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Anthroposophische Geschichtsschreibung: Fundierte Daten, falsche Motivation?
„Für den wirklichen Menschen aber geht die eigentliche Grenze auch quer durch die Welt der Ideen. Freilich, mancher, der sich in der Welt der Dinge damit begnügt, sie zu erfahren und zu gebrauchen, hat sich einen Ideen-Anbau oder Überbau aufgerichtet, darin er vor der Anwandlung der Nichtigkeit Zuflucht findet. Er legt das Kleid des üblen Alltags an der Schwelle ab, hüllt sich in reines Linnen und erlabt sich am Anblick des Urseienden oder Seinsollenden, an dem sein Leben keinen Anteil hat. Auch mag ihm wohltun, es zu verkünden … Die edelste Fiktion ist ein Fetisch, die erhabenste Fiktivgesinnung ist ein Laster. Die Ideen thronen ebensowenig über unseren Köpfen, wie sie in ihnen hausen; sie wandeln unter uns und treten uns an.“
(Martin Buber: Ich und Du (1923), Stuttgart 1995, 14)
„Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart“ – vollmundig und selbstbewusst kommt der Titel eines Buches daher, das kürzlich im Berliner Wissenschaftsverlag erschien. Der Titel ist offensichtlich an das evangelische Standard-Handbuch „Religion in Geschichte und Gegenwart“ angelehnt, das Cover erinnert optisch an Helmut Zanders „Anthroposophie in Deutschland“ von 2007. Die Herausgeberin, Rahel Uhlenhoff, ist bekannt vor allem als Autorin der liberal-anthroposophischen Zeitschrift Info3 und als eloquent auftretende Aktivistin für das Bedingungslose Grundeinkommen (es gibt ein paar sehr schöne Youtube-Videos von ihren Vorträgen). In 15 ausführlichen Beiträgen von insgesamt 800 Seiten kommen einige der fundiertesten und weitsichtigsten anthroposophischen PublizistInnen und ForscherInnen wie Robin Schmidt, Günther Röschert und Uwe Werner zu Wort. Andere, wie Andreas Hantscher oder Bernhard Schmalenbach, sind gegenwärtig im akademischen Kontext tätig – wieder andere, wie Michaela Glöckler, Wolfgang Schad oder Johannes Kiersch, sind prominente Vertreter der anthroposophischen Szene.
In einem Geleitwort spricht sich Arthur Zajonc, Anthroposoph und Professor für Quantenphysik am renommierten Amherst College (Massachusetts), nahezu begeistert aus:
„Die wissenschaftliche Qualität der Beiträge und die umfangreiche Fachkenntnis der Autoren wird dieses zu einem für die kommenden Jahrzehnte maßgebenden Werk machen. … Durch das Spektrum der Aufsätze gelangt man dazu, die Einsichten Rudolf Steiners, den Kontext der Genese der Anthroposophie im frühen 20. Jahrhundert sowie ihrer Anwendung in den Jahrzehnten nach seinem Tod zu würdigen.“ (S. 7)
Offenbar ist man bemüht, das Buch gleich mit dem Erscheinen zu einem Standardwerk zu machen. Und dazu hat zumindest die Themenauswahl das Zeug! Die große Stärke der Beiträge liegt meiner Einschätzung nach keineswegs im ersten („Genese“), dafür aber im letzten der von Zajonc genannten Punkte: Die Entwicklungen der anthroposophischen Entwürfe nach Steiners Tod. Christoph Strawe trägt hier zum Beispiel wichtige Stichworte und Wirkungsbereiche der „Sozialen Dreigliederung“ zusammen (S. 671-689), auch die zwar wennigen, aber gehaltvollen Zeilen von Johannes Kiersch zur Entwicklung der Waldorfpädagogik (S. 450-464) will man nicht missen. Besonders dicht ist der Beitrag von Robin Schmidt: Anthroposophie – eine Übersicht zu ihrer Geschichte (S. 333-384). Es handelt sich um nüchterne und sehr gute Nachzeichnungen historischer Entwicklungen. Auf die Aufsätze in Uhlenhoffs Sammelband, die die anthroposophischen Praxisfelder, Kunst, Waldorfpädagogik, Medizin, Heilpädagogik, Landwirtschaft eingehen, komme ich in diesem Artikel aus Platzgründen leider nicht zurück, vielleicht nehme ich sie mir zu konkretem Anlass hier noch einmal ausführlicher vor. Sie bieten ausnahmslos gute Überblicke mit interessanten Interpretationen der anthroposophischen Theorie – deren problematischen Implikationen, von Karmalehre und Medizin bis zu typologischen Problemen, begegnen sie, entkommen ihnen aber selbst nicht immer.
Blavatsky: Flucht vor „dem Ich“ in „den Osten“?
Ein bisschen unglücklich geraten ist dagegen der Aufsatz von Andreas Hantscher über „Rudolf Steiners Anthroposophie und ihr Verhältnis zur Theosophie“. Steiner, der bis 1913 Generalsekretär der Theosophischen Gesellschaft in Deutschland war, grenzte sich nachher von ebenjener ab und gab seine esoterische Weltanschauung als völlig eigenständig errungene „übersinnliche Forschung“ aus, obwohl sie in der Außenperspektive in fast sämtlichen Grundlagen mit theosophischen Positionen lückenlos übereinstimmt. Das lassen AnthroposophInnen natürlich ungern auf sich sitzen – sie betonen vor allem Steiners eigenständigen erkenntnistheoretischen Standpunkt vor dessen Wende zur Theosophie, dem er auch durch seine theosophischen Phase treu geblieben sei. Andreas Hantscher nun versucht, Steiner vom theosophischen Umfeld abzuheben. Dabei entsteht eine historisch fundierte Beschreibung der immens produktiven theosophischen „Szene“ und Geschichte. Aber es finden sich mit leidiger Regelmäßigkeit und Redundanz Stellen, in denen die Gründer-Ikone der Theosophen, die Okkultistin Helena Blavatsky, auf unfaire Weise denunziert wird. Da wird etwa die angeblich „geschwätzige, angelesene, aber unverdaute ‚Gelehrsamkeit‘ der allermeisten theosophischen Bücher“ kritisiert (S.302) – hier wäre Hantscher zu empfehlen, mal einen Blick in die ähnlich einzuordnende Literatur von Steiner-Epigonen zu werden! Hantscher schreibt von der vermeintlichen „Unfähigkeit“ der Theosophie, „klare Unterscheidungen zu machen“, dass sie „zwischen buddhistischen, hinduistischen und (darauf bezogen z.T. neutralen) Yoga- und Tantra-Termini herumlaviert“, so dass es „völlig unmöglich“ sei, „zu definieren, was unter diesen Begriffen zu verstehen ist, da verschiedene theosophische Autoren zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Werken jeweils etwas andere Vorstellungen mit den jeweiligen Termini verbinden“ (S. 319). Willkommen in der Welt der Meinungsfreiheit! Schließlich wird Blavatsky vorgeworfen, das theosophische Gedankengebäude sei aus einem Mangel an Ichbewusstsein (!) entstanden: Sie habe versucht, „dem Ich und dessen Verpflichtung zur Übernahme von Verantwortung ein Schnippchen zu schlagen.“ (S. 300) und sei deswegen (?!) „schließlich in fernöstliche Gefilde“ abgedriftet. In Hantschers Text manifestiert sich einmal mehr eine anthroposophische Völkerpsychologie, die der kitschigen und kaum zutreffenden Vorstellung vom „ich-losen“, kulturevolutionär zurückgebliebenen Osten und dem „ich-bewussten“, avantgardistischen Westen huldigt. Einfallsloserweise wird „die“ Anthroposophie als „westliches“ System gedacht und dann „die“ Theosophie, trotzdem ihre diversen Spielarten Hantscher gegenwärtig sind, dem ichlosen „Osten“ zugeschlagen.
Das ist nicht der Fall. Blavatskys Theoreme waren so wenig östlich wie diejenigen anderer Theosophen: Die heute für genuin theosophisch gehaltene Evolutionstheorie, in der verschiedene „Rassen“ einander evolutionär beerben sollten, verdankte sie nicht dem Hinduismus, sondern dem martinistischen Esoteriker Fabre d’Olivet (vgl. Jenseits der Namen, Licht, mehr Licht!), die esoterischen Grundlagen und meditativen Schulungswege hingegen stammten aus dem „animalischen Magnetismus“ Franz Anton Mesmers, dessen Versuch, hypnotisch auf organische „Lebenskräfte“ zuzugreifen, in Europa zu einer Revitalisierung von Meditationstechniken geführt hatte (vgl. die sehr empathisch und transzendenzoffen geschriebene Habilitationsschrift von Karl Baier: Meditation und Moderne). Blavatsky und Olcott verschleierten die mesmeristischen Traditionen allerdings mit Hindu- und Yoga-Termini. Sie alle passen aber letztlich ebenso stringent (oder nicht-stringent) zusammen wie der Weltanschauungskosmos Steiners, und wenn TheosophInnen flexibler und freilassender mit ihren Termini umgingen, ist das wahrlich kein Kompliment für AnthroposophInnen – in deren Umfeld beginnt man erst seit wenigen Jahren verstärkt, in Dialog mit jungianischen oder „integralen“ Weltanschauungsgebilden zu treten. Dieser verdrehten Wertung Hantschers steht aber eine solide Datenbasis gegenüber: Er bietet nicht nur interessante Übersichten über Kongruenzen und Differenzen kabbalistischer, hinduistischer und theosophischer Systeme, sondern unterfüttert seinen Beitrag auch mit wertvollen Literaturhinweisen. Wer seine Wertungen mit Vorsicht liest, kann dem Beitrag zweifellos einige Informationen entnehmen.
Äther, die Osterinsel und BSE
Eine gute thematische Orientierung bietet Wolfgang Schad, emeritierter Professor für Evolutionsbiologie der anthroposophischen Hochschulgründung Witten-Herdecke. Er untersucht Steiners Haltung zu den Naturwissenschaften, wobei er klarstellt, dass „Steiner hier nicht zum Naturwissenschaftler umstilisiert werden“ soll (S. 168). Er habe sich in „manchen Facetten der Naturwissenschaft“ gut ausgekannt, wenn er auch „in Einzelheiten irrte“. Der Beitrag ist für mich vor allem interessant, weil er einen anthroposophie-immanenten Umgang mit diesen Irrtümern Steiners zu liefern versucht: Schad beleuchtet etwa Steiners Schilderungen einer „kosmischen“ Evolution. In Steiners Weltbild hat sich die Erde aus „übersinnlichen“ Welten heraus erst zu ihrer heutigen Gestalt verdichtet, was der Esoteriker mit zahlreichen Details anreicherte. So meinte Steiner, wie Schad ausführt, „dass die Pflanzen der Karbonzeit keine physischen Pflanzen gewesen seien, sondern, was so aussieht, seien nur hauchartige Eindrücke von Ätherwirkungen [sprich: „übersinnlich“-subtilen „Lebenskräften“ – AM] in einem undifferenzierten Kohlebrei.“ (S. 156, vgl. Steiner: GA 300). Das kann und muss Schad als Evolutionsbiologe kritisieren:
„Wer selbst einmal im Karbongestein Pflanzenfossilien gesammelt hat, kann sich leicht davon überzeugen, dass es sich einst um reale, physisch lebendige Pflanzenfossilien gehandelt hat. Im Mikroskop ist die Zellstruktur der Pflanzengewebe noch gut zu erkennen … auch schon fossile Amphibien und erste Reptilien sind aus dem Karbon gut bekannt.“ (ebd.)
Schad nun deutet Steiners Irrtümer auf dessen meditativ-kontemplativen Versuch, botanische und evolutionsgeschichtliche Zusammenhänge zu ordnen: „Nicht immer gelang es ihm, sinnliche Erfahrung und [spekulativ-meditatives – AM] Denken zur Deckung zu bringen.“ (ebd.). Schad trägt auch Äußerungen Steiners über die potentielle Fehlbarkeit „höherer Erkenntnis“ zusammen, von denen viele bisher nicht oder selten diskutiert wurden.
„Das wohl prosaischste Beispiel, wo Steiner sich irrte, findet sich in einem späten Vortrag (28.11.1922) in der Bemerkung, dass durch schwere Stürme im Südpazifik die Osterinsel untergegangen sei … Sie steht heute noch. Im September 1922 fand ein großes Seebeben im Pazifik tatsächlich statt, die Weltpresse meldete jedoch irrtümlich den Untergang der Osterinsel.“ (S. 152)
Dass „geistige Erfahrung“ weder Irrtumsfreiheit noch meta-historisches Wissen bedeutet, ist eine Botschaft, die sich im anthroposophischen Kontext leider noch nicht durchgesetzt hat. Unkritische Verehrer verteidigen jede noch so abwegige Äußerung Steiners, und es ist außerordentlich erleichternd, dass Schad hier an Einzelheiten das Gegenteil bietet. Er will allerdings auch aufzeigen, wo ein anthroposophisch-„ganzheitlicher“ Zugang die heutige Naturwissenschaft bereichern könne. Dabei bemüht er – neben vielem anderen! – folgende Anekdote:
„1923 sagte er [Steiner – AM] unschwer voraus, dass pflanzenfressende Tiere wie unsere Hausrinder, wenn sie vorwiegend mit Fleischnahrung gefüttert würden, gehirnkrank würden … Um 1980 war es dann soweit. Aus der Tierindustrie anfallende Fleischreste wurden zu Tiermehl verarbeitet … Im Gehirn der Tiere reicherten sich nicht mehr abbaubares Eiweiß und Harnsäure an. Der Rinderwahnsinn (Bovine Spongiforme Enzephalopathie, BSE) brach aus.“ (S. 159).
Eine hellsichtige Prognose Steiners? Wer im Original nachliest, kann unschwer feststellen, dass Steiner zwar wortwörtlich von „verrückt“ werdenden Ochsen sprach, aber nicht davon ausging, diesen würde jemals industriell Fleisch verfüttert werden. Es handelte sich bloß um eine Spekulation nach dem Motto, was wohl geschehen würde, wenn es „dem Ochsen auf einmal einfiele“, Fleisch zu essen:
„Nun denken Sie sich, diesem Ochsen fiele es auf einmal ein, zu sagen: Das ist mir zu langweilig, daß ich da herumgehen und mir erst diese Pflanzen abbeißen soll. Das kann für mich ein anderes Vieh machen. Ich fresse gleich dieses Vieh! Nun schön, der Ochse würde anfangen Fleisch zu fressen. Aber er kann doch das Fleisch selber erzeugen. Er hat die Kräfte dazu in sich. Was geschieht also, wenn er statt Pflanzen Fleisch direkt frißt? … Diese Kraft, die bleibt bei ihm, die ist ja da. Die tut etwas anderes in ihm. Und das, was sie tut, das erzeugt in ihm allerlei Unrat.“ (Steiner: GA 348, S. 258)
Die Ursache für den Wahnsinn sah Steiner also in einer diffusen „Kraft“, die bei fleischessenden Ochsen ungenutzt bliebe und sich zu dessen Schaden irgendwie verselbstständige und „Unrat“, genauer „namentlich … Harnsäure und … Harnsäuresalze“ produziere. Schad macht es sich zu einfach, wenn er an diesem oder anderen Beispielen „Treffer“ für Steiners hellsichtige „Schau“ diagnostiziert. Er macht sich allerdings, das muss auch gesagt werdern, auch keine Illusionen über ausbleibende Effekte mancher Steinerscher Diagnosen:
„Anders verliefen die Versuche, nach Angaben Steiners die Maul- und Klauenseuche beim Rind mit Injektionen von Coffea (Kaffee) zu beherrschen. Sie führten bis heute zu keinem sichtbaren Erfolg. – Ähnlich erfolglos blieben die Versuche der Unkraut- und Mäusebekämpfung durch den von Steiner empfohlenen „Samen- oder Mäusepfeffer“. Mit der Begründung der biologisch-dynamischen Landwirtschaft 1924 durch den ‚Landwirtschaftlichen Kurs‘ ist Steiner allerdings Vorreiter der biologischen Landwirtschaft gewesen …“ (Schad, S. 160)
… was zweifelosohne stimmt. Allerdings weist Manfred Klett in seinem Beitrag für Uhlenhoffs Sammelband: „Landwirtschaft und Anthroposophie. Der biologisch-dynamische Landbau“, darauf hin, dass es vor allem gesellschaftliche „Spannungen“ und die Industrialisierung der Agrarwirtschaft waren, die (neben traditionellen Vorstellungen vom „Organismus“ Landbau) zu Steiners Zeiten zu ökologischen Bestrebungen führten, nicht (nur) ein selbstloser Rekurs auf eine bedrohte Natur (S. 616).
Hadesfahrt
Schad, Hantscher und andere Autoren heben vor allem auf die Inhalte von Steiners „Geistesschau“ hervor. Dem steht ein Aufsatz von David Marc Hoffmann gegenüber: „Rudolf Steiners Hadesfahrt und Damaskuserlebnis“, der die weltanschaulichen Kehren Steiners spiegelt – von Goethe über Nietzsche zum Anarchismus und schließlich zur Theosophie/Anthroposophie. Hoffmann schaltet immer wieder methodische Zwischenüberlegungen ein – etwa zur „Deutungshoheit“ des Interpreten, oder zum Stellen- und Informationswert von Steiners eigener Autobiographie „Mein Lebensgang“ für die Deutung seiner Biographie:
„‚Mein Lebensgang‘ wird hier nicht als Quelle für die darin beschriebene Zeit angeführt, sondern allenfalls für die Position und Sichtweise, die Steiner retrospektiv, d.h. zur Abfassung von ‚Mein Lebensgang‘ auf sein früheres Leben hatte … Kein Autor kann gegenüber einem Interpreten die Deutungshoheit über sein eigenes Werk beanspruchen. Der Autor ist Anwalt seiner eigenen Sache … Nur kann er nicht beanspruchen, zu zeigen, ‚wie es eigentlich gewesen‘ ist. Oder besser: Wir als Forschende sind ihm in seiner Selbstdeutung nicht zu folgen verpflichtet, sondern wollen auch diese Selbstdeutung als einen Teil unseres Verständnisses dieses Autors lesen.“ (Hoffmann, S. 91)
Das sind, Hoffmann sagt es selbst, „Grundregeln“ der Hermeneutik, aber diese wurden in der biographischen Steinerforschung selten eingehalten: AnthroposophInnen ging es um Apologie der Steinerschen Selbstdeutung, KritikerInnen darum, ebendiese zu brechen (dem lag allerdings weniger „bösartige“ Motivation zugrunde als vielmehr der verzweifelte Versuch, Aussagen Steiners seinen Epigonenen gegenüber zur Diskussion stellen zu können). Mit Genugtuung lesen sich entsprechend Hoffmanns Darlegungen über Steiners intellektuelle Biographie, die er an Wandel und Kontinuität erkenntnistheoretischer Positionen nachzeichnet. Steiners zündende Erfahrung für seine Wende zur Esoterik, eine Art angebliches „Damaskuserlebnis“, bei dem ihm nach eigener Einschätzung „die christlichen Mysterien auf“gingen, deutet Hoffmann, ähnlich wie vor ihm Janos Darvas, als die (Wieder)entdeckung einer mystischen Erlebnisdimension, die als eine solche nur erfahren werden konnte, weil Steiner als Nietzsche-Anhänger und dezidierter Feind des Christentums derartige Zusammenhänge vorher ausgeblendet habe (S. 112).
„Deshalb sollten anthroposophische und nichtanthroposophische Forscher sich auf die Deutung von Sachverhalten und ihren allfälligen Widersprüchen konzentrieren, anstatt diese Widersprüche entweder harmonisierend zu glätten oder verurteilend anzuklagen. Beides wäre ein Akt der Weltanschauung oder Ideologie, jedenfalls nicht der Hermeneutik.“ (S. 119f.)
Die genauen Thesen hier wiederzugeben, würde leider selbst den Rahmen dieses verschwenderisch ausführlichen Blogs sprengen, ich kann nur eine Lektüre empfehlen – und die wärmstens: Hoffmanns Beitrag setzt einen neuen Maßstab in dieser Diskussion! Kritisch anzumerken wäre, dass er Steiners philosophischen Gang von Goethe zu Nietzsche nicht selbst in ihren historischen Kontext setzt: Die beiden wirkten schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts als zwei Pole einer deutschen „Nationalreligion“ (Vgl. Myriam Richter; Bernd Hamacher: Germanen, Christen, Juden, Germanisten. Goethe um 1900 – National- und/oder Weltreligion, in: Jahrbuch der Rückert-Gesellschaft, Bd. XVII 2006/2007, S. 234ff.). Und innerhalb derer bewegte sich auch Steiner – mit individuellen Anknüpfungspunkten – in seiner „vortheosophischen“ Phase.
Einen Schwerpunktbeitrag zu Steiners Christologie liefert auch Günther Röschert (unter dem Titel: „Die Entstehung der anthroposophischen Christologie“). Die ist in ihren Grundlagen fundiert – da er zu „Kontinuität und Wandel“ in Steiners intellektueller Entwicklung bereits früher publiziert hat, müsste es sich hier auch um ein Heimspiel handeln. Aber Röschert versteigt sich leider schließlich in Glaubensfragen, die sich jeder Diskussion entziehen und impertinent-inklusivistisch daher kommen:
„Das reale Wirken des Christus-Impulses in der Menschheit lässt sich aber phänomenologisch abschätzen an der ökumenischen Bewegung und an den verschiedenen interreligiösen Ansätzen. Bis jetzt überwiegt bei christlichen Autoren der interreligiösen Richtung der Gedanke einer Reduktion der Chistozentrik zugunsten einer allgemein-menschlichen Theozentrik. Vom Gesichtspunkt der anthroposophischen Christologie kann es nicht um Reduktion, d.h. um den kleinsten gemeinsamen Nenner in der Welt der Religionen gehen, sondern um die Anerkennung des Christus-Impulses jenseits jeder kirchlichen Dogmatik, ja selbst unabhängig von der theologischen Terminologie.“ (Röschert, S. 282)
Das ist vergleichbar mit den Vordenkern des Neohinduismus von Ramakrishna über Tagore bis Aurobindo: Auch die legten großen Wert auf Interreligiosität durch Freilegung suprareligiösen spirituellen Impulses. Dass es sich bei diesem um einen alle Religionen durchdringenden hinduistischen „Impuls“ handeln müsse, setzten sie wie selbstverständlich voraus. Christian Grauer hat in seinem kürzlich publizierten autobiographischen Meinungsbeitrag zur anthroposophischen Szene die hermetische Geschlossenheit eines solchen christozentrisch-anthroposophischen Glaubensgerüstes beschrieben:
„In meiner anthroposophischen Überzeugung formte sich die Welt zu einer kompakten, geschlossenen Veranstaltung … Meine Aufgabe als Mensch war es also, jene geistige Welt wiederzuentdecken, zu welcher wieder aufzusteigen uns Christus die Möglichkeit geschaffen hatte. In dieser Wiederverbindung mit der geistigen Welt begriff ich den Inhalt des Wortes ‚Religion‘ in einem tatsächlich konfessionsfreien, überreligiösen Sinne – mit der Einschränkung, dass Christus und das ‚Mysterium von Golgatha‘ nicht zur Diskussion standen. Ob einer daran glaubte oder nicht, war für die Mission des Christusereignisses nicht von Bedeutung. Es vollzog sich unabhängig von Religion. Ich machte so mit der Anthroposophie letztlich alle Menschen zu Christen, nur dass die einen davon wussten, die anderen aber nicht. Der diskriminierende Charakter eines solchen Begriffs des Christentums fiel mir nicht auf.“ (Christian Grauer: Es gibt keinen Gott, und das bin ich! Anthroposophie im Nadelöhr, Basel 2011, 29)
Es zandert wieder weiter
Es gibt neben Meilensteinen wie den Beiträgen von Hoffmann oder hilfreichen Orientierungen wie bei Robin Schmidt und Christoph Strawe auch seltsame Defizite an Uhlenhoffs Sammelband: Man fragt sich, warum kein Beitrag zu Steiners Eurythmie oder zur anthroposophienahen Kirche der „Christengemeinschaft“ enthalten ist. Sollen deutlich „religiöse“ Züge der Anthroposophie in diesem angestrebten „Standardwerk“ einfach ausgeblendet werden? Das zentrale und ausgesprochen unerwartete Defizit ist dagegen keine Auslassung, sondern eine Überpräsenz. Die Überpräsenz des Religionswissenschaftlers Helmut Zander, inzwischen Professor in Freiburg (Schweiz). Der hat 2007 tatsächlich ein Standardwerk zur Anthroposophie vorgelegt, indem er die Anthroposophie zum ersten Mal vollständig historisch zu kontextualisieren beanspruchte. Sein Buch mit dem Titel „Anthroposophie in Deutschland“ liest Steiner im historischen Kontext und zeigt auf 2000 Seiten, warum es Steiner seinerzeit plausibel schien, seine Weltanschauung so und nicht anders zu konzipieren.
Die AutorInnen des Sammelbandes beschäftigen sich nun auf langen Passagen vieler Aufsätze damit, Zanders Untersuchungen zu kritisieren oder scheinbar rückgängig machen zu wollen. Sie beanspruchen zwar meistens selbst, Steiner historisch zu kontextualisieren, aber gewissermaßen „nur ein bisschen“: Die anthroposophische Steinerdeutung soll dabei nicht in Frage gestellt werden. Zanders Buch zieht sich denn auch durch die Fußnoten einiger Beiträge wie deren heimliche Konstruktionsanleitung. Dabei werden berechtigte Punkte ebenso angesprochen wie solche, an denen die historisch-kritische Methode scheitern muss. Die zentrale Kritik im Beitrag von Glöckler/Girke/Matthes etwa, Zander erfasse „die Welt des Lebendigen, Seelischen, Geistigen nicht“, wenn er sich auf kalte historische Dokumente konzentriere, ist zweifellos richtig. Nur ist das auch nicht im Mindesten die Aufgabe eines Historikers, der nunmal nicht mit allerlei „geistigen“ Kräften, Engeln und Dämonen, sondern reichlich weltlichen Dokumenten und Quellenrecherchen zu tun hat. Ralf Sonnenberg hat auch aus anthroposophischer Sicht begründet, warum ein historisch-kritischer Zugang zu Steiner unabdingbar ist:
„Wer allerdings die Möglichkeiten des an das Verstandesdenken geknüpften Forschens, Fragens und Deutens geringschätzt, diese nicht soweit wie möglich auszuschöpfen trachtet und stattdessen darauf hinarbeitet, möglichst schnell zu »höheren« Einsichten vorzustoßen, der gleicht einem Heilpraktiker, der die Anwendung schuldmedizinischer Wissensinhalte und Methoden mit der Begründung verschmäht, dass diese auf einer reduktionistischen Wahrnehmung des Menschen aufbauten. Welcher Patient aber würde sich von einem solchen Dilettanten den Blinddarm operieren lassen?“ (Vergangenheit, die nicht vergehen will) Der Umgang mit der Anthroposophie verlöre so „an Bodenhaftung. Er gliche dann einem Gebäude, das man von oben nach unten bauen wollte.“ (Sonnenberg: Metahistorisches oder zeitunabhängiges Wissen?, in Ders: Anthroposophie und Judentum, 26)
So hinterlassen die meisten versuchten Gegenmodelle zu Zanders historischer Kontextualisierung denn auch einen ziemlich hilflosen Eindruck. Manfred Klett schreibt in seinem Beitrag über die anthroposophische („biologisch-dynamische“) Landwirtschaft für Uhlenhoffs Sammelband zum Beispiel:
„Da Zander keinen Zugang zu den Inhalten des Landwirtschaftlichen Kurses Steiners hat und diesen auch nicht sucht, ist ihm jedes Mittel recht, das Hervortreten der anthroposophisch orientierten Landwirtschaft aus Bestrebungen herzuleiten, die etwas früher oder zeitgleich aufgetreten sind: die Landkommunen-, Bodenreform-, Ernährungsreform, Siedlungs- und Grünlandbewegung etc. Diese kausale Verortung steht auf dünnstem Eis und legt aufs Neue das Dilemma von Zanders kontextualistisch-historiografischer Beurteilung des biologisch-dynamischen Landbaus offen.“ (Manfred Klett, S. 626)
Warum das so sei und worin genau dieses Dilemma liege, begründet Klett nicht. Im Gegenteil, im nächsten Satz schreibt er ganz genau das, was er kurz zuvor noch als „dünnstes“ Eis bei Zander diffamierte:
„Es besteht kein Zweifel darüber, dass es im Kleinen – Hofesperimente, Versuchsringe – wie im Großen – die Bewegung des natürlichen Landbaus der 20er- und 30er-Jahre, Konzepte der landwirtschaftlichen Betriebslehre – vielerlei Ansatzpunkte zu einem biologischen Denken und Handeln gab. In dieser Bewusstseinslage standen auch die Pioniere der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise.“ (ebd.)
Na also. Klett legt dann aber großen Wert darauf, dass die Vordenker biologischen Landbaus eigentlich gar keine waren, sondern eigentlich bloß eingebunden „in die Ausläufer des über ein Jahrtausend gewachsenen Organismusprinzips in der Landwirtschaft“ (ebd., S. 627). Im Grunde spricht Klett also Steiner die Originalität weit mehr ab als Zander, der die biologisch-dynamische Landwirtschaft immerhin für eine Reform-, keine 1000 Jahre alte Tradition hält. Die fast sklavische Bindung mancher Stellen des Sammelbandes an eine selbstgewählte Anti-Zander-Rhetorik läuft aber nicht immer auf Eigentore wie dasjenige Kletts hinaus. Etwa im von mir schon besprochenen Beitrag von Uwe Werner: „Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse“, der anfang diesen Jahres im Voraus veröffentlicht wurde, aber auch in Uhlenhoffs Sammelband erscheint. Er bietet eines der heimlichen Herzstücke dieses Buches und eine fundierte Diskussion auch vieler Quellenrecherchen Zanders, wie ich noch einmal festhalten muss – ganz unabhängig davon, dass ich zum brisanten Thema der Steinerschen Rassenlehre mit Werners Folgerungen keineswegs übereinstimme (vgl. Wichtige Hinweise – falsche Prämissen).
Durchgängig geht die Kritik an Zanders Opus davon aus, der Historiker habe „das alles“, namentlich eine ganze Menge grober Fehler, mit Absicht gemacht, um die Anthroposophie anzuschwärzen, Steiner als „potentiellen Lügner“ o.ä. darzustellen – und dann kommen Ausführungen, die das belegen sollen, aber meistens überhaupt nicht Zanders eigentliche Darlegungen streifen. Hier seien nur drei Beispiele genannt – es ließen sich, allein in Uhlenhoffs Sammelband – dutzende weitere hinzugesellen.
I.
Das erste aus dem Aufsatz von Uwe Werner: Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse. Werner beschäftigt sich in seinem absolut lesenswerten Beitrag u.a. mit der Frage, wie viele AnthroposophInnen 1933-1945 in der NSDAP Mitglied waren. Er klärt mit Bezug auf den anthroposophie-kritischen Historiker Peter Staudenmaier auf, dass das nach bisherigem Stand genau 34 Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft betreffe (allerdings keine Anthro-Prominenz). In einer Fußnote moniert Werner, Helmut Zander habe in diesem Punkt dagegen anderslautende, falsche Zahlenmeldungen verbeitet:
„Zander beurteilte 2007 die Anzahl [an NSDAP-Mitgliedschaften in der Anthroposophischen Gesellschaft – AM] als ‚beträchtlich‘, nannte aber ihre Höhe nicht. Vgl. Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland, S. 250. In 2009 spricht Zander sich auf die gleiche Quelle beziehend davon, dass die Zahl ‚massiv nach oben zu korrigieren‘ sei. Auch da ohne Nennung der bisher recherchierten Anzahl. Vgl. Zander: Rudolf Steiners Rassenlehre, S. 154.“ (Uwe Werner: Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse, ebd., S. 759).
Jede dieser Behauptungen ist falsch. Zander bezieht sich 2007 mit dem Wort „beträchtlich“ nicht auf die NSDAP-Mitgliedschaften, er schreibt an der von Werner zitierten Stelle sogar: „offenbar gab es fast keine Parteimitglieder unter den Anthroposophen“ (Zander: Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, S. 250). Er bezieht sich als Quelle für diese Information auf Uwe Werners eigenes Buch von 1999: Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus. Zander fügt das von Werner oben zitierte Wort „beträchtlich“ in einer Fußnote an (es geht um „Verwandtschaften und Differenzen“ mit den Nazis):
„Ich neige dazu, aufgrund der kursorischen Durchsicht anthroposophischer Zeitschriften, die Werner weniger stark ausgewertet hat, das autoritäre und von daher strukturell NS-nahe Potential für beträchtlich zu halten.“ (Zander, ebd.)
„Beträchtlich“ sei also das inneranthroposophische autoritäre Potential gewesen, nicht besagte Mitgliedschaften. Auch 2009, im zweiten von Werner erwähnten Beitrag, schrieb Zander zunächst keinesfalls, wie Werner behauptet, über eine „massiv nach oben“ zu korrigierende NSDAP-Mitgliederzahl in Anthroposophistan. Er bezog sich vielmehr erneut auf Uwe Werners Buch:
„Ich denke an das im Vergleich mit anderen theosophischen Gesellschaften bemerkenswerte Faktum, daß offenbar wenige Anthroposophen Mitglieder der NSDAP waren.“ (Zander: Rudolf Steiners Rassenlehre, S. 149).
In einem Anhang zu ebendiesem (2009 publizierten und gerade zitierten) Beitrag führt Zander allerdings aus:
„Das Manuskript wurde im Sommer 2006 abgeschlossen. … Weitere historische Forschungen betreibt Peter Staudenmaier. lhm zufolge ist eine Information in diesem Aufsatz, die Zahl von Anthroposophen in der NSDAP und in nationalsozialistischen Verbänden (s. den Text zu Anm. 18), massiv nach oben zu korrigieren.“ (ebd., S. 154).
Zander bezieht sich also nicht auf „die gleiche Quelle“, sondern auf eine neue, nämlich Peter Staudenmaier. Von dem bezieht aber auch Werner die Zahl der AnthroposophInnen in der NSDAP! Die oben zitierte Aussage Uwe Werners, Zander behaupte mit Berufung auf ein und „dieselbe Quelle“ fälschlich immer höhere Zahlen von NSDAP-Anthroposophen, ist von vorne bis hinten falsch – es braucht aber natürlich viel länger, diese Unterstellung zu widerlegen, als es braucht, sie auszusprechen.
II.
Ein anderes Beispiel findet sich im Beitrag des Kunsthistorikers und Steiner-Herausgebers Roland Halfen: „Rudolf Steiner und die bildenden Künste“ (auch dieser Beitrag: an sich absolut lesenswert, besonders, weil er die Bedeutung der MitarbeiterInnen Steiners hervorhebt!). Halfen schreibt unter anderem über Steiners Architektur und echauffiert sich berechtigterweise über die Auffassung, charakteristisch für diese sei nichts anderes als eine „abbe-Ecken“-Ästhetik. Halfen:
„Das triviale Motiv der Vermeidung von rechten Winkeln, ganz gleich ob von Analytikern oder Nachahmern bemüht, ist vor diesem Hintergrund eher ein Ausdruck für die Hilflosigkeit im Versuch, Steiners erhaltene Werke auf eine [sic!] kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen.“ (Halfen, S. 413)
Das ist eine richtige Anmerkung! „Im Wesentlichen“, führt Halfen weiter aus, sei die jeweils konkrete Formgebung eines von Steiner entworfenen Gebäudes „oder Buchumschlags, Eurythmieplakates usw.“ aus dem „Zusammenwirken“ seiner
„spezifischen Funktion … und den Umgebungsbedingungen des Werkes [zu erklären], nicht aber aus der Dominanz jeweils anderer persönlicher Einflüsse aus dem Umkreis Rudolf Steiners, wie es Zander gemäß seiner Grundthese den Lesern nahelegen will. So kann er seine Behauptung, der Stil des zweiten Goetheanum sei aus einer Nachahmung von Bauten der Dornacher Anthroposophenkolonie hervorgegangen (Zander: Anthroposophie in Deutschland, Bd. 2, S. 1063), auch mit keinem konkreten Beispiel belegen.“ (ebd.)
Tatsächlich aber differenziert Zander die Deutungen von Steiners Architektur zwischen Kontinuität und Brüchen erheblich. Zu der Metamorphose der Steinerschen Entwürfe von den organisch-fließenden (Erstes Goetheanum) zu stereometrisch-kristallinen Gebäuden (Zweites Goetheanum) schrieb er u.a.., Steiner baute das zweite Goetheanum
„unter Verzicht auf einen anthroposophischen ‚Stil‘, der im Johannesbau [„erstes“ Goetheanum – AM] ausgebildet worden war. Seit 1924 entstand ein neuer Bau mit neuen Bauformen. Aber man muß diesen Neubeginn nicht nur als Traditionsbruch lesen … Denn damit verdeckt sie die Leistung Steiners, der einen zweiten, eigenständigen Bauentwurf für das Goetheanum geliefert hatte.“ (Zander 2007, S. 1164) „Gegenüber den Betonelementen in den älteren Bauten auf dem Dornacher Hügel bedeutete der Bau des Goetheanum eine radikalisierte Auseinandersetzung mit dem neuen Material.“ (S. 1166) „Andererseits ist klar, daß mit dem Goetheanum im anthroposophischen Raum etwas Neues entstand, und diese Innovation läßt sich nicht mit den versprengten stereometrischen Motiven aus den Vorkriegsjahren erklären.“ (S. 1169 – Hervorhebungen AM).
Keineswegs also behauptete Zander 2007, Steiners zweites Goetheanum sei aus einer „Nachahmung“ seiner früheren Bauten entstanden. Im Gegenteil. Und Zander deutete Steiners offensichtliche Anlehnung an Architekturmerkmale des Expressionismus beim „Zweiten Goetheanum“ (vgl. Kreative Fundgrube, Abschnitt „Verleugnete Kontexte“), auch nicht als Plagiat, sondern Teilnahme an zeitgenössischen Diskursen:
„Die anthroposophischen Architekten partizipierten an einem kunsttheoretischen Diskurs, den sie kaum steuern konnten, aber mit wachen Augen wahrnahmen. Sie standen mit ihren Bauten zwar nicht in der ersten Reihe der Avantgarde, waren aber ganz nahe am Puls der Zeit.“ (ebd., S. 1177)
III.
Das dritte Beispiel stammt von Uhlenhoff selbst, die Zander einmal mehr, aber in blumig-journalistischem Stil, bösartig-animalische Motive unterstellt. Dessen „scheinbares Auftragsprofil“ laute, so Uhlenhoff:
„Wühlen Sie nur genug in den Details seiner Vergangenheit und den Fußnoten seiner Werke herum, Sie werden schon einen dunklen Fleck finden, und falls nicht, so werden Sie ihm schon genügend Dreck zur öffentlichen Denunziation andichten … irgendein Vorwurf bleibt immer hängen.“ (Uhlenhoff, Einleitung, S. 23)
Das konkretisiert sie an einem Beispiel:
„Wie ein privater Voyeur oder beruflicher Paparazzo versuchte Zander in Steiners Biographie Liebesaffären mit seinen Mitarbeiterinnen Ita Wegman, Edith Maryon aufzudecken, als gelte es einem prominenten oder Politiker den nächsten Sexskandal anzuhängen. Er kam dann aber zu dem Schluss, dass diese wohl doch platonischer Natur gewesen waren.“ (ebd.)
Zunächst: Zander hat diese „Liebesbeziehung“ Steiners zur anthroposophischen Ärztin Ita Wegman nicht erfunden noch aus der Luft oder dem „Dreck“ gezogen, sondern sie von dem allgemein anerkannten Ita-Wegman-Biographen Immanuel Zeylmans van Emmichoven übernommen. Der dokumentiert in seiner Wegman-Biographie Liebesbriefe und -gedichte Steiners an und für Wegman, teilweise sogar Faksimiles mit der entsprechenden Originalhandschrift – und wird in Uhlenhoffs Sammelband für diese Arbeit sogar lobend erwähnt (im Beitrag von Michaela Glöckler, Matthias Girke, Harald Matthes: Anthroposophische Medizin und ihr integratives Paradigma, S. 581). Warum also stürzt Uhlenhoff sich nicht auf ihn, statt auf Zander? Beziehungsweise: warum sich deshalb überhaupt auf jemanden stürzen?
Denn warum eine Liebesbeziehung rufschädigend, gar biographischer „Dreck“ sein soll, der „zur öffentlichen Denunziation“ (Uhlenhoff) dienen kann, ist mir schleierhaft und allenfalls durch eine prüde anthroposophische Sexualmoral erklärbar. Wie ich an anderer Stelle geschrieben habe (Vgl. „Es einet die Herzen das Karma“ – Wichtige Frauen in Rudolf Steiners Leben, in: info3 07-08/2011, S. 42-50), treffen sich AnthroposophInnen in der Konstruktion Steiners als keuschem, asexuellem Heiligen, mit denjenigen unter ihren GegnerInnen, die Steiner ebenfalls für asexuell halten, darin aber die pathologische Verkümmerung eines Humanums sehen. Wie anders aber als asexuell-heilig oder frigide-pathologisch lesen sich Rudolf Steiners Liebesbriefe an Ita Wegman:
„Du schreibst: ‚Wirst du mich jetzt für immer lieben bleiben?’. Meine liebe Mysa [so Steiners „mystischer“ Name für Wegman – AM]: Diese Liebe ruht auf einem unerschütterlichen Fels … Ich konnte zu keinem Menschen so stehen wie zu Dir. Du lernst mich noch ganz anders kennen als andere Menschen mich gekannt haben … das hängt doch damit zusammen, dass ich nur in vollem Eins-Sein mit dir leben möchte. Du bist mir doch so nahe, so nahe in allem. Da tut oft schon der Schein der Ferne weh. Doch Du machst ja auch wieder alles gut. Viele Liebe liegt in deinem Pfingstbriefe … Die geistigen Mächte, deren Ausdruck die Anthroposophie ist, sehen wohlwollend, liebend, wie ich mich stütze nunmehr auf die Liebe, die ich hege zu Deiner von mir so hoch geschätzten Seele. Und die ist mir die stärkste Stütze. Ich möchte gerne weiterschreiben. Doch bald wird das Auto zum Abendvortrag vorfahren, das von hier nach Breslau fast eine Stunde braucht. Allerherzlichste Gedanken ganz Dein Rudolf Steiner“ (Brief vom 11. Juni 1924). „Ich habe mittlerweile von Dir wieder zwei Briefe erhalten, für die ich mich herzlich bedanke … Ja, sehr schön wäre es, wenn ich Dich hier haben könnte, aber – zum wievielten Male muss ich auch mich ermahnen – wir müssen uns in das Notwendige fügen. Mit der Gesundheit werde ich durchhalten. Aber sage nichts von dem Zusammenhang mit dir, meine allerliebste Mysa. So ist das ja doch nicht. Da waltet Karma, und eines, das ich wahrlich nicht anders haben möchte. Allerherzlichste Gedanken, Dein Rudolf Steiner“ (Brief vom 12. Juni, beides zitiert nach Emanuel Zeylmans van Emmichoven: Wer war Ita Wegman? (1990), Dornach 2004, Bd I, S. 207 bzw. 209)
Das ist weit bewegter und bewegender, als die anthroposophische Dogmatik erlaubt. Ich sehe keinen Grund, solche Äußerungen Steiners als „Dreck“ zu verschleiern, sondern halte nur durch ihre Gegenwärtigung einen authentischen Blick auf Steiner für möglich.
„Anlass, Ansatz, Ausblicke“?
Die Liste der aus den Fingern gesaugten Kritiken der Zanderschen Anthroposophiedeutung ließe sich, wie gesagt, beliebig fortsetzen, ob an Beispielen aus diesem oder anderen Publikationen. Man denke etwa an Lorenzo Ravaglis schlecht gearbeitetes und bloß noch anstrengend polemisches Elaborat „Zanders Erzählungen“ (vgl. Leitmotiv Zertrümmerung), auf das Uhlenhoff und Wolfgang Schad (in seinem Beitrag: Rudolf Steiners Verhältnis zur Naturwissenschaft, S. 171) auch noch positiv Bezug nehmen – wobei Schad gleichzeitig Ravaglis Vereinfachung der Goetheschen Typenlehre kritisiert (S. 170). Auch Uhlenhoff merkt immerhin an, es sei „schade“, dass Ravagli Zanders „mitunter auch berechtigte Hinweise zur Selbstkritik an der anthroposophische [sic!] Gesellschaftsgeschichte nicht auch aufgreift“ (S. 34). Sie greift diese „Hinweise zur Kritik“ allerdings selbst kaum auf. „Das kritische Verhalten erschöpft sich im andächtigen Deuten auf den Appell, nichts unkritisch hinzunehmen.“ (Taja Gut: Wie hast du’s mit der Anthroposophie?, Dornach 2010, S. 22).
Die Konsequenzen sind allgemein tragisch und im Einzelfall hinderlich: Uhlenhoff verspielt fast das gesamte Vorwort des Sammelbandes auf diese Weise. Dort wäre doch vielmehr eine inhaltliche Einführung und Gesamtsituierung angebracht, die sie in eindrücklicher Sprache und mit zielsicheren Beobachtungen auch liefert – aber nur auf sieben der insgesamt 43 Seiten ihres Textes (unter der Überschrift: „Anlass“, S. 9-12″ und „Ausblick“, S. 49-51). Der Rest ihrer Einleitung in den Sammelband stellt eine einzige, überraschend gehässige Zander-Geißelung dar, in der zunächst „auf die mutige Zandersche Pionierleistung“ hingewiesen wird (S. 31) um diese anschließend um so heftiger zu diffamieren. Sie nennt allerdings nur zwei Zitatfehler aus Zanders 2ooo-seitigem Buch (S. 25, Fußnote), die diese Vorbehalte nicht ansatzweise rechtfertigen können. Uhlenhoffs Beitrag fällt damit (leider!) weit hinter eine auch inneranthroposophisch längst erreichte Diskussionshöhe zurück (vgl. Ralf Sonnenberg oder Anna-Katharina Dehmelt). Er wirft, gerade, weil er als „Einleitung zu Anlass, Ansatz, Aussagen und Ausblick des Sammelbandes“ daher kommt, ein fahles Licht auf ebendiesen Anlass, Ansatz, auf die Aussagen und Ausblicke. Das ist bedauerlich, da gerade Uhlenhoff selbst früher die Hoffnung auf eine anthroposophische „Wissenschaftsrevolution im Sinne Thomas S. Kuhns“ in puncto „Rezeptionsoffenheit und Innovationsfreude“, „Gemeinschaftsbildung und Wissenschaftspolitik“ (so Uhlenhoff: Die Annales-Historiker. Exoterische Wegbereiter der Esoterikforschung, in: Karl-Martin Dietz: Esoterik verstehen. Anthroposophische und akademische Esoterikforschung, Stuttgart 2008, 162) artikulierte. Es bleibt ihr und ihrem Anliegen zu wünschen, dass sie sich dem in zukünftigen Beiträgen wieder widmet, es wäre nur von Vorteil.
Dreigliederung oder: Historizität und Freiheit
Wieso stilisiert man eine Figur auf diese Art inkorrekterweise zum Gegner und drischt dann auf fiktive Argumente ein? Das ist hier jedenfalls in einem Maße der Fall, dass es kaum Zufall sein kann. Zumindest von Uwe Werner, den ich als Diskussionspartner kenne und außerordentlich schätze, bin ich mir sicher, dass es keine „denunziatorische Absicht“ ist, und ich habe auch keinen Grund, dies für andere AutorInnen dieses Sammelbandes anzunehmen. Dennoch liegt die Frage auf der Hand, welches (sozialpsychologische?) Muster zu diesem frappant uniformen Verhalten führt – und dabei gibt es durchaus zentrale Irrtümer und Leerstellen in Zanders Untersuchung, die von den anthroposophischen KritikerInnen Zanders aufgegriffen werden könnten, aber jeweils nur in homöopathischen Dosen geliefert werden (eine Ausnahme sind die Kritikpunkte im Beitrag von Christoph Strawe: Sozialimpulse. Zu Entstehungsbedingungen und Wirkungsgeschichte des Arbeitsansatzes der Dreigliederung des sozialen Organismus, S. 690-696).
Ein Beispiel sei hier genannt, um daran auch zu demonstrieren, dass und wie man nur durch die konsequente Historisierung von Steiners Entwürfen auch seine Leistungen gegenüber diesem historischen Umfeld würdigen kann: Steiners politische Utopie der „Dreigliederung des Sozialen Organismus“, die der Esoteriker nach dem Ersten Weltkrieg als Entwurf für eine politische, ökonomische und gesellschaftliche Neuordnung ins Spiel bringen wollte. Im vorliegenden Band versucht Christoph Strawe, sie in einer Linie mit Montesquieus „Forderung nach Entflechtung der gesellschaftlichen Strukturen im Ringen um die Eindämmung zentralistisch-hierarchischer Macht“ anzusiedeln (ebd., 658). Roland Benedikter, Stiftungsprofessor für Politik- und Kultursoziologie an der University of California (Santa Barbara), versteht sie als eine Theorie der funktionalen Gliederung der Gesellschaft – etwa analog zu Weber oder Durkheim, die in der Ausdifferenzierung und eigenlogischen Funktionsweise verschiedener sozialer Bereiche das Charakteristikum der „Moderne“ sahen (vgl. Roland Benedikter, Interview, in: Sozialimpulse 1/11, S. 24). Helmut Zander wiederum vermutete, Steiner sei biographisch angeregt worden: Seine Idee des „Freies Geisteslebens“, das die parallele Existenz verschiedener „Nationalitäten“, also Kulturen, in einem staatlichen „Organismus“ einschließen sollte, stamme aus der Vielvölkerpolitik des Habsburger Reichs, in dessen Hauptstadt Wien Steiner seine politische Sozialisation durchlief.
Ich halte alle drei Tendenzen zwar nicht für falsch, würde aber vorschlagen, den Blick von dort weg und einmal mehr auf die von AnthroposophInnen so ungern gegenwärtigte Theosophie lenken, genauer: Auf den französischen Okkultisten Edouard Schuré, der zugleich inhaltliche Inspiration und meditativer „Schüler“ Steiners war. Schuré schrieb in seinem Buch „Die großen Eingeweihten“ in den 1880ern zwar nicht über zukünftige politische Ordnungen. Aber er postulierte, die großen Mysterienpriester und „Eingeweihten“ untergegangener Kulturen hätten ein dreigliedriges System regiert:
„Eine dreifache und schiedsrichterliche Regierung, die sich aus drei Kräften zusammensetzt, der ökonomischen, richterlichen und religiösen oder wissenschaftlichen, trat zu allen Zeiten als Folge der Lehre von Eingeweihten auf und machte einen wesentlichen Teil der Religion des alten Zyklus vor Griechenland aus.“ (Edouard Schuré: Die großen Eingeweihten, Grafing 2010, übersetzt v. Dr. Edith Zorn, S. 457)
„Dieser eigenständige Gedanke des M. Saint-Yves ist durchaus beachtenswert. Er nennt es Synarchie oder Regierung aufgrund von Prinzipien. Hierin sieht er das soziale, organische Gesetz, die einzige Hoffnung für das Heil der Zukunft. Es ist hier nicht der Ort, um nachzuprüfen, inwieweit der Autor seine These historisch nachvollzogen hat. M. Saint-Yves liebte es nicht, die Quellen, aus denen er seine Informationen schöpft, anzugeben.“ (ebd., 457)
Schurés Schilderung der synarchistischen Dreiteilung der Regierung in je einen „ökonomischen, richterlichen und religiösen oder wissenschaftlichen“ Part, passt auch exakt auf Steiners Entwurf der Sozialen Dreigliederung. Hier gibt es drei soziale „Glieder“ mit exakt diesen Bezeichnungen. Die Synarchie freilich trat über verschiedene Jahrzehnte und in verschiedenen Zusammenhängen sehr heterogen auf (vgl. den englischen Wikipedia-Artikel).
AnthroposophInnen haben auf die synarchistische Bewegung auffallend selten reagiert (etwa Heinz Kloss), die jüngsten Bezugnahmen tauchen in scheinbar rechtsgerichteten, fragwürdig-verschwörungstheoretischen Zusammenhängen und keineswegs mit positiver Wertung auf (Meyer: Die Zertrümmerung Mitteleuropas, vgl. dazu kritisch meinen Artikel „Der Europäer“). Dabei gehen die Parallelen zur Dreigliederungstheorie bis in die anthropologische Begründung hinein: Yves d’Alveydre behauptete eine Gliederung des Menschen in die drei Systeme: „Ernährung“, „Leben“ und „Denken“. Um die optimale Aufrechterhaltung dieser menschlichen Grundvermögen zu gewährleisten, müsse die Regierung analog gegliedert werden in 1. das „wirtschaftliche Leben“ (für „die Ernährung“), 2. die Gesetzgebung und Rechtsprechung (zum Erhalt des Lebens), 3. die “Richtungsweisende Staatsmacht“, die das Denken der Menschen leiten müsse. Hier wäre dann der politische Ort für „die Eingeweihten“ angesiedelt. Bei Steiner werden ebenfalls drei Systeme des menschlichen Organismus postuliert und der Dreigliederung zugrunde gelegt: das Stoffwechsel-, Rhythmische und Kopfsystem. Und auch bei Steiner resultieren daraus drei „soziale“ Glieder: „Wirtschaftsleben“, „Rechtsleben“ und „Geistesleben“ (das aber nicht dem Kopf-, sondern dem Stoffwechselsystem zugeordnet wird). Ein Zusammenhang zwischen Dreigliederung und Synarchie liegt auf der Hand, und tatsächlich: Steiner war nicht nur D’Alveydres Schüler Papus ein Begriff, er kannte auch die synarchistische Theorie (vgl. die unbelegte Behauptung bei dem tragischen und gern verschwiegenen Pionier der Esoterikforschung James Webb: Das Zeitalter des Irrationalen (1976), Wiesbaden 2008, übersetzt von Marco Frenchkowski, 337f. – Steiner hatte allerdings auch einschlägige Literatur in seiner Bibliothek, wie ich bei einem inzwischen zur unvorteilhaften Legende gewordenen Dornachbesuch feststellen konnte).
So weit die Kontinuitäten. Es ist aufschlussreich, dass die Dreigliederung in ihrer formalen Struktur aus einer fragwürdigen esoterischen Tradition, weniger tagesaktuellen Ereignissen stammte! Es gibt aber auch entscheidende Unterschiede – und nur durch deren Absetzung von diesem historischen Entstehungszusammenhang wird das originär „Anthroposophische“ an der Dreigliederungsidee ersichtlich. Anstelle der synarchistischen „richtunggebenden Staatsmacht“ tritt bei Steiner das „Freie Geistesleben“:
„Vom selbständigen Geistesleben muss etwas ausstrahlen, was bis in den Kapitalismus, was in den ganzen Organismus hineinflutet. Das ist das freie menschliche Entwickeln, das ist das liberale Element. In dem politischen Staate, im Rechtsleben, muß etwas leben, worinnen alle Menschen gleich sind. Das ist das demokratische Element. Und im Wirtschaftsleben muß das brüderliche Element walten. Das muß die wahre Grundlage einer sozialen Struktur abgeben. … man sollte durchschauen, wie im selbständigen Geistesleben wächst der alles übrige soziale Leben überleuchtende Liberalismus; wie im wirklichen Rechtsstaat wächst die wiederum alles übrige Leben überleuchtende Demokratie, wie in jenem Wirtschafsleben, das sich nur mit Warenerzeugung, Warenzirkulation, Warenkonsum und der dadurch bedingten Feststellung der gerechten Preise befaßt, der wiederum alles durchdringende Sozialismus waltet.“ (GA 329, S. 219 – dem muss allerdings sogleich hinzu gefügt werden: Es wäre wiederum blind, naiv und historisch unverantwortlich, damit die antidemokratischen und elitären Äußerungen Steiners und fast aller seiner frühen AnhängerInnen vertuschen zu wollen, vgl. Peter Staudenmaier)
Steiner war einer der wenigen Esoteriker seiner Zeit, die sich tatsächlich eine Weile realpolitisch engagierten. Er löste sich damit vom okkulten Untergrund des untergegangenen Kaiserreichs ebenso ab, wie er sich mit seiner Aufnahme der „Freiheit“ als eines „geistigen Liberalismus“ in sein politisches Programm von der durch und durch autoritären Dreigliederungskonzeption der Synarchie ablöste – und abhob. Und nur eine kritische Historisierung macht eine Ablösung von Steiners Ansprüchen auf Deutungshoheit für eine wirklich „freie“ Anthroposophie möglich. Steiner „ist rapide dabei, als historische Person in eine immer fernere Vergangenheit entrückt zu werden. Das verringert unser Wissen über ihn, erweitert aber die Freiheit, sein Leben und sein Werk zu deuten.“ (Zander: Rudolf Steiner, 470). Als Beispiel dafür sei der oben erwähnte Roland Benedikter zitiert, der eine Erweiterung der „Dreigliederung“ zu einem Sechs-Sphären-Modell vorschlägt:
„Es stehen große Umbrüche für die demokratischen Gesellschaften des ‚Westens‘ bevor. Sie beginnen bereits heute, in einer globalen Systemverschiebung Gestalt anzunehmen. Dazu gehören 1. das Ende des Neoliberalismus im System- und Diskursbereich der Wirtschaft, 2. das Ende der – von den USA nach dem Ende des ‚Kalten Krieges‘ einseitig ausgerufenen ’neuen Weltordnung‘ im Bereich der Politik, 3. das Ende der Postmoderne im Bereich der Kultur, 4. die ‚Rennaissance der Religionen‘ im Bereich der Spiritualität. Dazu gehören aber auch – in vielerlei Hinsicht als Summe dieser vier Tendenzen – das Auftreten von miteinander im Wettbewerb stehenden, kulturell unterschiedlichen Modernitäts- und Modernisierungskonzepten (‚competing modernities‘). Das begründet einen neuen, globalen Antagonismus zwischen demokratischen und nicht-demokratischen Modellen von Moderne, einschließlich finanzieller Moderne und Handhabe von Kapital und Selbstinterpretation des Kapitalismus. Dazu kommen 5. technologische und 6. demographische Umbrüche. … damals [1919, als Steiner seine Dreigliederungstheorie konzipierte – AM] reichte Dreidimensionalität im Wesentlichen aus, um die dynamische Strukturentwicklung zu erfassen und zu analysieren. Heute ist die Welt aus den damaligen Wurzeln heraus ausdifferenzierter und multidimensionaler geworden.“ (Benedikter, ebd., 23f.)
Das gilt nicht nur für die anthroposophische Dreigliederung, sondern auch für sämtliche anderen Praxisfelder – und für die Wissenschaftstheorie allemal (hier ist z.B. auf die Dissertation Merle Ranfts zu hoffen), sonst bleibt die Anthroposophie Nischensegment. Der Sammelband „Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart“ liefert gute historische Schlaglichter. Er zeigt aber auch ex negativo (an der fast sklavischen Abhängigkeit von Helmut Zanders Opus, bzw. an der notorischen Widerlegungsabsicht), wie stark Selbstbezogenheit und apologetische Absichten gegenüber einer „Hegemonialkultur“ bis heute das anthroposophische Selbstverständnis zu bestimmen scheinen. Für AnthroposophiekritikerInnen scheint mir das Buch nichtsdestominder als ein anthroposophieimmanenter Versuch lesenswert, Steiner immerhin ein Stück weit zu historisieren, damit andererseits einen Umgang mit seiner „Fehlbarkeit“ zu finden und so eine allmähliche Säkularisierung einzuleiten. Wenn Uhlenhoffs Beitrag als Auskristallisation oder Momentaufnahme eines solchen Prozesses zu betrachten ist, darf man auf weitere Entwicklungen durchaus hoffen!
„Vielleicht besonders empfänglich“: Anthroposoph_innen im Nationalsozialismus
(von Laura Krautkrämer)
Vorwort von Ansgar Martins — Einmal wieder ein Beitrag zu einem der Kernthemen dieses Blogs: Die Vernetzungen von Anthroposophie und Rassismus. Und diesmal sogar von ungewohnter Seite: Die „Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland“ scheint sich auf ihrer Jahrestagung 2011 bei einer interessant besetzten Podiumsdiskussion wenn schon nicht mit der Rassenlehre des Anthroposophie-Gründers Rudolf Steiner, so doch immerhin mit dem Verhältnis von Anthroposophie und Nationalsozialismus beschäftigt zu haben. Dabei sind unerwartete und ungewöhnliche An- und Einsichten zutage getreten, wenn etwa Bodo von Plato Schnittmengen zwischen nationalsozialistischem und anthroposophisch-esoterischem Ganzheitsdenken feststellte. Wenn auch keine neuen historischen Informationen freigelegt wurden, scheint mir das doch ein dokumentierungswürdiges Ereignis zu sein. Der folgende Bericht stammt unter dem Originaltitel „Anthroposophie in der Zeit des Nationalsozialismus“ von Laura Krautkrämer (Medienstelle Anthroposophie). Links im Text und Fußnotentexte sind von mir gesetzt.
150 Jahre Rudolf Steiner – das Jubiläumsjahr geht weiter. Die öffentliche Tagung der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland, die Mitte Juni in Weimar stattfand, wollte zu diesem Anlass ein „Begegnungsfest“ werden und sich „dem Ursprung, der Entwicklung und der Zukunft des anthroposophischen Kulturimpulses“ zuwenden, wie es im Veranstaltungsflyer hieß.
Im Rahmen der viertägigen Veranstaltung, die vom 16. bis 19. Juni 2011 im noblen Kongresszentrum Neue Weimarhalle stattfand, wurde mit einem Podiumsgespräch zum Thema „Anthroposophie in der Zeit des Nationalsozialismus“ auch ein Thema aufgegriffen, das im öffentlichen Diskurs bislang vor allem von Kritikern der Anthroposophie besetzt ist. Gerade in Weimar, das eben nicht nur ein zentraler Ort der Deutschen Klassik (und in Steiners Biographie) ist, sondern mit Buchenwald auch ein Ort des nationalsozialistischen Grauens, lag das Thema jedoch nahe. „Steiners Ideen als geistiges Fundament des Nationalsozialismus – diesen Vorwurf, diese Frage wollten wir uns nicht von außen stellen lassen, sondern sie von innen aufgreifen und damit zur Bewusstseinsbildung anregen“, betonte Generalsekretär Hartwig Schiller in seiner Einleitung.
Während das Thema anfangs als eine der zahlreichen Arbeitsgruppen Eingang finden sollte, trafen die Verantwortlichen schließlich die Entscheidung, es im Plenum zu verhandeln. Mit Bodo von Plato, Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft am Goetheanum, den Historikern Michael Rissmann und Uwe Werner (vgl. Wichtige Hinweise – falsche Prämissen) sowie Mechtild Oltmann, Pfarrerin der Christengemeinschaft, war das Podium kompetent besetzt. Moderator war Albert Schmelzer, Dozent an der Freien Hochschule Mannheim.
Was erwartet man nun von einer solchen Veranstaltung von „offizieller Seite“ zu diesem Thema? Dass die zwar wenigen, aber dennoch extrem heiklen Äußerungen Steiners (vgl. Ausrutscher oder Rassenlehre) zum „überholten Judentum“ oder dem angeblich starken Triebleben Farbiger thematisiert würden, war unwahrscheinlich. Auch wenn die internen Auseinandersetzungen um das „Frankfurter Memorandum“, dessen Unterzeichner sich dezidiert von diesen Äußerungen distanzierten, inzwischen einige Jahre zurück liegen, sind sie doch noch in Erinnerung. Tatsächlich konnte man sich in der Weimarer Runde – zu Recht – auf die verschiedenen Untersuchungen sowohl von akademischer als auch von anthroposophischer Seite stützen, die dargelegt haben, dass der von Steiner im Rahmen seines Evolutionskonzeptes geführte Rassendiskurs nicht dem völkischen Rassismus entspricht. Der Historiker Michael Rissmann betonte in diesem Zusammenhang, dass Steiner den Begriff der Rasse als etwas, das zukünftig überwunden werden sollte, postulierte. Uwe Werner, Autor des Standardwerks Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus, wies darauf hin, dass Kritiker wie Peter Staudenmaier oder Jana Husmann bei ihren Rassismusvorwürfen gegen Steiner eine klare Definition dessen, was sie unter Rassismus überhaupt verstünden, schuldig blieben [1], wodurch der Auseinandersetzung eine wichtige Grundlage fehle.
Sehr selbstkritisch in Bezug auf die anthroposophische Bewegung äußerte sich Bodo von Plato: Das Spiel zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sei ein entscheidendes Grundmuster der nationalsozialistischen Ideologie – und zwar im Sinne einer heroischen Vergangenheit, der elenden Gegenwart und der wiederum heroischen Zukunft. Auch in der Anthroposophie sei dies ein wichtiges Muster, wie es überhaupt Parallelen in der „anthropologischen Disposition“, in der Empfänglichkeit für den Faschismus und die Anthroposophie gebe. Der Grund sei eine tiefe Sehnsucht nach dem, was verloren ist und nach einem mythischen Verstehen der Gegenwart – das durch die Rationalität verhindert werde. „Man kann da eine Disposition für alle totalitären Systeme erkennen“, führte er aus. Die Nazi-Ideologie sei in diesem Sinne als Gegenbild zur Anthroposophie zu sehen, „verwandt in der Art, nicht im Wesen“.
Michael Rissmann berichtete, dass in der historischen Forschung seit den 1990er Jahren anstelle der Gesamtbevölkerung verstärkt einzelne Biographien oder auch Berufs- und Bevölkerungsgruppen betrachtet werden. „Vielleicht sollte man nicht immer auf den Nationalsozialismus blicken, genauso wenig wie auf die Anthroposophie. Aus Einzelwahrnehmungen kristallisiert sich möglicherweise ein viel tragfähigeres Bild.“ Obgleich nach einer Aussage des damaligen Vorsitzenden der Anthroposophischen Gesellschaft, Hans Büchenbacher [2], 1933 der gesamte Landesvorstand der Gesellschaft den Nationalsozialismus einhellig abgelehnt habe, schätzte er damals, dass etwa zwei Drittel der Mitglieder den neuen Machthabern gegenüber positiv eingestellt seien (vgl. Waldorf Schools in Nazi Germany). Wie die beiden Historiker Rissmann und Werner darlegten, war diese Affinität durchaus repräsentativ für das bildungsbürgerliche Milieu der Zeit, in dem es zwar Widerwillen gegen das primitive Auftreten der Nazis, aber durchaus Sympathie für deren Anliegen – etwa das Angehen gegen die „Schande von Versailles“ – gegeben habe.
Von Plato unterstrich in diesem Zusammenhang nochmals die damals vorherrschende Sehnsucht, aus der gegenwärtigen Misere herauszukommen. „Anthroposophen waren da vielleicht besonders empfänglich, da sie die Wahrnehmung hatten, dass der Diskurs nicht weiterhilft – wie die Anthroposophie ja überhaupt diskursfeindlich eingestellt war und vielleicht noch ist, weil sie ein apodiktisches Verhältnis zur Wahrheit pflegt.“ Daher habe es wohl vielfach emotionale Affinitäten gegeben, die jedoch in der Praxis, im Handeln keine Entsprechung gefunden hätten. Wie Uwe Werner berichtete, konnten aufgrund der Forschungen des dezidiert kritischen Historikers Peter Staudenmaier bisher 34 Anthroposophen namentlich identifiziert werden, die Mitglieder in der Partei oder Parteiorganisationen waren. „Selbst wenn dazu vielleicht noch 50 weitere Namen kommen sollten, ist dies im Verhältnis zu den damals rund 8.000 Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft eine verschwindend geringe Zahl“, so Werner.
Auf die schwierige Abschlussfrage, inwiefern sich aus diesem dunklen Kapitel der deutschen Geschichte Erkenntnisse ziehen lassen, die vielleicht auch der Weiterentwicklung der Anthroposophie dienen könnten, gab es erwartungsgemäß nur vorsichtige Ausblicke. „Die Anthroposophie fordert den ganzen Menschen, so wie auch totalitäre Systeme wie der Nationalsozialismus das tun,“[3] erklärte von Plato. Es sei entscheidend, trotzdem eine Distanz sowohl zur Weltanschauung als auch zu sich selbst zu bewahren, was eine ständige Gratwanderung erzwinge.
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Fußnoten
[1] Uwe Werner lag während der Erstellung seines Buchs „Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse“ noch nicht Jana Husmanns Dissertationsschrift vor, die ausführlich auf Rassismusdefinitionen eingeht und einen sehr weiten Rassismusbegriff vorschlägt, um die fluiden geisteshistorischen Dynamiken, die im modernen Rassismus mündeten, zu erfassen. Bei dem amerikanischen Anthroposophiekritiker Peter Staudenmaier, und der lag Werner vor, heißt es: „The interpretation proposed here is premised on the idea that anthroposophy embodied a contradictory set of racial and ethnic doctrines which held the potential to develop in different directions under particular political, social, and cultural conditions. In spite of anthroposophists’ insistence that their worldview was ‘unpolitical,’ my argument will identify an implicit politics of race running throughout their public and private statements, a body of assumptions about the cosmic significance of racial and ethnic attributes that shaped their responses to fascism. Many of Steiner’s followers considered their own views to be anti-nationalist and antiracist, and there was no straight line that led inexorably to the extreme and explicit formulations of spiritual racism. What emerged were racial and ethnic stances that were frequently ambiguous and multivalent but that in several cases found a comfortable home in fascist contexts precisely because of their spiritual orientation, one that did not deign to concern itself directly with the distasteful realm of politics.“ (Between Occultism and Fascism: Anthroposophy and the politics of race and nation in Germany and Italy, 1900-1945, Diss., Cornell-University 2010, S. X)
[2] Hans Büchenbacher (1887-1977), da selbst jüdischer Abstammung, wurde nach der „Machtergreifung“ alsbald von hoher Stelle nahegelegt, von seinen Ämtern in der deutschen Anthroposophischen Gesellschaft zurückzutreten. Ihm verdanken wir einige interessante Details über Synthesen anthroposophischer und nationalsozialistische Folklore: „Ende Februar 1933 sehe ich im Redaktionsbüro [der Vierteljahresschrift ‚Anthroposophie – Zeitschrift für Freies Geistesleben‘] ein großes Bild von Hitler und darunter auf einem hübschen Brettchen einige schöne Kristalle. In dem sich daran anschließenden Gespräch zeigte sich, dass Picht stark von der nationalsozialistischen Anschauung infiziert war.“, aber Hinweise auf Anthroposoph_innen, die sich gegen den Nationalsozialismus stellten und diesbezüglich vor der Dornacher Führung der Anthroposophischen Gesellschaft enttäuscht waren: „Zu meiner Überraschung waren alle Vorstandskollegen angereist, um mit mir eine Sitzung zu halten. Sie teilten mir mit, dass Frau Dr. Steiner und Dr. Wachsmuth ganz pronazistisch seien…“ (vgl. die Auszüge aus seinen Memoiren in info3 April 1999).
[3] Vgl. dazu auch Monika Neugebauer-Wölk: Esoterik und Neuzeit. Überlegungen zur historischen Tiefenstruktur religiösen Denkens im Nationalsozialismus. Der Glaube freilich, es gebe besondere strukturelle Übereinstimmungen zwischen Esoterik und Nationalsozialismus, lässt sich nur mit schielendem Blick aufrecht erhalten, ebenso schlagend und explizit sind nämlich die Parallelen zu und Anlehnungen an monotheistische Frömmigkeit, vgl. Claus-Ekkehard Bärsch: Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiöse Dimension der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler, München 2002 sowie Ders.: Der junge Goebbels, Erlösung und Vernichtung, München 2004.
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Laura Krautkrämer
Geboren 1973 in Bonn, Studium der Germanistik und Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (MA). 2001-2004 Beraterin in einer Unternehmensberatung für Kommunikation in Frankfurt/Main mit Schwerpunkten in den Bereichen Kulturmarketing, Stiftungs-PR und Unternehmenskommunikation/CSR. Seit 2005 freiberuflich als PR-Redakteurin und -Beraterin sowie als Zeitschriften-Autorin tätig. Lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Oberursel im Taunus. (laura-krautkraemer.de)
Wichtige Hinweise – falsche Prämissen
In den 90ern erhielten diese „Rassen“-Passagen in Steiners Aufsätzen und Vorträgen erstmals die nötige kritische Aufmerksamkeit, als sich die politische Linke von „grün-braunen“ Allianzen in ihrem Umfeld absetzte – doch die berechtigte Kritik schlug bald in falsche Unterstellungen um. AnthroposophInnen, umgekehrt schnell im Glauben, Opfer „ahrimanisch“-roter Allianzen zu sein, betonten demgegenüber nicht nur die für Steiner zentrale Ich-Philosophie: Viele versuch(t)en bis heute, jene rassisch geprägten Elemente seines Denkens möglichst progressiv umzudeuten. Erst in den letzten Jahren haben Historiker wie Helmut Zander, Peter Staudenmaier und Ralf Sonnenberg Deutungen dieser Rassismen vorgelegt, ohne deren vieldeutiges Schwanken zwischen „Universalismus, Eurozentrik und Germanophilie“ (Georg Otto Schmidt) aus den Augen zu verlieren.
Materialschlacht
Uwe Werners neues Buch ist kaum ohne diese heftige Debatte zu verstehen. In zahllosen Fußnoten (und einem eigenen Nachsatz zu Peter Staudenmaiers jüngst erschienener Dissertation) diskutiert er die bisherigen rassismuskritischen Veröffentlichungen durch und springt zwischen ihren unterschiedlichen Ansätzen. Offenkundig hat ihn besonders der historisch-kritische Ansatz Helmut Zanders beschäftigt. Dem kann er aber nur unter großen Vorbehalten positive Würdigung abgewinnen – obwohl er selbst realisiert, dass Steiner die „Wurzelrassen“-Lehre „weitgehend aus der theosophischen Literatur übernahm“. Ähnlich bei Peter Staudenmaier. Der hat im Sommer 2010 in den USA eine Dissertation vorgelegt, in der er die Anthroposophie und ihre faktischen Verflechtungen im unübersichtlichen Netz okkultistischer, völkischer und faschistischer Organisationen für die Jahre 1900-1945 untersucht. (Staudenmaier: Between Occultism and Fascism: Anthroposophy and the politics of Race and Nation in Germany and Italy, 1900-1945, Diss., Cornell University 2010 – Neu sind hier neben ungesichteten Materialien vor allem Details zur (unrühmlichen) Geschichte von Anthroposoph_innen im italienischen Faschismus). Werner kann zeigen, dass (und wo) Staudenmaier stellenweise einseitig gearbeitet hat: Während er akribisch Berührungspunkte von AnthroposophInnen mit dem Faschismus (und umgekehrt) untersucht, kommen die Differenzen sowie biographische und Überzeugungsumbrüche zu kurz. Werner liefert hier wichtige Hinweise und Korrekturen, doch scheint mir insgesamt seine Vermutung fragwürdig, dass hinter Fehlinterpretationen Staudenmaiers ein verstecktes „Motiv“ steckt.
Rassenbegriff
Werner sieht auch durchaus,
dass Steiners Äußerungen über „Rassen“ „implizit eine Hierarchisierung von Menschengruppen enthalten … Es ist die Rede von Dekadenz, Degeneration, auf- und absteigender Entwicklung. Diese Äußerungen werden nicht ohne Grund … von Kritikern moniert.“
Selbst betont er aber die klaren Differenzen zum völkischen Rassismus, die er bei Staudenmaier so vermisste. Er beschreibt in der ersten Hälfte seines Buchs vor allem Steiners Kritik an „Rassenidealen“ und biologistischer Eugenik und zitiert Äußerungen, in denen Steiner vehement die Obsoletheit von „Rassendifferenzen“ und den Vorrang individueller Selbstbestimmung vor Blut und Genen betont. Hier sieht Werner ein „Engagement gegen Rassismus und Nationalismus“, das die später formulierte Ethik der Allgemeinen Menschenrechte teile.
Aus dieser Perspektive heraus verfällt Werner aber einem alten Fehler: dem Versuch, Steiner vor dessen eigenem rassischen Denken in Schutz zu nehmen. So argumentiert er, dieser wollte „nur“ „ein neues, bewusstes Verhältnis zu den“ – wenn auch sekundären – „Rasse-, Volks- und Herkunftsdeterminanten“ gewinnen. Das stimmt zwar, aber Resultat dieses Unternehmens ist eben der monierte Rassismus. Die falsche Prämisse ist die: Menschen ließen sich überhaupt in abgrenzbare „Rassen“ mit unterschiedlichen mentalen Konstitutionen einteilen:
„Rassen sind Resultat, nicht Voraussetzung rassistischer Argumentation“ (so der auch von Werner zitierte Wulf D. Hund).
Folgen
Nach diesem durchwachsenen Start eilt Werner im zweiten Teil seiner Studie durch die seltsamen Blüten, die die inneranthroposophische Rezeptionsgeschichte von Steiners Rassentheorien hervorgebracht hat: Rassismen in den Büchern von Richard Karutz, Ernst Uehli und Sigismund von Gleich – Alfred Meebold, der Hitler für einen michaelischen Gesandten hielt – 34 Mitglieder der AAG, bei denen sich NSDAP-Mitgliedschaften ausmachen lassen (auch, weil andere Anträge von der Nazi-Partei abgelehnt wurden) – Versuche aus Dornach, das Verbot der deutschen Sektion durch die Betonung von Steiners „arischer Herkunft“ zu verhindern – die anfänglich begeisterten, aber teils auch beeindruckend kritischen anthroposophischen Bewertungen des Nationalsozialismus (wie bei Albert Steffen und Ita Wegman). Ausführlich etwa werden politisch interessante Tagebucheinträge Steffens zitiert.
Umgekehrt überblickt Werner die nationalsozialistischen Polemiken gegen die Anthroposophie und gleichzeitigen Pläne eines Rudolf Hess, Demeterlandbau und Waldorfschulen weltanschaulich zu entkernen und nationalsozialistisch zu verwerten. Hier erweist sich Werner als der scharfsinnige und differenzierte Historiker, als der er schon 1999 aufgetreten ist. Er erwähnt wieder neues Material und sichtet vergessene Debatten. Allerdings übergeht er u.a. Wegmans rassentheoretische und Rittelmeyers antijüdische Passagen oder Steffens naive Haltung zum italienischen Faschismus [2].
An wenigen Stellen referiert Werner Widersprüchliches: So heißt es erst, der Anthroposoph Erhard Bartsch, der Hess die biodynamische Landwirtschaft schmackhaft machte, sei aus anthroposophischer Überzeugung heraus der NSDAP ferngeblieben. Aber dann wird vier Seiten später erzählt, wie ein Mitgliedsantrag desselben von der Partei abgelehnt wurde. Auch die bisher kaum untersuchte Position Marie Steiners oder Steiners Volksseelenlehre vor 1900 werden komplett ausgespart. Das sind sicher keine absichtlichen Auslassungen des Autors, aber Lücken, die noch zu füllen wären.
Fazit
[1] Zu Ahasver:
Werner (S. 52) findet fernab kontextsensibler Analysen, „dass Steiner sich mit Ahasver nicht als Repräsentant des Judentums, sondern als indivdiduelle Persönlichkeit befasste…“. Das ist Haarspalterei. Fakt ist, dass Steiner ein bekanntes rassenantisemitisches Klischee in theosophischen Vokabeln reproduzierte, ohne Nennung des Kontextes, aber auch ohne Distanzierung davon. Zum Ahasver-Komplex bei Steiner siehe Ralf Sonnenberg: „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ (S. 9f).
[2] Zu Rittelmeyer, Wegman und Steffen:
Rittelmeyer: Deutschtum, Stuttgart 1934, S. 103ff. führt Kapitalismus, „zersetzende Kraft, unfruchtbare Dialektik“ und Materialismus auf angebliche degenerierte israelische Tugenden zurück und erklärt:
„Materialismus, Egoismus, Intellektualismus wohnen keineswegs bloß in Judenhäuptern. Sie haben dort nur besonders fähige Vertreter.“