz“, nach dem das Individuum vom Embryo zum erwachsenen Menschen noch einmal die gesamte stammesgeschichtliche Evolution wiederholt, die er im späteren Leben fortentwickeln soll. Dies sei ein bildlicher Zugang des „Verstehens der Welt“, keine in der historischen Zeit tatsächlich stattfindende „Verkörperung des Individuums in verschiedenen … Formen“, letztere vielmehr „bildliche Darstellung“. Der reinkarnationsgläubige Theosoph nehme als solcher „die Bilder für die Sache“ und missverstehe damit die „Lehren der Inder“, wisse „nichts von Esoterik“. Im oben zitierten Brief Steiners an Wolfgang Kirchbach von 1902 nahm er die gegenteilige Position ein: nun deutete er, wie Hübbe-Schleiden, Gespräche über die Reinkarnation in den Upanishaden als Belege für deren Kenntnis der Evolution: „Und das, wovon sie sprachen, war die Evolution, und das, was sie priesen, war die Evolution (Karman).“ (GA 39, 423)
Steiner sah in der Erkenntnis der Evolution und des Karmas eine Synthese von „Augustinismus und Haeckelianismus“ (ebd., vgl. Clement, S. XL). Dieser Hinweis von Ende 1902 ist bedeutend, weil er die Richtung zeigt, in die der schon immer evolutionsbegeisterte Steiner seinem subjektivistischen Monismus nun überführte. War vor allem bis in „Die Mystik im Aufgang“ das Ich der ‚eigentliche‘ Grund von Naturforschung und Mystik und waren letztere eher schlechte des ‚Icj‘ Projektionen nach außen – so rückte in den folgenden Jahren die Evolution an die hermeneutische Stelle des Ich. Letzteres verlor seine anthropologische Zentralstellung durch die analog zu und im Dienste der kosmischen Evolution stattfindende Reinkarnation. Schon „Das Christentum…“ wurde damit auch zur Quelle der Steinerschen Entwicklungs- und Rassentheorie (vgl. Martins: Rassismus und Geschichtsmetaphysik, S. 52f.). In der Vortragsfassung kannte Steiner, und das macht Clement deutlich, schon die theosophische Kulturgeschichte, die sich als genetische Kette der kollektiven Entwicklung von Indien über Persien und Ägypten nach Europa gewälzt habe:
„Von Apollonius [von Tyana] wird uns erzählt, dass er weite Reisen gemacht hat, auf denen er weniger seine eigene Weisheit zu bereichern suchte, die ihm ja zur Verfügung war, da er auf höherer Stufe der Reinkarnation stand, als die verschiedenen Religionen durch ein geistiges Band zu verbinden. Es wird ihm eine kosmopolitische Reformationstätigkeit zugeschrieben. Bei den Indern soll er gewesen sein, bei persischen Magiern und ägyptischen Priestern. Bei den indischen Weisen wurde er sogleich erkannt als eine vergöttlichte Persönlichkeit. Es wird uns auch erzählt, dass er die ägyptische Religion in ihren verschiedenen Formen kennengelernt hat, dass er aber den ägyptischen Priestern mehr hat sagen können als sie ihm. Er konnte ihnen mitteilen, dass sie ihre religiösen Vorstellungen von Indien haben müssen. Er hat ihnen in dem Indischen ihr Eigenes wiederzeigen können. So sehen wir, wie Apollonius bemüht ist, in den verschiedenen Religionen das Gemeinsame zu sehen und so erscheint er uns in dieser Zeit als der Träger eines wirklichen theosophischen Strebens. Er stellte sich geradezu die Aufgabe, in allen Religionen das Gemeinsame zu suchen. Daher erscheint uns seine Lehre, wenn wir uns in dieselbe vertiefen, als ein Extrakt aus allen damals bestehenden religiösen Lehren. Er hatte den Extrakt aus allen gesammelt.“ (Vortrag 20, in: Das Christentum, Manuskript, a.a.O., S. 2)
In der ersten Auflage des Buchs wurde die Evolution als Stufenprozess ebenfalls reinkarnatorisch gedeutet, wobei Steiner hier den Terminus „Seelenwandelung“ verwandte, den er in späteren Auflagen durch „Wiederverkörperung“ ersetzte. An prominenter Stelle erklärte Steiner, übrigens unter egalitärer Einreihung Jesu unter andere „Eingeweihte“, deren Geschäft er freilich mit einer neuen Evolutionsstufe aktualisiert und zu ihrem damaligen Höhepunkt geführt habe, Essäer und Therapeuten:
„Aus dem Vorhandensein solcher Sekten wird die Persönlichkeit Jesu völlig verständlich. Sie boten die Möglichkeit, dass in einem Menschen, in dem geistig-höchste Eigenschaften waren, diese ganz in Wirklichkeit umgesetzt werden konnten … Eine Buddhanatur ist dadurch von der eines gewöhnlichen Menschen verschieden, dass sie auf einer höheren Entwicklungsstufe des Seelenlebens steht. Sie übernimmt eine größere geistige Erbschaft, sie hat mehr g e i s t i g e Ahnen als eine andere … Der Glaube an die Seelenwandelung ist Voraussetzung einer solchen Lebensführung, wie sie bei Essäern und Therapeuten zu finden ist. Die höher entwickelte Seele wird auf eine höhere Stufe der herrschenden Hierarchie steigen.“ (S. 209)
Und, die ganze normative Schlagseite der „herrschenden Hierarchie“ entfaltend:
„Soll der vollkommene Geist ebensolche Voraussetzungen haben wie der unvollkommene? Soll Goethe die gleichen Bedingungen haben wie ein beliebiger Hottentotte? So wenig wie ein Fisch die gleichen Voraussetzungen hat wie ein Affe, so wenig hat der Goethesche Geist dieselben geistigen Vorbedingungen wie der des Wilden. G e w o r d e n ist der Geist wie der Leib. Der Dämon in Goethe hat mehr Vorfahren als der in dem Wilden. Man nehme die Lehre von der Seelenwandelung in diesem Sinne.“ (S. 138)
Die von Clement beschriebene Geste der „Umstülpung“ als Verhältnisbestimmung von Steinerscher Philosophie und Esoterik lässt sich somit in zweifacher Hinsicht produktiv weiterdenken: Eine monistische, an die Erfahrung des Subjekts rückgekoppelte Erklärung der Welt und des Menschen blieb die Kontinuität. Bereits um 1890 hat darin eine solche „Umstülpung“ stattgefunden. Zuvor hatte der Goetheanist Steiner den „Ideen“ einen objektiven und dem Denken einen im Verhältnis zu ihnen rezeptiven Status zugesprochen. In den späten 1890ern war dagegen das Ich Schöpfer der Ideenwelt, der kein außersinnliches Korrelat zugrundeliege. Steiner deutete Geist und Welt rein immanent, mithin a- und antitheistisch. In „Die Mystik im Aufgang“ reaktivierte Steiner eine pantheistische Sicht, sprach aber weiterhin von der konstruktiven Rolle des ‚Ich‘ in der sog. Erschaffung von Göttern. Dieser Faden versickerte in „Das Christentum als mystische Tatsache“ allmählich. Das ‚Ich‘ bleib zentraler Akteur, aber Movens und metaphysischer Kontext seiner Erfahrungen war ab 1902 immer mehr die unterstellte theosophische Kosmogonie und von Anfang an hierarchisch-elitär gedachte Evolution.
Die fulminante Eröffnung der „Kritischen Ausgabe“ lässt auf die Fortsetzungen gespannt sein. Das Editionsprojekt ist offenbar in kundigen Händen und man darf zweifellos auf weitere derart fruchtbare Interpretationsansätze gespannt sein.