Zum Geleit

„Einige Wege, die neuer Seelenheimat zuführen sollen, müssen immerhin sichtbar gemacht werden. An der anthroposophischen Lehre vorüberzugehen ist nicht gut möglich, da ehrliche Not und Sehnsucht zahlreicher Gläubiger an ihr hängt. Die große Gefolgschaft Steiners erklärt sich zum guten Teil daraus, dass Steiner auf Grund seiner Einsicht in die Unhaltbarkeit unserer geistigen Situation eine wissenschaftlich nachprüfbare Methode zu besitzen vorgibt, die zur Schau übersinnlicher Realitäten wie zur Erkundung menschlicher Bestimmung verhelfen soll und den trügerischen Anschein erweckt, als stelle sie gesicherte Beziehungen zum Absoluten her. Ist es nun nicht verlockend, diese zwischen Religion und Wissenschaft sich ausspannende Scheinbrücke zu betreten und ohne sacrificium intellectus so manches Wunderbare glauben, ja erkennen zu dürfen?“
– Siegfried Kracauer: Die Wartenden (1922), in: Das Ornament der Masse, Frankfurt/M 1977, 109f.

Zu den geteilten Erfahrungen von kritischer Theorie und Esoterik gehört die, dass es in dieser angeblich aufgeklärten Welt eben doch nicht mit rechten Dingen zugeht. Gipfelt die eine darüber in der Generalkritik unmenschlicher Verhältnisse, so spricht der andere diesen Verhältnissen einen tieferen Sinn zu, der durch Anschmiegung an eine Welt der Geister erkannt und nutzbar gemacht werden kann. Sub specie reincarnationis entpuppt sich jede Zurichtung als meine persönliche „karmische“ Aufgabe, das Ganze als das Wahre. Im Protest gegen die „materialistische“ bürgerliche Kälte macht sich die Esoterik so zum Anwalt dessen, dem sie entfliehen wollte. „Erfreue dich dessen, was dir gewährt ist, entbehre gern, was dir nicht beschert ist … das gibt die rechte Stimmung für den Esoteriker.“ (Rudolf Steiner, GA 266c, S. 177) Bleibt zu fragen, wie sich diese esoterische Moral im Einzelnen gestaltet, welche gesellschaftlichen Tendenzen sie begleitet.

In einer, bei aller Liebe, desaströsen Bildungslandschaft gewinnen verschiedene Reformschulen immer mehr an Bedeutung, u.a. die Waldorfschulen, die in Deutschland mit über 230 Schulen, weltweit mit weit mehr als 1000 vertreten sind. Waldorfschulen genießen großes Ansehen und geraten doch immer wieder in scharfe Kritik. Vor allem wegen ihres Gründers Rudolf Steiner (1861-1925) und seiner nach 1900 zwischen Deutschem Idealismus und Blavatsky’scher Theosophie platzierten Anthroposophie. Die Auseinandersetzung mit dieser Weltanschauung ist Kernthema des „Waldorfblog“. Steiners Gesamtausgabe („GA“) umfasst über 360 Bände, großenteils Vortragsmitschriften zu allen irgend möglichen Themen.

Durch erfolgreiche Institutionalisierung eines breiten alternativkulturellen und lebensreformerischen Angebots haben die Anhänger Rudolf Steiners sich von einer deutschen Abspaltung der „Theosophischen Gesellschaft Adyar“ bis in die Gegenwart zu einer der verbreitetsten und profiliertesten esoterischen Bewegungen entwickelt. Grundeinkommensinitiativen oder solche für „Direkte Demokratie“, eine nahezu unübersehbare Binnenliteratur mit Verlängerungen bis ins Web 2.0 und zahlreiche anthroposophische Verlage und Zeitungen gehören dazu. Marken wie „demeter“, „Weleda“, „Wala/Dr. Hauschka“, „dm“, „Alnatura“ und die „GLS-Bank“ sind mehr oder weniger stark anthroposophisch geprägt oder wenigstens initiiert worden.

Der anthroposophische Ideenkosmos, der auch der Pädagogik der Waldorfschulen zugrundeliegt, konserviert eine esoterische Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts. Sie verspricht Einsicht in mannigfaltig differenzierte „höhere Welten“, erfüllt von den Hierarchien höherer Wesen. Steiner erläutert die tieferen Gründe unseres Da- und Soseins. Roter Faden seines Denkens ist die Kunde von einer kosmisch-galaktiven Geistes-Evolution, an der die Menschheit via Reinkarnation und Karma partizipiere. Der „im Ätherischen“ wiedergekehrte Christus, eine Weltmission des „deutschen Geistes“ und die Inferiorität der „angloamerikanischen“ Welt stehen aktuell auf dem spirituellen Entwicklungsplan. Die Einsicht in übersinnliche Notwendigkeiten weist uns unseren Platz unter Engeln und Elementarwesen zu.

Aus seiner Geschichtsmetaphysik leitete Steiner nach dem Ersten Weltkrieg die Grundlinien von anthroposophischer Politik, Pädagogik, Heilpädagogik, Medizin oder Landwirtschaft ab. Schon Jahre zuvor hatte er anthroposophisch-alternativkulturelle Ästhetik wie eine „goetheanistischen“ Architektur, den Ausdruckstanz „Eurythmie“ oder freimaurerische Riten ersonnen.

Aus ihnen allen lässt sich viel über esoterische und gesamtgesellschaftliche Ideologien damals und heute lernen. Nicht zuletzt reproduziert sich renitenter Antiamerikanismus im Rahmen verschwörungstheoretischer Vorstellungen bis heute im anthroposophischen und weiteren esoterischen Milieu oft ungehemmt. „Waldorfblog“ berichtet über Aktuelles aus der „Waldorfwelt“, durchleuchtet anthroposophische Hintergründe, hinterfragt ver„Steiner“te Strukturen und setzt sich mit kritischer und historischer Literatur zum Thema auseinander. Dabei geht es mir weniger darum, die Anthroposophie in der Geschichte, als das Geschichtliche an der konkret praktizierten Anthroposophie zu untersuchen. Als ehemaliger Waldorfschüler blicke ich auf gemischte, aber keineswegs auf schlechte Schulerfahrungen zurück. Es geht mir nicht darum, etwaige positive Eigenschaften der Anthroposophie kleinzureden. Diese jedoch müssen im Rahmen einer kritischen Analyse der anthroposophischen Bewegung als Ganzer gedeutet zu werden.

Ich will vor allem Themen aufgreifen, die in der waldorfinternen Öffentlichkeit vernachlässigt oder in der öffentlichen Debatte um die Waldorfpädagogik kontrovers diskutiert, einseitig oder beschönigend betrachtet bzw. verdrängt werden.

Die Artikel sind bewusst persönlich gehalten. Auch Gastbeiträge und Gegendarstellungen sind gern erwünscht.

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Der Betreiber dieses Blogs, Ansgar Martins (*1991) studiert Religionsphilosophie, Soziologie und Geschichte in Frankfurt am Main. (ansgarmartins.de)

Publikationen (Auswahl):

Adorno und die Kabbala, Universitätsverlag Potsdam (erscheint 2016).

Elemente einer kritischen Theorie der Esoterik, in: Merlin Wolf: Zur Kritik der irrationalen Weltanschauungen, Aschaffenburg 2015, 71-90.

Rassismus und Geschichtsmetaphysik. Esoterischer Darwinismus und Freheitsphilosophie bei Rudolf Steiner, Info3-Verlag, Frankfurt/Main 2012.

Hans Büchenbacher: Erinnerungen 1933-1949. Zugleich eine Studie zur Geschichte der Anthroposophie im Nationalsozialismus. Mit 5 Anhängen hg. v. Ansgar Martins, Meyer/Info3-Verlag, Frankfurt/Main 2014.

3 Kommentare Add your own

  • 1. Phil Eidos  |  24. Juli 2015 um 7:37 pm

    Ich bin gerade auf den Blog gestoßen und bin sehr gespannt, was sich hier findet. Vom „Geleit“ ausgehend kann ich mich wohl auf eine möglichst-objektive Analyse freuen. Ich bin ebenfalls ehemaliger Waldorfschüler (*1991) und habe auch schon über eine tiefere Auseinandersetzung mit Steiner nachgedacht, die nicht schon vorher festgelegt hat, zu welchem Urteil sie bezüglich der Philosophie kommt.

    Die Waldorf-Community scheint mir leider doch oftmals unreflektiert orthodox gegenüber Steiner zu sein und nur sehr langsam damit, Aussagen kritisch zu betrachten etc…

    Man sieht sich also! 🙂 Die Möglichkeit von Gastbeiträgen finde ich auch sehr interessant… sobald ich mich mehr in Steiner eingelesen habe, werde ich bestimmt mal darauf zurück kommen.

    Antworten
  • 2. rg  |  6. August 2015 um 1:27 pm

    Hi Ansgar, your traumatized soul is obviously still bleeding and you are free to cry and spit like a vindictive volcano for another couple of years (nice journalistic cornucopia by the way, above all for addicted critics enjoying critics of critics). But how about taking a break in your Waldorf sufferings and produce for a change some entertaining essay about the following hyperesoteric stuff?

    The Vatican on space: The discovery of intelligent life wouldn’t mean there’s an alien Jesus somewhere in the universe (The Independent, 6th August 2015)

    Scientists are closer than ever to finding out the truth about life beyond Earth. Just last month, NASA excitedly discussed the potential of one exoplanet — Kepler 452b — that appears to be the most Earth-like planet ever confirmed outside of the solar system.
    The Vatican is also excited about the prospect of finding alien life. But it has a few things to say on the subject first.
    The Vatican’s robust astronomy program, run by an Argentinean Jesuit named Father José Gabriel Funes, is part of that search. The Vatican Observatory is headquartered in Italy at Castel Gandolfo, where the Pope has a summer villa. But it also operates a telescope at the Mount Graham International Observatory at the University of Arizona.
    The AFP asked Funes about NASA’s recent announcement, which he said was “great news.”
    “It is probable there was life and perhaps a form of intelligent life,” Funes said.
    But, he cautioned: “I don’t think we’ll ever meet a Mr. Spock.”
    Funes has said for years that there’s no conflict between the possibility of alien life — even intelligent life — and the teachings of the Catholic Church. “Just as there is a multiplicity of creatures on Earth, there can be other beings, even intelligent, created by God,” Funes said in 2008. “This is not in contrast with our faith because we can’t put limits on God’s creative freedom.”
    “To say it as St. Francis [of Assisi], if we consider some earthly creatures as ‘brother’ and ‘sister,’ why couldn’t we also talk of an ‘extraterrestrial brother’? He would also belong to creation,” he said.
    Funes also spoke to the AFP about what discovery of alien life would mean for the church’s overall understanding of God’s covenants with human beings.
    “The discovery of intelligent life does not mean there’s another Jesus,” he said. “The incarnation of the son of God is a unique event in the history of humanity, of the universe.”
    He added: “If there was intelligent life (on another planet), I don’t see that as a contradiction with the Christian faith.”
    This theological idea — that if God created aliens somewhere out there, then the Vatican is in no position to say Jesus wasn’t for them, too — is pretty consistent with comments from the pope himself about alien life. Last year, Francis said that if an alien being came to him and asked for a baptism, he would obviously.
    “If, for example, tomorrow an expedition of Martians came, and some of them came to us, here… Martians, right? Green, with that long nose and big ears, just like children paint them… And one says, ‘But I want to be baptized!’ What would happen?
    “When the Lord shows us the way, who are we to say, ‘No, Lord, it is not prudent! No, lets do it this way’… Who are we to close doors? In the early Church, even today, there is the ministry of the ostiary [usher]. And what did the ostiary do? He opened the door, received the people, allowed them to pass. But it was never the ministry of the closed door, never.”
    When the Vatican talks about this, it often makes allusions to the baptism of Gentiles into the early Christian church, which at first consisted largely of Jewish converts. In Acts, Peter says: “If God gave them the same gift he gave us who believed in the Lord Jesus Christ, who was I to think that I could stand in God’s way?”
    Vatican astronomer Guy Consolmagno also said in 2010 that aliens who seek baptism should receive it from the church, because “any entity – no matter how many tentacles it has – has a soul.”

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    • 3. A.M.  |  6. August 2015 um 2:35 pm

      so deep…

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