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Waldorf in Taiwan. Ein Beispiel interkultureller Innovationsresistenz?

“When we look at the Waldorf curriculum, we can find a further example of cognitive and normative constructs … The curriculum remains remarkably unchanged, even under the last decade’s pressures to disavow Eurocentrism … even in inner-city Milwaukee, the Waldorf teachers continue to tell Norse myth of Odin and Thor … At this point, we must establish the relevant cultural context: where do processes of adaption take place? What institutions other than the school itself play a role in creating Waldorf’s coherence and construction?”
– Ida Oberman: The Waldorf Movement in Education from European Cradle to American Crucible, Lewiston/Queenston 2008, S. 13

„The New Yorker“ schrieb kürzlich über die wachsende Waldorfschul-Bewegung in China. Diese ist kein Einzelfall: Im letzten Jahrzehnt schießen weltweit und gerade auf dem asiatischen Kontinent immer mehr dieser Schulen aus dem Boden. Wie ein dezidiert an „christlichen Jahresfesten“ und einer eurozentrischen „Kulturepochen“-Lehre orientiertes Modell sich global differenziert und regional variiert, ist schwert zu überschauen. 2010 hat Kung-Pei Tang eine ausführliche Dissertation zu drei taiwanesischen Waldorfschulen vorgelegt. Zwei Faktoren sind dabei wichtig: Die taiwanesische Abgrenzung von China und ein stark prüfungsorientiertes öffentliches Schulsystem. Letzterem begegnet der „sanfte“ Anspruch der Steiner-Pädagogik, ersterer eine proklamierte „Taiwanisierung“ derselben.

Gerade zum letzteren Bereich finden sich viele interessante Überlegungen bei Tang, etwa zur (Un-)Vereinbarkeit von anthroposophischer Architektur und Feng Shui, oder zur Beziehung von choreographischen Darstellungen chinesischer Kalligraphie und Eurythmie – diese von Tang aufgeworfenen möglichen Schnittstellen seien jedoch von den taiwanesischen Waldorflehrern nicht bedacht worden. Tang geht ausführlich Lehrpläne, Schulhefte, Details der Schuleinrichtung und -architektur, bisweilen einzelne Veranstaltungen durch – und kommt zu einem sehr ernüchternden Fazit. Zum einen mit Blick auf das straffe Lernen an den staatlichen Schulen. So werde „der prüfungsorientierte Unterricht als rigide gesellschaftliche Vorgabe trotz der Übertragung der Waldorfpädagogik nicht über Bord geworfen.” (S. 143)

“Im Hinblick auf die Gründung der ersten Waldorfschule in Stuttgart und in Bezug auf deren Übertragung auf Taiwan ist das Waldorfschulkonzept von ‚einem radikalen Reformversuch’ [Rüdiger Iwan] zu einer musterhaften, aber wenig genügenden Alternativschule Taiwans geworden.” (S. 121)

Vor allem behauptet Tang eine tiefgreifende kulturelle Ignoranz der Waldorfpädagogen – taiwanesische Waldorfschüler müssten wie ihre deutschen Kommilitonen germanische Runenstäbe schnitzen, keltische Flechtbandmuster malen usf., zum Jahresende würden die in den chinesischen Minnan-Dialekt übersetzten „Oberuferer Weihnachtsspiele“ aufgeführt. (S. 76) Die weltanschaulichen Züge der Pädagogik scheinen an den taiwanesischen Waldorfschulen viel offener kommuniziert zu werden als hierzulande: Nach Tang erscheinen Berichte über die Meditations-”Hausaufgaben” der Lehrer sogar in den Schulzeitschriften. Aus dem Kunstunterricht bildet die Dissertation ein Epochenheft mit dem Titel “The color theories of Steiner and the concepts of line – with example of four temperaments” ab. (S. 124)

“Mit den Wörtern von Rudolf Grosse: das Kind sei im zehnten Jahr ‚Germane’, dann ‚Grieche’, dann absolviere es die Wanderung vom Osten bis ans Mittelmeer und werde als Zwölfjähriger ein Römer, im dreizehnten ein Ritter und Klosterbruder, ein Columbus und es sei mit der Geschlechtsreife in seiner Gegenwart angekommen. Entsprechend dieser Konzeption durchlaufen die taiwanischen Waldorfschüler ihren Geschichtsunterricht. Anstatt sich an der Zeittafel Chinas zu orientieren, wird die chinesische Kulturgeschichte im Geschichtsunterricht vereinzelt behandelt, so dass das oben genannte Muster der kulturgeschichtlichen Epochen, die der abendländischen Geschichte zugrunde liegt, zum Vorschein kommt.” (S. 103)

“Der Universalanspruch des europäischen Weltbilds ist auch in die an der Leichuan Waldorfschule stattgefundenen Vorträge eingebettet. Auf einem Vortrag diskutiert der Referent den Frohsinn des Weihnachtsfestes. Nach seiner Auffassung sollte die feierliche Stimmung des Weihnachtsfestes von dem Christentum enthüllt werden und auf den tiefen Winter zurückzuführen sein. Damit begründet er, dass die im Weihnachtsfest verborgene Feierlichkeit an der taiwanischen Waldorfschule auch gelebt werden sollte. Für die taiwanischen Waldorfpädagogen ist die Weihnachtsfeier nicht nur ein Anzeichen für das Bekenntnis zum Christentum, sondern eine wichtige Aktivität nach dem von Anthroposophen aufgezeichneten Jahresrhythmus.” (S. 35)

Die Dissertation „Kulturübergreifende Waldorfpädagogik, Anspruch und Wirklichkeit – am Beispiel Taiwan“ ist online abrufbar. Die ausführliche Analyse lohnt eine Lektüre.

4. Februar 2014 at 9:09 pm 5 Kommentare


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