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Anthroposophie im Widerstand

„Aus der vehementen Ablehnung der Anthroposophen durch Dietrich Eckart [einen Mentor Hitlers] können wir viel lernen. Wenn er so stark auf sie reagierte – und er war nicht der einzige völkische Denker, der das tat –, dann muss er sie sehr ernst genommen haben. Damit hatte er Recht, denn Deutschland schien bereit, jede mögliche Alternative zu seinem alten unglückseligen System auszuprobieren. Doch in gewisser Hinsicht stellte die völkische Reaktion das Zugeständnis dar, dass beide Lager auf derselben Ebene operierten. Ein Teil der völkischen Wut wuchs aus der Erkenntnis, dass es hier eine andere Vision des Universums gab, die ‚geistig‘ zu sein beanspruchte. Hatten nicht die Propheten des ‚Volkes‘ das Monopol auf die geistige Politik, waren nicht sie allein wirklich ‚geistreich‘?“
– James Webb: Das Zeitalter des Irrationalen.

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Die jüngst wieder ausgebrochene und auch auf diesem Blog geführte Debatte zum Thema Anthroposophie und Faschismus blubbert munter. Zufällig zum genau passenden Zeitpunkt ist nun weiteres Material verfügbar, das einen ganz anderen Aspekt hervorspielt: Anthroposophinnen und Anthroposophen im antifaschistischen Widerstand. Das für April angekündigte Buch „‚Es lebe die Freiheit!‘ Traute Lafrenz und die Weiße Rose“ (Peter Norman Waage) ist unerwartet früher erschienen. Ich nehme das zum Anlass, hier ein weiteres, weitgehend unbekanntes Kapitel der verzweigten und widersprüchlichen Rezeptionsgeschichte der Anthroposophie zu schildern: Die Einflüsse anthroposophischen Gedankenguts auf ‚den‘ Widerstand gegen den Nationalsozialismus.

Traute Lafrenz

So unbefleckt wie die namengebende Blüte ist die Weste der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ wohl nicht gewesen: Der Historiker Sönke Zankel hat mit dem bundesdeutschen Mythos der lauteren demokratischen Studenten mit antinazistischen Ambitionen aufgeräumt und zeigte etwa elitäre Selbstverständnisse in der Widerstandsgruppe oder die antijüdischen Ressentiments bei Hans Scholl auf. Respekt gebührt der engagierten Gruppe nichtsdestominder. Die zeitweilige Freundin Scholls, Traute Lafrenz, hat es in einem SZ-Interview vom 3.05.2002 infolgedessen als „peinlich“ bezeichnet, dass die Flugblätter der „Weißen Rose“ keine direktere Position zur „Judenfrage“ bezogen (vgl. Zankel: Mit Flugblättern gegen Hitler, Köln u.a. 2008, 510 – das Buch wurde auch stark kritisiert). „Insgesamt“, so Zankel, „kann für Traute Lafrenz konstatiert werden, dass für sie die Worte Inge Scholls noch am ehesten zutreffend sind: der ‚große Wettkampf um das Leben der Freunde‘.“ (ebd., 448). „Ihre Aktivitäten waren von entscheidender Bedeutung, wurden von der Nachwelt jedoch wenig beachtet. Sie selbst zieht es vor, sich als Zeitzeugin zu bezeichnen. Sie weist konsequent jede Art von Ehrbezeugung ab, aus Respekt vor all denjenigen, die so viel mehr taten als sie.“ (Waage: „Es lebe die Freiheit!“ Traute Lafrenz und die Weiße Rose, Stuttgart 2012, 9 – das 2010 mit dem norwegischen Riksmalfortbundets litteraturpris ausgezeichnete Buch wurde vom anthroposophischen Urachausverlag ins deutsche übersetzt).

Lafrenz ist vor allem als Verbindung zwischen der Hamburger und der Münchener Gruppe der Weißen Rose bekannt, sie sorgte für die Weiterverbreitung von Informationen und Flugblättern und bemühte sich nach der Verhaftung der Geschwister Scholl u.a. um die Vernichtung von Beweismaterial, wurde inhaftiert, frei gelassen, erneut inhaftiert – eine genaue Dokumentation bietet das Archiv der „Weiße Rose Stiftung“ (und eben das kürzlich erschienene Buch von Waage). Lafrenz wanderte nach dem Krieg in die USA aus, wo sie Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und der „Ersten Klasse“ der Dornacher „Hochschule für Geisteswissenschaft“ wurde. Bis 1992 war sie Leiterin der „Esperanza School“, einer heilpädagogischen Einrichtung auf anthroposophischer Grundlage. Heute hat Lafrenz vier Kinder und sieben Enkel und lebt in South Carolina. Als „Weiße Rose der Anthroposophie“ wurde sie in einem Newsletter der ortsansässigen Anthroposophischen Gesellschaft bezeichnet, Ausstellungen widmen sich auch ihrer Person, 2009 erhielt sie die Herbert-Weichmann-Medaille von der jüdischen Gemeinde Hamburg (vgl. Kathleene Wright (?): Anthroposophy’s ‘White Rose’, in: Sophia Sun – Newsletter of the Anthroposophical Society in North Carolina, June 2008, I, 3, 30). Wie kam Traute Lafrenz zur Anthroposophie?

In die Aktionen der „Weißen Rose“ war Traute Lafrenz nicht zufällig und nur durch den Kontakt zu den zentralen Figuren der Weißen Rose, Scholl,  Kucharsky und Schmorell, involviert. Eine wichtige Rolle für die Motivation von Kucharsky und Lafrenz spielte die Lehrerin Erna Stahl (1900-1980). Sie hatte Deutsch, Geschichte und Kunstgeschichte in Wien studiert, bevor sie nach dem zweiten Staatsexamen eine Klasse in der reformpädagogischen Lichtwark-Schule übernahm (Vgl. Zankel a.a.O., 531). In dieser Klasse war neben Kucharsky und Lafrenz auch Margareta Rothe, die ebenfalls im Kreis der „Weißen Rose“ tätig war und dafür hingerichtet wurde. Die Lichtwarkschule, deren von Alfred Lichtwark konzipiertes Programm übrigens von Steiner nur ein einziges Mal, aber zustimmend zitiert wurde (Steiner: GA 298, 53), war mit der Waldorfpädagogik zumindest im ästhetischen und „naturnahen“ Anspruch vergleichbar (vgl. Zander: Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, 1388, 1422).

Erna Stahl

Peter Norman Waage zitiert die Erinnerungen von Lafrenz über die spezifische Prägung von Erna Stahls Unterricht:

„‚Unsere war ihre erste Klasse‘, berichtet Traute. ‚Ich stieß im sechsten Schuljahr dazu. Die Lehrer konnten ihren Unterricht mehr oder weniger so gestalten, wie sie es selbst wollten. Erna Stahl war von der Waldorfpädagogik inspiriert. Sie hatte einen guten Freund, der Waldorflehrer war, und bediente sich einer ganzen Reihe entsprechender Methoden. Sie hatte offensichtlich auch Steiner gelesen, das begriff ich im Nachhinein. Ich bin die einzige unter ihren Schülern, die später mit der Anthroposophie weitergemacht hat; tatsächlich habe ich kurz nach Abschluss der Schule angefangen, ‚Die Philosophie der Freiheit‘ [GA 4] zu lesen. Ich habe auch versucht, Hans [Scholl] dafür zu interessieren, aber das funktionierte überhaupt nicht.“ (Lafrenz zit. in: Waage a.a.O., 29)

„Die Literatur, die Hans zu dieser Zeit las, strahlte eine ethisch-moralische Kraft aus‘, erzählt Traute. ‚Es waren einige sogenannte neokatholische Schriften, aber es handelt sich nicht nur um religiöse Literatur. In der ersten Zeit nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten waren alle politisch Oppositionellen verhaftet worden. Die Opposition, die übrig blieb, gründete sich auf Ethik und auf ein spirituelles Erleben der Welt [eine Perspektive, die scheinbar den kommunistischen Widerstand vollständig ausblendet – AM] … Doch mein Interesse galt der Anthroposophie, die mir trotz allem näher stand als der Katholizismus. Ich traf mich in dieser Zeit auch mit anderen Leuten; wir lasen Rudolf Steiners ‚Philosophie der Freiheit‘. Hans stand Steiner völlig fremd gegenüber.“ (zit. n. ebd., 58, vgl. auch Katrin Seybold: Katz und Maus).

“Dabei fällt mir ein, dass das, was uns als Einzelne während dieser Zeit am tiefsten anging, nämlich, wie jeder von uns ein aufrichtiges Verhältnis zum Christentum zu bekommen anfing, selten oder nie besprochen wurde.” (Traute Lafrenz in: Inge Scholl: Die Weiße Rose (1982), Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1992, 170 – ihr Bericht wird als einer der zuverlässigsten in der Literatur zur Weißen Rose gerechnet, vgl. Zankel a.a.O., 543)

Traute Lafrenz Erinnerungen an Stahls Unterricht werden aus anderen Quellen bestätigt. Verschiedene ehemalige Schüler haben v.a. die Betonung der Werte „Freiheit und Gewissen“ auf Grundlage eines patriotischen Geschichtsbewusstseins als charakteristisch für diesen Unterricht empfunden. Da war die Rede von einer „Erziehung zum Menschen, der sich selbst erkennt und sich selbst überwindet nach dem Vorbild des Georgsritters, der für das Gute streitet und das Böse besiegt“ (Belege bei Zankel a.a.O., 533). Diese etwas pathetischen Erinnerungen wurzeln in Stahls wohl deutlich artikulierter Abneigung von Personenkult, Uniformierung und Militarisierung (ebd.) und zeigten sich konkret etwa darin, dass Stahl ihre Schüler nach der Machtübernahme weiterhin mit „Guten Morgen, Herrschaften“ (statt „Heil Hitler“) begrüßte. Auf eine Ausstellung der Nazis zur „Entarteten Kunst“ reagierte die Kunsthistorikerin, indem sie mit ihren Schülern die Künstler der „Brücke“ und des „Blauen Reiters“ behandelte. Als sie für die Osterferien 1935 eine Klassenfahrt nach Berlin organisierte, um die Originalbilder dieser Künstler anzusehen, führte das zu ihrem Rausschmiss.

Die Lichtwarkschule, bei den Nazis als das „rote Mistbeet von Winterhude“ bekannt (vgl. Maria Krebs, Michael Verhohen: Die Weiße Rose. Der Widerstand gegen Hitler, Frankfurt 1982, 63), wurde 1937 „gesäubert“: Die Lehrer wurden entlassen und versetzt – Erna Stahl, wie erwähnt, schon zwei Jahre vorher –, die Schule selbst wurde aufgelöst. Stahl hielt aber Kontakt zu einigen ihrer ehemaligen Schüler. Schon vor 1935, aber von da ab über ein Jahr regelmäßig, fanden bei ihr wöchentlich private Treffen statt, die die Beschäftigung mit den angedeuteten Personen und Werken fortsetzten und erweiterten.

„Dort herrscht eine literarisch-philosophische Atmosphäre mit stark religiösen Akzenten und anthroposophischem Hintergrund. So liest man Texte der Bibel, die Gralssage, Dantes ‚Göttliche Komödie‘, Dichtungen der Romantiker oder des Expressionismus. Man befasst sich zugleich mit den Malern, die inzwischen zur ‚entarteten Kunst‘ gerechnet werden (Marc, Kandinsky).“ (Krebs/Verhohen a.a.O., S. 64 – Hervorhebung AM)

Vielleicht waren die dominanten anthroposophischen Elemente z.T. der Anthroposophin Hilde Meyer-Froebe zu verdanken, die 1924/25 in Wien mit Stahl studiert hatte, sie nach dem 2. Weltkrieg unterstützte und die Waldorfschule Rendsburg gründete. Stahl wurde aufgrund ihrer Verwicklungen mit den antinazistischen Tätigkeiten der Weißen Rose am 4.12.1943 von der Gestapo verhaftet. Wegen Vorbereitung zum Hochverrat, Feindbegünstigung, Wehrkraftzersetzung, Rundfunkverbrechen und „planmäßiger Verseuchung der Jugend“ wurde ihr der Prozess gemacht. Im April 1945 wurde sie mit einer Mitangeklagten von amerikanischen Truppen befreit. Auch Lafrenz war im März 1943 verhaftet worden. “Öde gleichförmige Tage, lange Nächte, jedes Klagen verbot sich von selber angesichts des Schicksals der sechs anderen.” (so Lafrenz im Erfahrungsbericht für Inge Scholl: Die Weiße Rose, a.a.O., 176).

Stahls heute bekannteste Hinterlassenschaft ist allerdings die zusammen mit Meyer-Froebe und Hilde Ahlgrimm gegründete Albert-Schweitzer-Schule Hamburg. Insbesondere im Rahmen dieses Blogs ist die Einrichtung bemerkenswert: Sie ist die einzige Schule, die explizit Waldorfpädagogik ohne Anthroposophie macht – und dadurch die einzige öffentliche Schule, die auf waldorfpädagogischen Grundlagen steht: Kein Sitzenbleiben bis Klasse 10, starke musisch-kreative Ausrichtung, Lernen mit „Kopf, Herz und Hand“. Dass es eine solche Schule gibt, wird in den affirmativen wie kritischen Publikationen zur Waldorfpädagogik gern übersehen. Waldorfkritiker, die sich das kritisierte Modell als ideologische Kaderschmiede imaginieren, halten Waldorfpädagogik ohne Anthroposophie für ebenso unmöglich wie viele Anthroposophen sie für karikiert und schädlich halten. In ihrer (unfreiwillig) prästabilisierten Harmonie haben diese einander so entgegengesetzten Diskutanten offenbar beide ihre Scheuklappen.

Karl Rössel-Majdan

Wie für Erna Stahl (vgl. Zankel a.a.O., 533) war auch für den österreichischen Anthroposophen in zweiter Generation, Karl Rössel-Majdan, das Motiv des Drachentöters St. Georg wichtig. Der Deckname Rössel-Majdans im politisch konservativen Widerstandskreis „Großösterreichische Freiheitsbewegung“ lautete Georg Michael, und unter diesem Pseudonym sollte er später Gedichte veröffentlichen. Im Hintergrund stand die anthroposophische Angelogie Rudolf Steiners, die den Erzengel Michael neben allerlei kosmologischen Spekulationen als Verteidiger des menschlichen „Ich“ deutete: „Wenn der Mensch die Freiheit sucht ohne Anwandlung zum Egoismus, wenn ihm Freiheit wird reine Liebe zur auszuführenden Handlung, dann hat er die Möglichkeit, sich Michael zu nahen…“ (Steiner: GA 26, 117). Schon im Elternhaus kam der Sohn eines in der Österreichischen Anthroposophischen Gesellschaft engagierten Sängers mit dem Steinerschen Gedankengut in Berührung. In einem (im Ganzen kritischen) Bericht der Zeitschrift Profil fasste Hubertus Czernin zusammen:

„Rössel war vom ersten Anschlusstag im Widerstand, er verweigerte den Hitlergruß, beschädigte eine Gedenktafel für die Dollfuß-Mörder, war dann in der legendären Gruppe Dr. Kastelic aktiv, wurde verhaftet, vom Volksgerichtshof zu zehn Jahren verurteilt. Sein Bruder wurde von SSlern totgeprügelt. Er selbst floh im Frühjahr 1945, kurz vor dem Einzug der Roten Armee, aus dem Lager Lohau – und dennoch fällt etwa dem früheren Leiter des Dokumentationsarchivs des Widerstandes, Herbert Steiner, zu Rössel nicht mehr ein als: ‚Er war eine positive Figur im Widerstand.'“ (Profil 47/1985)

Dasselbe Dokumentationsarchiv stellt online drei sehr detaillierte autobiographische Berichte zu den eben zitierten Tätigkeiten zur Verfügung, die ich hier aus Platzgründen nicht wiedergebe. Die idealistischen Motive Rössel-Majdans lassen sich dort (mit allen Tücken autobiographischer Memoirenliteratur) gut nachlesen. Hier seien vor allem organisatorische Details aufgelistet: Die „Großösterreichische Friedensbewegung“ gruppierte sich um drei Personen: den christlichsozialen Jacob Kastelic, den sozialistischen Journalisten Hans Schwendenwein und eben den „parteilosen Schriftsteller“ Rössel-Majdan. An der Universität hatten sich „unabhängige Studenten“ getroffen, es bildete sich eine Gruppe, die zu dem nach London emigrierten Juden „Dr. Hecht“ Kontakt hielt, 1938 fand im Hietzinger Café Wunderer ein Treffen des eben aufgezählten Trios statt. Decknamen wurden verabredet, Strukturen eingerichtet, in denen jeder Beteiligte nur zwei andere kennen durfte.

„Um diesen größeren Kreis bildete sich schon bald eine größere Gruppe, der unter anderem der Schriftsteller Günther Loch und als militärischer Berater Oberst Buchinger und Oberstleutnant Dr. Hans Blumental angehörten. Über den Ottakringer Arbeiter Rudolf Zetsche, den Rössel-Majdan kannte, wird die Verbindung zum sozialistischen Kreis um den alten Arbeiterführer Sever hergestellt.“ (Otto Molden: Der Ruf des Gewissens, München 1958, 76)

Weitere Aktivitäten folgten, vor allem aber begeisterte man sich für Vorstellungen einer vermeintlichen politischen Reorganisation Österreich-Ungarns nach dem Ende der Nazi-Diktatur. Im Sinne einer parlamentarischen Monarchie sollte der ‚Vielvölkerstaat Habsburg‘ reanimiert und nationalstaatliche Abgrenzung verschiedener ‚Ethnien‘ verhindert werden. Rössel-Majdan: „Wir waren der Ansicht, dass der Donauraum wieder eine Familie werden muss.“ (zit. in Erich Witzmann: Charakter zeigen (Salzburger Nachrichten, 26.10.1988), in: Anton Kimpfler (Hg.): Aufstand des Geistes gegen den Ungeist der Zeit. Zur Lebensarbeit von Karl Rössel-Majdan, Kiel 2002/3, 10). Unübersehbar waren die anthroposophischen Einflüsse: „Das neue, nach sachlichen Gesichtspunkten gegliederte Parlament sollte anstelle der einzelnen Parteien aus einem Staatsrat, einem Wirtschaftsrat und einem Kulturrat bestehen.“ (Witzmann ebd.), diese Entflechtung von Staat, Wirtschaft und Kultur ist der organisatorische Nucleus von Steiners Politentwurf für eine „Dreigliederung des Sozialen Organismus“.

So romantisch-regressiv man diese Vorstellung von der Überwindung des Nationalstaats finden kann, so tollkühn war doch Rössel-Majdans Aktionismus: 1940 wurde er eingezogen und an die Westfront geschickt und landete, von einem Granatensplitter verwundet, im Lazarett. Dort schlich er sich nachts nach draußen, um Truppenbewegungen zu registrieren und Bekannten zu vermitteln. Die Briefe wurden abgefangen und Rössel-Majdan vom Lazarettbett weg von der Gestapo verhaftet. Das Leben retteten ihm seine Notizen von einem Treffen verschiedener Widerstandsgruppen in der Hietzinger Prinz-Eugen-Straße. „Rössel-Majdan verzeichnete das Treffen in seinem Kalender, aber er schrieb bewusst das Gegenteil dessen auf, was tatsächlich gesprochen und verabredet wurde.“ (ebd., 11). Dieses Treffen war bereits aufgedeckt worden und der Volksgerichtshof wertete seine Berichte als unglaubwürdig, was ihm die Todesstrafe ersparte.

Nach 1945 bemühte sich Rössel-Majdans Vater zusammen mit Julius Breitenstein um den Wiederaufbau einer Anthroposophischen Gesellschaft in Österreich. Die Episode ist erwähnenswert, da ihm hier unerwartet Hürden in den Weg gelegt wurden. Ehemalige Mitglieder der AG zeigten sich „ängstlich“, und auch nachdem Rössel-Majdan junior vor der russischen Geheimpolizei vorgesprochen hatte, blieben sie der Anthroposophischen Gesellschaft fern. „Später erwies sich, dass manche von ihnen Mitglieder der NSDAP oder Mitläufer waren.“ (Wolfgang Peter: Falsche oder echte Freunde, in Kimpfler a.a.O, 42). Bald darauf wurde in Graz (englische Besatzungszone) eine neue, vom Dornacher Anthroposophenvatikan anerkannte Anthroposophische Gesellschaft gegründet, was zur Spaltung der österreichischen Anthroposophen führte. Rössel-Majdans Aktivitäten wurden systematisch zurückgedrängt, so dass er in der Anthroposophischen Geschichtsschreibung anscheinend einfach vergessen wurde – der Dornacher Archivar Uwe Werner soll sich noch zu Lebzeiten Rössel-Majdans bei diesem entschuldigt haben, dass er ihn in seiner Studie über „Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus“ (München 1999) kein einziges Mal erwähnt hatte. Auch an anderer Stelle geriet Rössel-Majdan in Konflikt mit der organisierten Anthroposophie. So begleitete er die Gründung mehrerer Waldorfschulen in seiner Heimatregion und handelte sich deshalb juristische Streitigkeiten mit dem „Bund der Freien Waldorfschulen“ ein, der die Namensrechte an „Waldorf“ innehat. Die Auseinandersetzung bezeichnete er ungnädig als „Sektenkrieg“: „Wir werden schauen, dass wir dieses Kartell auch in Deutschland abwürgen.“

Rössel-Majdans umfangreiche anthroposophische Aktivitäten waren aber nur eine Seite seines politischen Engagements. Neben Reisen nach Israel und in die USA legte er insgesamt drei Dissertationen vor (Dr. jur. 1939, Dr. phil. 1949, Dr. rer. pol. 1951), arbeitete beim Rundfunk und wurde vor allem durch seine Tätigkeit bei der „Gewerkschaft für Kunst, Medien und freie Berufe“ bekannt. Dort setzte er sich unter dem Motto „Kultur als dritte Kraft“ (neben Wirtschaft und Politik) weiterhin für die anthroposophische Dreigliederung ein. Wie Erna Stahl kommt Rössel-Majdan in der anthroposophischen Geschichtsschreibung praktisch nicht vor. Ob das auch daran liegt, dass sie eben nicht nur gegenüber dem Nationalsozialismus, sondern auch der anthroposophischen Orthodoxie opponierten, bleibt eine Spekulation, aber eine naheliegende.

Valentin Tomberg

Bei Tomberg trifft diese Spekulation allerdings in Schwarze. Während zu dessen Fans etwa Hans Urs von Balthasar oder Robert Spaemann zählen, rechnen ihn breite anthroposophische Kreise zu „jesuitisch“ motivierten Feinden der Anthroposophie, denn Tomberg, aus der Anthroposophischen Gesellschaft herausgeekelt, wandte sich schließlich der Katholischen Kirche zu. Im Alter von 25 Jahren und noch zu Lebzeiten Steiners war er Vorsitzender der Anthroposophischen Gesellschaft in Estland geworden. 1938, nach dem Verbot der deutschen Anthroposophischen Gesellschaft durch die Nazis, übersiedelte Tomberg mit seiner Familie in die Niederlande. Dort kam es zum Konflikt mit der Anthroposophischen Zentrale in Dornach. Im chaotischen Zustand der anthroposophischen Szene nach Steiners Tod konnte es nicht ausbleiben, dass der in religiösen Fragen umtriebige und keinesfalls linientreu anthroposophische Tomberg

“…bei Anthroposophen alsbald den Eindruck einer zu großen geistigen Selbstständigkeit erweckte. Dergleichen pflegt meist nicht ohne Spannungen und Missverständnisse abzugehen. Sollte dieser Mann spirituelle Ansprüche erheben und damit das Tun der von Steiner selbst ernanten ’esoterischen’ Vorstandsmitglieder [der Anthroposophischen Gesellschaft – AM] in den Schatten stellen wollen? … Für einen aus eigener spiritueller Erfahrung Schöpfenden, für einen (durchaus im Sinne Steiners) aktiven Selbstdenker schien in einer desolaten Anthroposophischen Gesellschaft kein Platz zu sein.” (Wehr: Spirituelle Meister, Kreuzlingen 2007, 242)

“In Tomberg und seinem Werk war eine spirituelle Autorität entstanden, die Steiners de facto monokratischen Geltungsanspruch als Hellseher in Frage stellte. Im Dezember 1933 wurde ihm im ‘Goetheanum’ die Kompetenz als authentischer Interpret Steiners abgesprochen, Marie Steiner blies 1936 zum ‘unvermeidlichen Kampf’ gegen den ‘wahnbefangenen okkulten Lehrer’ und betrieb seinen Ausschluss aus der Anthroposophischen Gesellschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg soll es, so Martin Kriele, ein Verbot gegeben haben, Tombergs Bücher in den Zimmern der Studenten im Priesterseminar der Christengemeinschaft aufzubewahren, und noch 1995 wurde dem inzwischen Verstorbenen vorgehalten, er habe ‘Schmeichelei und Dolchstich mit jesuitischer Raffinesse’ gehandhabt und sei ‘in das Lager [der] unerbittlichsten Erzfeinde der Anthroposophie, also der katholischen Kirche, gewechselt, so dass sein Verhalten ‘nicht anders denn als geistiger Verrat bezeichnet werden’ könne. Diese Position wird heute längst nicht mehr von allen Anthroposophen geteilt [Tombergs Werk steht zB in der Bibliothek am Goetheanum direkt bei den anthroposophischen Periodika, vor allem im ehemals Schaffhausener Novalis-Verlag werden viele „Tombergianer“ vermutet – AM]. Aber diese Polemik legt das Konfliktpotential in dem Anspruch offen, Steiner gleich in die verborgene ‘übersinnliche’ Welt einzutreten.” (Zander a.a.O., S. 727)

Bis zur deutschen Besatzung der Niederlande arbeitete Tomberg im estnischen Vize-Konsulat in Amsterdam, danach hielt er sich mit Sprachunterricht über Wasser. Bekannt ist sein Austausch mit Ita Wegman und Elisabeth Vreede, zwei der wenigen Anthroposophinnen, deren unzweideutige Ablehnung des Nationalsozialismus leidlich sicher dokumentiert ist. Die genauen Tätigkeiten Tombergs im Widerstand sind dagegen leider nur spärlich überliefert, weder in der positiven noch ablehnenden Literatur sind Einzelheiten zu finden, wenn auch nirgendwo bestritten wird, dass es diese gab. Exemplarisch für diese relativ vage Literatur sei Gerhard Wehr zitiert, “…dass er den Nationalsozialismus kompromisslos ablehnte und er dies während der deutschen Besatzung in den Niederlanden auf der Seite des Widerstandes auch durch die Tat bewies.” (Wehr a.a.O., 242f.). Die einzige Ausnahme ist Wolfgang Garvelmann, selbst nicht unumstrittener Anthroposoph, der Tomberg 1944/45 kennenlernte. Nach Garvelmann half Tomberg, abgeschossene englische Flieger zu verstecken und zum Ärmelkanal zu schleusen  (Wolfgang Garvelmann: Valentin Tomberg – ein Versuch, ihm gerecht zu werden, in: info3, 5/1988, S. 6, vgl. Elisabeth Heckmann: Valentin Tomberg. Leben – Werk – Wirkung: Eine Biografie, Schaffhausen 2001, 380f., die ebenfalls Garvelmann zitiert).

Spärlich sind auch die Informationen über den Einfluss von Tombergs im Widerstand geknüpften Kontakten auf seine “innere” Biographie, seine weltanschauliche Entwicklung. Fest steht, dass es Freundschaften mit katholisch gläubigen Widerständlern gab, von denen einige mit dem Leben für ihre Tätigkeit bezahlten (Heckmann a.a.O., 377). Hatte Tomberg der Katholischen Kirche nach anthroposophischem Konsens anfangs sehr kritisch gegenüber gestanden, äußerte er sich 1942/43 fast kryptisch in seinem “Vater-Unser-Kurs”, in dem er sich auch unmissverständlich gegen den Nationalsozialismus als verstandesvernebelnde “Überschwemmung” und Verlust humaner Werte geäußert hatte, positiv über die Rolle der Katholischen Kirche. Tomberg beschwor, die natioanlsozialistische “Überschwemmung” der “Seelen” könne nur durch inneren, persönlichen Widerstand, überstanden werden, durch

“das Bauen einer Arche … alle Kulturwerke und Wahrheiten im Extrakt sammeln und bewahren. Unausgelöschte Erinnerung an alles Wesentliche des Wahren und Guten. Das ist das Schwimmzeug, um nicht zu ertrinken.” (zit. n. ebd., 375),

In diesem Zusammenhang sprach Tomberg neben einem “esoterischen”, “johanneischen”, verborgen wirkenden “innerlichen” Christentum anerkennend von der „in der Gegenwart gegen das Böse kämpfende[n] katholische[n] Kirche” – wohinter sich weniger eine Wertschätzung römischer Ideenpolitik als vielmehr sein Kontakt zu aufrichtig antinazistischen Katholiken spiegelt (ebd., 377). Nach seinem unsanften Rausschmiss aus der Anthroposophischen Gesellschaft trat er schließlich 1942 nach sorgfältiger Überlegung in die Katholische Kirche ein, von deren spiritueller Kraft er seit dieser Zeit überzeugt war. Die Nachwirkungen seiner Rettungsversuche abgeschossener englischer Piloten zeigten sich erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs:

“Als ausländischer Akademiker in Diensten der britischen Streitkräfte erhielt Tomberg den Rang eines Offiziers sowie eine entsprechende Uniform. Beides kennzeichnete ihn nach außen hin als Engländer, auch wenn er eigentlich Este und nach der sowjetischen Annexion seines Heimatlandes staatenlos war. Von den Mülheimern wurde er jedoch als britischer Offizier wahrgenommen und dementsprechend mit respektvoller Distanz behandelt … Da Tomberg neben Russisch auch schon früh die deutsche Sprache erlernt hatte und diese hervorragend beherrschte, übernahm er für den stellvertretenden Mülheimer Stadtkommandanten William (“Billy”) Reynolds Dolmetscheraufgaben. Zudem sollte Tomberg auf Wunsch von Reynolds in die Umerziehungsmaßnahmen der Engländer, die sogenannte “reeducation”, miteinbezogen werden. Diese Maßnahmen zielten auf die demokratische Neuorientierung (“reorientation”) der deutschen Bevölkerung und bezogen sich somit im Wesentlichen auf das Schul- und Bildungswesen … Tombergs Wirken in Mülheim machte ihn über die Stadtgrenzen hinaus bekannt und brachte ihm zunehmend Vortragsanfragen aus anderen Städten ein. Die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule (RWTH) in Aachen bot ihm im Herbst 1946 sogar einen Lehrauftrag für “Ethik und Recht” an.” (Jens Roepstorf: Valentin Tomberg)

Deutschtum und Deutschtum

Tombergs Einbindung in Entnazifizierungskommissionen allein ist allerdings kein politischer Persilschein: Einer seiner Bekannten, der Anthroposoph Ernst von Hippel, widmete sich als Juraprofessor in der Naziära leidenschaftlich der „Entjudung“ der Universitäten (vgl. Peter Bierl: Wurzelrasen, Erzengel und Volksgeister (1999), Hamburg 2005, 186f., 198f., Peter Staudenmaier: Between occultism and fascism: Anthroposophy and the politics of race and nation in Germany and Italy, 1900-1945, Connell University 2010, 268ff.) auch wenn seine eigenen Bücher teilweise auf den Verbotslisten der Nazis standen (Uwe Werner a.a.O., 249). Später gehörte Hippel ironischerweise zum Entnazifizierungsausschuss der Universität Köln (Bierl a.a.O., 198). Zu seinem 70. Geburtstag erhielt er das Bundesverdienstkreuz (ebd., 199). Genau wie der Jurist Rössel-Majdan beschuldigte Hippel vor allem den Rechtspositivismus und namentlich Hans Kelsen, durch seine „geistlose“ Rechtsphilosophie dem Nationalsozialismus Tür und Tor geöffnet zu haben. Der jüdische Jurist Kelsen wurde von den Nazis natürlich in keiner Weise hofiert, 1934 in den „Ruhestand“ versetzt und musste emigrieren.

Tomberg selbst, vor allem an Steiners christologischen Entwürfen interessiert, entkam den antijudaistischen Implikationen der anthroposophischen Geschichtstheorie weitgehend und bezog sich etwa positiv auf die Idee des Volkes Israel.

“Sie haben 7000000 Juden ermordet. Das Ergebnis? Ein neues Volk Israel ist entstanden. Das sind wir, wir alle – Sie und ich und unsere Kinder und Sasche Benckendorf und Popescu und Anghelatos und jene Polen mit abweisenden Gesichtern – wir alle sind ein einziges Volk. Unser Land ist unsichtbar und unser Weg ist ohne Wegweiser und ohne Spuren von Menschenfüßen, denn niemand ist uns voraus gegangen. … Wir stehen äußerlich unter dem zufälligen Gesetz dieses oder jenes Landes, aber unser wahres Gesetz ist, dass wir alle eins sind, ohne Worte, ohne Vorträge, ohne Konferenzen. Jeder allein für sich – wir gehen durch die Wüste. Denn wir haben keine Heimat…” (zit. n. Heckmann a.a.O., S. 312f.)

Und doch schlug das anthroposophische Rassedenken auch bei ihm zu: Die Mutter des in St. Petersburg geborenen Tomberg wurde in den Wirren der Oktoberrevolution 1918 erschossen, Tomberg ging daraufhin nach Estland. Eine ähnliche Biographie hatte auch dem zeitweiligen Anthroposophen und nachherigen (bekennend nationalsozialistischen) Steinergegner Gregor Schwartz-Bostunitsch zum Befürworter antibolschewistischer Argumentationen gemacht (vgl. Goodrick-Clarke: Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Wiesbaden 2004, 149). Auch Tomberg war überzeugt, im Kommunismus dämonische Kräfte zu erkennen. In mehreren Aufsätzen aus dem Jahr 1931 wandte er sich in der Zeitschrift „Anthroposophie“ gegen böse geistige Mächte, die in seiner Phantasie an der Unterwanderung Osteuropas durch antichristliche Gedanken aus Fernost arbeiteten (vgl. Tomberg: Das Chinesentum und der europäische Osten, in: Anthroposophie 2/1931, 49-51).

Aus dem Denken von Traute Lafrenz, Karl Rössel-Majdan und Erna Stahl sind mir solche völkerpsychologischen Abwertungen nicht bekannt. Bei den letzten beiden findet sich allerdings ein affirmativer Bezug auf Deutschland. So begründete Erna Stahl ihre antinazistischen Ambitionen u.a.:

“Hinzu kommt, dass ich zutiefst überzeugt war von der verheerenden, nie wieder zu reparierenden, dämonischen Vernichtung aller eigentlich menschlichen und besonders der Deutschen Seelenkräfte [im Nationalsozialismus – AM]. Ich machte mir zur Pflicht, in den Kreis, in den ich gestellt war, zu jeder Minute und mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln zu wirken, dass innere Gegengewichte in den Schülern gegen jene verheerenden Wirkungen entwickelt würden.” (Erna Stahl zit. n. Zankel a.a.O., 532)

Und Rössel-Majdan berichtete:

„Im Gestapo-Verhör die Frage: ‚Sie waren nicht Marxist, sie sind arisch, warum sind Sie gegen uns?‘ Meine Antwort kam prompt: ‚Aus meinem Deutschtum, weil Goethe und Schiller und der deutsche Humanismus gerade das Gegenteil von dem ist, was Hitler vertritt.'“ (zit. n. Witzmann a.a.O., 8)

Diese Erzählung mag stimmen oder nicht, sie entspricht recht exakt dem „Deutschtum“, das in anthroposophischen Kreisen gern gegen das nationalsozialistische abgehoben wird:

„Nicht jener gefährliche Nationalstolz der Nazis war damit gemeint, der die Welt in Flammen gesetzt hatte, sondern das gerade Gegenteil, die geistige Wiege genialer Geister wie Schiller, Goethe und Fichte … und nicht zuletzt Rudolf Steiners. Jedes Volk, und sei es noch so klein und politisch unbedeutend, hat seinen Beitrag zur Menschheitskultur zu leisten.“ (Wolfgang Peter, ebd., 3)

In dieser Verflechtung von Völkerpsychologie und Universalismus liegt der Schlüssel, um das Verhalten von Anthroposophen im Nationalsozialismus zu verstehen. An Steiners esoterische „Mission“ Deutschlands ließ sich sowohl im pronazistischen Sinne anknüpfen als auch die Bekämpfung des Faschismus fordern. In vielleicht noch stärkerer Weise war dies im italienischen Faschismus möglich, wo AnthroposophInnen lange Zeit unbehelligt blieben: Hier gediehen üble Rassismen und waren politische Anthroposophen an der Judenverfolgung beteiligt  – und doch gleichzeitig Steiner im Widerstand präsent, wie Peter Staudenmaier enthüllte:

“Fascist anti-esoteric measures were a potential danger to anthroposophy, not least because several anthroposophists were involved in antifascist activities. Violet Gibson, the eccentric Anglo-Irish aristocrat who tried to assassinate Mussolini in 1926, traveled in theosophical and anthroposophical circles. Antifascist author and literary figure Armando Cavalli was an anthroposophist, and Eugenio Curiel, a prominent figure in the antifascist resistance, was for a time drawn to anthroposophy as well. Curiel (1912-1945), a physicist from a Jewish family in Trieste, played an important role in Resistance groups in the late 1930s and 1940s. He was murdered by Fascist soldiers in February 1945. In the early 1930s Curiel was deeply influenced by anthroposophical ideas. His commitment to anthroposophy, lasting approximately three years, was part of a turbulent ideological and political development … Alongside Colonna di Cesarò, Curiel’s ideological trajectory indicates the political volatility of anthroposophical engagement in the Fascist era … Briamonte argues that Curiel’s early dedication to Steiner left significant traces in his later thought. Though Curiel’s adherence to anthroposophy was transitory, it was not an anomaly in antifascist circles; Briamonte, 126 quotes a 1944 correspondence between two young antifascists interested in anthroposophy.” (Staudenmaier: Between  S. 417f.)

Mein Artikel beansprucht kein abschließendes Urteil zu diesem Thema. Die Darstellung zu den Aktivitäten der Weißen Rose ist beispielsweise unzulässig verkürzt und Valentin Tombergs weltanschauliche Kehren wären ein völlig eigenes Kapitel. Hier ging es darum, die bisher publizierten Fakten zum Thema zusammenzutragen und dabei hoffentlich Fragen aufzuwerfen. Welche Rolle spielte zum Beispiel die erwähnte Anthroposophin Hilde Meyer-Froebe für Erna Stahl? Wie begründete Stahl ihre Rezeption anthroposophischer Praxis bei gleichzeitiger Umgehung der ideologischen Grundlagen? In welchem Personenkreis las Traute Lafrenz Steiners „Philosophie der Freiheit“? Wie kam Valentin Tomberg in Kontakt mit dem Widerstand? Spielte Steiners Dreigliederungskonzept wirklich eine Rolle in der für gewöhnlich katholisch eingestuften Großösterreichischen Friedensbewegung oder liebäugelte allein Rössel-Majdan damit? Warum sind die vier hier vorgestellten Personen in der anthroposophischen Literatur zum Thema fast durchweg unauffindbar?

Die Geschichte der Anthroposophie im Nationalsozialismus muss nicht umgeschrieben werden. In keinem Fall dürfen diese (wenigen) Figuren im Umfeld des Widerstands als Ablenkung vom Verhalten vieler profaschistischer Anthroposophen instrumentalisiert werden. Interessant sind sie vielleicht vor allem, um die beträchtlichen Differenzen im „Deutschland“-Bild esoterischer Strömungen des 20. Jahrhunderts aufzuzeigen, und auch den deutschen Pathos bei vielen Widerständlern (Stichwort: Stauffenberg). Die Steinersche Version davon machte viele Anthroposophen zu „nützlichen Idioten“ der NS-Ideologie, konnte sich aber auch zu einer Konkurrenz und Bedrohung derselben auswachsen, nicht nur im Falle der anthroposophisch motivierten Widerständler:

„[Steiner] hatte es bereits geschafft, sich bei den Unterstützern eines organischen Nationalismus unbeliebt zu machen, indem er in der Frühzeit des Ersten Weltkrieges eine Lehre der ‚Volksseele‘ vorgetragen hatte. Die britische Volksseele sei – natürlich – ein Ausdruck des puren Materialismus, die deutsche allein kommuniziere unmittelbar mit dem Geist. Das war ein weiteres unbefugtes Eindringen in die geheiligten Gefilde der völkischen Orthodoxie. Eckart sah Steiner als Internationalisten und Kommunisten an – und daher als einen verschwörerischen Juden, der mit dem Hass der ‚Erleuchteten‘ auf seine zurückgewiesenen Genossen übergossen werden musste.“ (James Webb: Das Zeitalter des Irrationalen (1976), Wiesbaden 2008, 340)

20. März 2012 at 10:03 pm 17 Kommentare


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