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Ein Geschenk zum neuen Jahr? Heiner Ullrichs Biographie „Rudolf Steiner“

(von Stephan Geuenich)

Zum 150. Geburtstag Rudolf Steiners erschienen drei kritische und unabhängige Biographien. Eine davon floss aus der Feder des Erziehungswissenschaftlers Heiner Ullrich. Seine Doktorschrift „Waldorfpädagogik und okkulte Weltanschauung“ dürfte in der Diskussion um Steiner und die Waldorfpädagogik bekannt sein. Der Titel des neuen Buches: „Rudolf Steiner – Leben und Lehre“: Es geht um eine Einführung „in das Leben und die Entwicklung der Lehre Rudolf Steiners“, „mit größtmöglicher Fairness“.

Damit wären wir schon beim Inhalt angekommen: Nach einer ersten Darstellung des Lebens Rudolf Steiners versucht Ullrich in einem Rundumschlag, möglichst viele Aspekte von Steiners Wirken aufzuzeigen. Zum Schluss steht, ganz seiner akademischen Provenienz entsprechend, eine Darstellung der Waldorfpädagogik im Zentrum.

Die Ausgangslage von Ullrichs „wissenschaftliche(r) Auseinandersetzung mit Rudolf Steiner“ stellt dessen Autobiographie dar. In die historischen Begebenheiten einordnend, werden die verschiedenen Stationen in Steiners Leben nachvollzieh- und erklärbar. Vor allem der gesellschaftliche und wissenschaftliche Wandel zu Beginn des 20. Jahrhunderts und die damit verbundenen Reaktionen auf die entstandene Unüberschaubarkeit erhellen – wenn auch nicht originell und das erste Mal – gewisse biographische Aspekte. Beispielhaft schreibt Ullrich:

„Die literarischen und weltanschaulichen Kreise, in denen der junge Steiner damals [angesprochen ist hier seine Wiener Zeit, Anmerkung S.G.] … verkehrte, waren überwiegend von einer rückwärtsgewandten idealistischen und spätromantischen Atmosphäre und von katholischtheologischen Orientierungen bestimmt. Und so stand Steiner selbst […] den vielen Gestalten des Fortschritts … höchst skeptisch gegenüber.“ (S. 18)

Damit einher geht das Verhaftetsein Steiners in einem „vordarwinistischen idealistischen All-Einheitsdenken“ (S. 21) vor dem Hintergrund des Wirkens von Ernst Haeckel. Ullrich kratzt abermals an der bevorzugten anthroposophischen Darstellung eines stringenten Lebenslaufs. Das ist zwar nicht neu. Doch die 90 Seiten über Steiners Biographie sind angenehm unaufgeregt, mit wissenschaftlichem Anspruch und mit kleinen Details angereichert – und damit lohnt sich das Lesen sowohl für mit dem Thema Vertraute als auch „Neulinge“.

„fortschreitender Prozess“?

Zur bevorzugten anthroposophische Darstellung von Steiners Leben als fortschreitendem Prozess der Selbsterkenntnis, finden sich in diesem Buch immer wieder zurecht angebrachte Klarstellungen: zum vergeblichen Versuchs Steiners eine Universitätslaufbahn einzuschlagen, zu mitunter amüsanten Aussagen zur Theosophie während seiner Berliner Zeit, den Bekundungen zum Anarchismus, von welchem er sich später distanzierte, oder der Behauptung der inneren Konsistenz und Kontinuität von der naturwissenschaftlich orientierten Weltanschauung hin zur Anschauung einer übersinnlichen geistigen Welt. Ebenso wird dargestellt, dass Steiner mit Erfolg das Bild seines stringenten Lebenslaufs installierte:

„Steiner ist es tatsächlich gelungen, in seiner Anhängerschaft seine Sicht der eigenen Entwicklung als eines kontinuierlichen Bildungsganges vom idealistischen Goethe-Verehrer über den nietzscheanischen Freigeist und individuellen Anarchisten zum Anführer der deutschen Theosophen durchzusetzen.“ (S. 50)

Ullrichs ausgesprochen guter Überblick über das Wirken Steiners, verdient besondere Anerkennung im Hinblick darauf, dass es sich um einen ersten Einstieg in dessen Leben und Werk handelt. In aller Kürze und Prägnanz wird „das Programm für eine umfassende spirituelle Erneuerung des Lebens nicht nur in der Kunst, sondern auch in Politik, Erziehung, Medizin, Religion, Landwirtschaft und Heilpädagogik“ (S. 75) dargestellt. Auch hierbei wird deutlich, dass es sich wohl kaum um ein stringentes Wirken handelte, sondern vielmehr um im Zeitgeist verhaftete Ansätze, Überlegungen und Agitationen. Das Eintreten für die Theorie der „Dreigliederung des sozialen Organismus“ – ein „dritter Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus – mit der er prominente Unterstützer erreichte, kann dafür beispielhaft genannt werden. In der öffentlichen Wahrnehmung dauerhafter und erfolgreicher waren die Gründung der Freien Waldorfschule, die Konzeption einer „geisteswissenschaftlich“ erweiterten Medizin und Pharmazie und vor allem auch die Ideen zur biologisch-dynamischen Landwirtschaft. Auch die von Steiner konzipierte Heilkunst nach „geisteswissenschaftlicher“ Erkenntnis ordnet Ullrich historisch ein. Er zeigt deren Unklarheiten in Bezug zur naturwissenschaftlichen Medizin und Ungereimtheiten auf, auf welche er vor allem in einem späteren Teil seines Buches nochmal zurück kommt.

Ist Goethe drin, wo Goethe drauf steht?

Nun sei mir ein kleiner Ausflug zum Bezug Steiners und seiner Theorie zu Goethe und dessen Darstellung bei Ullrich gestattet. Gerade auf die, bis heute wirkende, eigene Goetherezeption und wie diese als Basis für Steiners „fachphilosophisch unzeitgemäßen mystisch-vorkritischen Idealismus“ (S. 25) diente, geht Ullrich etwas genauer ein:

„Während aber Goethe sich dabei der Begrenztheit seiner Erkenntnis und des Abstandes seines endlichen Geistes vom absoluten bewusst war und aus Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen in der sinnlichen Anschauung der Phänomene verblieb, drängte es Steiner von Anfang an über die von Kant gezogenen Schranken der Verstandeserkenntnis hinaus zur unmittelbaren intellektuellen Anschauung der Ideenwelt. Durch die Konzentration auf die Ideenlehre des frühen Goethe und die Vernachlässigung von Goethes Kant- Rezeption sowie durch die enge Bindung der Metamorphosenlehre Goethes an den Darwinismus nahm Steiner Goethes Vorstellungen für seinen eigenen erkenntnistheoretischen Monismus in Anspruch … .“ (S. 31)

Dass diese Art der Auffassung der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes weitreichende Folgen auf das Konzept seines eigenwilligen Interpreten hatte, wird plausibel erläutert. Diese Erneuerung der mystischen Erfahrung durch Steiner erklärt Ullrich biographisch mit dem Leiden Steiners unter der Entmythologisierung der Welt durch die exakten Naturwissenschaften und die kritische Philosophie. Die hinter Steiners Erkenntnistheorie stehenden Einflüsse und Grundannahmen werden durchaus kritisch wiedergeben und als „im Grunde spekulative Deduktion aus dogmatischer Metaphysik“ (S. 103) charakterisiert. Hierbei wird zurecht auf den Neuplatonismus verwiesen, wobei zwar ideengeschichtlich Autoren wie Jakob Böhmes, Giordano Bruno und Baruch Spinoza genannt werden, jedoch eine Darstellung der diesbezüglich von Steiner verwendeten Quellen ausbleibt.

Vertieft werden die ideengeschichtlichen Analysen auf mehreren Seiten. Dabei bezeichnet Ullrich die Erkenntnislehre Steiners als „rationalisierte Mystik“, welche „weder Mystik im religiösen Sinn einer Selbstaufgabe in die Unsagbarkeit des Einen noch Philosophie im Sinne einer Wissenschaft der sich selbst begreifenden Vernunft“ (S. 108) ist. Damit hat Ullrich sicherlich nicht ganz unrecht, wenn Mystik als das „Bestreben, durch Abkehr von der Sinnenwelt und Versenkung in die Tiefe des eigenen Seins“ (Preußner 2003a) verstanden wird. Im herkömmlichen Sinne ist dieses Streben bezogen auf die Erfahrung des Göttlichen und Wahren, weswegen hier durch die Bezeichnung „rational“ die gewollte und behauptete Wissenschaftlichkeit, gegenüber einer religiösen Suche, Erwähnung findet. Dennoch weist auch Ullrich auf die letztlich religiöse Komponente in der Selbstanschauung und Erkenntnistheorie Steiners durch den Verweis auf die gnostischen Einflüsse in Steiners Denken und die Annahme der Erinnerung an die „ursprüngliche Identität mit der göttlichen Erkenntnis“ (S. 107) hin. Damit sei, zumindest von meiner Seite aus, einem gnostischen Denken und den unter Umständen vorhandenen Bedürfnissen und Verlangen nach tieferer und eventuell übersinnlicher Erkenntnis, gerade im Hinblick auf existenzielle Grundfragen, nicht die Existenzberechtigung abgesprochen.

In einer Beurteilung und Vergleich der drei kürzlich erschienenen Biographien zu Steiner betont Heisterkamp in diesem Zusammenhang, dass derartige Strömungen als wirklich hilfreich und weiterführend für einige Menschen anzusehen seien. Das ist sicherlich richtig. Zu unterscheiden ist ein derartiges Bedürfnis und Bestreben jedoch von wissenschaftlichem Forschen. Dies ist gekennzeichnet durch Falsifizierbarkeit, Überprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit, sowie der generellen Möglichkeit einer Veränderung von Betrachtungsweisen und damit Wahrheiten.

Ein leidiges Thema: Die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie

Damit bereits angesprochen ist Steiners Wissenschaftsverständnis und die Beurteilung des Autors derselben:

„Zwischen der «essentialen» Wissenschaft Steiners … und der Forschungspraxis sowie dem theoretischen Selbstverständnis der modernen Wissenschaften besteht eine unüberbrückbare Kluft. … Im Gegensatz zur bewussten methodischen Selbstbegrenzung, zur Pluralität und prinzipiellen Unabschließbarkeit moderner wissenschaftlicher Forschung wollen Rudolf Steiner und seine Schüler weiterhin die Welt als ein wohlgeordnetes Ganzes gleich einer ewig unwandelbaren Wahrheit erkennen. Sie wollen in der Form der zwingenden Wissenschaft das erkennen, was sich gerade so nicht wissen lässt. Ihre Denkform ist … philosophierende Weltanschauung … .“ (S. 109- 110)

Damit kann wieder der Bogen zur historischen Einordnung und die zeitgenössische Reaktion auf historische Begebenheiten geschlagen werden. Ganz der sogenannten Reformpädagogik entsprechend, will die „Steinersche Erkenntnislehre Kritik an der neuzeitlichen Vernunft sein“ (S. 110). Dem Pluralismus und der modernen Unsicherheit wird remythologisierend und romantisierend begegnet und eine Versöhnung von Wissenschaft, Religion und Kunst angestrebt. Ullrich unterscheidet hier zwei Richtungen in Steiners Lehre, den zuvor erwähnten Goetheanismus, welcher Steiners erkenntnistheoretischem Frühwerk entspräche und die darauf folgende anthroposophische Geisteswissenschaft, die sich u.a. durch die Vision übersinnlich anschaubarer Wesenheiten und kosmisch-geistiger Kräfte auszeichnet und die Basis für die späteren lebensreformerischen Initiativen darstelle. In diesem Zuge wird unter anderem auf die Lehre der Drei- sowie Viergliederung und auf sich aus diesen beiden Konzepten ergebende Widersprüchlichkeiten eingegangen. Statt z.B. entwicklungspsychologischer Ansätze aufzugreifen, griff Steiner u.a. „auf eine antik-mittelalterliche Denk- und Ordnungsform zurück: hier die mythologisch begründete Hebdomadenlehre der frühen Griechen.“ (S. 151) Auch gerade bei diesem Aspekt ergibt sich bezogen auf die durch den Autodidakten entwickelte Pädagogik:

„Doch im Gegensatz etwa zu den zeitgenössischen Ansätzen John Deweys und Maria Montessoris, die ihre Neue Erziehung auf die empirische Kinderpsychologie gründeten, entwarf Steiner den Plan der Erziehung gänzlich aus seiner kosmisch-spiritualistischen Anthropologie“, in seinen eigenen Worten ausgehend „von einer Betrachtung der verborgenen Natur des Menschen“ (S. 152).

Dass Steiners Hebdomaden- sowie Temperamentenlehre als Anachronismus anzusehen ist, ist aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive nicht verwunderlich. Ob der Verweis auf mögliche Ursprünge dieser Ideen Steiners in der zeitgenössischen Ratgeberliteratur und der «Geheimlehre» Blavatskys etwas am Festhalten Steiners an der „alteuropäischen Jahrsiebtenlehre und am hippokratisch-galenischen Viererschema der Temperamente“ (S. 183) ändert, sei dahin gestellt. Die erneute Betonung der angeblichen Unantastbarkeit überzeitlich geltender Wahrheiten, die durch die „Verlagerung der «wahren Erkenntnis» ins Übersinnliche und ihre Bindung an das Absolvieren eines meditativen Schulungsweges“ (S. 184) scheinbar fundiert ist, ist in diesem Kontext richtig. Das Fazit Ullrichs zur Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaft Steiners als „ein Versuch der Rehabilitierung mythischer Denk- und Lebensformen“ (S. 191) wird von anderen, Ullrich kritisierenden, Rezensenten verneint und kann allerhöchstens aus einer begrifflichen Diskussion über den Mythos nachvollzogen werden. So stellen die anthroposophischen „Bilder und Analogien“ nicht eine anschauliche Basis für eine fundierte philosophische Theorie dar (vgl. Preußner 2003b), sondern entsprechen der behaupteten Erkenntnis.

Von Hagiographien und Polemiken

In dem Kapitel Rezeption und Kritik geht Ullrich zuerst auf die Schwierigkeit der Rezeption, bei einer gleichzeitig unüberschaubaren Fülle an Literatur von und über Steiner, ein. Dabei verwendet er u.a. die Begrifflichkeit der Hagiographie, womit die unkritische Darstellung eines Heiligen bezeichnet wird. Der verehrenden Haltung auf der einen Seite werden polemische Kritiken auf der anderen Seite, mit dem leicht spöttisch anmutendem Hinweis, gegenübergestellt:

„Sowohl die anthroposophische Würdigung Steiners als auch die nichtanthroposophische Kritik kranken an einem Übermaß von Betroffenheit und Parteinahme.“ (S. 175)

Die Beantwortung der Frage, ob dieses Übermaß an Betroffenheit tatsächlich auf die Thematik der „«letzten Fragen» nach dem Grund und dem Sinn des Lebens“ (S. 175) zurückzuführen ist, möchte ich den so gerne diskutierenden Leser_innen überlassen. Aber nun weiter zum Thema der Rezeption und Kritik der Lehre Steiners: Vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Bescheidenheit und damit verbunden der Einsicht in die geschichtlich und menschlich bedingten und begrenzten Erkenntnismöglichkeiten, betont Ullrich die Fragwürdigkeit der Steinerschen Erkenntnislehre, welche dem Menschen unbegrenzte Erkenntnismöglichkeit der ewigen Ideen andichtet. Dies steht im Zusammenhang mit dem Begriff der Freiheit, welcher

„sich streng genommen als ein Determiniert-Sein durch die Welt der Ideen [erweist], wenngleich sich diese Determination … weder als ein Müssen noch als ein Sollen, sondern als ein Selber-Wollen dieses Allgemeinen erkennen lassen sollte.“ (S. 177-178)

Einmal mehr stellen derartige Feststellungen keine großartigen Neuigkeiten dar, jedoch werden unmissverständlich mit der Anthroposophie verbundene Probleme aufgezeigt. Z.B. die bereits genannte mangelnde ethische Ausrichtung und die Determiniertheit der Freiheit: Freiheit bedeutet schlussendlich die „Erkenntnis über den Weltzusammenhang“, eine „Freiheit zum vorgegebenen Gesetz“ (S. 179).

Waldorfpädagogik

Bevor hier weiter auf die Darstellung der Waldorfpädagogik bei Ullrich eingegangen wird, sei am Rande ein Aspekt der Waldorfschule erwähnt, die Ähnlichkeit zur Hamburger Lebensgemeinschaftsschule. Auch wenn eine historische Einordnung an der Genialität und Einzigartigkeit des Urhebers rüttelt (darauf kommt Vögele in seiner Rezension immer wieder zu sprechen, z.B. so: „Im historischen Kontextualisieren will er es offensichtlich Zander (2007) gleichtun, indem er kaum eine Schöpfung Steiners als ursprünglich oder originär gelten lässt“) wäre es interessant, diesen Aspekt noch etwas näher zu Beleuchten, ebenso wie die Frage, ob Steiner weitere Anleihen aus reformpädagogischen Schulprojekten seiner Zeit nahm. In einer groben Darstellung der verschiedenen Facetten der Waldorfpädagogik (vom Klassenlehrer, über den Epochenunterricht, die Temperamentserziehung, die Zeugnisgestaltung bis hin zur räumlichen Gestaltung der Waldorfschule) geht Ullrich auch auf das Thema der Waldorfschule als „eine Schule mit einer besonderen pädagogischen Prägung“ (S. 206) im Gegensatz zu einer Weltanschauungsschule ein.

So werde Anthroposophie nicht als Fach und Inhalt gelehrt, sondern es stehe nur das „Wie“, also die anthroposophische Methode im Mittelpunkt. An diesem „Wie“ sind die genannten Aspekte der Waldorfpädagogik ausgerichtet. Allerdings lässt sich damit Fragen, inwieweit nicht doch auch Inhalte und Betrachtungsweisen der Anthroposophie (z.B. vermittelt über die „Behandlung“ der Temperamente, was Waldorfschüler_innen durchaus bewusst ist) vermittelt werden. Ullrich geht in diesem Kontext beispielhaft auf die inhaltliche Nähe der an der Waldorfschule vermittelten Pflanzenseelenkunde zum Geist der Anthroposophie ein. Bei dieser beziehe der_die Waldorflehrer_in „in seine «goetheanistische Naturauffassung» eine spirituelle Dimension mit ein“ (S. 217).

Ähnlich anderen sogenannten reformpädagogischen Konzepten (wie z.B. dem von Maria Montessori), ist auch bezüglich der anthroposophischen Pädagogik und pädagogischen Theorie zu betonen, dass dieses „(spirituell-)naturalistische … Erziehungsverständnis … weder ethisch noch empirisch-psychologisch fundiert“ ist (S. 158). Ganz im Sinne des Pathos vom «heiligen Kinder» erscheint nach Ullrich die Erziehung auf Basis der anthroposophischen Lehre als Inkarnationshilfe und geistige Erweckung. Dabei wird „der Erzieher … zum Priester und Seelenführer des Kindes“ (S. 158). Dass dieses Verständnis von Erziehung und der Aufgabe der Pädagogik die Basis der 1919 gegründeten Freien Waldorfschule ist, betont Ullrich im weiteren Verlauf erneut:

„Die in der pädagogisch interessierten Öffentlichkeit weit verbreitete Ansicht, die Freie Waldorfschule sei eine Schule mit einer besonderen reformpädagogisch-kindorientierten Prägung, greift zu kurz. Sie unterscheidet sich von den anderen Schulen der klassischen Reformpädagogik des frühen zwanzigsten Jahrhunderts – und erst recht von den Alternativschulen der zeitgenössischen Reformpädagogik – durch den hohen Grad der «Spiritualisierung» und Ritualisierung in allen Bereichen ihrer Schulkultur. Ihr Ausmaß an weltanschaulicher Geschlossenheit sucht hierzulande noch ihresgleichen.“ (S. 223)

Empirische Studien

Zu guter Letzt geht Ullrich auf drei empirische Studien von Dahlin, Barz & Randoll, sowie Helsper & Ullrich ein. Nicht verwundern dürfen Ergebnisse, wie die der schwedischen Evaluationsstudie, dass „Waldorfeltern in Schweden eine relativ homogene soziale Gruppe darstellen“ (S. 234). Gekennzeichnet ist diese u.a. durch ein Mittelschicht-Einkommen, eine eher ökologisch linke politische Einstellung und eine mehrheitlich religiös oder spirituell bestimmte weltanschauliche Orientierung. Dadurch trägt die Waldorfschule – auch wenn das nicht Intention sein mag – natürlich zu sozialer und kultureller Segregation bei.

Dieses Ergebnis entspricht auch der Studie von Barz & Randoll, nach der Waldorfschüler_innen auch in Deutschland „überwiegend aus der gehobenen, akademisch gebildeten Mittelschicht stammen“ (S. 236) mit einem hohen Anteil von Akademikerfamilien, was sich auch auf die Anzahl von Waldorfabsolvent_innen mit einer Hochschulausbildung auswirkt (46,8 % gegenüber 12 % der Gesamtbevölkerung). In der erstgenannten Studie wurden auch Schulleistungstests mit einbezogen, wobei der Sinn derartiger Vergleiche meiner Meinung nach generell in Frage gestellt werden kann. Entgegen des Nichterreichens vorgegebener Standards, insbesondere im Fach Mathematik, müssen durchaus die anderen erhobenen Aspekte positiv erwähnt werden: Waldorfschüler_innen fühlen sich wohler an ihrer Schule als Schüler_innen an Regelschulen, ihre sozialen Kompetenzen sind höher, demokratische Leitziele werden eher erreicht und es herrscht vermehrt Offenheit und Toleranz gegenüber Außenseitern. „Insgesamt legen die Antworten die Schlussfolgerung nahe, dass die Waldorfschulen mehr aktive, verantwortungsbereite, demokratische junge Bürger hervorbringen als die Regelschulen.“ (S. 235) Jedoch muss dabei darauf hingewiesen werden, dass derartige Ergebnisse „bei der sozialen Herkunft von Waldorfschülern aus der gehobenen, akademisch gebildeten Mittelschicht kaum erstaunen“ (Widulle) können.

Insgesamt scheint sich nach Ullrich die Waldorfpädagogik en gros ausschließlich auf sich selbst zu beziehen. Entgegen der Rezeption und Übernahme von Anregungen reformpädagogischer Konzepte, wie beispielsweise das Material von Montessori in einigen staatlichen Grundschulen, hat die Waldorfpädagogik demnach kaum einen „Effekt auf die Reform und Entwicklung der staatlichen Schulen gehabt“ (S. 244). Trotz des von ihm genannten Dialoges zwischen Erziehungswissenschaftler_innen und Waldorfpädagog_innen ist diese Möglichkeit, bei dem überwiegend uneingeschränkten und unkritisch verbleibenden Bezug auf Rudolf Steiner durch seine Anhänger_innen, auch nur schwer denkbar. Für einen wirklichen Austausch müsste gerade auch die „Waldorfschule teilhaben, jedoch mit dem Bewusstsein der zeitlichen Bedingtheit und Möglichkeit, auch vermeintlich bewährte Aspekte zu überdenken.“ (Geuenich 2009, S. 152) Wird weiterhin beispielsweise an der kosmisch begründeten Höherentwicklung des Menschen, der Stellung Rudolf Steiners als Eingeweihter esoterischen Wissens, sowie fraglichen Konzepten wie der Einteilung in Temperamente festgehalten, kann meiner Meinung nach „die esoterisch begründete Waldorfschule weiterhin nur neben einer exoterisch zu begründenden öffentlichen Schule stehen“ (ebd). Das sieht ein weiterer Rezensent ähnlich, wenn er schreibt:

„Dialog und Öffnung der Waldorfpädagogik werden … vermutlich prekär bleiben und wie in bereits bekannten Fällen der Kritik an der Anthroposophie, z.B. der Polemik von Ravagli gegen Zanders „Anthroposophie in Deutschland“ (2007) werden sie von den Hütern der reinen anthroposophischen Lehre wohl erschwert werden.“ (Widulle)

Die positiven, auch von Ullrich genannten Beispiele, bieten jedoch Anlass, die Hoffnung nicht aufzugeben.

Ein kurzes Fazit

Das Buch von Ullrich kann sowohl für mit dem Thema Vertraute als auch für „Neueinsteiger“ empfohlen werden. Manch eine_r mag die Polemik vermissen, den anderen ist es wahrscheinlich zu historisch kontextualisierend. Gerade deswegen bietet es aber einen prägnanten, gut lesbaren und ideologisch unabhängigen Überblick über das Leben Steiners, seine theoretischen Konzeptionen und lebensreformerischen Konzepte. Auch wenn nicht viel Neues angeführt wird, stellt Ullrich die genannten Aspekte fundiert dar. Entsprechend der Aussagen von Kiersch, nach denen Ullrich hier „eine ungewöhnlich faire Darstellung gelungen“ sei, – wobei der Rezensent in diesem Fall einerseits den wissenschaftlichen Anspruch Ullrichs selbst in Frage stellt, sowie andererseits auf die Intention Steiners, keine Wahrheiten anzupreisen rekuriert – kann ich nur bestärken, dass er dem Anspruch der „größtmöglichen Fairness“ vor dem Hintergrund seiner eigenen Herkunft gerecht werden kann. Dazu soll Ullrich selbst noch einmal zu Wort kommen:

„Die Rezeption der Anthroposophie war von Steiners Lebzeiten an bis heute äußerst kontrovers. Die Art und das Ausmaß der Kritik und der Anerkennung hängen zum großen Teil vom disziplinären Standpunkt des Betrachters ab. Die Vertreter der akademischen Philosophie akzentuieren vorwiegend die erkenntnistheoretischen und ethischen Begründungsschwächen der Anthroposophie. Die wissenschaftstheoretischen Analysen fokussieren dagegen die unübersehbaren Affinitäten zwischen der anthroposophischen Weltanschauung und Formen des vorwissenschaftlichen, speziell des mythischen Denkens. Religionsphilosophische und theologische Arbeiten betonen schließlich die enge Verwandtschaft der Steinerschen Anthroposophie mit der Mystik und insbesondere mit dem Traditionsstrom der Gnosis. Die vor kurzem vorgelegte monumentale ideengeschichtliche Analyse Helmut Zanders (2007) leistet eine weit ausgreifende historische Kontextualisierung der Gedankenwelt und der lebensreformerischen Initiativen Rudolf Steiners innerhalb der Kulturkritik um 1900“ (S. 201).

Wird eben diese verschiedenartige Betrachtungsweise berücksichtigt, kann das hier rezensierte Buch mit einem Augenzwinkern durchaus als ein Geschenk zum neuen Jahr betrachtet werden.

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Zum Autor: Stephan Geuenich, M.A.-Pädagoge, Lehrbeauftrager am Institut für Allgemeine Pädagogik und Bildungsforschung der Uni München und tätig als Behindertenassistent, Autor des Buches „Die Waldorfpädagogik im 21. Jahrhundert. Eine kritische Dikussion.“

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Quellen:

– Geuenich, S. (2009). Die Waldorfpädagogik im 21. Jahrhundert. Eine kritische Diskussion. Münster: Lit.

– Heisterkamp, J. (2011). Drei neue Steiner-Biographien. Aufgenommen in den Kanon. [27.01.2011].

– Kiersch, J. (2011). Der springende Punkt. Heiner Ullrichs Argument gegen die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie. [26.01.2011].

– Preußner, A. (2003a). Mystik. In: W. D. Rehfuss (Hrsg.), Handwörterbuch Philosophie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

– Preußner, A. (2003b). Mythos. In: W. D. Rehfuss (Hrsg.), Handwörterbuch Philosophie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Ullrich, H. (2011). Rudolf Steiner. Leben und Lehre. München: C.H. Beck.

– Vögele, W. G. (2011). Anthroposophie als Black Box. [26.01.2011].

– Widulle, W. (2011). Heiner Ullrich: Rudolf Steiner. Leben und Lehre. [26.01.2011].

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Zu den anderen beiden neuen Steiner-Biographien: Der Besuch der toten Tante sowie Miriram Gebhardt über die Waldorfpädagogik heute.

2. Februar 2011 at 1:37 pm 31 Kommentare


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Ich bin Ansgar Martins, geb. 1991 und war bis Juni 2010 Schüler an der FWS Mainz. Inzwischen studiere ich Religionsphilosophie, Soziologie und Geschichte in Frankfurt a. M. Dieser Blog ( dessen "Leitbild" ganz oben rechts ) ist mein persönliches Projekt, um die oft einseitigen und selbstgerechten Pro- und Contra-Positionen in der Debatte um die Waldorfpädagogik und Anthroposophie kritisch zu kommentieren. Ich hoffe, das gelingt, und freue mich über Rückmeldungen jeder Art!

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