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„Löffelchen voll Zucker“. Impfschäden, Mary Poppins und die Geister der Finsternis
„…man muß nicht unbedingt von Kretins sprechen, wo man es mit Trotteln zu tun hat.“
– Karl Kraus: Hier wird deutsch gespuckt
Mit verstörender Regelmäßigkeit tauchen im Waldorfmilieu Masernfälle auf (im März 2015 gab es bestätigte in Erfurt, Sankt Augustin und Ludwigsburg). [Aktualisierung vom 18.03.2015: inzwischen noch die Waldorfschule Dresden] Wer aber einen Zusammenhang zwischen Masern und Waldorf postuliert, wird von Anthroposophen für gewöhnlich beleidigt zurückgewiesen: „pauschale“ Vorwürfe seien das. Parallel plädiert man aber für „individuelle Impfentscheidung“, was, sofern es keine Tautologie sein soll (natürlich entscheiden faktisch Individuen darüber, sich bzw. ihre Kinder impfen zu lassen), ja wohl heißt, dass man sich „individuell“ auch gegen Impfungen und dann im Zweifelsfall eben für Masern (bzw. eventuell tödliche Folgeerkrankungen) entscheiden solle. Die offizielle Begründung für diese „individuelle Impfentscheidung“ sind reale und/oder vermeintliche „Impfschäden“ und „Nebenwirkungen“.
In der Anthroposophischen Medizin freilich gibt es zusätzliche Gründe: „Karma“ zum Beispiel oder der (gegenläufige, weil nicht wie „Karma“ retrospektive, sondern proskeptive) Glaube, dass Kinderkrankheiten ganz wunderbare Reifungs- und Entwicklungschancen darstellen. Es sei daran erinnert, dass um’s kosmische Kindeswohl bemühte Eltern zumindest früher einmal regelrechte „Masernpartys“ abhielten – wie ja auch Dr. Michaela Glöckler, Leiterin der Medizinischen Sektion am Goetheanum, ausführt, der Kranke erlebe „in der Krankheit unbewusst die Schritte zu seiner Höherentwicklung“, wozu sie gleich ein Beispiel beisteuert: „Die Hunderttausende [sic], ja Millionen, die in Afrika von der AIDS-Epidemie hingerafft werden, bereiten sich vor, der Menschheit von morgen, die am Egoismus zu zerbrechen droht, die notwendige Hilfe und Inspiration für lebensfreundlichere Kulturgewohnheiten zu bringen.“ (Glöckler: Sexualität und Menschenkunde, in: Bart Maris/Michael Zech: Sexualkunde in der Waldorfpädagogik, Stuttgart 2006, S. 62) Wozu Masern gut sein sollen, gilt es gleich zu diskutieren.
Krankheit und Tod wären also, wie alles, tolle Chancen für die Weltenentwickelung, wären da nicht wieder jene „materialistischen“, von schwarzmagischen Geheimlogen und -lobbys gesteuerten Bösartigkeiten Ahrimans, die den Menschen perfiderweise selbst noch an der Krankheit den Spaß verderben wollen.

„Wenn ein Löffelchen voll Zucker bitt’re Medizin versüßt…“ Mary Poppins, eine Agentin der Geister der Finsternis? (Bild: Wikipedia)
Rudolf Steiner entnahm seine (aber nicht kategorische) Impfkritik wohl von seiner theosophischen Initiatorin (und späteren Gegnerin) Annie Besant, bettete sie während des Ersten Weltkriegs aber in seine eigenen politisch-okkultistischen Vorstellungen ein. (vgl. dazu Peter Staudenmaier) Der norwegische Religionswissenschaftler Asbjørn Dyrendal erklärt, was die Impfungen aus manch anthroposophischer Sicht mit den schwarzmagischen Materialistenmedizinern des Bösen zu tun haben:
„While many anthroposophists follow ordinary vaccine programs, others clearly do not, and Waldorf schools seem to have been the fulcrum of vaccine-preventable diseases more often than should be their due. Some are generally negative towards vaccines and vaccine programmes. This seems to have been the case with anthroposophical doctor Philip Incao, a prominent promoter of alternative medicine … he places his articles within a generally vaccine-critical position, and posits a conspiracy theory he grounds in Steiner and anthropocophical cosmology: ‚Rudolf Steiner’s comments leave no doubt about the ‚hidden agenda‘ behind the plan to vaccinate all the world’s children with as many vaccines as possible, thus devastating their spiritual development.‘ … Incao builds his theory by first finding fault with the scientific backing behind vaccines, misrepresenting along the way the state of research in standard conspirationist manner. Since he finds no good medical rationale behind vaccines, there must be another explanation … This he finds by going to Steiner, which reveals to him a more sinister ‚hidden agenda‘ behind vaccines … Thus the apparently random is made to make sense: secret ways of knowledge reveal the secret brotherhoods, the evil spirits influencing them, the deeper tendencies of tme, and their connection to minute details of history.“ (Dyrendal: Hidden Knowledge, Hidden Powers, in: Egil Asprem/Kennet Granholm: Contemporary Esotericism, Sheffield/Bristol 2013, S. 204ff.)
Dyrendal erklärt nach zahlreichen weiteren Fallbeispielen aus anderen esoterischen Subkulturen die strukturelle Harmonie von Verschwörungs- und esoterischem Denken. Er stellt auch klar, dass Steiner zwischen seiner gewöhnlichen ‚Impfkritik‘ und den beschriebenen Impfungen gegen das Spirituelle differenzierte, die Incao schlicht zusammenwirft.
Zu den jüngsten deutschen Masernvorfällen erschien am 11. März ein Userkommentar von Christian Kreil auf derStandart.at. Kreil zitierte aus einem Merkblatt der „Gesellschaft anthroposophischer Ärzte in Deutschland“ von 2009 (gibt’s hier als PDF), dass „aufmerksame Eltern“ „gerade bei den Masern“ „eine Verwandlung“ ihres Kindes bemerkten und „unter diesem Aspekt die Masern ihres Kindes als sinnhaft erleben, als eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Leib, aus der das Kind gestärkt hervorgehen kann.“ Zumindest nachvollziehbar, dass Kreil seinen Kommentar mit „Die Masern – ein Esoterikschaden“ betitelte. Die zitierte Broschüre selbst erklärt allerdings, Steiner sei kein „Impfgegner“ gewesen. Man erfährt, „dass bei Kindern die Folgen einer Impfung durch spirituelle Erziehung ausgeglichen werden können“, weil eine solche spirituelle Erziehung „Krisenerscheinungen“ anerkenne und deshalb „ähnlich wirken [könne] wie eine Kinderkrankheit und ihre Überwindung“, soll wohl heißen: Waldorferziehung ist genauso förderlich wie eine Maserninfektion. Na dann.
Während man Kreil also vorwerfen könnte, das volle Ausmaß des Unsinns gar nicht dargestellt zu haben, war sein Kommentar ein willkommener Anlass für eine der gewohnten Selbstdarstellungen des anthroposophischen Bloggers Michael Mentzel („Themen der Zeit“). Mit der auf „Themen der Zeit“ üblichen Recherchesorgfalt präsentiert Mentzel den Userkommentar kurzerhand als regulären „Artikel“ von derStandart.at und verschweigt dessen Inhalt. Nur, dass die Anthroposophie als Hauptschuldige für Masernepidemien und als „rassistisch“ bezeichnet werde, erfährt man bei Mentzel. Beides stimmt nicht: Die Anthroposophie wird von Kreil als eine von vielen möglichen esoterischen Quellen von Impfkritik angeführt und Steiner nicht als rassistisch bezeichnet. Kreil verweist vielmehr auf seine Vorstellung vom „abstrakten Jehova-Dienst“, der nicht nur der „materialistischen“ Medizin vergleichbar sei, sondern durch den sich Juden auch in größerem Maße, als es „natürlich“ wäre, zu dieser Medizin „hingezogen“ fühlten. (GA 353, 200) Steiner belegt also „den Materialismus“ einmal mehr mit „jüdischen“ Attributen. Mentzel geht darauf selbstredend nicht ein. Ihm geht es um einen einzigen Leserkommentar zu Kreils Text:
„Ein Leser kommentierte dies so: „Impfung gegen Esoterik müsste gesetzlich verordnet werden.“ Ist aber eine solche Forderung nach einer Zwangsimpfung für „Esoterikgläubige“ wirklich so utopisch? 1917 hat Rudolf Steiner eine solche Forderung und deren praktische Umsetzung vorausgesehen.“ (Michael Mentzel: Impfen gegen Esoterik?)
Dass Steiner den Inhalt des Kommentars zu einem Kommentar aus dem Jahr 2015 vorausgesehen habe, zeigt, wie verzweifelt man suchen muss, um seine schäbigen Prophezeiungen bestätigt zu finden: Man muss sich bis in Leserkommentare zu Leserkommentaren wühlen, bis in das wirre idiosynkratische Gelaber der üblichen Kommentarspaltendiskussionen. Den von ihm zitierten und freilich in mehrerer Hinsicht blödsinnigen Kommentar stilisiert Mentzel wiederum hurtig zur „Forderung“ nach einer „Zwangsimpfung“ für „‚Esoterikgläubige“. Es folgen die auch von Incao und bei Dyrendal zitierten Aussagen Steiners über die „Geister der Finsternis“, die durch von ihnen besessene Menschen Impfungen gegen die Seele entwickeln und verabreichen wollen. (GA 177, 237) In anderen Zusammenhängen spricht Steiner über noch tiefere esoterische Hintergründe: „schwarze Magier“ bzw. „okkulte Brüderschaften“ versuchten, gelenkt von den Geistern der Finsternis, die menschlichen Krankheitsprozesse materialistisch zu kontrollieren und so das Spirituelle auszutreiben. (GA 178, 89) Mentzel lässt natürlich solche Bemerkungen weg, so dass die verschwörungstheoretische Dimension außen vor bleibt und die Vorstellung von „Impfungen“ gegen Geist und Seele als bloßes Ressentiment gegen wissenschaftliche Medizin erscheinen mag. Mentzel erläutert die Zitate auch nicht weiter, wahrscheinlich weil er sie für so prophetisch und zutreffend hält, dass sie keiner Erläuterung bedürfen. Aber bevor dann der Artikel mit einem Karl Kraus-Zitat ausklingen darf, erfährt man doch noch kurz, worum es ihm geht, und er spricht selbst die verschwörungstheoretische Dimension klar aus:
„Vor dem Hintergrund der aktuellen Krisen in der Welt und den oft aussichtslos erscheinenden Versuchen, diesen mit den „konventionellen“ Methoden begegnen oder sie sogar heilen zu können, erscheinen solche Worte[also diejenigen Steiners über die impfenden Geister der Finsternis – A.M.], wenngleich sie wohl auch manchen „aufgeklärten Geistern“ als verschwörungstheoretisch daherkommen mögen, geradezu prophetisch. Denn bei der Zusammensetzung der „Impfstoffe“, die uns heute von Lobbyisten, Think-Tanks, Regierungen und Medien – gleich welcher Couleur – verabreicht wird, scheint es sich um eine besonders perfide Form einer – von vielen allerdings als angenehm empfundenen – Schluckimpfung zu handeln. Sollte Mary Poppins (mit ´nem Teelöffel Zucker…) recht behalten haben?“
Die Erwähnung Mary Poppins‘ (man sollte meinen, wenigstens ein Anthroposoph würde hier noch hinzufügen, dass es sich um die zwar süße, aber doch recht ideenlose Verfilmung eines überaus empfindungstiefen Kinderbuches handelt) offenbart einen interessanten Blick auf die Binnenwelt anthroposophischer Logik. Mary Poppins singt tatsächlich davon, wie „ein Löffelchen voll Zucker bitt’re Medizin versüßt“, weil sie dann „gleich nochmal so gut“ rutscht. Sie singt von fröhlichen Vögelchen und Bienchen: „Denn was man voller Freude tut, schmeckt uns wie Kuchen gut.“ Natürlich mag die Botschaft des Liedes sowohl bei unwilligen Kindern didaktisch nützlich als auch (und eben deshalb) unwahr sein: „Arbeit“ wird hier fetischisiert, soll zur „Lust“ werden.
Das steht einem elementaren Grundsatz der Waldorfpädagogik übrigens nah, den die Schüler der vier unteren Klassen jeden Morgen wie folgt aufsagen müssen. Es geht hier um „…Die Menschenkraft, die Du [Gott] In meine Seele mir So gütig hast gepflanzt, Daß ich kann arbeitsam Und lernbegierig sein.“ bzw. in der Formulierung für die Klassen Fünf bis Zwölf: „Zu Dir O Gottesgeist Will ich bittend mich wenden, Daß Kraft und Segen mir Zum Lernen und zur Arbeit In meinem Innern wachse.“ Während die armen Waldorfschüler Gottes müdes Ohr mit der Bitte um Lern- und Arbeitskraft belasten müssen, die typisch deutsch als Selbstzweck dastehen, bzw. sogar die Pointe der „Menschenkraft“ sein sollen, hat Mary Poppins wenigstens den Vorzug, dass sie diese Arbeit versüßen will, ja: sie verkündet letztlich auch den akzeptablen Grundsatz, dass Spaß an der Sache gut ist.
Auch Steiner war nicht grundsätzlich gegen Spaß, nur sein Humor war freilich ein „Weltenhumor“, der mit der Verdauung zu tun hat, bzw. ein aus „innerer künstlerischer Notwendigkeit“ geschaffenes Elementarwesen, dessen Folgen nicht ausbleiben konnten: „Spaß gibt es auch an Waldorfschulen. Und er wird auch gutgeheißen – aber nur im Dienste der Pädagogik und keinesfalls nur zum Spaß! Das ist das Problem“, brachte das Problem Christian Grauer in „Endstation Dornach“ auf den Punkt. Wenn Mentzel Mary Poppins paraphrasiert, repräsentiert sie ihm aber die Fürsten und Gewalten und Weltherrscher der Finsternis: Löffelchen voll Zucker, die Medizin, am Ende materialistische ‚Schulmedizin‘ oder gar dämonische Impfungen versüßen. Mir wäre unbekannt, dass Mentzel irgendwo Arbeitsfetischismus kritisiert (ich freue mich freilich über gegenteilige Hinweise), was ihn zu stören scheint, ist das Löffelchen Zucker dazu. Dass sowohl das Waldorf-, als auch das Poppins-Credo zwei unterschiedliche Ausprägungen des üblichen bürgerlichen Arbeitsethos darstellen, ist ihm entgangen, und wenn er überhaupt kritisch dazu steht, dann weil er glaubt, dass uns die bösen Medien- und Meinungsmacher mit irgendetwas von außen infiltrieren, das aber mit Zucker versüßen, so dass manche Infiltrierten („Materialisten“ vermutlich) das auch noch toll finden. Er kritisiert nicht die (Re-)Produktionsweise der Gesellschaft oder Ökonomie, sondern sieht das Böse lediglich in einer abstrakten Konsumsphäre.
Es ist bezeichnend, dass Mentzel von den „aktuellen Krisen“ redet, als wäre nicht deren Permanenz festzustellen. Als hätten „konventionelle Methoden“ die Menschheit irgendwie früher einmal aus dem selbstbereiteten Abgrund geführt. Aber schon in älteren Artikeln war Mentzel sich für Kritik der politischen Ökonomie zu schade, stattdessen polemisierte er lieber gegen die USA. Die „Impfstoffe“ Steiners sieht er längst verwirklicht: Sie werden uns freilich ‚von oben‘, von „Lobbyisten“ oder „Medien“ eingetrichtert. Dass die perennierende „Krise“ dagegen Ideologien ‚von unten‘ immer neu hervorbringt – ob das nun szientistische Hoffnung auf den ‚Fortschritt‘ ist, der angeblich den Aberglauben zum verschwinden bringen werde oder aber die esoterische, dass man Szientismus und Kapitalismus, die sowieso aus der bösen englischsprachigen Welt kommen sollen, durch den Kurzschluss mit höheren Welten exorzieren könne – wird freilich nicht bedacht. Denn das brächte auch zum Vorschein, dass die von Mentzel so abgelehnten „aufklärerischen Geister“ mit denen, die sich, wie er selbst, dann doch lieber für verschwörungstheoretisches Geheimwissen über die ‚wahren Schuldigen‘ unseres unhaltbaren Zustands entscheiden, letztlich eines Sinnes sind. Beide glauben, dass alles wunderbar wäre, wenn nicht die blöden Rückständigen oder die bösen Eliten (bzw. die sie inspirierenden Dämonen) alles verderben würden. Im Hinblick auf Impfungen behalten freilich die Aufklärer gegenüber den Technikfeinden Recht, nicht nur im Sinne von Krankheitsvorbeugung. Denn wer das Problem einer „materialistischen“ Gesellschaft nicht in der Gesellschaft, sondern im Materialismus sucht, und dem durch Sinn aus den Überwelten beikommen will, bereitet sich nur selbst seinen bittersüßen Schlaftrunk, statt reale Probleme anzugehen. Er impft sich am Ende noch selbst mit dem bösen Willen, Krankheit als „Verwandlung“ des Kindes auch noch gut zu finden, oder aber „spirituelle Erziehung“ als deren Substitut anzupreisen.
Michael Mentzel bestätigt: „Manch bedenkenswerter Text auf Niederhausens Webseite“
Michael Mentzel („Themen der Zeit“) hat eine merkwürdige Replik auf meine Kritik an Holger Niederhausen geschrieben. Interessant daran ist, dass der fundamentalistische Niederhausen in der anthroposophischen Debattenkultur lange kaum erwähnt wurde. Doch dieser hat 2013 ein Buch wider den Religionswissenschaftler Helmut Zander geschrieben (so ein anthroposophisches Modephänomen). Offenbar bringt ihm das anthroposophischerseits nun plötzlich Aufmerksamkeit und Respekt ein – so die These meines besagten Artikels. Mentzel fühlt sich wohl ungerecht behandelt, schreibt jedenfalls:
Auf die Idee aber, dass jemand ein „frisch gewonnener Fan“ ist, weil er über ein bestimmtes Ereignis berichtet oder weil ein Buch „auf meinem Rezensionstisch liegt“, muss man auch erst einmal kommen.
So weit, so nachvollziehbar. Doch dann schwenkt Mentzel plötzlich um:
Die Suche nach dem Namen Niederhausen bei Themen der Zeit – mit ca. 1700 Beiträgen – blieb jedenfalls, bis auf den oben genannten Hinweis – erfolglos. Was allerdings nicht bedeuten muss, dass nicht auch durchaus manch bedenkenswerter Text auf Niederhausens Webseite zu finden sind, den zu kommentieren sich lohnen würde. Und auch wenn ich kein „Fan“ von Niederhausen bin, was dieser möglicherweise gern bestätigen kann, mag Ansgar Martins demnächst wirklich einen Grund finden, im Hinblick auf diesen Autor etwas von meinem „üblichen Nonsens“ zu lesen. So lange aber wird er sich damit trösten müssen, dass ich vor einiger Zeit einen – nennt man das tatsächlich „Ohrwurm? – Ohrwurm hatte: „Der kleine Ansgar möchte aus dem Phantasialand abgeholt werden.“
Quod erat demonstrandum. Lange herrscht zu Niederhausen völliges Schweigen. Sobald dieser aber ein Buch gegen Zander schreibt, fällt Mentzel auf, dass „durchaus manch bedenkenswerter Text auf Niederhausens Webseite zu finden sind“ [sic]. Und so werde ich hoffentlich in der Tat bald Gelegenheit haben, seinen üblichen Nonsens auch zu Niederhausen zu lesen. Fragt sich also mal wieder, was Mentzel eigentlich will – er bestätigt einerseits meine Thesen explizit, wirft sie mir aber gleichzeitig vor. Seine Ambivalenz bestätigt sich in seinem peinlichen „Ohrwurm“, den er sogar noch stolz mitteilen zu müssen meint: „Der kleine Ansgar möchte aus dem Phantasialand abgeholt werden.“ Tja dann.
Was genau ihn an meinem Artikel stört, dessen These er ja frei heraus bestätigt, erläutert Mentzel nicht. Stattdessen titelt er „The never ending Story. Martins, Zander und der Rest der Welt…“ Genau darum geht es in der Tat: Seit 2007 ist die routinierte und systematische, aber eben sachlich durch nichts begründete, anthroposophische Diffamierungsindustrie gegen Zander im Gange. Im selben Stil werden auch andere kritische Positionen abgehandelt, nicht zuletzt von Mentzel selbst. „Die unendliche Geschichte“ hatte ich bereits 2012 einen Artikel über dessen diesbezügliche Umtriebe genannt. Da er sogar meinen Titel übernimmt, scheint Mentzel auch hier nichts hinzuzufügen zu haben. Um doch noch irgendein Skandalon zu finden, spekuliert er wie üblich munter drauf los:
„Und deshalb erscheint es vielleicht nicht falsch, hier von Anmaßung zu sprechen und dem ‚Sternekoch‚ Martins zu empfehlen, sich nicht nur mit der Suche nach den Haaren in der anthroposophischen Demeter-Suppe, sondern auch einmal mit Stilfragen zu beschäftigen. Im Leser der Martinischen Verse kann allerdings auch der leise Verdacht aufsteigen, dass dem jungen Autor – möglicherweise – Voegeles jüngster Beitrag zum Thema Steiner und der Erste Weltkrieg, nämlich das auch bei TdZ erschienene Interview mit Markus Osterrieder, nicht so recht gefallen haben mag, denn was Martins von diesem und dessen anthroposophischer Rezeption hält, durften wir unlängst in einer von Martins Wortwüsten zum Thema Steiner und der Erste Weltkrieg bewundern. Immerhin ist Voegeles Niederhausen-Rezension schon eine ganze Weile her.“
Mentzels Ideenlosigkeit ist enttäuschend. Tatsächlich war Osterrieder in eine Tagung involviert, der sich eine völkisch-konspirationstheoretische Verharmlosung von Erstem Weltkrieg und Nationalsozialismus nachtragen lässt. (vgl. Anthroposophischer Geschichtsrevisionismus) Dass auch Mentzel an diesem Gedankengut nichts auszusetzen hat und Kritik an Osterrieders Thesen nicht nachvollziehen kann, kann ich mir gut vorstellen. Selbst dann hätte ihm aber auffallen können, dass im erwähnten Interview Vögele zu den anthroposophischen Verschwörungsphantasien kritisch Position bezieht:
„Am rechten Rand der anthroposophischen Bewegung existiert seit langem eine Subkultur mit eigenen Tagungen, Publikationen und Internetpräsenz. Zu ihren Themen gehören Holocaust-Relativierung, Einkreisungsphantasien, mehr oder weniger offener Antisemitismus, Antiamerikanismus usw. Offiziell wird darüber nicht gesprochen. Wäre aber die Anthroposophische Gesellschaft nicht verpflichtet, sich von diesen Kreisen, deren Angehörige größtenteils Mitglieder der AAG sind und sich auf Rudolf Steiner berufen, deutlich zu distanzieren?“
Dass ich Vögele gerade einen Punkt der Übereinstimmung vorwürfe, deshalb aber etwas ganz anderes tun würde, nämlich eine Rezension zu Niederhausen zu schreiben – auf sowas kommt auch nur Michael Mentzel. Das ist keine Polemik, ich wünsche es ihm nicht einmal. Über eine Kritik, die mehr als dadaistische „Ansgar Martins ist ein blöder Klugscheißer“-Assoziationen beinhaltete, wäre ich zu Abwechslung mal sehr erfreut. Doch genau diese Alogik, die alle relevanten Argumente umgeht, um dann an den Haaren irgendeinen Unsinn herbeizuzerren, ist leider typisch für „Themen der Zeit“ (vgl. Entwicklungsrichtung Anthroposophie, Mentzels Traum, Die unendliche Geschichte), aber längst nicht nur: Genauso läuft die anthroposophische Anti-Zander-Industrie, genauso vor allem Nierhausens Buch. Insofern kann ich Mentzel zustimmen, dass für ihn „manch bedenkenswerter Text auf Niederhausens Webseite“ zu finden sei. Genau das hatte ich ja befürchtet: Auf einen Autoren wie Niederhausen und die Möglichkeit, sich seinem Holzhammerdogmatismus anzuschließen, haben Leute wie Mentzel mutmaßlich lange gewartet. Wolfgang Vögele scheint mir von dieser Tendenz aber doch auch deutlich auszunehmen zu sein – dessen Publikationen haben Gehalt und Substanz.
Mentzels Traum
oder: Schon wieder eine Polemik
„Eine Kritik, die sich an dem stört, was sie für unleserlich und eitel hält,
ist … zutiefst zu misstrauen, weil sie die Tatsache,
dass die Wahrheit einem nicht zufliegt, sondern kritisch begriffen sein will,
im Kokettieren mit der Dummheit leugnet und weil aus dem Affekt
gegen die Eitelkeit das Wissen über die Hässlichkeit der eigenen Gedanken spricht.“
– Tjark Kunstreich
Michael Mentzel („Themen der Zeit“) hat zwei Fehler in meinem Buch gefunden – und einen Trost, dass Steiner nämlich nicht den Nationalsozialismus verursacht habe. Da seine Rezension in den üblichen Bahnen kreist, überdies nicht an unbelegten oder schlicht unrichtigen Unterstellungen spart und ich besagtes Buch ernst meine, erlaube ich mir eine Antwort.
Idealismus vs Nationalsozialismus
George L. Mosse hat darauf hingewiesen, dass man die Geschichte des Rassismus „mit dem Ende und nicht mit dem Anfang beginnen“ muss: „Mit den sechs Millionen Juden, umgebracht von Erben europäischer Kultur … Zwar führten die Nazis das Verbrechen aus – aber überall glaubten Männer und Frauen, dass die Rassen sich unterscheiden, seien sie nun weiß, gelb, schwarz, jüdisch oder arisch.“ (Mosse: Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt/M 1990, 23) Michael Mentzel, Anthroposoph und Urheber der Seite „Themen der Zeit“, ist scheinbar anderer Auffassung. Dabei ist ihm nicht verborgen geblieben, dass es Rassismus im Werk des Anthroposophie-Gründers Rudolf Steiner gibt, schließlich seien „die in Rede stehenden Zitate und Aussagen tatsächlich in Steiners Werk vorhanden.“ Die Auseinandersetzung damit scheint für Mentzel keine notwendige Aufarbeitung der Vergangenheit und auch kein Grund zu sein, anthroposophische Traditionen auf ihre Rolle im Nationalsozialismus hin zu befragen, im Gegenteil: Mentzel will Steiners Rassenlehre und dem darüber immerhin bei ihm aufkeimenden Zweifel anscheinend sogar ein Quäntchen spirituelles Kapital entlocken. Denn: Wer bereit sei, eine „- stellenweise tatsächlich vorhandene und auch nicht wegzuleugnende – Ambivalenz in Steiners Denken auszuhalten, wird belohnt durch die Erfahrung, dass es für die Entwicklung seiner eigenen Gedankenwelt nur mehr förderlich sein kann, wenn er bereit ist, den persönlichen Seelenkampf in die Wagschale zu werfen und die eigene Auseinandersetzung mit dem Zweifel als Möglichkeit zur erweiterten eigenen Erkenntnis zuzulassen.“ (siehe hier und im Folgenden Michael Mentzel: Steiner und der Rassismus)
Für diesen neuesten „Seelenkampf“ zur Erkenntnis-Erweiterung hat Mentzel sich netterweise mein Buch ausgesucht. Am Ende bleibt der Eindruck, dass dabei der „Seelenkampf“ und keineswegs die Erkenntnis im Zentrum steht. Kritische Bücher sind anstrengend, schon weil Mentzel „angesichts der vielen fußnoten die zeit fehlt, sich auch noch mit dem text zu beschäftigen. gleichwohl lese ich manches durchaus mit gewinn.“ Immerhin. Fußnoten sind vielmehr das Geschäft fieser Zeitgenossen wie der „Experten“: „Da steht es doch. Schwarz auf weiß“, rufen die „Experten“ und lehnen sich selbstzufrieden zurück, wohl wissend, dass es ihnen wieder einmal gelungen ist, beim geneigten Publikum eine gewisse Aufmerksamkeit zu erreichen und die Saat des Zweifels ein wenig mehr aufgehen zu lassen.“ (ebd.)
Entsprechend kommen Zweifel nur in Mentzels Fazit vor, im Rest des Artikels versucht er, einige meiner Darstellungen als „absurd“ und als falsche Vorwürfe an Rudolf Steiner zu lesen. Meine Bemühungen, Steiners Gratwanderung zwischen Chauvinismus und Humanismus (und Rassismus, und Antinationalismus usw. usf.) herauszuarbeiten, hinterlassen bei Mentzel wenigstens den folgenden positiven Eindruck:
„Eines scheint mir das Anliegen des Autors Ansgar Martins jedoch nicht zu sein: Der Versuch, nachzuweisen, dass der von ihm bei Steiner diagnostizierte Rassismus und Antisemitismus die von manchen Kritikern behauptete Klammer und die Kontinuität sind, die den Nationalsozialismus ermöglicht haben. Kritikern, die Steiner und seine – und zu einem Gutteil auch unsere – Anthroposophie als die Wegbereiter des Nationalsozialismus stilisieren wollen, dürfte es damit schwerfallen, das Buch als Beleg ihrer oft kruden Thesen heranzuziehen. Denn hin und wieder bemerkt Martins schon, dass Steiner auch darauf hingewiesen hat, dass sein Anliegen in einem idealistisch zu verstehenden Sinn zu werten ist und eben nicht ein national gefärbter Hurrapatriotismus deutscher Provinienz ist.“ (ebd.)
Offenbar schließen sich Hurrapatriotismus und Idealismus in Mentzels Augen aus. Das ist leider nicht überraschend und wahrscheinlich das tiefgreifendste und weit verbreitetste anthroposophische Missverständnis in der gesamten ‚Rassismus-Debatte‘, geradezu der Traum, dass Steiner sich vereindeutigend aus der Affäre ziehen lasse. In der Tat hat Steiner ‚rassische‘ Faktoren durch seine Ich-Philosophie, die Vorstellung von der zukünftigen Vergeistigung der Erde oder die Reinkarnationsidee stark relativiert, aber dadurch wurden auch seine eigenen rassistischen Stereotype nicht weniger und unter manchen Anhängern wurden gerade diese ’spirituellen‘ Teile der Rassenlehre umgekehrt interpretiert: Als Rechtfertigung des Rassismus. Ein prominentes Beispiel ist Richard Karutz, der 1934 in einem ebenfalls „idealistisch zu verstehenden Sinn“ und vom spirituellen Standpunkt der Anthroposophie aus den Nationalsozialismus begrüßte. Nur spirituell könne die „Rassenhygiene“ wahrhaft begründet werden, so Karutz:
„Eine Abkehr vom materialistischen Denken würde sofort die Empfindlichkeit der Rassenlehre beseitigen, denn die Wandlung vollzieht sich in jenem nicht-physischen Bild des Rassen-Urbildes, das dieselbe Rassenlehre als Quelle der überindividuellen Lebenseinheit, oder wie sie die Rasse sonst bestimmt anerkennt. Für die praktischen Forderungen eugenischer Lebenshaltung ändert sich damit nichts.“ (Richard Karutz: Rassenfragen, Stuttgart 1934, 35)
„Aus beiden, aus Rasse und Volk schält sich die Einzelpersönlichkeit heraus und beginnt von sich aus an den überkommenen seelischen und leiblichen Eigenschaften zu arbeiten. Ein Neues wird, zu dem Rasse und Volk die Stufen sind. Darum stellt Adolf Hitler immer wieder die frei schaffende Persönlichkeit als notwendig für die Gemeinschaft hin … Das Volkstum muss als eine notwendige Grundlage seelischer Entwicklung gewahrt, eugenisch gepflegt und wenn nicht anders möglich, kämpferisch verteidigt werden.“ (ebd., 62)
Dass die Anthroposophie nicht die Wegbereiterin des Nationalsozialismus war und sich in dieser Richtung auch nicht ernsthaft argumentieren lässt, darin ist Mentzel ausdrücklich zuzustimmen. Tatsächlich hat bisher auch noch kein ernstzunehmender Steinerkritiker die Anthroposophie zum Wegbereiter des Faschismus stilisiert. Das haben diesbezüglich interessierte Anthroposophen ganz allein geschafft. Ettore Martinoli, der sich nicht nur aktiv für die antisemitischen Rassegesetze im italienischen Faschismus, sondern vor allem für deren Synthese mit der Anthroposophie einsetze, riss Steiner aus seiner faktischen geistesgeschichtlichen Irrelevanz und stellte ihn in eine Reihe mit Mussolini und Hitler:
„Rudolf Steiner war ein wahrhaft idealer Vorläufer des neuen Europa von Mussolini und Hitler. Ziel dieser Schrift war es, den Geist und die Figur dieses grossen, modernen, deutschen Mystikers für die Bewegung zu beanspruchen – eine Bewegung, die nicht nur politisch, sondern auch spirituell ist – eingeführt in die Welt von den zwei parallelen Revolutionen, der Faschistischen und der Nationalsozialistischen Revolution, denen Rudolf Steiner als echter Vorläufer und spiritueller Pionier in idealer Weise angehört.“ (Martinoli: Un preannunziatore della nuova Europa: Rudolf Steiner, in: La Vita Italiana, Juni 1943, S. 566, übersetzt bei Andreas Lichte)
Es waren gerade die idealistischen Aspekte der Anthroposophie, mit denen solche Autoren ihren faschistischen Enthusiasmus rechtfertigten. Erhard Bartsch, Pionier der biodynamischen Landwirtschaft, belehrte den jüdischen Anthroposophen und Nazigegner Hans Büchenbacher: „Wissen Sie, Herr Dr. Büchenbacher, wenn man wirklich michaelischen Geist hat, dann tritt man an die Seite von Adolf Hitler.“ (zit. n. Büchenbacher: Erinnerungen 1933-1945, Archiv Info3, 8) Andere sahen in der Anthroposophie die ideale spirituelle Ergänzung zum ‚materialistischen‘ Nationalsozialismus: „Rudolf Steiner kommt von oben. Hitler kommt von unten, und so geben sie einander die Hand.“ (zit. n. Dieter Brüll: Ein Bewusstsein war nicht vorhanden, in: Info3, 4/1999, 20) Büchenbacher, der als Vorsitzender der deutschen Anthroposophen 1935 „freiwillig“ zurücktreten musste, schätzte rückblickend, „dass ungefähr 2/3 der Mitglieder mehr oder weniger positiv zum Nationalsozialismus sich orientierten.“ (Büchenbacher: Erinnerungen, a.a.O., 17) Im faschistischen Italien war das Spektrum breiter:
„A number of Italian anthroposophists were antifascists, and several leading members of the small anthroposophical community in Italy werde Jews who fell victim to the Fascist racial campaign. Other anthroposophists participated wholeheartly in the racist agitation, advocating an esoteric variant of anti-Semitism … While not representative of the anthroposophist movement as a whole, the actions of Martinoli, del Massa and Scaligero are a stark indication of ‚the distorting and harmfull effects of viewing political events through an occult prism.'“ (Peter Staudenmaier: Anthroposophy in Fascist Italy, in: Arthur Verluis u.a.: Esotericism, Religion, and Politics, Minneapolis 2012, 95f.)
Mentzels Artikel zieht die Anthroposophie letztlich in ein historisches Vakuum, „Zweifel“ dient nurmehr zur spirituellen Erbauung, geschichtliche Zusammenhänge werden nur als unheilvoller Schmutz erwähnt, der verwandt werde, um Steiner schlimme Dinge anzuhängen. „Wird – Zander lässt grüßen – schon etwas hängen bleiben?“ fragt sich Mentzel. Idealismus war mitnichten ein Gegensatz zum Nationalsozialismus und die spiritualistische Grundhaltung von Anthroposophen konnte sowohl pro- wie antifaschistisch ausgelegt werden. Aber eine solche Feststellung verträgt sich anscheinend schwer mit Erkenntnisgewinnung durch „Seelenkampf“. Letzterer scheint dunkle Kapitel der Geschichte nicht intellektuell, sondern nur moralisierend auffassen zu können. Helmut Zanders Geschichte der „Anthroposophie in Deutschland“, das in der Esoterikforschung als „the indispensable and almost inexhaustible foundation for all future scholarship about Anthroposophy“ gilt (Wouter Hanegraaff: Western Esotericism. A Guide for the Perplexed, London/New York 2013, 179) wird in Mentzels Darstellung zum „brachiale[n] Monumentalwerk“, mit dem Titel „Anthropsophie heute“ verballhornt, „das inzwischen als Zitat- und Stichworthalde, aus der man sich nach Belieben bedienen kann, nicht mehr wegzudenken“ sei.
„Ungereimtheiten“
Aber der Reihe nach. Mentzel meint, meine „Schlampigkeit, gepaart mit Überheblichkeit“ aufzeigen zu können und nennt einige Beispiele, von denen es noch mehr gebe. Das gehört zu den besseren Bestandteilen seiner Rezension und vielleicht ist es hilfreich, wenn ich diese „Ungereimtheiten“ hier aufliste und, soweit möglich, kommentiere.
1. Ich versuche angeblich, Steiner einen „Blutsnationalismus“ anzudichten.
Mentzel bezieht das auf folgende Bemerkung Steiners, die er aus irgendwelchen Gründen allerdings selbst nicht zitiert: „diejenigen, welche die äußeren Träger zum Beispiel jenes Blutes waren, aus dem ich stamme, sie stammten aus deutschen Gegenden Österreichs; da konnte ich nicht geboren werden. Ich selber bin in einer slawischen Gegend, in einer Gegend, die vollständig fremd war dem ganzen Milieu und der ganzen Eigentümlichkeit, aus der meine Vorfahren stammen, geboren.“ (GA 185,202) Mentzel kommentiert: „Hier einen Blutsnationalismus zu konstruieren, erscheint gewagt und dürfte tatsächlich einer umfassenden und genaueren Betrachtung nicht standhalten.“ In der Tat, denn Steiner begründete mit diesen Worten, dass die (mitteleuropäische) Theosophie jedes „Spezialinteresse“ überschreite und er selbst ein hervorragender Repräsentant dieses Umstands sei. Steiners Äußerung ist durchaus internationalistisch, aber das war – wie oben gesagt – für Steiner kein Gegensatz zu Blutsabstammung und dem Glauben an Volkscharaktere: Ihm schien beides kompatibel bzw. er erklärte das eine durch das andere. Hier hat Mentzel meine Darstellung anscheinend schlicht falsch verstanden. Das ist bedauerlich, denn Steiners Kombination von „Geist“ und „Blut“ war eben auch einer der Gründe, der Schulterschlüsse von Anthroposophie und völkischem Gedankengut den Weg ebnen konnte.
„…in diesem Nationalismus erwachte der früheren Zeit gegenüber, die der neuen Jugend kalt und hoffnungslos erschien wie der Romantik die Zeit der Aufklärung, das Gefühl eines neuen, drängenden, schwellenden, verbundenen Lebensgefühls, die Sehnsucht nach einem starken neuen Glauben. Zugleich wurde bewusst eine ethische und religiöse Verankerung des Nationalismus gesucht. Man knüpfte an Fichte an, der dem Nationalismus die Aufgabe zugeteilt hatte, die früher die Religion zu lösen hatte … Der Nationalismus wurde eine Frage der persönlichen Sittlichkeit, er wurde zur Vorbereitung einer messianischen Zeit.“ (Hans Kohn: Martin Buber, Köln 1961, 95)
2. „Martins“, so Mentzel, „konstatiert, dass ‚Grundlegend für Steiners Vorstellung von Nation‘ dessen ‚intellektuelle Sozialisation im Vielvölkerstaat Habsburg‘ gewesen sei. Da mag man fragen: wo anders als dort, wo ein Mensch lebt, findet seine – auch intellektuelle – Sozialisation statt?“
Na also: geht doch. Mentzel scheint diesen Umstand aber in der Folge wieder zu vergessen (siehe 4.)
3. Meine Darstellung, dass Steiners Vater „die Ungarn nicht mochte“, sei zu „dramatisch“.
Mentzel unterstellt, dass diese so „dramatische“ Feststellung meine sei, tatsächlich stammt sie von Steiner (vgl. GA 28, 50). Zum anderen gibt Mentzel ausführlich Steiners Begründung dieser Feststellung wieder, ohne sie selbst zu zitieren. Auch darin liegt kein wirkliches Gegenargument zu meiner Darstellung.
4. Steiner sei vom Nationalismus seines Vaters nicht angesteckt worden, Mentzel: „An den politischen Diskussionen in seinem Elternhaus war Steiner allerdings nur insoweit interessiert, als er es für wichtiger gehalten hatte, statt der politischen Inhalte der Diskussionen zwischen dem Vater und seinem Kollegen, der ihn als Bahnhofsvorsteher ablöste, ‚die Frage zu beantworten: inwiefern lässt sich beweisen, daß im menschlichen Denken realer Geist das Wirksame ist.'“
Letzteres Zitat stammt aus Steiners Autobiographie, die natürlich über jeden Zweifel erhaben ist. Denn “was Rudolf Steiner sagt, ist so“, wie es Mentzels Glaubensgenossin Mieke Mosmuller formuliert. Nimmt man Abstand von Steiners retrospektiver Selbstdarstellung, dann gibt es durchaus Belege dafür, dass Steiner früh und aus leicht erklärbaren Gründen (siehe 2.) nationalistische Standpunkte seines Vaters übernahm. So berichtete sein Mitschüler Albert Pliwa: „Als nun Rudolf Steiner einmal in Sauerbrunn ausstieg, wollte er seine Fahrkarte trotzig dem Portier nicht abgeben, weil auf dem Gebäude nicht der deutsche Name Sauerbrunn stünde, das ‚hunnische’ Savanyúkút verstände er nicht. Darauf holte der hinzukommende Stationschef als entrüsteter Magyar zu einer gewaltigen Ohrfeige aus, worauf Rudolf Steiner ihn mit ‚Hunne’ taktierte und sah, dass er aus dem Faustbereich des Schlagfertigen kam.“ (zit. n. Vögele: Der andere Rudolf Steiner, Dornach 2005, 23) Vögele kommentiert, die Stelle zeige, „wie sehr der Schüler Rudolf Steiner damals in den Gegensatz der Nationalitäten hineingestellt war und unter dem Einfluss der Stimmung seines Vaters gegen die magyarisierenden Ungarn, die seine Stellung bedrohten, den Anti-Ungarn herauskehrte…“ (ebd.)
5. „Steiner, so Martins,“ – so Mentzel – „hätte seine politische Haltung während seiner Studentenzeit als deutsch-national charakterisiert. Ärgerlich auch hier wieder ein Fehler, denn er nennt als Herkunft der Aussage GA31/361; es handelt sich aber um GA32.“
Das ist zutreffend und ein ärgerlicher Fehler meinerseits, ändert aber ebensowenig wie Mentzels folgendes Zitat aus dem nun richtig situierten Aufsatz auch nur das Mindeste an Steiners deutschnationaler Orientierung (und Steiners Bekenntnis dazu). Allerdings sieht Mentzel das anders:
6. „Ebenso eindeutig können die Worte Steiners aber auch stehen für eine nüchterne Betrachtung und eine selbstkritische Betrachtung seiner damaligen politischen Haltung.“
Nun findet sich in Steiners Worten aber nunmal keine Selbstkritik und Mentzel nennt auch keine Anhaltspunkte, wo und wie man eine solche auftreiben könne. Aus seiner unbelegten Behauptung leitet er allerdings auch schon den nächsten Vorwurf an mich ab:
7. „Für Martins aber reicht es, unter anderem aus diesen Aussagen abzuleiten, Steiner hätte seinen ‚Nationalismus allerdings zusehends‘ politisiert.“
Das ist im Grunde richtig, aber wesentlich eindringlichere Belege für diese Politisierung finden sich in denjenigen Aufsätzen, die Steiner in den fraglichen deutschnationalen Wiener Jahren geschrieben hat. Mentzel lässt diese unzitiert und beschränkt sich auf Steiners retrospektive Deutungen.
8. „Wer“, so bzw. so wie Mentzel, „die heutigen Debatten um Griechenland, Italien oder Spanien in Bezug auf die Euro-Frage oder die Frage von Zuwanderung etc., die damit verbundenen ‚politischen Kämpfe‘ [Steiner] und damit den Anteil, den politisch interessierte Zeitgenossen daran nehmen, aufmerksam verfolgt, kann die aufgeregten Kommentierungen von Steiners damaligen nationalen Aussagen eigentlich nur noch mit einem müden Lächeln quittieren.“
Ein Vergleich von EU und der Habsburger „Nationalitätenfrage“ wäre sicher aufschlussreich. Ich halte Mentzels Fokus dazu allerdings für ungeeignet: Es geht um die Auswirkungen des Nationalismus und nicht darum, welcher „müder“ sei als der andere.
9. Grund meiner angeblichen Ungereimtheiten sei wohl der Wunsch, „…eine Generalabrechnung mit denen zu führen, die Steiner nach Martins Meinung als Säulenheiligen verehren wollen und dies auch noch offensiv nach außen vertreten.“
An dieser Stelle ist es vielleicht angebracht, a) zu erwähnen, dass Mentzel meine Mailadresse hat, heißt: mich nach meinen Intentionen auch selbst fragen könnte, b) mich einmal selbst zu zitieren, da ich die ominöse Intention meiner Darstellung im Buch selbstverständlich ausführe – und zwar wie folgt: „Mir scheint es … wichtig, die ambivalenten Züge seines [Steiners] Denkens kenntlich zu machen, und zu verstehen, wie Steiner zu rassistischen Äußerungen kam, ohne darüber den kritischen Blick zu verlieren.“ (S. 141) Dass sich dabei Differenzen zu anthroposophischen Hardlinern auftun, lässt sich nicht vermeiden, ist allerdings Folge und nicht Ursache meiner Darstellungen.
10. „Einer von Martins ärgsten Feinden“, berichtet Mentzel, „scheint der Publizist Lorenzo Ravagli zu sein, dem er in den vergangenen Jahren mehr als einmal ellenlange Pamphlete widmete, denen ein reichlich lockerer Umgang mit den Aussagen Steiners zu eigen war.“
Lorenzo Ravagli gehört bei aller Kritik sicher zu den klügsten und vornehmsten anthroposophischen Steiner-Deutern. Gerade weil Ravagli jedoch langjähriger Herausgeber eines „Jahrbuchs für anthroposophische Kritik“ und Co-Autor einer der besten anthroposophischen Studien über „Kontinuität und Wandel“ in Steiners Denken (Stuttgart 2003) ist, halte ich es für unmöglich, seine Verkürzungen, Verfälschungen und Affirmationen der Steinerschen Rassenlehre ernstzunehmen. Um nicht allzuweit vom Thema abzukommen, hier nur eines der offensichtlichsten Beispiele. Zu einem Steiner-Vortrag über Rassen und Hautfarben von 1923 bemerkt Ravagli: „Zwar bewegen sich die Ausführungen Steiners in diesem Vortrag insgesamt im Rahmen von Typenvorstellungen, diese beziehen sich aber, nach einer Bemerkung Steiners, ausdrücklich nur auf den Leib des Menschen, von dem das Geistig-Seelische mehr oder weniger unabhängig ist. ‚Sehen Sie meine Herren, alles dasjenige, was ich ihnen jetzt geschildert habe, das sind ja Dinge, die im Leibe des Menschen vor sich gehen. Die Seele und der Geist sind mehr oder weniger unabhängig davon.'“ (Ravagli: Zanders Erzählungen, 288) Das ist korrekt zitiert, aber aus dem Kontext gerissen. Steiner sagte (die von Ravagli ausgelassenen Sätze im Folgenden kursiv): „Sehen Sie, meine Herren, alles dasjenige, was ich Ihnen jetzt geschildert habe, das sind ja die Dinge, die im Leibe des Menschen vor sich gehen. Die Seele und der Geist sind mehr oder weniger unabhängig davon. Daher kann der Europäer, weil ihn Seele und Geist am meisten in Anspruch nimmt, Seele und Geist am meisten verarbeiten. Der kann es am ehesten vertragen, in verschiedene Erdteile zu gehen.“ (GA 349, 62) Das sei anderen „Rassen“ versagt: Afrikaner in Amerika würden zu Indianern: „…sie gedeihen nicht, sie gehen zugrunde“ (ebd., 63) Von Asiaten, die in den Süden zögen, berichtete Steiner, dass sie körperlich zerbröckelten und an der Sonne stürben (ebd., 61)
11. „Eine weitere – nur als kurios zu bezeichnende – Schlussfolgerung“ findet Mentzel in meiner Darstellung von Steiners frühen theosophischen Jahren. Steiner deutete 1903 eine Reihe deutscher Mystiker, Dichter und Philosophen ebenfalls als Theosophen. Unter anderem den Idealisten Schelling (vgl. GA 34, 534). Im selben Zeitraum redete Steiner jedoch auch über „Schelling, der selbst kein Theosoph war“ (GA 52, 39). Offenbar widerspricht sich Steiner hier selbst. Meine Interpretationshypothese ist, dass Steiner auf verschiedenen Wegen versuchte, den deutschen Idealismus und damit weite Teile seiner frühen Schriften einer theosophischen Relektüre zu unterziehen. Für Mentzel ist das ein „Vorwurf“ an Steiner. „Auch hier“ sei es „ratsam, sich die in Rede stehenden Stellen genauer anzusehen.“ „Für Martins aber sind solche Aussagen einmal mehr ein Anlass, Steiner zu unterstellen: ’seine intellektuelle Biographie in ein Leben für diese ‚deutsche Theosophie‘ umzudeuten‘. Wird – Zander lässt grüßen – schon etwas hängen bleiben?“
Leider erläutert Mentzel mit keinem Wort, was an meiner Deutung vorwurfsvoll oder kurios sei. Wieder hat er kein Gegenargument. Wieder zitiert er Steiners (von mir angegebene) Aussagen ausführlicher als ich selbst und wieder bleibt Steiners Widerspruch dennoch bestehen. Wieder imaginiert Mentzel meine Darstellung anscheinand als böswollende ‚Unterstellung‘, von der – „Zander lässt grüßen“ – irgendetwas Schlechtes an Steiner hängenbleiben solle. Nicht Steiners Widersprüche scheinen für ihn ein Problem zu sein, sondern der Umstand, dass man diese interpretiert.
12. „Dass Martins“, so Mentzel, „es nicht so ganz genau mit den Worten nimmt, die er dem Gegenstand seiner ‚Studie‘ in den Mund legt, ist auch dort zu bemerken, wo es um den Dichter Ludwig Jacobowski geht, dessen Tod er im gleichen Absatz seines Textes ins Jahr 1901 und wenige Sätze später auf den 2. Dezember 1900 datiert, was man hier aber auch dem Lektorat anlasten könnte.“
Zwar hat Mentzel bisher nicht nachgewiesen, wo (oder auch nur: dass) ich Steiner etwas fälschlich „in den Mund“ legte und mit was davon ich es nicht so genau nähme. Aber hier glückt ihm eine zweite Trouvaille: Offenbar habe ich mich bei Jacobowskis Todestag vertippt, das ist ein wirklich bedauerlicher Schnitzer, der nicht erst auf das Lektorat zurückfällt.
13. Weiter zu Jacobowski: „Reichlich absurd allerdings wirkt Martins Vermutung, Steiners Artikel, in denen er eine klare Stellungnahme gegen den Antisemitismus erkennen lässt, könnten ein ‚posthumes Geschenk‘ [Zander] an den verstorbenen Freund Jacobowski sein.“
Erneut erläutert Mentzel nicht, was an der Vermutung absurd sei. Aus meiner Sicht ist sie die bisher plausibelste Deutung. Noch 1897 hatte Steiner die Antisemiten als „ungefährliche Leute“ verharmlost: „Viel schlimmer als die Antisemiten sind die herzlosen Führer der europamüden Juden, die Herren Herzl und Nordau.“ (GA 31, 199f.) Ein Jahr später lernte er Jacobowski kennen, der für den „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ arbeitete. Jacobowski gehörte zu Steiners engeren Freunden – nach seinem Tod schrieb Steiner Artikel für den Verein.
14. Weiter möchte Mentzel „fragen, warum Martins der kurzen Begegnung Steiners mit dem Antisemiten Treitschke einen solch breiten Raum gibt (3 Seiten), die Freundschaft Steiners mit dem Juden Jacobowski aber in ein paar dürren Sätzen abhandelt…“
Die Begegnung Steiners mit „dem Antisemiten Treitschke“ nimmt im Buch keine drei Seiten ein, sondern genau sieben Zeilen. Die Begegnung mit Jacobowski umfasst zwölf Zeilen und eine der von Mentzel so gefürchteten Fußnoten. Möglicherweise hätte Mentzel seinen eigenen Rat, „sich die in Rede stehenden Stellen genauer anzusehen“, selbst besser befolgen können.
15. Ferner bildeten meine Darstellung der Freundschaft Steiner-Jacobowski „noch nicht einmal die Realität“ ab. Schließlich habe Steiner Jacobowski „einen ganzen Artikel gewidmet und darin gesagt, dass der Freund seine literarischen Tätigkeiten nicht zuletzt deshalb reduziert hatte, weil er seine Aufmerksamkeit stärker auf die politische Ebene – ‚in Verbindung mit der Kulturentwicklung‘ gerichtet hatte.“
Dass der Kolumnist, Journalist und Essayschreiber Steiner seinem Freund Jacobowski sage und schreibe „einen ganzen Artikel“ widmete, diese weltbewegende Fügung habe ich in der Tat nirgends so festgehalten, sondern von so etwas Profanem wie „gegenseitiger literarischer Wertschätzung“ gesprochen. De gustibus est disputandum. Um meine schlimme Verdrehung der Realität richtigzustellen, zitiert Mentzel wieder Steiner, ohne das Zitat zu kommentieren oder daraus abzuleiten, was denn nun mein Fehler gewesen sei. Bemerkenswert ist, dass er unter anderem auch folgende Sätze Steiners zitiert: „Er [der Antisemitismus] verletzte ihn [Jacobowski] tief in seinen persönlichsten Empfindungen. Nicht etwa deshalb, weil er mit diesen Empfindungen an dem Judentume hing. Das war durchaus nicht der Fall. Jacobowski gehörte vielmehr zu denen, die mit ihrer inneren Entwickelung längst über das Judentum hinausgewachsen waren.“ (GA 33, 191) In der Tat geben diese Worte über Steiners Beziehung zu „dem Juden Jacobowski“ Auskunft: ‚Gute‘ Juden waren für Steiner seit dem Kommen Christi nur diejenigen, die „über das Judentum hinausgewachsen“ seien, die „frei“ seien von jener „konfessionellen oder Rassebeschränktheit“ (GA 28, 280), die Steiner der jüdischen Tradtion ohne Grund und Begründung unterstellte. Steiners Antisemitismus war assimilatorisch: Die Juden sollten weniger jüdisch sein und sich mit den restlichen „Völkern“ vermischen. Mentzel zitiert diese Äußerung zwar, aber makabererweise gerade als Beleg dafür, ich hätte Steiners Freundschaft zu Jacobowksi verkürzt dargestellt.
16. Nach Jacobowski springt Mentzel in den letzten Teil meines Buchs und ins Kapitel über Steiners Gesellschaftsutopie der „sozialen Dreigliederung“. „Auch“ dieses sei „wenig ergiebig“.
Auch hier liefert er keine Belege für Ungereimtheiten oder Fehler.
17. Anschließend spekuliert Mentzel über meine angeblich „immer etwas aufgeregt klingende Redeweise“. Als Beleg zitiert er folgenden Satz aus meinem Buch: „In Steiners pädagogischen, medizinischen oder nationalökonomischen Vorträgen kamen Rassenbegriffe auf hunderten von Seiten überhaupt nicht vor.“ Dieser Satz klinge „bedauernd“ oder eben „empört“.
18. Es folgt ein weiterer Sprung ins Jahr 1923. Mentzel: „Als Beleg seiner Ansicht, dass der Rassimus Steiners Werk durchziehe, bringt Martins – natürlich – auch das Beispiel von der Lehrerkonferenz der Stuttgarter Waldorfschule, auf der der damalige Waldorflehrer Karutz die Abschaffung des Französischunterrichts gefordert hatte.“
Ich vermute, das suggestive „natürlich“ soll eine Redundanz meiner Darstellung nahelegen. Auch diese Einschätzung seinerseits ist freilich legitim. Richard Karutz war allerdings kein Lehrer an der Stuttgarter Waldorfschule, diese wurde von seinen Kindern besucht. Auch hier hätte Michael Mentzel vielleicht seinen eigenen Rat, genau nachzulesen, selbst besser befolgen können (vgl. GA 300b, 276).
19. Die folgende Diskussion über die Abschaffung des dekadenten Französischunterrichts an der Waldorfschule empfiehlt Mentzel seinen Lesern wieder zur näheren Lektüre. Denn: „Steiner lehnte eine Diskussion über die Frage nach der Abschaffung des Französischunterrichts ab, nicht zuletzt weil er sich den Gegebenheiten der staatlichen Schulaufsicht bewusst war.“
Wie leider so oft in anthroposophischen Darstellungen reißt Mentzel diese Position Steiners aus dem Zusammenhang. Für Steiner hatte Französisch an der Waldorfschule „verschiedene Seiten. Die erste ist die geistig-kulturelle Seite.“ (ebd.) Geistig-kulturell sei Frankreich nämlich der erste „Vortrupp des untergehenden Römertums, der untergehenden romanischen Völker Europas“ (ebd., 277), die französische Sprache sei oberflächlich und im Gegensatz zum Deutschen dirigiere sie den Menschen, höhle ihn aus. Steiner hielt es für notwendig, „daß der französische Unterricht aus wirklich inneren Wesensgründen allmählich verschwinde. Es ist auch ganz selbstverständlich, daß er in der Zukunft wirklich aus dem Unterricht verschwindet. Nun, etwas anderes liegt in diesem Moment vor, wenn die Waldorfschule in radikaler Art den Anfang machen sollte … auf der anderen Seite ist es absolut ausgeschlossen, daß wir von der Waldorfschule den Anfang machen mit dem Kampfe für die Abschaffung der französischen Sprache. Das ist aus äußeren Gründen nicht möglich. Wir haben ja noch kein freies Geistesleben…“ (ebd., 278) Lediglich den letzten Punkt stellt Mentzel dar und erwähnt Steiners Hetze gegen Frankfreich nur in dem Halbsatz „Die Lehrer seien sich zwar darüber klar, so Steiner, dass die französische Sprache in der Dekadenz sei…“. Hier hätte Mentzel wenigstens den Unmut der Französischlehrer festhalten können, die ihre eigene spirituelle Erklärung ihres Fachs hatten. Lehrer(in?) „X“ brachte ein: „Ich möchte nur sagen, wie es mir persönlich geht, wenn ich Französisch gebe. Ich steigere mich, ich schwimme. Nichts ist so anstrengend wie das Französisch- Unterrichten.“ Steiners Antwort: „Wenn es im guten Sinne wäre, so würde ich Ihnen raten, steigern Sie sich bei den anderen Dingen mehr.“ (ebd., 283)
Wider die Eindeutigkeit
Von den angeblichen Ungereimtheiten meines Buchs, die Mentzel unterstellt, bleibt bei näherer Betrachtung zweierlei übrig: Ich habe darin Ludwig Jacobowskis Todesjahr einmal falsch datiert und eine Quellenangabe ist unrichtig – Ich schreibe GA 31, wo GA 32 stehen müsste. Ich bin auch von anderer Seite auf eine falsche Datierungen eines Steiner-Aufsatzes von 1906 hingewiesen worden. Und es wird sicher wirkliche Ungereimtheiten und Stellen geben, an denen das Buch zu kurz greift oder die man schlicht ausführlicher hätte behandeln können. Viel mehr ließe sich beispielsweise zur Dreigliederung und zu Steiners lebensreformerischen Ansätzen sagen.
Dennoch: In Mentzels Rezension kann ich dazu wenig Brauchbares finden. Zwar lässt er gegen Ende den Erkenntnis-Wert des Zweifels anklingen und meint, mein Buch werde der Anthroposophie nicht schaden:
„Wer den Versuch macht, das Werk Rudolf Steiners auch im Hinblick auf Martins Intentionen zu durchdringen und damit bereit ist, eine – stellenweise tatsächlich vorhandene und auch nicht wegzuleugnende – Ambivalenz in Steiners Denken auszuhalten, wird belohnt durch die Erfahrung, dass es für die Entwicklung seiner eigenen Gedankenwelt nur mehr förderlich sein kann, wenn er bereit ist, den persönlichen Seelenkampf in die Wagschale zu werfen und die eigene Auseinandersetzung mit dem Zweifel als Möglichkeit zur erweiterten eigenen Erkenntnis zuzulassen. Insofern wird Martins Buch der Anthroposophie keineswegs schaden, wie manche vermuten.“
Ich danke für die Einschätzung, doch der Rest des Artikels besteht aus Steiner-Zitaten und Vorwürfen an meine Darstellung, die entweder unbegründet sind oder von Mentzel zumindest nicht belegt, sondern nur als absurd betitelt werden. Vielleicht ist dieses Problem ihm selbst nicht verborgen geblieben, denn er fürchtet: „Die zarten Versuche der Beschreibung der Empfindungen, wie sie vor der Seele und den Augen eines – der heutigen Steiner-Kritik gegenüber – kritisch eingestellten Zeitgenossen auftauchen, werden als Versuche der Reinwaschung, als apologetische Irrfahrten durch eine Geschichte gebrandmarkt werden, deren Eindeutigkeit doch schließlich nicht mehr zu übersehen sei.“
Wenn es einen Beleg dafür gibt, dass Mentzel mein Buch nur flüchtig gelesen oder schlicht nicht verstanden haben könnte, dann diesen Satz. Es ist gerade die Eindeutigkeit, der Versuch, Steiner zum lichten Gegner allen Rassedenkens oder zum finsteren Gegenaufklärer zu stilisieren, gegen die das Buch geschrieben wurde. Mentzel selbst unterstellt diese fiktive Eindeutigkeit, wenn er meinem Buch ausgerechnet positiv anrechnet, „dass Steiner auch darauf hingewiesen hat, dass sein Anliegen in einem idealistisch zu verstehenden Sinn zu werten ist und eben nicht ein national gefärbter Hurrapatriotismus deutscher Provinienz ist.“ Dass Idealismus und Hurrapatriotismus, Individualismus und Nationalismus, Spiritualismus und Rassismus – leider – keine Gegensätze sind, das wenigstens hätten Leser aus meinem Buch lernen sollen. Das ist scheinbar zu viel verlangt, aber das war zu erwarten und deshalb kann ich immerhin zwei Sätzen Mentzels ungebrochen zustimmen:
„Es wird kommen, wie es immer kommt. Dessen ist sich der Verfasser der nachfolgenen Zeilen so gewiss, wie das ‚Es keimen die Pflanzen‘ am Mittagstisch aufrechter Anthroposophen.“
Das ist der Verfasser dieser Zeilen auch.
Die unendliche Geschichte
Neues Zur (Nicht-)Aufarbeitung des Anthroposophischen Rassismus am Beispiel Massimo Scaligero
„Die dümmsten Schlächter wählen ihre Schafe …
nee … dis ging anders. Die dümmsten Schafe
wählen ihre Kälber … Die dümmsten Schafe
sterben im Schlafe … nee … Ach, egal.“
– Marc-Uwe Kling
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I. Stand der Debatte
Die Anthroposophie („Weisheit vom Menschen“) hat ein Kernthema: Weiter- und Höherentwicklung. Der Mensch stammt in ihrer Konzeption aus „höheren Welten, und er wird zu diesen höheren Welten wieder hinaufsteigen.“ (Rudolf Steiner, GA 101, 1987, S. 187). Bei der selbstevozierten evolutionären Eile bleibt für ein so aufwendiges Thema wie „Vergangenheitsbewältigung“ nicht immer Zeit und Muße. Der Anthroposoph Sebastian Gronbach stand deutlich für den libertären Flügel der Bewegung, als er kommentierte: „Wenn Anthroposophen nicht selber zur wissenschaftlichen Kontextualisierung und historischen Einordnung in der Lage sind, dann müssen das eben andere übernehmen. Dann soll man sich bitte auch nicht beschweren.“
Tut „man“ aber leider trotzdem. Ein besonders emotionaler Gegenstand der „historischen Einordnung“ ist die Geschichte der Anthroposophie im deutschen und italienischen Faschismus: Heute sehen Anthroposophen sich meist als spirituell motivierte Vorreiter von Menschenrechten, Individualismus und Demokratie. In den rassistischen Diktaturen starteten dagegen nicht wenige erfolgreiche Karrieren und präsentierten ihr esoterisches Programm als spirituellen Boden für faschistisches Engagement. Einer davon war Massimo Scaligero. Dessen erklärten Aristokratismus, eliminatorischen Antisemitismus und messianischen Wahn für die „Rasse von Rom“ hat der Anthroposophiekritiker Peter Staudenmaier 2010 in seiner Dissertation herausgearbeitet. In Anschluss an diese bisher unveröffentlichte Arbeit hat Andreas Lichte u.a. den Rassismus Scaligeros im Februar noch einmal herausgestellt. Er stieß damit eine umfangreiche Diskussion an.
Auf seinen Artikel antwortete ich mit umfangreichen Ausführungen über die Ambivalenz der Waldorfszene gegenüber dem NS-Staat sowie dem Hinweis darauf, dass Scaligero nicht von der Anthroposophie zum Faschismus kam, sondern umgekehrt vom rassistisch-„magischen“ „Traditionalismus“ Julius Evolas ausging, auf dessen Basis er die Anthroposophie interpretierte: Welcher Okkultist mit welchem anderen sympathisierte, war weniger Ausdruck eines faschistischen Kerns der Esoterik als vielmehr ein Ausdruck von deren für jeden Zweck instrumentalisierbaren „geistigen“ Überbau. In diesem Sinne feierte und präsentierte Scaligero etwa Rudolf Steiner als esoterischen Gewährsmann seiner gleichfalls esoterischen Rassenideologie (vgl. Peter Staudenmaier). Wenig später übernahm der „Humanistische Pressedienst“ (hpd) Andreas Lichtes Ausführungen mit der Bemerkung, dass sie „ein helles Licht auf Implikationen der Anthroposophie werfen.“ Staudenmaier selbst hielt diplomatisch fest, dass sowohl Lichtes als auch meine Darstellung berechtigt seien. Der anthroposophische Blogger Michael Eggert, der sich schon früher für die kritische Aufarbeitung des vermeintlich unbescholtenen Scaligero eingesetzt hatte (was Lichte unerwähnt ließ), verwies auf meinen Kommentar zu Lichtes Artikel. Jens Heisterkamp, Chefredakteur der anthroposophischen Zeitschrift Info3, griff ebenfalls meinen Artikel auf, vor allem zur Relativierung von Lichtes Vorwürfen, hielt aber fest:
„Bei allen Vorbehalten kann man den Ruhrbaronen und Andreas Lichte für eines dankbar sein: Sie schärfen das Bewusstsein dafür, dass sich Anthroposophen heute kritisch mit manchen Schatten in ihrem Erbe auseinandersetzen müssen. Genau das funktioniert aber nicht ohne das „leidige Differenzieren“, zu dem Ansgar Martins beide Seiten, sowohl Anthroposophen wie ihre Kritiker bzw. Gegner, augenzwinkernd ermahnt.“
II. Neuigkeiten
Konsequenzen wurden allerdings nur schleichend gezogen: Im deutschen Wikipedia-Artikel zu Massimo Scaligero wurden erst kürzlich Hinweise auf die kritischen Arbeiten von Staudenmaier und Lichte platziert. Die Dornacher „Forschungsstelle Kulturimpuls“, die Biographien prominenter Anthroposophen dokumentiert, löschte den bisherigen Eintrag zu Scaligero. Die Seite verkündet nun: „Dieser Beitrag ist in Überarbeitung“, im Hintergrund stehen fraglos die genannten Faschismusvorwürfe. Eine notwendige Revidierung: Im nun gelöschten Eintrag waren diese einfach verschwiegen bzw. geleugnet worden. Dort war zu lesen:
„…er [Scaligero] war von Amerikanern im Juni 1944 inhaftiert worden, obgleich er nie politisch und schon gar nicht faschistisch engagiert war.“
So peinlich der frühere Text, so begrüßenswert ist die angekündigte Überarbeitung. Einen weiteren Aggregatzustand von Peinlichkeit erreichte allerdings Michael Mentzel, der die Diskussion am 16.3.2012 auf seiner Seite „Themen der Zeit“ aufgriff. Mentzel distanzierte sich, um das klarzustellen, durchaus von Scaligero:
„Als der Stein des Anstoßes zu rollen begann, hatte er noch einen Namen, nämlich Massimo Scaligero, ein italienischer Anthroposoph, der – wenn die Fakten stimmen, die Andreas Lichte zusammengetragen hat – zumindest bis 1945 keinen Hehl machte aus seiner Sympathie für den Nationalsozialismus deutscher Prägung und den damit verbundenen Antisemitismus. In der Tat gibt der Artikel bei den Ruhrbaronen im Hinblick auf Scaligero einiges her, um die Verwicklungen italienischer Anthroposophen mit dem damaligen faschistischen Regime deutlicher zu erkennen … Unwillkürlich fühlt man sich bei Scaligero an die unrühmliche Vergangenheit des Pfarrers Benesch erinnert und möchte mit Erich Kästner auf die Frage: „was wäre, wenn wir den Krieg gewonnen hätten?“, nur noch antworten: „zum Glück gewannen wir ihn nicht!“… Es ist also zu hoffen, dass der Teil der Biographie Scaligeros, der bisher nicht oder zuwenig beachtetet wurde, jetzt auch von der offiziellen anthroposophischen „Geschichtsschreibung“ berücksichtigt wird.“
Darin ist Mentzel durchweg zuzustimmen. Doch liest man immer Artikel auch: „wenn die Fakten stimmen, die Andreas Lichte zusammengetragen hat“ und ein zweites Mal „Die Fakten aber sprechen, wenn sie stimmen, eine andere Sprache.“ Offen lässt Mentzel, welche Zweifel er an diesen Fakten hat, denn diese liegen bereits seit Jahren und in verschiedensten Publikationen auf dem Tisch. Hätten Anthroposophen den von Mentzel für gescheitert erklärten Dialog mit Kritikern früher gesucht, hätte man auch früher und aus anderen Quellen von Scaligeros Faschismus erfahren und beispielsweise den biographischen Eintrag der „Forschungsstelle Kulturimpuls“ auch vor 2012 korrigieren können. Bereits der Klassiker der Anthroposophiekritik, Peter Bierl, hat seit langem unmissverständlich auf Scaligeros Rassenlehre hingewiesen und auch den Beitrag in der Biographischen Dokumentation der „Forschungsstelle“ kritisiert:
„In Platos Biographien-Sammlung wird Scaligero als bedeutender Journalist, dem die Gabe der Dichtung seit seiner Jugend eigen war, verklärt. Über seine journalistische Aktivität während des Faschismus erfährt der Leser nichts.“ (Bierl: Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister, Hamburg 2005, 177)
Wer anthroposophischerseits Bierls nicht immer unpolemische Darstellung verschmähte, hätte auch in der einschlägigen wissenschaftlichen Forschungsliteratur fündig werden können:
„Überdies bedienten sich die jungen Neofaschisten einer idealistischen Esoterik, die an die antidemokratisch-aristokratischen Ideen von Julius Evola und Massimo Scaligero anknüpften. Für diese beiden umstrittenen Intellektuellen, die sich der RSI angeschlossen und zu den wichtigsten Fürsprechern eines rassistischen Antisemitismus in Italien gezählt hatten, war mit der Demokratie das Maximum der Dekadenz erreicht, während sie – nach mittelalterlichem Vorbild – für ein streng hierarchisch organisiertes und von einer aristokratischen Leistungselite autoritär geführtes Gemeinwesen als politisches Ideal eintraten.“ (Guerrazi: Rezension zu Antonio Carioti: Gli orfani di Salò)
Spätestens seit 2009 war durch das Engagement Michael Eggerts Scaligeros Rassismus auch in der anthroposophischen Szene bekannt (was wiederum Lichte ignoriert, der Eggert unberechtigterweise die Nichtbeachtung der Faschismusvorwürfe unterstellte). Warum das Gros der Anthroposophen (mit allerdings bedeutenden Ausnahmen), diese Vergangenheitsbewältigung unterlässt oder gar verweigert, will sich mir nicht erschließen. Es hätte jedenfalls genung Informationen und Quellen gegeben, das Thema anzugehen – dass der entscheidende Schlag Andreas Lichte vorbehalten blieb, liegt einzig am zu langen Schweigen der Verantwortlichen an den entsprechenden anthroposophischen Stellen. Duchaus bemerkenswert ist allerdings, dass im Fall Scaligero jetzt endlich mit (selbst-?)kritischer Einsicht vorgangen wird und nicht, wie so oft zuvor, mit Apologie.
Die Vorzeichen sehen derzeit günstig aus: Der von Bierl (s.o.) geschmähte Bodo von Plato hat sich bereits im letzten Jahr mit der mutigen Äußerung hervorgetan, dass das „apodiktische Verhältnis zur Wahrheit“ in der Anthroposophie zu einer besonderen Empfänglichkeit der Anthroposophinnen und Anthroposophen für totalitäre Regimes führen könne. Zuvor hat der verdienstvolle anthroposophische Historiker Uwe Werner noch einmal (auch unter Anknüpfung an Peter Staudenmaier), die Rolle der Anthroposophie im Nationalsozialismus thematisiert. Staudenmaier selbst hat vor Kurzem noch einmal alle Beteiligten zum fairen Streit gemahnt:
„In der Dialektik von Annäherung und Abgrenzung spielten verschiedene Gesichtspunkte hinein, und eine vereinfachende Deutung verkennt leicht die Spannung zwischen beiden Polen. Für ein historisch fundiertes und umfassendes Verständnis der komplizierten Beziehung zwischen Anthroposophie und Nationalsozialismus sind beide Tendenzen, sind Distanz wie Resonanz von Bedeutung.“ (Peter Staudenmaier: Der deutsche Geist am Scheideweg, in: Puschner/Vollnhals: Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, Göttingen 2012, 490)
III. Gegenläufige Tendenzen
Doch es gibt auch triftige Gründe, an einer künftig fundierteren Debatte zu zweifeln. Sie werden von Michael Mentzel bei seiner an sich begrüßenswerten Kritik Scaligeros gleich mitgeliefert. Er wiederholt erneut das Märchen von der in ‚Wahrheit‘ antirassistischen Anthroposophie:
„Der 1925 verstorbene Rudolf Steiner hat Massimio Scaligero nicht gekannt. In einem Aufsatz, den er im Magazin für Literatur veröffentlichte, hatte Steiner allerdings unmißverständlich festgestellt: „Mein Entwicklungsgang war auch ein solcher, dass damals, als ein Teil der nationalen Studentenschaft Österreichs antisemitisch wurde, mir das als eine Verhöhnung aller Bildungserrungenschaften der neuen Zeit erschien. Ich habe den Menschen nie nach etwas anderem beurteilen können als nach den individuellen, persönlichen Charaktereigenschaften, die ich an ihm kennenlerne. Ob einer Jude war oder nicht: das war mir immer ganz gleichgültig. … Und ich habe im Antisemitismus nie etwas anderes sehen können als eine Anschauung, die bei ihren Trägern auf Inferiorität des Geistes, auf mangelhaftes ethisches Urteilsvermögen und auf Abgeschmacktheit deutet … “ Möglicherweise hätte Steiner diese seine Auffassung wiederholt und modifiziert, wenn er noch gelebt und Kenntnis von den faschistischen und antisemitischen Auffassungen des Herrn Scaligero erhalten hätte.“ (Auslassungen im Zitat von mir)
Mentzel verfällt in ein bekanntes Muster der Steiner-Hagiographie: Der Meister wird zum Gegner des Rassismus stilisiert, selektiv zitiert und damit die rassistische Überzeugung von Steiner-Anhängern zum Ausnahmefall erklärt. Die ‚wahre‘ Anthroposophie sei antirassistisch und eine rassistische Deutung bloßes Missverständnis. Eine Selbsttäuschung, der bereits Steiner unterlag. Der jüdische Anthroposoph Hans Büchenbacher (der in der Naziära aus dem Vorstand der deutschen Anthroposophischen Gesellschaft zurücktreten musste) hatte den Esoteriker mit dem Antisemitismus in der anthroposophischen Bewegung konfrontiert:
„Über das Problem des Antisemitismus hatte ich schon in einem intimen Gespräch mit Herrn Dr. Steiner im Mai 1920, in welchem ich sein persönlicher esoterischer Schüler werden durfte, gesprochen. Ich wurde damals von anthroposophischen Freunden eingeladen, über die Dreigliederung [die Gesellschaftsutopie der Anthroposophie – AM] große öffentliche Vorträge zu halten. Ich teilte dies Dr. Steiner mit und äußerte Bedenken, weil schon in unserer [der Anthroposophischen] Gesellschaft mir Antisemitismus begegnet sei, wie es diesen ja auch in der Außenwelt gab. Dr. Steiner, sehr streng und energisch: ‚Das gibt es nicht in der Anthroposophischen Gesellschaft‘ Ich: ‚Aber ich habe doch entsprechende Erfahrungen gemacht.‘ Herr Doktor: ‚Aber ich muss Ihnen sagen, dass Progrome in Würzburg vorbereitet werden, und das kann gefährlich für sie werden; Sie müssen selbst entscheiden, ob sie das riskieren wollen.“ (Büchenbacher: Teilauszug seiner Erinnerungen in: Info3, 4/1999, 19)
Steiner war blind für Antisemitismus unter seinen Epigonen (der in den Köpfen von Friedrich Rittelmeyer, Richard Karutz oder Marie Steiner-von Sivers nach 1933 noch ganz andere Formen annehmen sollte), vor allem, da die Probleme hausgemacht waren: Steiner selbst schätzte Moses als „Eingeweihten“ und Jahwe als hochstehenden Engel – doch deren ’spirituelle‘ Leistungen seien erbracht. So stufte er das Judentum als überholte Vorgängerreligion des Christentums ein und forderte die gänzliche und restlose Assimilation der Juden. In der Logik von Steiners geschichtsevolutionärem Weltbild konnten sich zwar alle Jüdinnen und Juden über ihre Religion „hinausentwickeln“, von ihr „freimachen“, doch diese Religion selbst habe seit der Inkarnation „des“ Christus nichts mehr zu bieten. Dass er selbst dem Judentum die Existenzberechtigung absprach, übersehen AnthroposophInnen wie Mentzel ebenso konsequent wie das, was man zu Steiners Lebzeiten unter Antisemitismus verstand:
„Unter diesen Begriff gehörten im damaligen Sprachgebrauch nicht die … christlichen Stereotype über das angeblich normative alttestamentarische jüdische Volk oder Ressentiments gegen den jüdischen Nationalismus, die Steiner im Grunde nur anthroposophisch umgedeutet hat, sondern als Antisemitismus wurden in erster Linie auf Biologie rekurrierende und mit Gewalt drohende Argumente gewertet, von denen man sich damals noch leicht distanzieren konnte. Deshalb konnte Steiner damals trotz seiner unübersehbaren Vorurteile als Feind des Antisemitismus gelten.“ (Miriam Gebhardt: Rudolf Steiner, 73)
Auch diese schlichte Tatsache ist seit langem bekannt. Spätestens mit den Arbeiten von Ralf Sonnenberg gibt es auch überzeugende anthroposophische Versuche, diese antijüdischen Implikationen des anthroposophischen Geschichtsmodells ein für alle mal abzuwenden. Wenn anthroposophische Apologeten allerdings immer wieder hinter den Stand der Debatte zurückfallen, dürfen sie sich im Sinne des oben zitierten Ausspruchs von Sebastian Gronbach, nicht wundern, wenn „andere“ das übernehmen: Die Kritiker und Gegner der Anthroposophie.
So wenig Andreas Lichte recht hat, wenn er behauptet, Scaligero habe Steiner lediglich konsequent weitergedacht und die Anthroposophie sei im Kern faschistisch, so wenig ist Michael Mentzel zuzustimmen, wenn er auf eine prinzipielle Distanz beider hinweist. Unzutreffende Unterstellungen und unhaltbare Entlastungsargumente provozieren sich gegenseitig und übersehen beide die Polyvalenz der Rezeptionsmöglichkeiten. Dass Steiners evolutionäres Rassendenken bis heute Faschisten anzieht, ist leicht verständlich. Dass seine Anthroposophie auch den in Auschwitz ermordeten Komponisten Viktor Ullmann oder den zionistischen Prager Salon Berta Fantas mit Exponenten wie Ernst Müller und Schmuel Hugo Bergmann inspirierte (letzterer organisierte gar an der Jerusalemer Universität eine Feier zu Steiners 100. Geburtstags), wundert ebensowenig: Steiner hatte für jeden von links bis rechts etwas im Angebot. Das übersehen viele Kritiker und noch mehr Anthroposophen bis heute. Einen Esoteriker, der mit „Wurzelrassen“ und „Volksseelen“ hantiert, auch wenn er anderswo die („geistige“) Egalität und Unersetzlichkeit aller Menschen propagiert, kann niemand erfolgreich vom Rassismusvorwurf freiwaschen. Eine glaubhaft antirassistische Anthroposophie müssten heutige Anthroposophen selbst schaffen. Vorbedingung dafür wäre, die ständig wiederholte Geschichte von der ‚Unvereinbarkeit‘ anthroposophischer und faschistischer Überzeugungen endlich fallenzulassen.