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Die Scheidung der Geister: Eine Zwischenbilanz zur anthroposophischen Erinnerungskultur
„Unter Steiners heutigen Schülern ist die Geschichte der anthroposophischen Bewegung im nationalsozialistischen Deutschland noch weitgehend unaufgearbeitet; der Hintergrund der gestörten Verflechtungen mit völkischen Strömungen so gut wie unerkannt. Diese uneingestandene Vergangenheit wirkt entsprechend nach und erschwert die ohnehin mühsame Diskussion zwischen Anhängern der „Geisteswissenschaft“ und nichtanthroposophischen Wissenschaftlern. Möglicherweise steht die Anthroposophie, ihrem Selbstverständnis nach Sprachrohr des deutschen Geistes, noch einmal am Scheideweg im Hinblick auf ihren eigenen Werdegang.“
– Peter Staudenmaier: Der deutsche Geist am Scheideweg
„Nach dem Krieg glaubte man anderes zu tun zu haben und leugnete oder vertuschte den eigenen … Anteil an dieser unrühmlichen Vergangenheit. Das Problem, über Jahre mit seinen spirituellen oder vermeintlich spirituellen Urteilen versagt zu haben, wurde verdrängt. Es darf aber in der Geschichte der [Anthroposophischen] Gesellschaft nicht fehlen, denn es strahlt auch in andere Schichten des gesellschaftlichen Geschehens aus…“
– Klaus Hartmann: Herbert Witzenmann. Eine Biographie, s.u.
„Hans Büchenbacher zum Gedächtnis“ hieß eine Veranstaltung, die am 13. September im Herbert-Witzenmann-Zentrum Dornach stattfand. Dort spielte Wolfgang von Dechend Musik des in Auschwitz ermordeten Anthroposophen Viktor Ullmann, sprach Klaus Hartmann über die Beziehung von Büchenbacher und Witzenmann. Zum Schluss hielt ich einen Vortrag über die Geschichte der Anthroposophie im Nationalsozialismus sowie Büchenbachers apokalyptische Philosophie nach 1945. Hätte mich vor Kurzem überrascht, dass derlei in Dornach überhaupt Raum findet, so war doch ein weiterer Umstand noch überraschender: Das Publikum. Jene kreischenden Anthroposophen, die ihre eigene Kritikunfähigkeit wie eine Monstranz vor sich hertragen und jeden Kritiker für einen willentlichen Lügner halten – hier fehlten sie zur Gänze. Es war aber nicht das erste Mal, dass ich gerade zu diesem heiklen Thema vorbehaltlos kritische Diskussionen mit Anthroposophen führen konnte. Offensichtlich gibt es bei manchen in der Szene inzwischen die ehrliche Bereitschaft, sich selbstkritisch mit den faktischen Verschmelzungen von Anthroposophie und völkischem Gedankengut zu konfrontieren.
Hans Büchenbachers zu gedenken, heißt auch, zu bedenken, dass nach 1933 wohl die meisten Anthroposophen Nazis waren – oder alternativ einer politisch schlicht naiven Hoffnung auf das „geistige Deutschtum“ anhingen, das gewiss irgendwann von Hitler erkannt werden würde. Von „zwei Dritteln“, die sich „mehr oder weniger“ positiv zu den Nazis stellten, schreibt Büchenbacher. Vieles spricht für seine Beobachtung. „Offenbar verhindert nur der starke Anteil anderer Länder an der anthroposophischen Bewegung, dass diese geschlossen zu Hitler übergeht.“ schrieb 1935 besorgt Ernst Bloch, der 1917 noch eine Synthese von Steiner und Husserl schreiben wollte. Vorstandsmitglied Guenther Wachsmuth begeisterte sich im anthroposophischen Nachrichtenblatt (Nr. 26/1933): „Es ist gut zu sehen, dass diejenigen, die ‚dabei‘ sein wollen, auch in unseren Reihen überwiegen.“ Ein irritierendes weiteres Beispiel ist Roman Boos, enger Vertrauter von Steiners Witwe, dessen zahllose Vorträge über Steiner und die „deutsche Erneuerung“ gar so viel Aufmerksamkeit erregten, dass umgekehrt nazistische Esoterikgegner ihre Schritte gegen die Anthroposophie beschleunigten. (vgl. „Die nazistischen Sünden der Dornacher“?) Zwar wurden die meisten anthroposophischen Organisationen letztendlich geschlossen und verboten, doch nach der Einsicht von Franz Neumanns „Behemoth“ gehörte zum Grauen des Nazismus auch seine Fähigkeit, „einen Teil seiner Opfer zu Anhängern zu machen.“
Dies und anderes erwähnte ich auch am 13.9. im Witzenmann-Zentrum. Es war nicht die erste Veranstaltung zu Büchenbachers „Erinnerungen“ und meinen Recherchen auf deren Spuren. Schon im Mai hat eine entsprechende Podiumsdiskussion in Hannover stattgefunden, zu der der dortige Pfarrer der „Christengemeinschaft“, Frank Hörtreiter, geladen hatte. Im März wiederum war ich zu meiner Überraschung zu den von Junganthroposophen organisierten „Rudolf Steiner Forschungstagen“ eingeladen worden, über „Die Einführung des Nationalsozialismus in die Anthroposophie“ vorzutragen. Alle drei Male war ich überrascht, welche Rückmeldungen und Diskussionsbeiträge kamen. Von zahlreichen Veranstaltungen und aus noch mehr LeserInnen-Mails kenne ich das leider durchaus wahre Klischee des pöbelnden anthroposophischen Mobs.
Hier ganz anders: Nicht einer der Anwesenden schwang sich zu apologetischen Verharmlosungen anthroposophischer Nazisympathisanten auf. Vielmehr wurde etwa kritisch nachgefragt, wie denn Büchenbacher selbst zu seinem jüdischen Vater gestanden habe. Oder diskutiert, wie das Verhalten des Vorstandsvorsitzenden Albert Steffen zu erklären (und zu werten) sei. Steffen hielt, wie man an zahllosen Tagebucheinträgen sehen kann, Hitler für den Antichristen, brachte es aber offenbar bis 1935 nicht über sich, öffentlich gegen Wachsmuths und Marie Steiners von Boos beeinflussten Kurs zu protestieren. Steffen setzte ganz auf eine Überwindung des Bösen durch „geistigen“ Widerstand, den der Dichter in seinen Dramen ausdrücken wollte. Immer wieder war bei den Diskussionen der apokalyptische Einschnitt Thema, den der „Zivilisationsbruch“ Auschwitz darstellt, eben auch für die anthroposophische Geschichte.
Im Witzenmann-Zentrum war unerwartet sogar eine hoch betagte Schwiegertochter Büchenbachers anwesend. Aus dem Gedächtnis steuerte sie allerlei zur Person Büchenbachers bei, bekräftigte energisch, wie ihm die „geistige Welt“ nach 1945 verdunkelt schien und wies nicht zuletzt auf die Blindheit „fanatischer“ Anthroposophen hin. Immer wieder fielen auf den drei Veranstaltungen Worte, die auch Büchenbachers verbitterte Semantik im Rückblick auf seine Genossen in der Nazizeit prägen: „Versagen“ der Anthroposophie, „Verrat“ an den eigenen Prinzipien.
Ich betone demgegnüber Kontinuitäten: Ein Richard Karutz zitierte 1934 „Mein Kampf“ und meinte, damit ausgerechnet die anthroposophische Ich-Philosophie zu erläutern. Ein Jürgen von Grone schrieb während des Zweiten Weltkriegs über eine Weltverschwörung angloamerikanischer „Geheimgesellschaften“, die trotz des „Führers“ „Bemühungen“ um den Frieden den Krieg angezettelt hätten. Dies speist sich offenkundig aus Steiners Konspirationsmodellen aus dem Ersten Weltkrieg. Roman Boos‘ Wahn für die „deutsche Erneuerung“ stellt eine gewiss einseitige, aber konsequente Verlängerung von Steiners Völkerpsychologie dar. Die universalistischen Widerlager in Steiners Weltanschauung wurden dabei nicht vergessen, sondern (siehe Karutz) schlicht nicht als solche empfunden. Mit Jean Améry (in „Jenseits von Schuld und Sühne“) könnte man formulieren, dass an Auschwitz jeder Geist, der diesen Namen verdiente, vor der Wirklichkeit versagte. Wie Nietzsche, Hölderlin und Beethoven, die Améry exemplarisch nennt, lies sich auch Steiner scheinbar rest- und fugenlos in die nazistische Kultursubreption einbauen.
Dass heutige Anthroposophen derlei nüchtern konfrontieren können, dafür wird wohl 2011 eine (freilich diskutable) Äußerung Bodo von Platos Dämme gebrochen haben, nach der die Anthroposophie auf den „ganzen Menschen“ setze, worin man eine „Disposition für alle totalitären Systeme“ erkennen könne, so dass Anthroposophen „vielleicht besonders empfänglich“ gewesen seien und sich heute besonders kritisch mit dieser „anthropologischen Disposition“ beschäftigen müssten. (vgl. Vielleicht besonders empfänglich) Die beginnenden, oft noch marginalen Versuche unter Anthroposophen, völkische Umtriebe ihrer Vorgänger kritisch zu realisieren, sind jedoch selbst Anthroposophie. Sie sind zeitgeschichtliche (Neu)Konstruktionen der Weltanschauung Steiners. Sie gehen mit einer entsprechenden Umdeutung Steiners, einer Verlagerung von Prioritäten einher. Dies ist ein ideologischer Selektions- und Transformationsprozess, aber wohl ein notwendiger, wie kürzlich auch Peter Staudenmaier angedeutet hat:
„Here is much more for Steiner’s followers to learn about the legacy they carry. There is no reason for anthroposophists to despair in the face of this task. Honest engagement with the past can be a boon to alternative spiritual movements, and anthroposophy is no exception. If it helps devotees of Steiner grapple with the topic, they can think of it as something Steiner himself would have encouraged. At its emergence a century ago, anthroposophy represented the flowering of German aspirations for an occult enlightenment. Its latter-day adherents do not need to abandon these hopes for a better world and enhanced consciousness and a different mode of life. Their dreams of more lucid understanding, of changed human relationships, of a new approach to nature, of a world freed of spiritual narrowness are all eminently worth seeking and striving toward. But realizing such a vision calls for other means, including clear-eyed social critique and political engagement. Those means are all too often hindered, rather than furthered, by esoteric ideals and practices. Far from forsaking their high ambitions, anthroposophists need only reflect candidly on what it is that has kept these aims from being fulfilled for so long. Facing up to their own history, straightforwardly and without excuses, will be an indispensable step on that path.“
Bei der erwähnten Podiumsdiskussion in Hannover saß auch der Waldorflehrer Arfst Wagner auf dem Podium, der Anfang der 90er als erster selbstkritisch aus anthroposophischer Perspektive über die Nazizeit geschrieben hat. Er berichtete unter anderem, welch energische Opposition seine Publikationen auslösten: gezielte Boykottaufrufe gegen seinen Verlag zum Beispiel. Oder persönliche Anfeindungen des angeblichen „Nestbeschmutzers“, der „karmisch längst ausgeglichene“ Themen hervorziehe und den bösen Anthroposophiegegnern Futter liefere. Er habe sich daraufhin immer mehr vom Thema ab- und der Politik zugewandt, berichtete Wagner, der für die GRÜNEN im letzten Bundestag saß – und ungebrochen Eurythmielehrer an der Waldorfschule Rendsburg ist.
Von dem feindseligen Klima, das sich in den Neunzigern noch zur Hetzjagd auf Arfst Wagner steigerte, habe ich seit Veröffentlichung der Memoiren Hans Büchenbachers nichts, und ich meine: nichts zu spüren bekommen. Zweifellos ist das seinen Pionierarbeiten zu verdanken, ebenso wie derjenigen Uwe Werners und schließlich Peter Staudenmaiers jüngeren Forschungen – nicht auch zuletzt Michael Eggert, der seit Jahren Texte Staudenmaiers auf seinem Blog zur Verfügung stellt. Last but not least ist Andreas Lichte zu nennen, der mit vernichtenden Artikeln zum Thema bei den „Ruhrbaronen“ 2012 eine breitere Aufmerksamkeit auf Staudenmaiers Funde gelenkt hat. Wie der Einschlag Lichtes und Staudenmaiers zeigt, hinterlässt auch scharfe externe Kritik bisweilen ihre noch so sublimen Spuren im anthroposophischen Selbstverständnis. Spuren, die sich vertiefen können.
Und doch fallen diese neueren Entwicklungen auf einen gern übersehenen, aber vorhandenen Boden. Es gibt sie, die intern leisen und extern praktisch nicht wahrgenommenen Anthroposophen, die beispielsweise aus der Beschäftigung mit Steffens Tagebüchern oder aus dem Wissen um die Gegner des anthroposophischen Widerständlers Karl Rössel-Majdan (der nach 1945 Probleme mit nazi-affinen Kollegen bekam, vgl. Anthroposophie im Widerstand) längst wissen, wie viel anthroposophischerseits im Argen lag und liegt. In der ersten Reihe anthroposophischer Weltanschauungspolitik stehen diese offenkundig nicht.
Herbert Witzenmann (1905-1988), eine sehr umstrittene und marginalisierte Figur in der anthroposophischen Geschichte, repräsentiert vielleicht einen weiteren solchen Strang. Wie Büchenbacher studierter Philosoph und mit diesem seit den 50er Jahren im Austausch, stellte Witzenmann ein Leben lang Steiners frühe philosophische Schriften ins Zentrum seines Interesses. Er lebte zu Beginn der Naziära in Pforzheim, und genau hier wurde ihm sehr schnell vor Augen geführt, was vom Nationalsozialismus zu halten war.
Im „Pforzheimer Anzeiger“ startete der enttäuschte Ex-Anthroposoph und nationalsozialistische Steinerhasser Gregor Schwartz-Bostunitsch („Rudolf Steiner. Ein Schwindler wie kein anderer“) sehr früh eine wirkungsvolle Hetzkampagne gegen die Anthroposophie. Dann wurde noch Witzenmanns Freund Fritz Schnurmann, Arzt jüdischer Abstammung und Pforzheimer „Zweigleiter“, 1935 inhaftiert, weil er zusammen mit einem ehemaligen SPD-Mitglied die Broschüre „Man flüstert in Deutschland. Die letzten Witze über das Dritte Reich“ verbreitet habe. Witzenmann riet Schnurmann nach seiner Entlassung, zu emigrieren. Solche Erfahrungen waren Witzenmann offenkundig Lehre genug über den Nationalsozialismus. Der Gastgeber der Büchenbacher-Gedenkveranstaltung am 13. September in Dornach, Klaus Hartmann, steuerte einen Vortrag über das Verhältnis Witzenmann – Büchenbacher bei. Im ersten Band seiner umfangreichen Witzenmann-Biographie zeichnete Hartmann 2010 dessen Distanz zum Nationalsozialismus nach. Er verstieg sich jedoch nicht dazu, Witzenmann als Sprungbrett zum „Anthroposophen waren gegen Hitler immun“-Mythos zu missbrauchen, sondern schrieb:
„Die aus der Perspektive der Verfolgung verfasste Arbeit von Uwe Werner verzichtet weitgehend auf eine selbstkritische Analyse von Haltungen von Mitgliedern der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft zur NS-Ideologie, auch wenn er die Erinnerungen Dr. Hans Büchenbachers als zuverlässig (S. 27) wertet und ausgiebig zitiert. Büchenbacher möchte aber gerade mit seinen Erinnerungen auf den schwerwiegenden Verrat an der anthroposophischen Sache durch viele führende Anthroposophen aufmerksam zu machen, der 1935 durch das Gesellschaftsverbot unsichtbar gemacht wurde … Nach dem Krieg glaubte man anderes zu tun zu haben und leugnete oder vertuschte den eigenen, wenn auch zuallermeist nur in der Gesinnung liegenden Anteil an dieser unrühmlichen Vergangenheit. Das Problem, über Jahre mit seinen spirituellen oder vermeintlich spirituellen Urteilen versagt zu haben, wurde verdrängt. Es darf aber in der Geschichte der [Anthroposophischen] Gesellschaft nicht fehlen, denn es strahlt auch in andere Schichten des gesellschaftlichen Geschehens aus … Viele Angaben zu allen möglichen Gesellschaftsvertretern in den durchweg verklärenden Biographien sind in dieser Hinsicht wertlos. Zu den bei Arfst Wagner veröffentlichten Dokumenten und Stellungnahmen gibt es noch immer keine von Seiten des Goetheanums die Binnenperspektive überschreitende Darstellung.“ (Klaus Hartmann: Herbert Witzenmann 1905-1988. Eine Biographie, I, Dornach 2010, S. 180f.)
Solche Stimmen machen Mut. Auch am 13. September in Dornach hat Hartmann seine kritische Einschätzung – verschärft – wiederholt.
Natürlich ist Anthroposophiekritik weit, weit mehr als Kritik an Verschmelzungen von völkischem Denken und Anthroposophie: Die problematischen Aspekte und paranoiden Züge, von der Waldorferziehung bis zum Werbecksingen, sind Legion. Man denke nur an die kontinuierlichen Attacken, die von verquast-orthodoxen Anthroposophen selbst gegen einen Steiner so geneigten Wissenschaftler wie Christian Clement ausgehen. Aber diese Verschmelzungen stellen, historisch und gesellschaftlich, einen der mit Abstand gefährlichsten Umstände dar. Sie wurden unter Anthroposophen lange derart offensiv verdrängt und verbogen, dass die Verdrängung sich bis zur armseligen Affirmation von Nazi-Anthroposophen steigerte. Lorenzo Ravagli karikierte etwa die nazi-affine Elisabeth Klein zu einer „Waldorflehrerin, die sich mutig für die Weiterexistenz ihrer Schule gegen die nationalsozialistischen Machthaber einsetzte“. (Ravagli: Unter Hammer und Hakenkreuz, Stuttgart 2004, 212) Tatsächlich setzte sie, die in herzlichem Kontakt zu verschiedenen Nazigrößen stand, sich für die Einbindung ihrer Schule in ein nationalsozialistisches Versuchsschulprogramm ein. Selbst in ihrer Autobiographie verharmloste sie beispielsweise noch den Naziphilosophen Alfred Bäumler, der versucht hatte, sich als eine Art neutraler Gutachter im nationalsozialistischen Streit um die Waldorfschulen zu etablieren.
Solch verzweifelte Beschönigungsversuche werden nicht über Nacht verschwinden. Aber vielleicht werden sie in Zukunft abnehmen. Vielleicht bleiben eines schönen Tages ihre Kunden aus. Vielleicht darf man mit und trotz Büchenbacher hoffen, dass die diesbezüglich klarsichtigen Anthroposophen mehr als bisher aus dem Schatten treten. Auch zu Büchenbacher muss man letztendlich historisch-kritisch Distanz einnehmen: Er raunt beispielsweise über schwarzmagische „Logen“, die hinter dem Nationalsozialismus standen – ironischerweise hatte er derlei, wie er selbst unverblümt in den „Erinnerungen“ schreibt, aus dem Buch „Bevor Hitler kam“ des Nationalokkultisten Rudolf von Sebottendorff übernommen. Hier trifft zu, was Nicholas Goodrick-Clarke über die „Nazi-Mysterien“ schreibt:
„Man muss eben die Mystifikation von dem empirisch Beweisbaren trennen. Wie einst die Nazis ihre putativen arischen Ahnen mythologisierten, um ihren Anspruch auf rassische Überlegenheit zu begründen, so werden in jüngerer Zeit die Nazis ihrerseits mythologisiert, nämlich zu einer einzigartigen Kraft des Bösen – von gewissen obskurantistischen Schreibern, die dergestalt ihren esoterischen oder verschwörungstheoretischen Spintisierereien ein Fundament geben wollen … Zwar liegt den meisten Nazi-Mystifikatoren gewiss der Vorsatz fern, Nazi-Apologie zu betreiben, doch nutzen Interessierte deren Mystifikationen längst in genau diesem Sinne … Die geächteten Führer des Nationalsozialismus und ihre Ideen erscheinen jetzt wie verbotene Götter eines dunklen Reichs – ein Faszinosum für nicht weniger, die der Reiz des Verbotenen lockt.“ (Goodrick-Clarke: Im Schatten der Schwarzen Sonne, Wiesbaden 2009, S. 264f.)
Sollten sich jene Keime einer nazikritischen Anthroposophenschaft in der Bewegung verbreitern: Für viele von ihnen mögen dann die „Nazi-Mysterien“ eine Versuchung sein, aufgrund des eigenen spirituell-mythologischen Geschichtsbildes. Aber eine, der durch die wache Beachtung des historisch Nachweisbaren widerstanden werden kann. So muss man mit Blick auf Büchenbachers okkulte Verschwörungstheorien erwähnen, dass der Anthroposoph Christoph Lindenberg bereits 1978, Jahre vor dem Erscheinen von Goodrick-Clarkes einschlägigen Schriften, Sebottendorffs Nazimystifikationen vernichtend kritisiert hat (vgl. Lindenberg: Die Technik des Bösen, 3. Auflage, Stuttgart 1985, S. 15-25). Auf die weiteren Entwicklungen darf man wohl durchaus gespannt sein.
Und sie bewegt sich doch – Die Anthroposophie und das Judentum
Diesen November erschien in der „Schriftenreihe Kontext“ des anthroposophischen Info3-Verlages ein Band mit dem Titel „Anthroposophie und Judentum – Perspektiven einer Beziehung“. Der Herausgeber Ralf Sonnenberg betritt damit umkämpften Boden. Das Buch enthält neun Essays von acht Autoren, ein Geleitweitwort von Jens Heisterkamp (der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte) und ein Vorwort von Yuval Lapide. Im Folgenden der Versuch einer ausführlichen inhaltlichen Besprechung und Stellungnahme. Zusätzlich einige Assoziationen zu Gott und Heiligkeit im jüdischen und christlichen Weltbild.„Auch Steiners Äußerungen müssen sich an dem ‚Zivilisationsbruch Auschwitz‘ (Dan Diner) messen lassen, denn manche dieser Kommentare sind Teil des antijudaistischen Erbes, auch wenn Steiner ein dezidierter Gegner des Rassenantisemitismus war und im Unterschied zu diesem die Emanzipation und Assimilation der europäischen Juden einforderte (…)
Ralf Sonnenberg
Antijudaistische Tradition
Rudolf Steiners Äußerungen zum Judentum sind in der Tat nicht die freundlichsten. Bisher blieb es v.a. AnthroposophiekritikerInnen vorbehalten, diese zu thematisieren (z.B. Ekkehard Stegemann, vgl. auch den „offenen Brief“ von Martina Schaak).
Steiners antijüdische Vorbehalte gehören, wie sein vergöttertes ICH, zu einer der Kontinuitäten zwischen seinem philosophischen und seinem esoterischen Werk: Mehrfach verfiel er in ziemlich eklige Polemiken gegen eine Religion, die er als rückständig und assimilierungsunwillig ansah (siehe zum Frühwerk etwa seinen Aufsatz zu Hamerlings „Homunkulus“). In seinem anthroposophischen Werk stellt er das Wirken der jüdischen „Jahwe-Gottheit“ als kulturelle Vorstufe zum Kommen Christi dar, die heute überholt und atavistisch sei – wobei er umgekehrt auch den „Hass“ des Antisemitismus kritisierte. Das bringt ein Zitat von 1924 am besten zum Ausdruck:
„Da alles dasjenige, was die Juden getan haben, jetzt in bewusster Weise von allen Menschen z.B. getan werden könnte, so könnten die Juden eigentlich nichts besseres vollbringen, als aufgehen in der übrigen Menschheit, sich vermischen mit der übrigen Menschheit, so dass das Judentum als Volk einfach aufhören würde. Das ist dasjenige, was ein Ideal wäre. Dem widerstreben heute noch viele jüdische Gewohnheiten – und vor allen Dingen der Hass der anderen Menschen. Und das ist gerade dasjenige, was überwunden werden müsste.“ (GA 353, 1992, S. 202)
Eine Anthologie…
Wie üblich wird das Thema bei AnthroposophInnen unterkühlt bis gar nicht behandelt. Neben einem Aufsatz über die Antijudaismus lediglich des frühen Steiner von Felix Hau (Antisemitismus bei Steiner?, info3 02/2008), einer ähnlichen Passage im „Frankfurter Memorandum“ und einem Kommentar in Christoph Lindenbergs Steiner-Biographie zur selben Problematik hat sich bisher hauptsächlich ein nur Steiners projüdische Aussagen wertendes Buch von Manfred Leist/Hans-Jürgen Bader und Lorenzo Ravagli hervorgetan: „Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit„ (zu dem auch eine Kurzfassung als Flugblatt vorliegt, vgl. dazu kritisch Ravagli, die Rassen und die Rechten sowie Sonnenberg: Vergangenheit, die nicht vergehen will).
Aber das Verhältnis von Anthroposophie und Judentum ist weit komplizierter als seine in der „Rassismusdebatte“ gestreifte Form. Eine Reihe jüdischer Philosophen und Künstler, wie der Zionist Hugo Bergmann, der Philosoph Martin Buber, der anthroposophische Zionist Max Müller und der jüdische Komponist Viktor Ullmann, der 1944 wie seine ganze Familie in Auschwitz ermordet wurde, beschäftigten sich, m.o.w. intensiv, mit Steiner, ohne sich groß bei seinen Antijudaismen aufzuhalten.
Diesem vielschichtigen Verhältnis widmet sich der Band von Sonnenberg. Der Autor hat sich schon früher zu diesem dem Thema geäußert: in seinem Essay „Fehler der Weltgeschichte: Judentum, Zionismus und Antisemitismus aus der Sicht Rudolf Steiners“, der im Jahrbuch für Antisemitismusforschung (12 / 2003, S. 185–209) erschien. Dieser Beitrag findet auch in „Anthroposophie und Judentum“ Eingang, allerdings in „überarbeiteter und aktualisierter“ Form.
Historisch-kritische Beschäftigung…
Eröffnet wird das Buch allerdings durch einen Aufsatz Sonnenbergs mit dem Titel „Metahistorisches oder zeitabhängiges Wissen?“, der „Chancen und Grenzen der historisch-kritischen Beschäftigung mit dem Werk Rudolf Steiners“ beleuchten will. Wen das Wort „historisch-kritisch“ nicht schon diesbezüglich anspricht, weisen spätestens eine große Anzahl Fußnoten auf die vor einiger Zeit durch Helmut Zanders „Anthroposophie in Deutschland“ losgetretene Debatte, ob und wie weit AnthroposophInnen die Zeitgebundenheit von Steiners Weltanschauungskosmos eingestehen und aufarbeiten möchten (Leitmotiv Zertrümmerung).
Sonnenberg steht den Ergebnissen Zanders auch kritisch gegenüber, sie seien wegen eines „rein textphilologischen Vorgehens“ einseitig (S. 26). Er hält aber fest, dass gerade der Umgang mit Steiners Antijudaismen nur durch eine historisch-kritische Position geklärt werden kann. Steiner auch als Kind seiner Zeit zu deuten, fällt, wie er zurecht feststellt, AnthroposophInnen noch immer äußerst schwer:
„Ein textkritischer Umgang mit den Mitteilungen Steiners wird in anthroposophischen Kreisen oft nicht als Chance zur Erweiterung des Erkenntnishorizontes begriffen, sondern als Gefährdung binnensozialer Plausibilitäts- und sogar Machtstrukturen.“ (Anthroposophie und Judentum, S. 21)
Die Existenz „höherer“ Bewusstseinsebenen im Sinne des esoterischen „‚intuitiv erlebten Denkens‘ bzw. ’seelische[r] Beobachtung'“ bejaht Sonnenberg explizit,
„Wer allerdings die Möglichkeiten des an das Verstandesdenken geknüpften Forschens, Fragens und Deutens geringschätzt, (…) und stattdessen darauf hinarbeitet, möglichst schnell zu ‚höheren‘ Einsichten vorzustoßen, der gleicht einem Mediziner, der die Anwendung schulmedizinischer Wissensinhalte und Methoden mit der Begründung verschmäht, dass diese auf einer reduktionistischen Wahrnehmung beruhten.“ (Ebd., S. 25)
Sehr klar und differenzert fällt entsprechend auch Sonnenbergs Essay zu Steiners Antijudaismen aus (S. 29-63). Neben einem Seitenhieb auf die meiste steinerkritische Literatur zum selben Thema und einer dezent ironischen Abfuhr an Lorenzo Ravaglis Apologiebemühungen in „Unter Hammer und Hakenkreuz“ (S. 37) finden sich sehr sachliche Vermittlungsbemühungen zwischen Steiners Zurückweisung der Rassenantisemiten einerseits und seiner eigenen antihudaistischen Rhetorik andererseits im Kontext seiner jeweiligen Beziehungen und Umfeldern in Wien oder Berlin.
Idealerweise – und das ist keine Polemik – müsste eine solche Auseinandersetzung aber nicht nur Steiners Selbstverständnis und dessen historisch-intellektuelle Kontexte einbeziehen. Weitere wichtige Felder, die mensch m.E. nach für eine Einschätzung Steiners berücksichtigen muss sind gerade die sozialen Prägungen seiner Kinderzeit sowie der schon von seinem Bekannten Immanuel Schairer oder dem Religionspsychologen Harald Strohm beobachtete Autismus – die sich beide gerade in Steiners ICH-und „Christus-“ Motivik niederschlagen (Die Mächte des (L)ICH(ts)). Da dies aber in rein sachlicher und unpolemischer Art auch seltenst unter AnthroposophiekritikerInnen geschieht, ist ein Fehlen in der anthroposophieinternen Kritik auch nicht sehr verwunderlich.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Es ist überfällig, dass eine solche Auseinandersetzung im anthroposophischen Umfeld auftaucht (ein grausiges Gegenteil bot etwa Karen Swassjan: „Eine misslungene ‚Verständigung'“, siehe v.a. S. 4). Gerade auch eine historische Kontextualisierung und empirische Prüfung von Inhalten in Bezug auf Steiners „Rassentheorie“, die von einem Anthroposophen in einem anthroposophischen Verlag erscheint, stimmen hoffnungsfroh (Der Zug ist (noch!!!) nicht abgefahren)!
Biographische Wirkungsgeschichten
Aber weiter im Text. Ein weiterer interessanter Schwerpunkt des Büchleins ist nämlich die Aufarbeitung von Darstellung und Diskussion der Anthroposophie seitens jüdischer Künstler und PhilosophInnen.
In einer Neuauflage seines Aufsatzes Humanistischer Zionismus führt Hans-Jürgen Bracker (sonst v.a. durch den Versuch der Aufarbeitung von NS-Vergangenheiten bei AnthroposophInnen bekannt, vgl. etwa Renate Riemeck) in das Themenfeld Anthroposophie, Dreigliederung und Zionismus ein. Auch wenn es heute angesichts von Steiners antijüdischen Aussprüchen seltsam erscheint, glaubten manche Menschen, wie Hugo Bergmann, Berta Fanta und Max Müller nämlich fest an die Nützlichkeit der „Dreigliederungsidee“ für einen israelischen Staat oder die Lösung des „Palästinenserkonflikts“.
Bracker legt viel Wert auf die Unterscheidung zwischen verschiedenen zionistischen Strömungen, die unter dem Begriff „Zionismus“ jeweils religiöse, gesellschaftliche oder moralische Erneuerung, nicht immer eine isolierte Staatsgründung, verstanden. Dabei steht v.a. Hugo Bergmann im Mittelpunkt, der der Anthroposophie sein Leben lang verbunden war, auch wenn er sich natürlich mit Steiners antijüdischen Polemiken schwertat:
„Muss uns das nicht skeptisch machen gegen alles, was er sagt? Wo endet der Seher und wo beginnt der wirkliche Mensch Steiner mit seinen Vorurteilen?“
Ganz besonders interessieren auch zwei Beiträge von nichtanthroposophischen WissenschaftlerInnen, Verena Naegele und Nathanael Riemer über den Komponisten Viktor Ullmann und den anthroposophischen Kabbalisten Ernst Müller (der Aufsatz v.a. über Müller von Riemer: Ein Wanderer zwischen den Welten, ist auch online, die Musikhistorikerin Naegele hat die erste umfassende Ullmann-Biographie verfasst). Zwei quellengesättigte Beiträge, die zeigen, wie Steiners Ideen Menschen auf ihrem Lebensweg, gleichwohl dieser eher abseits von anthroposophischen Gestaden verlief, eben auch eine sich zionistisch nennende Philosophie oder kompositorisches Schaffen bereichern konnten.
Dazu kommt ein Essay der Anthroposophin und Kafka-Forscherin Maja Rehbein mit dem Titel „Könnte man als Freier unter Freien Leben… – Berta Fanta, Ida Freund und der Prager Salon“. Dieser „Prager Salon“ unterhielt ein gutes Verhältnis und kontroversen Austausch mit Menschen von Kafka über Max Brod über Albert Einstein zu Steiner. (Weiteres aus diesem Umfeld enthält u.a. der Band „Der andere Rudolf Steiner“, Pforte Verlag, 2004)
Schließlich rundet ein Beitrag des publikationseifrigen Esoterikforschers Gerhard Wehr dieses Themenfeld ab, der in einem gelehrten Vergleich Martin Bubers Haltung zur Anthroposophie aus seinem Kontakt mit Hugo Bergmann und Albert Steffen rekonstruiert: „Was sollen uns, wenn es sie gibt, die oberen Welten?“. Wehr diskutiert Bubers Konzept einer persönlichen Ich-Du Beziehung zwischen Mensch und Gottheit und ordnet den Steinerschen und gnostischen Entwurf „höherer Einsicht“ in das Feld einer „praeambulum fidei (Vorspiel bzw. Vorfeld des Glaubens)“ ein (S. 132 – diese schon früher von Wehr vertretene These wurde anthroposophieintern natürlich stark kritisiert, siehe Ravagli: Denken in der Obhut der Offenbarung?, Die Drei, 3/1988, S. 220-232). Vor allem betont er die Wichtigkeit eines „Brückenbauers“ zwischen metaphysischen und theologischen Erkenntnisinteressen – einen solchen sieht Wehr in diesem Fall bei Bergmann.
Jahwe, Jesus, Lorenzo und der Geist des Antijudaismus
Schließlich kommt dann noch ein Beitrag des Haudegens Lorenzo Ravagli persönlich. In einem ungewohnt friedlichen Ton widmet er sich der Schilderung „Jahwes“ in Steiners Werk (S. 65-77), was ja im Rahmen des Titelthemas auch ein sehr wichtiges Thema ist, interpretiert dann aber im Wesentlichen Steiners Variante der Engelshierarchien Pseudo-Dionysius‘ (die bei Dionysus schlicht Dimensionen und Erscheinungsformen göttlichen Wirkens darstellten, im theosophischen Evolutionsdenken aber zunehmend auf das Dogma linearer „Höherentwicklung“ eingekocht wurden) im Hinblick auf eine angeblich über ihren höchsten Exponenten stehende „Dreifaltigkeit“, die sich für ein Wirken als Heiliger Geist durch die Engelsform Elohim entschlossen habe. Deren Residenz richtete Steiner auf der Sonne ein, von der aber die siebenfältige Entität Jahwes (in der alle anderen Elohim – insgesamt sieben – auch m.o.w. zugegen seien) irgendwann auf den Mond umzog. Und das nicht wegen zu großer Hitze, sondern, um die Inkarnation des Menschen auf der Erde vorzubereiten. All das schildert Ravagli sehr plastisch.
Der Aufsatz endet mit der quasi-gnostischen Verkündigung der Befreiung des Menschen von der Erde, welche sich parallel dazu mit der Sonne vereine, „jener ‚apokatasis panton‘, die am Ende aller Dinge steht.“ (S. 78 – dieser Mythos scheint Ravagli momentan überhaupt sehr am Herzen zu liegen: Er stellt ihn – allerdings mit wesentlich theatralischeren Bildern „von düsterer Schwärze“, „dem Herrn des Todes“ und den „Pforten der Hölle“, die mit dem Blute Christi verschlossen seien – auch ans Ende seines letzten Buches, „Aufstieg zum Mythos“, S. 186)
So weit, so süß. Dass Steiner den „Jahwe-Impuls“ aber für ebenjene „Menschheitsentwickelung“ inzwischen für überholt und schädlich erklärte, hat Ravagli leider mal wieder übergangen, und damit auch eine Aufarbeitung umgangen. Vielleicht hilft ihm da der gerade zu diesem Komplex sehr eindeutige Beitrag von Sonnenberg (siehe zum „Jahwe-Impuls“ dort, S. 48f.) weiter. Aufschlussreicher zum „Jahwe“-Komplex seitens Ravagli ist dagegen eine Stelle aus seinem Buch „Pädagogik und Erkenntnistheorie“ (Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1993):
„Geisen [ein Forscher, den Ravagli gerade auseinandernimmt – A.M.] wird wohl kaum Steiner zu Vorwurf machen wollen, dass er die altestamentliche Jahwereligion durch das Mysterium von Golgatha für überholt erklärt. (…) Vom Standpunkt des Christentums aus muss (…) der Gott des jüdischen Volkes, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, eine andere Bewertung erhalten. (…) Die Jahwereligion stellt sich so dar, dass für die Angehörigen dieser Religion Jahwe der Gott eines Volkes sei. (…) Während des Ersten Weltkrieges seien die einzelnen Völker alle in die Jahwereligion zurückgefallen. [kursiv – A.M.]“ (Pädagogik und Erkenntnistheorie, S. 250)
Hier ist die „Katze aus dem Sack“. Bei aller Wertschätzung dessen, was sich in seiner Wahrnehmung als „Jahwe“ ausnahm, hielt Steiner diesen „Jahwe“ eben doch für nicht vergleichbar mit seinem kosmischen, ätherischen, golgathamysteriösen Christus. Wenn aber Christentum das sein soll, was als Spiritualität „international“ auftritt, ist das Alte Testament teilweise weit „christlicher“ als Steiners „christlich-internationale“ Visionen. Im Buch „Amos“ weist „Jahwe“ eine „Volksidentität“ von sich:
„Seid ihr Kinder Israels für mich nicht gleich wie die Kuschiter? Spricht der Herr [Kuschiter meint im Alten Testament die BewohnerInnen Afrikas – A.M.]. Habe ich nicht Israel aus Ägypten ausgeführt und die Philister aus Kastropher und die Aramäer aus Kir?“ (Amos 9;7)
Das primäre Erkennungsmerkmal des abendländischen Antijudaismus ist ja gerade die Zurückweisung einer „jüdischen Ethik“ (obwohl es eine gesamt-jüdische Form der Ethik festgelegt und allgemeinverbindlich nie gegeben hat) als „stammesgebunden“, damit beschränkt und rückständig. Ein Argument, das bis in die Publikationen des aktuellen Papstes noch aktuell ist (vgl. mit einer philologisch-soziologischen Analyse sehr detailliert Jobst Paul: Das ‚Tier‘-Konstrukt und die Geburt des Rassismus. Zur kulturellen Gegenwart eines vernichtenden Arguments, Unrast Verlag, Münster 2004, S. 213-261; zur weiteren Historie Christian Delacampagne: Die Geschichte des Rassismus, Patmos Verlag, Düsseldorf 2005). Die universale Liebe, die Jesus Christus in der Bergpredigt fordert, ist aber keineswegs eine Negierung oder Revision des Alten Testaments, es ist seine konsequente Neuformulierung. Auch im 3. Buch Mose wird weit mehr als „Bluts- und Stammesliebe“ gefordert:
„Du sollst in deinem Herzen keinen Hass gegen deinen Bruder tragen. (…) Wenn bei dir ein Fremdling in eurem Land lebt, den sollst du nicht bedrücken. Er soll wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst.“ (Levitikus 19; 17 u. 33-34)
In dem Vorwort, dass der jüdische Theologe Yuval Lapide zu dem Band „Anthroposophie und Judentum“ beigesteuert hat, hat dieser zurecht beklagt: „Welche Ausstrahlungskraft hat ein biblischer Offenbarungsglaube, wenn er seinen jüdischen Stifter, der Zeit seines Lebens die universale Nächstenliebe predigte, gegen seine eigenen jüdischen Brüder und Schwestern fehlinterpretiert und manipuliert?“ (Anthroposophie und Judentum, S. 15).
„Heiliger Humanismus“
Tiefgang hat dagegen der letzte Aufsatz des Bandes, „Spirituelle Praxis als Einigungsprozess“ von Janós Darvas (S. 139-157). Hier geht es vordergründig um die „Esoterik des Ich in der Anthroposophie und der „Kabbala“ (siehe auch die Textsammlung auf Hagalil). Der Vergleich beginnt aber mit einer Kritik der gewöhnlichen anthroposophischen Abfertigungen anderer religiöser und spiritueller Strömungen:
„Dass man in theologische, vormoderne (…) Dogmatik zurückfällt, die sich auf Autorität stütz[t], nicht auf freie, eigenständige Urteilsbildung und Erfahrung, wird oft nicht einmal bemerkt. (…) Dass man dann die in dieser Weise aufgenommenen Inhalte gegen anderes ausspielt ist nicht weiter verwunderlich. Das Andere wird kurzschlüssig auf das Eigene bezogen. An der Erfahrungsdimension dieses Anderen geht man vorbei, oft wohl auch deshalb, weil man im Eigenen offenbar nicht zu relevanten spirituellen Erfahrungen gekommen ist.“ (ebd., S. 141f.)
Darvas warnt aber umgekehrt auch vor allzuschnellen Vereinnahmungen und Ausschlachtung von Quellen nach der Brauchbarkeit für die eigene Weltsicht – wie es gerade auch in der Anthroposophie der Fall ist: „Theologische Überbietungsszenarien dürfen deshalb getrost zu hause bleiben – von allen Seiten“ (S. 153 – vgl. kritisch zu Steiners „christozentrischen“ Inklusivismen Janos Darvas: „Anthroposophie und religiöser Pluralismus“, info3,05/08, S. 12-27; „Nur tolerierte Gäste oder echte Mitbewohner?“, info3 06/08, S. 42-45; „Christozentrische Perspktiven“, info3 07-08/08, S. 30-36)
Darvas schlägt als Vergleichsebene zwischen Anthroposophie und Kabbala die (natürlich mehr als naheliegende) der Esoterik vor, unter der er „Erfahrungen intimer Natur, die sich in und am einzelnen Menschen ereignen (…), erst ‚entziffert‘ werden müssen.“ (S. 141) versteht.
Seine eigene, in bewusstseinsphilosophischen Reflexionen gehaltene Darstellung dieser „Ebene“ ist sehr klar und kommt ganz ohne die Berufung auf anthroposophische Begrifflichkeiten oder „Wesensglieder“-Lehren aus. Sie endet in einer Schilderung von „Entgrenzungserfahrungen“, „unaussprechbar, ohne Zweck und Grund, die als sich frei gebende geistige Kraft der Liebe erlebt werden können.“ (S. 148)
Diese Bild führt er in ein zentrales Motiv der Kabbala über: die zehn Sephiroth, die dort in Form eines mythischen „Lebensbaumes“ zehn Aspekte des Göttlichen im Universum verkörpern.
Darvas sieht in einer „ehrfurchtsvolle[n] Hinwendung zum Göttlichen“ innerhalb und jenseits aller religiösen Traditionen die Möglichkeit zu einer neuen „Ethik“, einem „heiligen Humanismus“ (Abraham Joshua Heschel). In dieser Würdigung der kabbalistischen Esoterik findet der Band seinen Abschluss.
Und sie bewegt sich doch
„Anthroposophie und Judentum“ bietet ein breites Spektrum an Texten, deren Themen im Einzelnen keineswegs neu, in dieser Zusammenstellung aber in dieser Dichte und Komposition andernorts bisher kaum zu finden sind. Orthodoxe AnthroposophInnen und AnthroposophiegegnerInnen interessiert das selbstredend nicht die Bohne (muss es ja auch gar nicht!).
Der Versuch einer akonfessionellen Meditation (Darvas) in einem Band mit einer dezidierten Kritik an Steiners „Rassebild“ (Sonnenberg), dem Bemühen um eine historisch-kritische Aufarbeitung (ders.), Beschreibungen von Biographien (Riemer, Naegele, Rehbein etc.), philosophischen Positionen zu diesem Komplex (Wehr) und allgemeinen theologischen Problemstellungen (Lapide) – all dies beleuchtet das Titelthema aus einer ungewöhnlichen Vielzahl von durchaus unterschiedlichen Perspektiven, ohne diese gegeneinander auszuspielen oder verkennend zu harmonisieren. So wird die Vielschichtigkeit des Komplexes eingefangen und transparent gemacht. Der Band zeigt nicht zuletzt, dass zumindest einige sich in der anthroposophischen Szene tatsächlich bewegen und an einer kritischen, dialogischen Auseinandersetzung mit ihrer Tradition interessiert und beteiligt sind.
Die Anthologie stellt endlich einmal einen überzeugenden Gegenentwurf zu den inklusivistischen Verkennungen und apologetischen Vertuschungsversuchen zu diesem Thema innerhalb der Anthroposophie auf. Es bleibt zu hoffen, dass mehr solcher Publikationen und Bemühungen zustandekommen.