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Vidars Gefolgschaft: Antisemitismus in der norwegischen Anthroposophie. Ein Interview mit Prof. Jan-Erik Ebbestad Hansen
Jan-Erik Ebbestad Hansen ist Professor (em.) für Ideengeschichte der Universität Oslo und Rezensent für die Abendzeitschrift „Aftenposten“. Wir sprachen über die Anthroposophie in Norwegen, in der sich, wie in Deutschland, völkisch-antisemitische Denkmotive mit einer aggressiven Polemik gegen Kritiker, die darauf hinweisen, verbinden.
Ansgar Martins: Sie haben sich intensiv mit Theorie-Traditionen wie der christlichen Mystik, der Faust-Literatur und der Romantik beschäftigt. Sehen Sie hier Parallelen zur Anthroposophie oder sogar Gemeinsamkeiten? Wie stehen Sie zur Konstruktion einer „esoterischen“ Ideengeschichte?
Prof. Hansen: Ja, hier gibt es Gemeinsamkeiten und Parallelen. Bekanntermaßen hatte die christliche Mystik, oder jedenfalls was er als Mystik verstand, eine entscheidende Rolle für Steiner. Er erzählt ja selber, dass er in der christlichen Mystik wichtige Begriffe für sein eigenes Denken gefunden habe. Und die Christologie, die er entwickelt hat, befindet sich in der Nähe einer johanneischen Christus-Logos Mystik. Auch die Faust-Literatur war für Steiner wichtig. Alle Steiner-Kenner wissen ja, welche Bedeutung er Goethes Faust zugemessen hat. Faust ist sozusagen ein anthroposophisches Thema. Auch von der deutschen Romantik gehen deutliche Linien zu Steiners Anthroposophie. Ich denke an die spiritualistisch orientierte Natur- und Geschichtsphilosophie Schellings und Steffens´, die Volksseelen-Idee, Schellings Theosophie, die Revolte gegen ein mechanistisches Weltbild, gegen den Intellektualismus, die französische Aufklärung usw. Wichtig ist auch die Esoterik, die wir in der Romantik finden, z. B. bei Franz von Baader, der Jakob Böhme und Claude de Saint Martin vermittelt hat. Schelling ist ja vom Idealismus zur Theosophie Böhmes und Silesius’ gekommen wie Steiner von einem fichteschen Idealismus in die Theosophie Blawatskys. Diese Theosophien sind ja sehr unterschiedlich, aber dennoch: Eine Ideengeschichte der Esoterik finde ich sehr wichtig, da sie ja in der ideengeschichtlichen Forschung sehr unterbelichtet ist. Ich bin überzeugt davon, dass die allgemeine Ideengeschichte gezwungen sein wird, diese Ideen und Denkweisen zu integrieren. In den zwei letzten Jahrzenten sehen wir, dass die Esoterikforschung ein neues Forschungsgebiet geworden ist, und sie tritt offensiv auf. Ich denke an Antoine Faivre und besonders an Hanegraaff und sein Umfeld in Amsterdam. Und ich denke an wichtige Übersichtpublikationen wie Dictionary of Gnosis and Western Esotericism (2006), Hanegraaffs Esotericism and the Academy (2012), Western Mysticism and Esotericism (2016) und Western Esotericism in Skandinavia (2016). Und was die Anthroposophie angeht, sind ja Helmut Zanders, Peter Staudenmaiers und Ihre eigene Forschung von entscheidender Bedeutung.
Was können Sie über die Entwicklung und Verbreitung der Anthroposophie in Skandinavien, speziell in Norwegen erzählen?
Steiner war ja mehrmals als Theosoph und Anthroposoph in Norwegen, seine Anhänger unter den Theosophen haben 1913 die anthroposophische Vidar-Gruppe und 1923 eine Anthroposophische Landesgesellschaft gegründet. Man hört oft, dass die Anthroposophie in Norwegen im Unterscheid zu anderen Ländern, einen relativ großen Einfluss unter Schriftstellern bzw. Intellektuellen ausgeübt habe. Dies darf nicht übertrieben werden, aber einige Schriftsteller und Intellektuelle versuchen Steiners Ideen zu verteidigen und vermitteln. Heute gibt es sonst mehr als 30 Waldorfschulen in Norwegen, ein Bank, einige Ärtze, Kirche (die Christengemeinschaft), Camp Hill communities, biodynamische Landwirtschaft und einige Zeitschriften.
Wie wird die Anthroposophie in Norwegen heute öffentlich rezipiert und (wie) wird sie wissenschaftlich wahrgenommen?
Die Anthroposophie ist durchaus der wichtigste spirituelle Alterntivimpuls in Norwegen. Die Steiner-Schulen haben Anerkennung gewonnen und bekommen eine öffentliche finanzielle Unterstützung. Wissenschaftlich, in der Akademie, spielt die Anthroposophie kaum eine Rolle. Es gibt aber einige akademische Arbeiten die anthroposophische Aktivitäten thematisieren. Neulich haben wir eine PhD-Abhandlung über die norwegischen Steinerschulen erhalten. Selber habe ich mehrere Masterarbeiten über norwegische anthroposophische Zeitschriften von 1915 bis heute initiiert.
Vor einiger Zeit wurde Kaj Skagens 1000-seitige Biographie des jungen Rudolf Steiner hymnisch in einigen deutschsprachigen anthroposophischen Medien besprochen. Das klingt natürlich nach viel Material oder zumindestnach aufwendiger Interpretation des Bekannten. Wie beurteilen Sie das Buch?
Anthroposophische Hymnen sind meistens Hymnen auf Rudolf Steiner, und von geringem sachlichen Interesse. Skagen ist ein bekannter Schriftsteller, der an der öffentlichen Debatte teilnimmt, oft ziemlich polemisch. Er meint viel und lautstark. Er ist ein Autodidakt, will aber mit seinem Buch über den jungen Steiner zur Forschung beitragen. Es dreht sich nichtsdestowenigerum Vermittlung des schon Bekannten. Man kann aber sagen, dass er in Norwegen der beste Kenner des jungen Steiners ist. Skagenwar seit seiner Jugend ein fanatischer Anthroposoph (er nennt sich selber einen Fanatiker), aber schreibt, dass er jetztaus der Anthroposophie hinaus will. Er hat offensichtlich mit seinem eigenen Dogmatismus und der anthroposophischen Vorstellungswelt Probleme bekommen. In seinem Buch gibt es Ansätze zu einer selbständigen kritischen Darstellung. Das sind aber nur Ansätze. Wir werden sehen, ob er es schafft, sich frei zu machen.
Auch in Norwegen hat es eine Debatte über die Rassentheorien, Völkerstereotype und den Antisemitismus Rudolf Steiners und prominenter Anhänger gegeben. Sie publizieren demnächst eine Monographie zum Thema. Wie kam es dazu?
Vor einigen Jahren hat Professor Tore Rem eine große Biographie über den Schriftsteller Jens Björneboe publiziert, der auch einige Zeit lang von der Anthroposophie inspiriert wurde. Sie hat meistens glänzende Rezensionen bekommen, aber unter den Anthroposophen hat sie heftige Reaktionen hervorgerufen. Kaj Skagen und sein Freund Peter Norman Waage, auch ein loyaler Steiner-Apologet, haben das Buch verrissen. In diesem Streit ereignete sich ein bizarres Beispiel dafür, was passieren kann, wenn man Anthroposophen kritisiert. Skagen veränderte unter einem Pseudonym Rems WIKIPEDIA-Eintrag in eine negative Richtung. In der Debatte wurde auch ich von Kaj Skagen angegriffen, weil ich einer der Lektoren des Verlags war. Die Debatte drehte sich hauptsächlich um das Verhältnis norwegischer Anthroposophen zum Nationalsozialismus. Dann habe ich an den Schriftsteller und Anthroposophen Alf Larsen gedacht, der oft von Anthroposophen als einer der Großen in der Bewegung hervorgehoben wird. Ich habe in seinem Archiv in der norwegischen Nationalbibliothek gesucht und ganz schnell ein großes, unbekanntes Manuskript gefunden, das Das Judenproblem betitelt war. Das war wirklich eine Überraschung. Es war kaum zu glauben, was da geschrieben stand. Ich wusste ja, dass er ein Antisemit war, aber dass er so extrem und grob war, wusste ich nicht. Ich hatte den größten Antisemitender norwegischen Literatur entdeckt. Ich habe sofort verstanden, dass ichmit diesem Material weitergehen musste, und es hat nicht lange gedauert, bis ich auch verstanden habe, dass Larsen nicht der einzige Antisemit unter den norwegischen Anthroposphen war.
Ihr Artikel betont besonders einen Aspekt von Steiners Antisemitismus: Die Vorstellung vom speziellen Charakter des jüdischen Blutes. Bei norwegischen Anthroposophen war das offenbar ein zentrales Thema. In der deutschsprachigen Literatur ist es irritierenderweise meines Wissens kaum ausführlicher untersucht worden. Hier dominiert, von einigen harten anthroposophischen Rassisten abgesehen, m. E. ein anderes Motiv: Steiners Kontrastierung von christlichem und „mitteleuropäischem“ Universalismus mit dem ethnozentrisch-vorchristlichen „Jahwe-Bewusstsein“, das er auch im Ersten Weltkrieg am Werk sah. Allerdings überzeugt Ihr Argument, die Bedeutung der Blutsvorstellung in seinem Bild des Judentums höher einzuschätzen. Der gesamte „internationalistische“ Anspruch seiner Christologie richtet sich gegen die überlebte Rolle der angeblich blutshomogenen Juden: „Sein erstes Auftreten hätte der Christus nicht haben können innerhalb der jüdischen Gemeinde selber, wohl aber in Galiläa, an demjenigen Orte, wo gemischt waren die verschiedensten Völkerstämme und Völkergruppen.“ ([1909] GA 112, 162) Das hätte ich in meinen Büchern stärker pointieren müssen.Wie entwickelte sich in Norwegen der anthroposophische Antisemitismus? Welche Rolle spielte die blutsmaterialistische Dimension von Steiner Völkermythologie?
Der Kontext ist ja auch wichtig, gerade in diesen Jahren wurde die Dichotomie von „Deutschtum“ und des Judentum entwickelt. Auf der einen Seite die Germanen, die Individualismus und Universalismus repräsentieren, auf der andren Seite die Juden, die an Rasse, Blut und Kollektiv gebunden sind. Conrad Englert sagt explizit, dass die Juden ans Blut gebunden seien, dass die jüdische Rasse die Rasse sei, die am stärksten durch das Blut repräsentiert werde. Und Alf Larsen weist mehrmals auf das besondere Blut der Juden hin. Er sagt deutlich, so lange es ein kleines Tröpfchen Judenblut in einem Jude gebe, könne er nicht restlos in ein anderes Volk aufgehen, was ihm eine ideale Notwendigkeit war. Auch Hohlenberg (er war ein Däne, der mehrere Jahre in Norwegen wohnte und wirkte) hebt die Einheit vom Geist und Körper als eine Selbstverständlichkeit hervor.
In welcher Hinsicht galten „die Juden als Lehrer der Nazis“, wie Sie schreiben?
Die anthroposophischen Autoren meinten, dass die Nazis ihre Vorstellungen von Rasse, Volk und Kollektiv von den Juden übernommen haben. Der Nazismus wurde also nicht nur als eine Parallele zum Judentum betrachtet, sondern die Nazis hätten von den Juden gelernt. Larsen sagt zum Beispiel, dass die Rassegesetze der Nazis eine direkte Nachahmung des Alten Testamentes seien.
Wie präsent waren solche Motive bei den leitenden norwegischen Anthroposophen jener Jahre?
Sie haben mehr oder weniger dasselbe gesagt, Johannes Hohlenberg, Conrad Englert und Alf Larsen: Die Juden waren die Lehrmeister. 1941 schrieb Larsen, dass der Nazismus der endgültige Sieg des Judentums auf der Welt sei. Die Juden waren also nicht nur Kommunisten und Kapitalisten, sie waren auch für den Nazismus verantwortlich! Dies muss die endgültige Bestätigung von Adornos These sein, der Antisemitismus sei ein flexibler Mythos.
Änderte sich diese Haltung nach 1945?
Bei Alf Larsen ist sie explodiert, ins Extreme entwickelt. Das Judenproblem wurde in den 1950er Jahren geschrieben. Interessanterweise ist diese Denkweise unter norwegischen Anthroposophen noch möglich. 2009 hat der Rechtsanwalt (höchstes Gericht) und Großanthroposoph Cato Schiötz in einer Diskussion über Larsens Antisemitismus und die Anthroposophie folgendes gesagt: „Larsen kritisiert Juden aus demselben Grund, aus dem er zu den Nazis kritischist. Sie bauen auf einen veralteten Begriff von Rasse und Blut. Dies dreht sich um das Rassenverständnis der Juden, nicht um die Christologie Rudolf Steiners.“
In welchem Verhältnis standen die Anthroposophen zu völkischem Gedankengut in Norwegen?
Hier gibt es ein nahes Verhältnis. Viele Anthroposophen haben die norwegische, germanische Volksseele betont. In der Zwischenkriegszeit gab es beinahe einen Kultus der Volksseele. Es gab eine starke Germanophilie und einen Glauben an die besondere Bedeutung der nordgermanischen, skandinavischen Länder. Sie sahen auch eine Kontinuität zwischen Heidentum und Christentum. Das heißt, dass sie an die heidnischen Götter, wie zum Beispiel Balder und Vidar, glaubten. Das tun norwegische Anthroposophen übrigens noch immer. Die Götter werden als geistige Realitäten aufgefasst. Mit ihrer starken Vidar-Anbetung strebten sie eine Art Synthese von Germanentum und Christentum an. Dies sieht man heute bei einem wichtigen Anthroposophen wie Frode Barkved, er meint, dass es notwendig sei, dass der heidnische Gott Vidar ein Leib für Christus werde.
Hans Büchenbacher schreibt in seinen „Erinnerungen“:
„Der dänische Generalsekretär Johannes Hohlenberg (ein in Dänemark bekannter und anerkannter Schriftsteller und Maler) und ein alter naher Freund von mir seit der Weihnachtstagung, an der er als dänischer Generalsekretär teilgenommen hatte, war Herausgeber der Monatsschrift „Vidar“, in der er auch Vorträge von Dr. Steiner übersetzt veröffentlichen durfte. Nachdem aus dem Titel unserer Wochenschrift „Das Goetheanum“ die Bezeichnungen „international“ und „Dreigliederung“ gestrichen worden waren, druckte er in einer Nummer des „Vidar“: „das sei nun die einzige Zeitschrift, die Anthroposophie „uafkortet“ (unverkürzt) vertrete“. Daraufhin entzog ihm Frau Dr. Steiner die Möglichkeit, Vorträge von Herrn Doktor in seiner Monatsschrift zu veröffentlichen. Nach der Besetzung Dänemarks im Weltkrieg konnte Hohlenberg nach Norwegen fliehen und wurde mit Hilfe unseres gemeinsamen Freundes Otto Morgenstierne auf einer Insel in Sicherheit gebracht.Ende der 50er Jahre ist Hohlenberg in Kopenhagen verstorben.“
Wie beurteilen Sie Büchenbachers Einschätzung und Beschreibung Hohlenbergs und dessen Kritik der Nationalsozialismus?
Vidar war eine norwegische anthroposophische Zeitschrift, die 1915 gegründet wurde. 1926 wurde Hohlenberg der Herausgeber Vidars, eine Stelle, die er bis 1940 hatte. 1933 wurde er auch ein Mitarbeiter in Alf Larsens Zeitschrift Janus. Er war mit einer norwegischen Frau verheiratet und hat eine zentrale Rolle für die norwegische Anthroposophie gespielt. Hohlenberg nahm wie sein Freund Larsen früh Stellung gegen Hitler und den deutschen Nazismus. Wegen seiner Hitler- und Nazismus-Kritik hat er aber große Schwierigkeiten mit der Leitung in Norwegen und Dornach bekommen. Es wurde ihm, wie Büchenbacher sagt, u.a. verboten Texte von Rudolf Steiner zu veröffentlichen. In der norwegischen anthroposophischen Gesellschaft gab es in der Zwischenkriegszeitvöllig absurde Streitigkeiten und Konflikte. Leitende Personen wie Helga Geelmuyden und Conrad Englert waren Freunde von Marie Steiner-von Sievers und sehr Dornach-loyal. Sie waren beide sehr kritisch gegen Hohlenbergs Hitler- und Nazismus-Kritik. In einem Brief an Marie Steiner-von Sievers empörte Geelmuydensich über Hohlenbergs „Hitler-Hass“ und über seine Nazismus-Kritik. Auch Larsen wurde wegen seiner Kritik der politischen Entwicklung in Deutschland in den 30er Jahre kritisiert. Die „offizielle“ Erklärung dieser Opposition gegen Hohlenberg ist, dass die Gesellschaft politisch neutral sein solle und dass die Leitung wegen der schwierigen Lage der Anthroposphen in Deutschland vorsichtig sein müsse. Nach Staudenmaiers und Ihrer eigene Forschung sieht das etwas anders aus. Nach dem Kriege haben norwegische Anthroposophen Hohlenbergs und Larsens Nazismus-Kritik hervorgehoben. Ihren Antisemitismus haben sie aber verschwiegen.
In Ihrem Artikel ist nachzulesen, ausgerechnet Steiners Vortragszyklus „Die Mission einzelner Volksseelen…“ (in Deutschland 2007 von der „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien“ unter Kommentarzwang gestellt, weil „in Teilen als zum Rassenhass anreizend bzw. als Rassen diskriminierend anzusehen“), sei unter norwegischen Anthroposophen viel rezipiert worden. Immerhin wurden die Vorträge 1910 in Oslo gehalten. Welche Botschaften und welche Ausgabe zog man daraus?
Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhange mit der germanisch-nordischen Mythologie ist sehr wichtig, will man norwegische Anthroposophen verstehen. Hier hat Steiner ihnen die große, entscheidende Bedeutung Vidars und der eigenen heidnischen Mythologie beigebracht. Sie erfuhren, dass es eine Kontinuität zwischen Heidentum und Christentum gebe, und dass sie eine große Bedeutnung für der Entwicklung der Welt haben können. Und NB, von hier haben sie auch die esoterische Begründung des Steinerschen Antisemitismus bekommen.
Ein weiteres Beispiel, das ebenfalls in Ihrem Artikel auftaucht: Für Rudolf Steiner war es „reizvoll zu verfolgen“, was „die nordischen Götter“, (Erz-)Engel mit bestimmten Zuständigkeitsbereichen, auf ihren „Wanderungen“ erschaffen. Ihm zufolge kommt „der Mensch … aus geistig-seelischen Welten herunter“ und so ist es „nicht gleichgültig, ob er als Norweger oder als Schwede geboren wird“: Ostskandinavier werden beim Inkarnationsvorgang „wie abgelenkt“ und entwickeln „einen passiven Charakter“: „Sie können nicht widerstehen demjenigen, was sich vom Osten herüber“, u.a. „durchmongolisch-tatarische Völkerschaften“ aufdrängt, bewahrten dafür aber in Vorzeiten eine „mystisch-orientalische“ Götterlehre. Die „norwegischen Menschen“ bzw. diejenigen, die „in der richtigen Weise ihr Norwegerleben“ verwirklichen, haben dagegen die Mission, ihren „Mitseelen“ in nachtodlichen Daseinszuständen „von den Geheimnissen der Erde“ zu berichten. Das sei für die postmortalen Menschen so wichtig wie die anthroposophischen Berichte aus der „geistigen Welt“ auf der Erde. ([1921] GA 209, 59ff.) Dieser Vortrag wurde ebenfalls vor norwegischen Zuhörern gehalten. Hatte diese spirituelle Völkerpsychologie Skandinaviens Folgen für die nationalistische Steiner-Rezeption in Norwegen und Schweden?
Ganz klar! Man kann sicher annehmen, dass Steiners Worte einen großen Eindruck gemacht haben. Sie haben sich als Vidars Gefolgschaft oder Kampfgruppe aufgefasst. Sie waren die Avantgarde der Entwicklung! „Nordland“ und Norwegen haben jetzt die Initiative. Der Leuchter, der früher in Mitteleuropa stand, steht jetzt in Skandinavien. Diese Ideen führten zu einer Huldigung der germanischen, norwegischen Volksseele. Eigentlich wollten sie wohl keine Nationalisten sein, aber im Nationalen haben viele die große Zukunft gesehen, haben sie einen Weg gefunden, der sie mit Vidar zu Christus gehen konnten.
Welchen Stellenwert nehmen rassentheoretische und nationale Spekulationen insgesamt in den Schriften norwegischer Anthroposophen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein – also auch im Verhältnis zu den sonstigen Aktivitäten?
Man kann schon sagen, dass der Nationalismus wichtiges Thema war, nicht dominierend, aber wichtig. Die Rassentheorien standen mehr in der Peripherie. Hohlenberg hat aber den anthroposophischen Rassentheoretiker Richard Karutz hervorgehoben. Und sie waren selbstverständlich „Germanen“.
Wie gehen heutige norwegische Anthroposophen mit Steiners Rassen- und Völkertableau um?
Selber haben sie nicht mit dem Antisemitismus oder den Rassentheorien Steiners abgerechnet. Sie sind im Grunde genommen überzeugt davon, dass es keinen Rassismus oder Antisemitismus in dessen Schriften gibt. Erst wenn andere, wie zum Beispiel Staudenmaier, auf problematische Seiten in der Anthroposophie oder der Bewegung zeigen, reagieren sie. In dieser Hinsicht sind sie ausgesprochen reaktiv. Und sie reagieren oft mit einer Apologetik, die ziemlich aggressiv sein kann. Wenn man sich historisch-kritisch mit der Anthroposophie beschäftigen will, muss man auf eine oft unangenehme apologetische Polemik vorbereitet sein. Seriöse Wissenschaftler wie Helmut Zander und Peter Staudenmaier sind ja bekanntlich fast Hassobjekte geworden. Wenn Anthroposophen Kritik aufnehmen, geht es um Bagatellisierung. Und sie heben einige Aussagen Steiners hervor, die den Rassismus verurteilen. Einige, die nicht so dogmatisch sind oder sein wollen, können auch auf die Untersuchung der holländischen anthroposophischen Gesellschaft hinweisen. Eine Stellungnahme zu Ihrem Buch über den Steinerschen Rassismus habe ich nicht gesehen. Der Steinerkult bei den norwegischen Anthroposophen ist zentral, und die meisten orientieren sich offensichtlich an deutschen Dogmatikern wie z. B. Lorenzo Ravagli. Seine Texte werden übersetzt und er hält Vorträge in Oslo.Sie haben auch Baders und Ravaglis Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit. Anthroposophie und der Antisemitismusvorwurf übersetzen lassen, damit glauben sie offensichtlich das letzte Wort über Anthroposophie und Antisemitismus gesagt zu haben. Die Übersetzung hat ein Nachwort von Cato Schiötz, der, ohne die Sache untersucht zu haben, behauptet, dass Alf Larsens Antisemitismus eine Privatsache war. Es geht immer um Apologetik, Bagatellisierung und Wegerklärung. Es gibt aber Lichtpunkte. Kaj Skagen sieht den assimilatorischen Antisemitismus beim jungen Steiner. Hier hat er sich offensichtlich von Ralf Sonnenbergs kritischer Erörterung von Steiners Aussagen über die Juden beeinflussen lassen. Den Antisemitismus bei dem Theosophen und Anthroposophen Steiner kommentiert er nicht, es ist ja auch nicht sein Thema. Wie dies in der Bewegung aufgenommen wird, weiß ich nicht.
Einer der vitalsten Aspekte aus Steiners Zeitbetrachtung, der ebenfalls implizit antisemitisch aufgeladen ist, sind seine Verschwörungsideologien. Sie drehen sich primär um eine übersinnlich manipulierte okkulte Geheimlogen hinter der englischsprachigen Welt gerichtet waren. Wie verhielten oder verhalten sich norwegische Anthroposophen zu seinen im Ersten Weltkrieg formulierten Feindbestimmungen gegenüber dem „Angloamerikanertum“ ?
Auch ein Interessantes Thema! Hier kann ich aber leider nicht viel sagen, dies ist auch eine Untersuchung wert. Generell gilt, dass die große mitteleuropäische Kultur als ein Gegensatz zur angloamerikanischen Kultur gesehen wurde. Alf Larsen war hier sehr deutlich. Und Johannes Hohlenberg warnte vor der englischen Sprache, die eine ahrimanische Sprache sei.
Anthroposophie und Antisemitismus in Norwegen
OSLO/BERLIN (NNA) – Forschungsergebnisse von Prof. Jan-Erik Ebbestad Hansen – einem emeritierten Ideenhistoriker der Universität Oslo, der bisher unter anderem zur christlichen Mystik publiziert hat – haben in Norwegen zu einer Debatte über das Verhältnis von Anthroposophie und Antisemitismus geführt.
Im Zentrum der Recherche des Wissenschaftlers steht der anthroposophische Dichter Alf Larsen (1885–1967). Ebbestad Hansen sieht in ihm den „größten Antisemiten Norwegens“, der sogar den nationalsozialistischen Rassewahn explizit als jüdisch etikettierte.
Eine englische Kurzzusammenfassung der Forschungsergebnisse ist Anfang des Jahres in der Zeitschrift „Nordeuropa-Forum“ (Berlin) erschienen (siehe Literaturhinweis), eine umfassende Buchfassung ist in norwegischer Sprache angekündigt. Im deutschsprachigen und internationalen Diskurs sind die zum Teil schon 2009 veröffentlichten Befunde Ebbestad Hansens bisher weitgehend unbeachtet geblieben.
Im Nachlass von Larsen findet sich ein bereits zur Publikation vorbereitetes Manuskript zum „Judenproblem“, das ab 1953 entstand und das Ebbestad Hansen entdeckt hat. Zahlreiche weitere Texte seit den 30er Jahren belegen, dass Larsen im „materialistischen“, aus seiner Sicht nach der Weltherrschaft greifenden Judentum die Wurzel alles Bösen erblickte. In den 50er Jahren verglich er die Juden, in denen er eine Manifestation des Dämons Ahriman sah, mit einem Krebsgeschwür der Menschheit. Explizit benannte er den Nationalsozialismus, den er scharf ablehnte, als jüdisches Projekt.
Die akademische Welt und die Öffentlichkeit in Norwegen reagierten schockiert auf die Recherchen des Ideenhistorikers. Die norwegischen Anthroposophen distanzierten sich von Larsen, in dessen christlich-esoterischer Rekonstruktion der Weltgeschichte sei kein Zusammenhang mit der Anthroposophie zu erkennen.
Ebbestad Hansen insistierte, weil Larsen sich durchaus explizit auf Steiner berief. Zu Lebzeiten hatte dieser auch über die anthroposophische Szene hinaus in Norwegen Bekanntheit erreicht, unter anderem als Begründer der Zeitschrift „Janus“. Durch diese Zeitschrift habe er „die Anthroposophie fruchtbar in das öffentliche Kulturleben Norwegens“ gestellt, heißt es dazu in einer biografischen Darstellung zu Larsen, die von der Forschungsstelle Kulturimpuls in Dornach herausgegeben worden ist.
Verflechtungen
Ebbestad Hansens weitere Nachforschungen dokumentieren zahlreiche Verflechtungen von Antisemitismus und Anthroposophie ab der Zeit zwischen den Weltkriegen. Zwei Besonderheiten im norwegisch-anthroposophischen Diskurs dieser Zeit hebt der Forscher hervor: Im Zentrum des eigenen Selbstverständnisses der norwegischen Anthroposophen stand offensichtlich Steiners Auslegung der nordischen Mythologie, die mit Volks-Missionen verbunden wurde. Am wichtigsten erschien dabei der mit Christus assoziierte „Vidar“, der am Weltende den Fenriswolf zertrümmert, welcher zuvor den alten Göttervater Odin verschlungen hat. Ein wichtiges antisemitisches Motiv bestand in der Vorstellung von einer speziellen physisch-spirituellen Gestalt des jüdischen Blutes.
Prominente Anthroposophen wie Olav Aukrust und Ivar Mortensson-Egmund ersannen in den 20er Jahren nationale Apokalypsen unter Berufung auf Steiner und die Edda. Ingeborg Møller, die Steiner bei seinen Vortragsreisen nach Norwegen begleitete, publizierte in der antisemitischen Zeitschrift „Nationen“ über den norwegischen Genius.
Die judenfeindlichen und explizit faschistischen Ansichten von Møllers Freundin Marta Steinsvik, die in Steiners freimaurerische Aktivitäten eingeweiht war und von ihm persönlich nach Deutschland eingeladen wurde, gingen noch weiter. Sie wurde in den 30er Jahren zu einer bekannten völkischen Aktivistin, ohne ihre anthroposophischen Ideen abzulegen. Møller hingegen wurde 1942 während der deutschen Besatzung Norwegens inhaftiert und ihre Artikel in „Nationen“ zensiert.
Ebbestad Hansen weist außerdem auf die personelle und ideelle Verflechtung der völkischen Anthroposophen Norwegens mit der deutschsprachigen Anthroposophie hin. Helga Geelmuyden, ebenfalls persönliche esoterische Schülerin Steiners, beschwor schon 1918 einen entscheidenden Gegensatz von germanischem und jüdischem Denken. Gegen die als jüdisch bezeichnete Erkenntniskritik Immanuel Kants habe erst die Anthroposophie eine aus Geelmuydens Sicht wesensgemäße deutsche Denkart entwickelt. 1925 publizierte sie in der deutschen Zeitschrift „Die Drei“ über den teutonischen Geist.
In den 30er Jahren ging Geelmuyden mit dem aus der Schweiz stammenden Conrad Englert in der norwegischen Anthroposophischen Gesellschaft gegen Kritiker des Nationalsozialismus vor – auch gegen Larsen. Der stellte unter dem Druck der Zensur unter der deutschen Besatzung 1941 seine Zeitschrift „Janus“ ein.
Hier heißt es in der Biografie der Forschungsstelle Kulturimpuls, die Zeitschrift „Janus“ habe zum NS-Regime „unmissverständlich Stellung“ bezogen und „in klarer Opposition gegen die roten, braunen und schwarzen Diktaturen“ gestanden. Nach dem Krieg sei Larsen wegen seiner Kompromissbereitschaft gegenüber der Zensur deutlich kritisiert worden. Der Dichter wird dann aber gegenüber der Kritik in Schutz genommen, die seine „wunderbare Gedichtsammlung „I Jordenslys“ aus dem Jahr 1946 nicht zur Kenntnis genommen habe.
Antisemitismus, Rassismus und Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus
Ebbestad Hansen weist auch auf die Rolle von Marie Steiner-von Sivers, der Erbin Steiners im Schweizerischen Dornach hin, die mit dem norwegischen Vorstand in den dreißiger Jahren korrespondierte. Sie untersagte dem dänischen Anthroposophen Johannes Hohlenberg, der als Freund des deutschen Landesvorsitzenden Hans Büchenbacher auch in Norwegen als scharfer Kritiker Hitlers wahrgenommen wurde, in diesem Zusammenhang den Nachdruck von Steiner-Vorträgen in der Zeitschrift „Vidar“, die er seit 1924 mit Møller herausgab.
Englert, der in den 20ern zwei lange, positive Artikel über Mussolini aus der Feder Hans von Mays in derselben Zeitschrift abgedruckt hatte, hielt Hohlenberg entgegen, die Anthroposophie sei apolitisch.
Ebbestad Hansen weist darauf hin, dass Englert dennoch eine ganz eigene esoterische Kritik der NS-Blutsmythologie entwickelte: Er behauptete – wie auch Larsen –, die Nazis hätten sich bei den Juden bedient. Selbst Hohlenberg, dessen Hitler-Kritik unter deutschen Anthroposophen heutiger Tage zuweilen Erwähnung findet, teilte in einem Text von 1938 diese Vorstellung, wenn er dem Judentum den Ursprung von Völker- und Rassenhass zuschrieb.
Noch 1948 republizierte er einen seiner antijüdischen Essays aus der Zwischenkriegszeit. Bei Hohlenberg, Englert und Larsen finden sich auf jeweils unterschiedliche Weise – wie Ebbestad Hansen zeigt – Antisemitismus, Rassismus und Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus in einer politischen Position. Larsens Antisemitismus überflügelt dabei aber die Vorstellungen der beiden anderen bei Weitem.
Steiner und Skandinavien
Die entsprechenden Vorstellungen von „Teutonen“ versus Judentum wurden von den genannten norwegischen Anthroposophen durchgängig unter Berufung auf Rudolf Steiners Schilderungen einer kosmischen Evolution des Menschengeistes begründet. Die norwegische Anthroposophie-Rezeption der betreffenden Szene führt Hansen auf spezielle Angaben von Steiner selbst zurück.
Dafür waren seine verschiedenen Besuche auf der Insel und seine Bemerkung über Skandinavien stilprägend. In Oslo hielt Steiner unter anderem 1910 den berühmten Vortragszyklus zur „Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie“ (siehe Literaturhinweis). In einer Nebenbemerkung ging Steiner hier tatsächlich auf ein „okkultes“ Spezifikum des jüdischen Blutes ein. Die „semitische Rasse“ entstehe unter dem Einfluss des im Mond konzentrierten Formgeistes Jahwe sowie der Mars-Geister, die eben aufs Blut wirken. Durch diesen Einfluss sei zu „begreifen, warum gerade die fortgehende Wirkung des Blutes von Geschlecht zu Geschlecht, von Generation zu Generation für das semitisch-hebräische Volk von ganz besonderer Wichtigkeit ist…“
Auf eine solche astrologische Rassentheorie berief sich dann auch Larsen in seinen Überlegungen der 50er Jahre. Bei einem späteren Besuch schilderte Steiner im Dezember 1921 die spezielle Mission der Norweger seit der prähistorischen Eroberung des Landes: Ihr Beitrag sei es, im Nachtodlichen den ehemaligen Angehörigen anderer Nationen Kunde von der physischen Welt zu bringen. (siehe Literaturhinweis)
Vor allem jedoch sei Steiners völkerpsychologische Interpretation der nordischen Mythologie als spezielle nationale Mission aufgefasst worden, so Ebbestad Hansen: Odin, Thor und Vidar seien dabei als regional-kulturelle Erscheinungsformen bestimmter Erzengel und Spiegelungen Christi verstanden worden.
Reaktion
Auf die Reaktion der anthroposophischen Bewegung gegenüber diesem Diskurs aus Norwegen darf man gespannt sein. Vor allem stellt sich die Frage, inwieweit die Forschungsstelle Kulturimpuls in ihren Biografien solche Forschungsergebnisse nachträglich einbezieht. Im Falle des italienischen Anthroposophen Massimo Scaligero, der nach Recherchen des US-Historikers Peter Staudenmaier dem Mussolini-Regime nahestand und entsprechend agitierte, steht in der Online-Dokumentation seit Jahren nur der Hinweis: „Dieser Beitrag ist in Bearbeitung“. Auch die nationalsozialistischen Interessen deutscher Anthroposophen, etwa von Roman Boos, werden in den Biografien eher nicht aufgearbeitet.
Literaturhinweis:
Jan-Erik Ebbestad Hansen: „The Jews – Teachers of the Nazis? Antisemitism in Norwegian Anthroposophy“, in: Nordeuropa-Forum, Jg. 2015, S. 161-216 (http://edoc.hu-berlin.de/docviews/abstract.php?lang=&id=42343)
Rudolf Steiner: Die Mission einzelner Volksseelen in Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie, Zyklus von elf Vorträgen gehalten in Kristiania (Oslo) vom 7. bis 17. Juni 1910, Gesamtausgabe Bd. 121, Dornach 1982.
Rudolf Steiner: Nordische und mitteleuropäische Geistimpulse. Das Fest der Erscheinung Christi, Elf Vorträge aus dem Jahre 1921, gehalten in Kristiania (Oslo), Berlin, Gesamtausgabe Bd. 209, Dornach 1982.
Der Beitrag erschien ursprünglich bei NNA.
„endlich George + Steiner“: Jan Stottmeister zur deutschen Wirkungsgeschichte der Theosophie
Wie Rudolf Steiner gehört Stefan George zu den so profilierten wie schillernden Prophetengestalten des frühen 20. Jahrhunderts, die von den einen als Verkünder des einzig wahren Menschheitsgeistes, von den anderen als dessen Erzfeinde angeführt wurden. Wie Spengler oder Heidegger repräsentieren sie eine Gegenmoderne, die man nicht mit spitzen Fingern von sich weghalten kann, sondern kritisch studieren sollte, auch weil ihr Einfluss bis in die heutige Zeit reicht. Jan Stottmeister hat 2014 mit „Der George-Kreis und die Theosophie“ (Göttingen 2014) eine Fallstudie zur kulturellen Präsenz der Blavatsky’schen Weltanschauung um 1900 vorgelegt. Das Buch ist ungemein materialreich und nicht zuletzt in einer wendigen, subtil ironischen Sprache verfasst, die dem Pathos des George-Sprechs zu begegnen weiß. Wer einen gut lesbaren Einstieg in die neuere Forschung zur Theosophie und ihrer beeindruckend weitverzweigten Wirkungsgeschichte sucht, ist mit diesem Buch gut beraten. Auch die Anthroposophie lernt man aus einer ganz neuen historischen Blickrichtung kennen.
„Theosophiebedingte“ Anti-Theosophie
Stottmeisters schlüssig dargelegte These lautet, dass sich der George-Kreis „seit 1910 durch die programmatische Abgrenzung von der Theosophie konturierte“:
„… diese Bezüge verbargen sich nicht, im Gegenteil. Sie wurden in eine Öffentlichkeit getragen, in der die Theosophie und die Theosophical Society viel präsenter waren als der George-Kreis … Abgrenzungen sind immer dort am nötigsten, wo Verwechslungsgefahren drohen. Der George-Kreis verstand genau wie die Theosophie seine ‚geistige Bewegung‘ als Gegenbewegung zu einer als ‚ungeistig‘ kritisierten materialistisch-rationalistischen Generaltendenz der Zeit. Er ordnete sich in esoterische Traditionen ein, die auch die Theosophical Society fortzuführen beanspruchte. Mit der Krishnamurti-Kultsetzung fügten die Theosophen diesen Übereinstimmungen noch einen Knabengott hinzu. Die Herausforderung, die Übereinstimmungen als Differenzen zu vermitteln, beschäftigte den George-Kreis, so lange er bestand, und sie beschäftigte einige von Georges Anhängern über den Tod ihres Meisters und den Zerfall des Kreises hinaus. Die Geschichte des George-Kreises ist auch die Geschichte seines Verhältnisses zur Theosophie.“ (S. 13)
Das Buch unterstreicht Georges entschiedene Feindschaft gegenüber der theosophischen Bewegung und Ideenwelt. Die Konkurrenz ging so weit, dass er bestimmte Theoreme der Theosophen übernahm, um sie zu überbieten: So bezeichnete er sich einmal als Gesandten der „Mahatmas“ Blavatyks. (S. 202) Aus der Theosophie Blavatskys und Steiners übernahm der George-Kreis auch das Konzept clairvoyanter „Schau“ des Geistigen. (S. 159ff.) Im Spiegel der Georgianer lassen sich überhaupt einige Erkenntnisse zur Anthroposophie gewinnen – der Theosoph Steiner wurde dort ebenfalls kritisiert und rezipiert. Stottmeisters Fokus auf die Blavatsky-Theosophie werde ich im Sinne dieses Blogs hier zugunsten der Anthroposophie verschieben. Die Parallelen der anti-theosophischen Polemik bei Steiner und George springen ohnehin ins Auge: Ablehnung einer vermeintlich indischen Geistigkeit, Berufung auf eine abendländische (und spezifisch deutsche) Mysterientradition, Protest gegen den theosophischen Messias Jiddu Krishnamurti und eine abenteuerliche Überbietungsrhetorik in spirituellen Fragen. Ebenso groß sind die Differenzen – es ist natürlich charakteristisch, dass das Gegenbild zu Krishnamurti bei Steiner der „ätherische Christus“, bei George der durchaus erotisch-leibliche Knabengott „Maximin“ war. Stottmeister beleuchtet ausführlich, dass die anti-theosophischen Reaktionen um George somit geradezu „theosophiebedingt“ waren. Das trifft auch auf Steiners Bewegung zu, die Stottmeister als die Fortsetzung theosophischer Lehren liest, die sie faktisch war und als die sie von einigen Georgianern bekämpft wurde. Das wird Anthroposophen wie üblich brüskieren, ist aber eine durchaus heilsame historische Begriffsverwirrung:
„Bloch bezeichnet Steiners Lehren als Theosophie, nicht Anthroposophie. Um 1915/17 war offenbar selbst interessierten Zeitgenossen nicht erkennbar, dass die Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft einen Wandel der Lehrinhalte bedeutete, der einen anderen Namen rechtfertigte. Steiner und die Geschichtsschreibung aus anthroposophischer Binnenperspektive setzten später mit ihrem Insistieren auf inhaltlicher Eigenständigkeit und ihrer Marginalisierung der Theosophie-„Vorphase“ eine andere Wahrnehmung durch.“ (S. 274)
Interessanterweise wurde der Wissenschaftsbegriff der Theosophie bei den George-Jüngern als ihr größtes Problem angesehen. Friedrich Wolters verfasste etwa „Richtlinien“ gegen Steiner. Er verwarf „auf Georges Anregung hin die Theosophie als ‚Nur‘-Wissenschaft – als Symptom der Kulturkrankheit des rationalistischen Zergliederns, das den Verlust der göttlichen ‚menschenmitte‘ bedingte. Indem er den Wissenschaftsanspruch der Theosophen völlig unbestritten lässt, bestreitet er ihre Zuständigkeit für das Göttliche.“ (S. 153) Im George-Jargon entsprach das einer Zuordnung zur bloß „Ordnenden Kraft“ statt zur „Schaffenden Kraft“.
Im Gegensatz zur gestelzten theosophisch-anthroposophischen Wissenschaftsprosa mit ihrem Anspruch, verborgene Welten zu enthüllen, kultivierte Georges „geheimes Deutschland“ außerdem stärker das Arkane als elitäre, exklusive Kategorie. Stottmeister weist stets auf mit seinem Gegenstand verflochtene historische Schauplätze und benachbarte Entwicklungen hin. Der Mysterienkult um George beispielsweise war, wie er nahelegt, das unmittelbare Vorbild für Max Webers berühmte Charisma-Theorie, die auch mit Erfolg auf Theosophie und Anthroposophie anwendbar ist. (S. 198) Die demonstrative Abgrenzung zur Theosophie war nicht ganz zuletzt nötig, weil der George-Kreis und die Theosophen sich auf einigen Feldern über den Weg liefen. Beispielsweise im Verlag des (zumindest auch theosophisch inspirierten, aber die „dogmatische“ real existierende Theosophie ablehnenden) völkischen Publizisten Eugen Diederichs, der kurzzeitig als Verleger für George-Schriften in Betracht gezogen wurde. Auch einige Anthroposophen fanden sich im Umfeld Diederichs und des „That“-Kreises. (S. 98, vgl. Staudenmaier: Between Occultism and Nazism, S. 81ff.)
Grenzgänger
Nicht der gesamte George-Kreis und nicht dessen ganzes Umfeld standen der Theosophie so skeptisch gegenüber wie der Meister. Georges Buchillustrator Melchior Lechter – eine Schlüsselfigur, der Stottmeister mehrere Kapitel widmet – und einige andere wurden sogar Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft. Blavatskys kosmische Evolutionsmetaphysik beeinflusste Lechters Werke und ging damit in die ästhetische Gestaltung von Georges publiziertem Oevre ein. Die Theosophie-Begeisterung Lechters hat George wohl zu Beginn wenig gestört, war aber einer der Gründe für seine Distanzierung um 1910. Zu diesem Schisma trug auch eine theosophisch motivierte Indienreise Lechters bei, die er gemeinsam mit dem jüdisch-stämmigen Karl Wolfskehl unternahm, einem weiteren Georgianer mit Theosophie-Mitgliedschaft. Während Lechter George als ebenbürtigem Freund begegnete und zahlreiche andere Jünger sich dem Meister gegenüber wie gewünscht devot verhielten, repräsentiert Wolfskehl den eher individualstischen Typ des spirituellen Suchers. Die von George gesetzten ideologischen Grenzen waren für die umfangreichen Studien Wolfskehls, zu denen auch allerlei Esoterisches gehörte, sekundär. (S. 256f.)
Ebenfalls um 1910 ergab sich eine kurzlebige Bekanntschaft Georges mit dem okkultistischen Schriftsteller Alexander von Bernus, der bereits seit 1905 mit Wolfskehl befreundet war und von Lechter an die Theosophie herangeführt wurde. Bernus hatte ein Klostergebäude in Heidelberg geerbt, wo er ein „George-Zimmer“ einrichtete. „George ließ sich feierlich empfangen, genoss die gespenstische Atmosphäre des einstigen Benediktinerklosters und nahm amüsiert an den spiritistischen Séancen teil, die Bernus und Wolfskehl veranstalteten.“ (S. 266) Schließlich störte sich Bernus am autoritären Gestus Georges, den er verehren, dem er sich jedoch nicht unterwerfen wollte. Zeitgleich mit Lechter trat er am 30. August 1910 in die deutsche Abzweigung der Theosophischen Gesellschaft ein. 1911 stellte Bernus den Kontakt zu den Georgianern ein.
„Der Abbruch fiel ihm umso leichter, weil er für George inzwischen einen hohepriesterlichen Ersatz gefunden hatte. Nach der Konversion zur Theosophie, die Lechter angestoßen hatte, war er im Herbst 1910 in München dem Chef der deutschen Theosophen persönlich begegnet: Rudolf Steiner. Von der Begegnung tief beeindruckt, begann er sein Leben nun auf Steiner auszurichten, der zwar ebenfalls einen charismatischen Herrschaftsanspruch vertrat, aber Benus auch die Rolle des verbündeten Herzogs gewährte, der dem Kaiser unter Wahrung seines Selbstgefühls dient … Stift Neuenburg, der Ort seines zeitweiligen George-Kultes, sollte nach Bernus Hoffnungen nun eine anthroposophische Kultstätte werden … Steiner lehnte das Angebot ab: ‚Karma‘ und ’spirituelle Gründe‘ … wiesen ihn auf den Standort Dornach in der Schweiz, wobei die esoterische Begründung auch den offenkundigen Vorzug verhüllte, dass in Dornach die baugesetzlichen Bedingungen günstiger waren.“ (S. 269f.)
Steiners Übertragung der Theosophie in die anthroposophischen Praxisfelder assistierte Benus mit der Durchführung von eigenen „heilkundlich-alchemistischen Laborversuchen“, wie Stottmeister weiter ausführt. Außerdem wird deutlich, dass die von Bernus gegründete Zeitschrift „Das Reich“, in der Steiner öfter publizierte, wohl eine kritische Antwort auf Georges „Reichs“-Phantasien war.
Weitere Beispiele solcher Grenzgänge(r) und Konversionen, die in der Studie interpretiert werden, sind der Komponist und Schriftsteller Cyril Scott und, in ganz anderer Weise, Ernst Bloch. Der letztere erwähnte 1917 in einem Brief an den (damals gleichfalls noch neoromantisch gesinnten) Freund Georg Lukács enthusiastisch „das ‚Reich‘, das Bernus herausgibt (endlich George + Steiner)“. (S. 271) Stottmeister argumentiert überzeugend, dass Blochs „Geist der Utopie“ weitenteils eine Synthese der „Lichtbringer“ George und Steiner war. Der letztere wurde darin mit einigem Hohn übergossen, Bloch teilte auch die Kritik am theosophisch-anthroposophischen Wissenschaftsverständnis: Ihre „unreligiöse“ Methodik versperre den Weg zum Göttlichen. Aber das stand seiner Wertschätzung der Theosophie (vor allem ihrer Reinkarnationslehre) nicht im Wege. Ziel Blochs war eine „geläuterte Geheimwissenschaft“. Dazu Stottmeister:
„Das Problematische dieses Vorschlags ist offenkundig. Einem Geheimlehren-Gebäude, das sich selbst aus Versatzstücken religiöser Überlieferungen und hellseherisch erlangtem Wissen konstituierte, ließen sich keine Elemente entnehmen, die eine weniger kompilatorische, weniger willkürliche ‚Geheimwissenschaft‘ begründeten. Und weil die Theosophie sich als wissenschaftliche Alternative zu den akademisch ‚materialistischen‘ Wissenschaften verstand, konnte sie nicht aus der Ablehnung ihres Wissenschafts-Anspruchs heraus fortgeschrieben werden.“ (S. 276)
Bloch hätten diese Einwände freilich nicht beeindruckt. Aus seiner eigenen messianischen Vergeistigungslehre der Menschheit verbannte er die theosophische Evolutions- bzw. konkret Wurtelrassenschematik. Vor allem aber begegnete er dem abgelehnten Wissenschaftsverständnis durch einen dezidiert mystifizierenden, „dunklen“ Schreibstil, was ihn wiederum näher an den George-Kreis rückt und eine epistemologische Aufwertung der Kunst im Schlepptau führt. Letztlich, so Stottmeister, stilisierte sich Bloch gegenüber George und Steiner zum besseren Seher, der auch die bessere, eben „geläuterte“ esoterische Mitteilung zu bieten hatte. Den von Steiner pejorativ benutzten Begriff des ‚atavistischen Hellsehens‘ gab er an diesen selbst zurück. Die Identifikation mit George und der Theosophie war nur eine von vielen religiösen Anwandlungen Blochs. 1911 hatte er sich noch gegenüber Lukács als heiliger Geist offenbart, nach der Oktoberrevolution wandte er sich, ungebrochen messianisch, dem historischen Materialismus zu – doch das bedeutete keinen Verzicht auf den Anspruch höherer Einsicht, den er auch in späteren Jahren und Publikationen artikulierte. „Für die Verdrängung seiner theosophischen Sympathien sorgte nicht Bloch, sondern die Bloch-Rezeption.“ (S. 286)
Hier schneidet die Studie ein in der Esoterik-Forschung deutlich zu wenig beachtetes Feld an. Die okkulten Wurzeln einiger linker Theorien und und das ganze Feld der deutsch-jüdischen Intellektuellen wurden bisher fast nur in ihren (allerdings überwiegenden) esoterikkristischen Beiträgen wahrgenommen. Zur selben Zeit, als Bloch sich gegenüber Lukács über „Steiner + George“ in Bernus‘ Zeitschrift freute, las auch ein gewisses Berliner Intellektuellenpaar dieselben Texte: Gershom Scholem – der spätere Kabbalaforscher hatte sich nach 1910 ebenfalls vorübergehend für den Messias gehalten – und Walter Benjamin, der theologische Mentor Adornos:
„Wir sprachen über … die von Anhängern Rudolf Steiners seit kurzem herausgegebene Zeitschrift ‚Das Reich‘, dessen erste Nummmer er [Benjamin] mir [Scholem] bei meinem Besuch im Juni geborgt hatte. Mehrere der sehr esoterischen Aufsätze hatten ihn beeindruckt, und er erzählte, dass er Max Pulver, mit dem er das Interesse an Baader und an Graphologie teilte, in diesem Jahr kennengelernt habe … In Heidelberg sah Benjamin einmal Stefan George auf einem Spaziergang am Schlossberg, und seine Erscheinung machte starken Eindruck auf ihn. Die Bindung an Julia Cohn an die Schule Georges, in deren Umkreis sie 1916 durch Robert Böhringer geraten war, hat bei ihm noch lange eine gewisse Spannung für die Figur Georges enthalten.“ (Scholem: Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt a.M. 1975, 39, 142)
Die internationale Theosophie, das esoterische Gravitationsfeld im deutschen Kulturleben um 1900 und die sich daraus orakelnd erhebenden Meister George und Steiner hatten ohnehin weit mehr Auswirkungen, als sich zwischen zwei Buchdeckel bringen ließen. So darf man sich auf die Aufnahme und Weiterführung der durch Stottmeister angestoßenenen Perspektiven zweifellos freuen.
Kritik der Forschungsgeschichte
Obwohl Stottmeister Georges dichterisches Werk weniger berücksichtigt, wendet er sich enthusiastisch gegen die Marginalisierung des Okkulten in der Literatur- und Kunstgeschichte. Hier kritisiert er auch den Umgang der bisherigen George-Forschung mit der in seiner Studie aufgezeigten Theosophie-Rezeption.
„Selbst wenn die Beschäftigung so offen zutage liegt wie in den okkultistischen Literaturhinweisen in Kandinskys ‚Über das Geistige in der Kunst‘, bleiben die Hinweise Jahrzehnte lang unbeachtet. Was hatte moderne Kunst mit der Geisteskrankheit des Okkultismus zu schaffen? Wer den Hinweisen dennoch nachgeht, wird als kunsthistorischer Wünschelrutengänger ignoriert. Auch in der Literaturwissenschaft herrscht eine Okkultismus-Phobie … in der sich die akademische Aversion gegen ‚das Okkulte‘ auf die literarische Moderne zurückprojiziert. Entweder folgen die Literaturwissenschaftler der Nachkriegsmethode des New Criticism und blenden – analog zur Kunstwissenschaft, in der sich formalistische Deutungen durchsetzen – historische Kontexte methodisch aus dem Textverständnis aus. Oder sie beschränken ihre Kontextforschung auf akademisch anerkannte, ihnen selbst bekannte Quellen. Dazu gehört beispielsweise Nietzsche, der die Geisteswissenschaften seit der Jahrhundertwende beeinflusste und der auch seine zeitweilige Bewertung als Proto-Nazi übersteht. Die Nietzsche-Begeisterung ist immer noch verständlich, zumal Nietzsche um 1970 als Vordenker der ‚Postmoderne‘ neu belebt wird. Unverständlich bleibt dagegen, dass einige der avanciertesten literarischen Modernisten okkultistische Bücher studierten. Das akademische Interesse an Autoren wie Nietzsche wird den literarhistorischen Forschungsobjekten zuerkannt, die akademische Okkultophobie wird ihnen unterstellt.“ (S. 323f.)
Andererseits gibt sich Stottmeister auch nicht der bei manchen Esoterikforschern spürbaren affirmativen Aufwertung seines Gegenstands hin. Er beschränkt sich auf dessen relativ nüchterne historische Rekonstruktion. An manchen Stellen hätte man sich – nicht zuletzt gegenüber George, der den humanistischen Ambitionen einiger Theosophen wohl kaum das Wasser reichen konnte – durchaus stärkere Wertungen gewünscht. So bleiben die engagiertesten Stellungnahmen des Buches, wie in der Historikerzunft leider oftmals üblich, forschungsgeschichtlich. Das dürfte auch für die eindimensionale Schilderung der theosophischen Rassentheorie verantwortlich sein. Diese Schilderung richtet sich gegen deren theosophische Apologeten (namentlich genannt wird James A. Santucci), aber mehr noch gegen die Stilisierung der theosophischen Wurzelrassenlehre zum Proto-Nationalsozialismus. Dem ist durchaus zuzustimmen, obwohl Stottmeister Nazis mit theosophisch-anthroposophischen Interessen ebenso wenig berücksichtigt wie Theosophen und Anthroposophen mit nationalsozialistischen. Dass Theosophie und Anthroposophie den Nationalsozialismus auslösten, behauptet inzwischen keine vernünftige Stellungnahme mehr. Dass aber sowohl die Theosophie als auch die „geistige Bewegung“ Georges ihr Schärflein zum ideologischen Mosaik beitrugen, das sich in den Nationalsozialismus und in die Imagination der „Volksgemeinschaft“ fortsetzte, ist durchaus festzuhalten – nicht gegen Stottmeisters Untersuchungen, sondern für ein komplexeres Verständnis jener Gemengelage, an welcher alle Vereindeutigungsversuche scheitern müssen.
Im Anschluss u.a. an Peter Staudenmaier (vgl. Esoterische Alternativen im deutschen Kaiserreich) hebt Stottmeister zum Einen hervor, dass das esoterische Rassendenken gerade einen ihrer modernen Züge repräsentiert und (wieder einmal) wissenschaftlichen Debatten ebenso entlehnt wie entgegengesetzt war:
„Dass ihre [Blavatskys] eigene Anthropogenesis das Konzept der Rassen-Taxonomie nachahmte, versteht sich im wissenschaftsgeschichtlichen Kontext von selbst. Es gab kein anderes Konzept. Blavatsky übernahm das Wurzel- und Unterrassenschema wie sie grundsätzlich alles, was im Glanz wissenschaftlicher Respektabilität funkelte – von der Sanskrit- zur Elektrizitätsforschung – dem akademischen Diskurs entwendete und ins Elsternnest ihrer theosophischen Metaphysik trug.“ (S. 361)
Auf die inner-esoterischen Quellen der theosophischen Rassenlehre – z.B. bei Fabre d’Olivet oder in der Hermetic Brotherhood of Luxor – wird nicht eingegangen. Dafür kommt in dem Buch die internationalistische politische „Brüderschafts“-Rhetorik der Theosophical Society zu ihrem Recht und wird sehr empathisch beschrieben. Angesichts ihrer politischen Zielsetzungen sei die theosophische Rassenlehre, so Stottmeisters Fazit, am besten im „Oxymoron eines rassentheoretischen Antirassismus“ zu fassen. Leider werden die eigentlich rassistischen Theoreme Blavatskys dabei jedoch eher angedeutet und erwähnt als ausführlich rekonstruiert – hinreichend problematisiert wird allenfalls ihr Antisemitismus. (S. 353) Auch Stottmeisters Versuch, die widersprüchliche theosophische Stellung zur „Rassenfrage“ vereindeutigend festzulegen, ist zu eindeutig. Die Spannung von Humanismus und Rassismus gehört überdies zur Urgeschichte des westlichen Rassedenkens (wie man an Linné, Herder, Kant und vor allem Blumenbach zeigen könnte) und kommt wahrlich nicht erst mit der Theosophie im 19. Jahrhundert auf. Mir erscheint Stottmeisters Analyse hier ergänzungsbedürftig, allerdings ist dem sogleich hinzuzufügen, dass die Rassenlehre Blavatskys keinen Hauptteil seiner Studie darstellt, sondern im Unterkapitel eines Exkurses „Helena Blavatsky, Alfred Schuler, Stefan George und die westliche Deutungsgeschichte des Swastika-Zeichens“ vorkommt.
Dieser Exkurs beschließt das Buch mit dem Jahr 1933, der Ächtung jüdischer George-Jünger und der nationalsozialistischen Verstrickung des Meisters. Wieder einmal ähnlich zu vielen Theo-/Anthroposophen wollte George sich lieber ins apolitisch-geistige zurückziehen und war zugleich von den Parallelen zutiefst überzeugt. Er wäre freilich lieber selbst „Führer“ des „geistigen Deutschland“ gewesen.
„George selbst hatte 1933 zu den vielen Elogen, die ihn anlässlich seines 65. Geburtstags als Ahnherrn des Dritten Reiches priesen, zwar öffentlich geschwiegen, aber aber sein Schweigen war kein Protest gewesen, sondern stilles Wohlgefallen … [er bestand] ausdrücklich auf seinem geistigen Anteil am Nationalsozialismus. Das Amt [als Präsident der Dicherakademie] ausschlagend, nahm er zugleich die Rolle des Ahnherrn an … So wie er sich politisch jeder Festlegung entzog, vermied George 1933 auch jede Stellungnahme zum Antisemitismus der Nazis … Aber ein amoralischer Zyniker, der sich in Zweideutigkeiten gefiel, wo Eindeutigkeit not tat, war er in seinem letzten Lebensjahr mehr denn je … Gegen die Auslegung des ’neuen Reichs‘ als Drittes Reich hat George nie einen moralischen Vorbehalt geäußert. … Unbehaglich war ihm nur, dass diese Deutung jede andere Deutungsmöglichkeit zu überstimmen drohte. Sie verstand seine Prophetien als erfüllt und begrenzte damit deren Sinn auf das Jahr 1933. George sah sich nun wirklich in die Konstellation des ‚Dichters in Zeiten der Wirren‘ versetzt, in welcher der Dichter kein Führer ist, sondern nur Prophet eines Führers … Indem er öffentlich schwieg, geheimdiplomatisch Ahnherrschaft einbekannte und dennoch unklar ließ, ob die ‚herrn der regierung‘ sein Werk richtig einschätzten, versuchte er seinen poetischen Sinn-und-Zeichen-Spielen die Vieldeutigkeit zu erhalten. Aber an diesem historischen Punkt wurden alle Bedeutungen neu verhandelt.“ (S. 386ff., 397f.)
Spätestens hier trennt sich die Konkurrenzgeschichte von Theosophie und George-Kult, denn die erstere wurde zur Enttäuschung einiger Anhänger im NS-Staat eher bekämpft und 1937, im Todesjahr Lechters, verboten. Den „friedfertigen Internationalismus“, den Stottmeister durchaus zurecht bei Blavatsky findet (S. 232), kann man den deutschen Theosophen nach 1933 – ja, oftmals bereits nach dem Ersten Weltkrieg – nicht mehr in der Eindeutigkeit unterstellen. Vielleicht ein Grund mehr, die wie auch immer schwer verständliche Figur und Wirkung Blavatskys analytisch von ihren deutschtümelnden Rezipienten zu trennen.
Ist es an der Zeit für eine Rudolf-Steiner-Gesellschaft?
„Ist es an der Zeit, über eine »Rudolf-Steiner-Gesellschaft« (oder auch eine andere akademische Assoziationsform) nachzudenken, die das Ziel hätte, all jenen ein Forum zu geben, die sich mit Steiner und seinem philosophischen, theosophischen, anthroposophischen und künstlerischen Werk beschäftigen und dabei die Früchte ihrer Arbeit in einer Form darzustellen und mitzuteilen bereit sind, die anschlussfähig ist an den allgemeinen akademischen Diskurs?“
– schreibt Christian Clement, Herausgeber der Kritischen Steiner-Ausgabe (SKA) im Stuttgarter frommann-holzboog-Verlag und bietet sich an, bei Interesse Schritte in Richtung Gründung einer solchen Gesellschaft zu unternehmen. Dazu gehören soll ein Jahrbuch mit Artikeln und Rezensionen. Ob es möglich sei, dass „Vertreter der verschiedenen Strömungen innerhalb der Anthroposophie, die Freunde und die Kritiker Rudolf Steiners, unabhängige Esoterik-Forscher und alle möglichen sonstigen Facetten des Spektrums zu einem fruchtbaren Dialog“ zusammenkommen, formuliert Clement wie den ganzen Brief eher in Frageform. Auch ich sehe in den perspektivischen Abgründen zwischen den zu erwartenden Teilnehmern die größte Herausforderung eines solchen Unternehmens. „Freunden“ und „Kritikern“ Steiners, die diese Bezeichnungen verdienen, wäre naturgemäß und für das Allgemeinwohl eher zur gegenseitigen Sabotage zu raten. Ich meine trotzdem und eben deshalb: Ja, in der Tat ist es an der Zeit für eine Rudolf-Steiner-Gesellschaft, vielmehr allerdings für eine Gesellschaft zur Erforschung der Anthroposophie. Eine Vereinigung, die schon im Namen auf „Früchte“ der Steiner-Philologie festgelegt wäre, hätte zum einen den längst dazu existierenden Foren (Alanus-Kolloquien, Rudolf-Steiner-Forschungstage) nicht zwingend viel voraus. Und im Unterschied zum vermutlich überschaubaren akademischen Umfeld irgendeiner Hermann Cohen-, Nicolai Hartmann- oder Karl Jaspers-Gesellschaft hat das Erbe Steiners bekanntlich seine Spezifika. Wissenschaftlich erforderlich wären soziologische oder sozialpsychologische Studien zur Struktur und gesellschaftlichen Rolle der Anthroposophischen Gesellschaft und „Bewegung“, medizinische Untersuchungen zu Steinerschen Zaubermitteln, historische Forschungen beispielsweise zur Anthroposophie (namentlich der Christengemeinschaft) in der DDR…. und last but not least wirklich kritische Analysen, wie es sie hinsichtlich aller gesellschaftlichen Bereiche gibt, während sie von wohlgesinnten „Steinerforschern“ vermutlich als Polemik abgelehnt würden. Hans-Peter Riegels Beuys-Biographie und Peter Bierls „Erzengel, Wurzeln und Volkgeister“ beispielsweise sind selbstverständlich und zu Recht Polemiken, für eine ernstzunehmende Anthroposophie-Forschung aber viel nützlicher als große Teile auch der besseren anthroposophischen Literatur, obwohl es sich bei beiden nicht wirklich um akademische Publikationen handelt. Das Spezifikum der (wenn auch nach wie vor um Steiner zentrierten) Anthroposophie ist ja gerade die Vielfalt ihrer biographischen, gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen. Weiter schlösse sich das ganze Feld der Erforschung der deutschsprachigen Theosophie und Lebensreform an. Die Gründung einer solchen Gesellschaft würde primär davon abhängen, ob es gelingt, sehr unterschiedliche Interessengruppen auch tatsächlich anzulocken, oder ob, dem aktuellen Trend folgend, am Ende doch nur wieder die nächste verklärte „Steiner hat ganz, ganz viel mit dem deutschen Idealismus zu tun“-Gruppe zusammenträte. Natürlich hat Steiner ganz viel mit dem deutschen Idealismus zu tun, aber das ist nur ein Steinchen im reichhaltigen Mosaik der „Steiner-Forschung“, die sich nicht von der Erforschung der Anthroposophie als ganzer abtrennen lässt. Zu klären bleibt, wie in diesem sumpfigen Feld ein wirklich qualitativ neues Diskussionsforum aufgestellt und organisiert sein sollte. Clements Initiative möchte ich mich dabei gern und höchst erfreut anschließen.
Waldorfschule Filstal: Schüler-Projekttage mit Ken Jebsen abgesagt
Im Juni forderte der Bund der Freien Waldorfschulen erfolglos die Entlassung eines Lehrers an der Waldorfschule Minden, der über 20 Jahre lang in extrem rechten Kreisen agierte. Der nächste Fall kommt aus Göppingen – hier haben offenbar Schülervertreter zwei neurechte Verschwörungstheoretiker zu „Projekttagen“ eingeladen. Die Schule ist nun eingeschritten und distanziert sich.
Die Freie Waldorfschule Filstal ist gewiss ein friedvoller Ort. Von der Altpapiersammlung der „Elterninitiative für Religionsvielfalt“ (ReVie) zu den Projekttagen der Schülermitverwaltung (Thema: „Außerschulische Bildung“ bzw. „Politik – Medien – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur“) passt alles ins Bild des sich an solchen Schulen reproduzierenden Bildungsbürgertums mit Fimmel für leibliche, seelische und geistige Nachhaltigkeitsfragen. „Das breitgefächerte Angebot reicht von politischem Rap über Wirtschaftsfragen bis hin zur Ernährung (veganer Kochkurs)“, freut sich die SMV in der Ankündigung ihrer Projekttage, die vom 20. bis zum 22. Juli für Schüler der Klassen 9-12 stattfinden sollen. Als „großes Gemeinschaftsprojekt“ wird eine Diskussion über TTIP beworben, bei der u.a. ein linkes Bundestags- und ein grünes Landtagsmitglied sprechen sollen. Auf dem (inzwischen auf der Webseite der Schule nicht mehr aufrufbaren) Flyer erfährt man weitere Details:
Highlight am Montag sollte Ken Jebsen sein, mit gleich zwei Vorträgen: vormittags („Medien“) und abends („Krieg und Frieden“). Der erste Vortrag sollte im „Uditorium“ Uhingen, der letztere im nah gelegenen anthroposophischen „Insitut Eckwälden“ stattfinden. Jebsen ist selbst ehemaliger Waldorfschüler und vor allem – nachdem ihm antisemitische Äußerungen vorgeworfen wurden – entlassener RBB-Moderator. Inzwischen betreibt er sein eigenes dubioses Medienportal „KenFM“. Seine Affiliationen und Brüche reichen weit ins neurechte Lager: zu Elsässers „Compact-Magazin“ über den russischen Propagandasender RT-deutsch und Montagswahnmachen zum völkischen „Friedenswinter“. Jebsens Sprache ist deutlich, wenn er etwa vom Mossad erzählt, der natürlich die USA und die Massenmedien beherrscht, oder gleich auf „altdeutsch“ raunt: Israel strebe „in Palästina die Endlösung“ an. Jebsen gehört zu den bekannteren Gesichtern der sich als „Systemkritiker“ aufspielenden Verschwörungstheoretiker, die nicht nur im weiteren anthroposophischen Umfeld auf stabile ideologische Ressourcen zählen können. An jedem der drei Projekttage sollte es vormittags überdies „Projektgruppen“ geben: Eine davon (Thema: „Pressefreiheit“) mit dem eher unbekannten Rapper Kilez More, ebenfalls ein Fan von NWO, Antiamerikanismus und Medienbashing.
Soweit der Flyer – „Da ist etwas an uns vorbei gegangen. Wir sind erst am Wochenende wach geworden“, gesteht Axel Dittus, Geschäftsführer der Schule. Bei ihm und seinen Kollegen sei die Idee der Schüler, Jebsen einzuladen, abgelehnt worden. Die sollen sich daraufhin an die externen Veranstalter gewandt haben, aber auch diese haben die Veranstaltungen inzwischen abgesagt. Hinterfragt wird nun die Rolle einer Lehrkraft, die die Schüler bei der Organisation beaufsichtigen sollte. In der Neuen Württembergischen Zeitung (Südwest Presse) schreibt dazu Holger Thielen:
„Dass die Auswahl einiger Referenten nicht die Alarmglocken schrillen ließen, liegt womöglich daran, dass das Zerrbild der angeblich manipulierten Medien und die Anfälligkeit für Verschwörungstheorien an der Schule verbreiteter ist, als manche Eltern – und Lehrer – bisher glaubten. In den sozialen Medien fällt einer der Pädagogen mit besonderen Sympathiebekundungen auf: für Beiträge von Ken Jebsen und Daniele Ganser, einem weiteren Experten in Sachen Verschwörung.“
– und hat recht, bekanntlich über die Waldorfschule Filstal hinaus. Auf Facebook kommentiert dazu ein ehemaliger Waldorfschüler:
„In Gemeinschaftskunde wurde uns an der Waldorfschule unkritisch kommentiert aus „Die Insider“ von Garry Allen, einem antisemitischen und verschwörungstheoretischen Werk über die NWO, vorgelesen. Passt hervorragend zu Ken Jebsen. In seinen Reden fand ich mehrmals Sätze, wie ich sie aus dem Unterricht an der Walldorfschule kenne.“
Jebsen wurde im vergangenen Jahr an die Waldorfschule Überlingen geladen, auch hier distanzierte die Schule sich in letzter Minute. Der Vortrag fand trotzdem statt, weil Eltern der Schule einen externen Raum mieteten. Insbesondere der Schweizer Verschwörungstheoretiker Ganser erfreut sich einiger Beliebtheit im anthroposophischen Milieu. (vgl. Nachrichten bewältigen, Bald Nato-Panzer vorm Goetheanum?) Dieses Milieu freilich ist nur bedingt für den Geisteszustand von Waldorfschülern verantwortlich. Phänomene wie „Reichsbürger“ und „Davis-Methode“ im Waldorfumfeld werden wohl eher vom „alternativen“ Charme dieser Einrichtungen angezogen als von konkreten Lehren Rudolf Steiners. Für das Waldorfklientel trifft ein Satz der Steiner-Biographin Miriam Gebhardt zu: „Wir ‚Verbraucher‘ der Anthroposophie sind wie die Römer, die alle Götter in ihr Pantheon aufnahmen, man kann ja nie wissen.“ (Gebhardt: Rudolf Steiner, 345) Neoliberale Selbsttechnologien, grüne Lebenskunst und spirituelle Philosophie – solange sie nur nicht „intellektualistisch“ daherkommt – bilden hier eine wohlige Legierung mit allerlei esoterischen und esoterikkomatiblen Ideologemen. Das bedeutet keinen Abschied von der Anthroposophie, sondern zeigt deren sukzessive gesellschaftliche Diffusion und Differenzierung in ein breiteres „systemkritisch“-esoterisches Milieu an.
Einen Mikrokosmos dessen präsentiert der Flyer der SMV-Projekttage: Jebsen und Kilez More mögen sich für Kapitalismusgegner halten, die SMV indes scheint sich für ökonomisierte Bildung durchaus erwärmen zu können: Eine „Projektgruppe“ über „Widersprüche im Geldwesen“ als Ursache der Finanzkrise soll der FDPler Eckart Behrens leiten, der auch die Waldorfschule Mannheim und die dortige Waldorflehrer-Ausbildungsstätte mitgegründet hat. Er steht laut Lebenslauf dafür, „Autonomie und Wettbewerb auch im Schul- und Hochschulwesen durchzusetzen“. Ein weiterer Referent ist laut Flyer Markus Buchmann, den man zur jüngeren anthroposopischen Meditationsbewegung zählen kann. Er bildet „Bildekräfteforscher“ aus und soll auch den Schülern „Die Wirklichkeit des Geistigen“ näherbringen: „Mittels einfacher Meditations- und Wahrnehmungsübungen werden die Hintergründe des anthroposophischen Menschenbildes erkundet“, „praktisch und konkret“, versteht sich. „Gehe durch alles hindurch bis alles durch dich hindurchgeht“, verkündet die Workshop-Beschreibung von Bruno Nagel, der über „Philosophie“ referiert: „Umgebungsbeobachtung und ihre Anforderung ans eigene Ich im Dialog mit der Welt“. „Von der Idee zum Plan das ist der Plan“, kündigt sich eine „Projektgruppe“ zur „Medien-Produktion“ an, nur für Schüler der 11. und 12. Klasse ist eine zu biologischen Grundlagen der Gentechnik vorgesehen. Neben dem waldorfüblichen Improvisationstheater, veganer Küche und Artensterben durch Klimawandel gehören Titel wie „was bewegt uns?“ oder Stressmanagement dazu und verleihen dem Programm den Charme eine esoterischen Coaching-Messe. „Man kann ja nie wissen“. Immerhin: Auf dem Flyer der Projekttage wird auch ein Raphael Schwaderer angekündigt, der erklären soll, warum „wir Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung in unserer Gesellschaft nicht dulden“ und was man „dagegen tun“ könne. Vielleicht ist das der aufschlussreichste Teil des Flyers, weil er die offenherzige politische Konfusion anzeigt. Man kann sich heute durchaus für Antidiskriminierung erwärmen und zugleich bei veganen Häppchen von Jebsen, More und Co über die Mossad-Medien beschwatzen lassen. Für Einheit wird spätestens in den Selbstfindungs-Workshops gesorgt.
Höheres Wissen über verborgene Daseinstiefen jedenfalls korrespondiert mit den geheimen Informationen, die Verschwörungstheorien versprechen. Die Korrespondenz ergibt sich aus der Form des reklamierten Wissens, das gegen einen vermeintlich unterwanderten „Mainstream“ gerichtet ist. Ein Beispiel dafür wäre die anthroposophische „Impf-Kritik“, in der esoterische Medizinvorstellungen und eine sachlich irregeleitete gesellschaftskritische Ambition verschränkt sind. (vgl. „Löffelchen voll Zucker“)
„Conspiracy theory works to present hidden knowledge about evil, but it also cements an audience as ‚in-group‘ and attempts ‚transformation‘ of the passive individual to social mobilization through presenting the negative, where lighter occulture focuses on the positive. Conspiracy theory may thus be a natural, sociological side of esoteric discourse, as well as a logical extension of it in constructing an ‚Other‘ that does not recognize esoteric discourse and attendant movements as legitimate.“ (Asbjorn Dyrendal: Hidden Knowledge, Hidden Powers, in: Asprem/Granholm: Contemporary Esotericism, Sheffield/Bristol 2013, 224f.)
Wollten sich die Waldorfschulen hiergegen immunisieren, wäre nicht nur die Auseinandersetzung mit den eigenen völkischen Theorieelementen, sondern vor allem eine zeitdiagnostisch-kritische Urteilsbildung unumgänglich. Insofern sprechen die SMV-Projekttage eine deutliche Sprache: Dass hier ein Antidiskriminierungsworkshop neben Jebsen steht, spricht Bände über die Defizite, denen ein kritischer Unterricht vorbeugen sollte.
Peter Staudenmaier: Between Occultism and Nazism (Rezension)
Ich wurde mehrfach nach einer Rezension zu Peter Staudenmaiers dieses Jahr in überarbeiteter Fassung publizierter Dissertation zur Geschichte der Anthroposophie im deutschen und italienischen Faschismus gefragt. Ich reposte hier deshalb meine bei NNA erschienene Rezension vom September 2014 noch einmal. Der Text ist auch in englischer Sprache verfügbar.
Die viel diskutierte Studie des US-Historikers Prof. Peter Staudenmeier über Anthroposophie in der Zeit des Faschismus in Deutschland und Italien ist jetzt als Buch in den Niederlanden erschienen. Staudenmaier hatte mit der Arbeit als Historiker an der Cornell University/NY promoviert, bisher kursierte nur eine digitale Fassung. Inzwischen lehrt er an der Marquette University Milwaukee. Ansgar Martins hat für NNA das Buch angesehen.
LEIDEN (NNA) – Staudenmaiers Buch stellt eine aktualisierte, stark überarbeitete und gekürzte Fassung seiner Dissertation dar. Der Band bietet neben einer dichten Analyse anthroposophischer Quellen auch eine beeindruckend umfangreiche Dokumentation und Diskussion einschlägiger Sekundärliteratur zu allen behandelten Themen. Manche anthroposophischen Primärquellen hat Staudenmaier jedoch bedauerlicherweise nicht näher berücksichtigt: die publizierten Tagebücher Albert Steffens oder Briefe Ita Wegmans etwa.
Between Occultism and Nazism: Anthroposophy and the Politics of Race in the Facist Era lautet der Titel, der auf den ersten Blick vielleicht missverständlich ist: Nicht wenige Kommentatoren schlossen daraus, Staudenmaier stelle die Anthroposophie als „Wegbereiterin“ des Nationalsozialismus, ja, als diesem „wesensverwandt“ dar. Staudenmaier warnt jedoch wiederholt vor solchen Fehlschlüssen. Er weist die Stilisierung des Nationalsozialismus zur „okkulten“ Bewegung ebenso zurück wie die Annahme, Esoterik und Faschismus seien unerklärliche, dämonische Ausbrüche von Irrationalität gegenüber einer aufgeklärten Moderne.
Vielmehr seien beide genau dieser Moderne entsprungen, Reaktionen auf eine als dekadent und „materialistisch“ erlebte Gesellschaft. Der weite Horizont von spirituellen, messianisch-apokalyptischen Sehnsüchten und antisemitischen Tendenzen, wie sie Europa nach 1900 sichtbar geworden seien, ließen sich nicht auf ein „okkultes“ Milieu oder den Vorwurf des „Irrationalen“ reduzieren. Unter Berufung auf Theodor W. Adorno und Max Horkheimer ist der Ausgangspunkt von Staudenmaier eine Theorie der in sich widersprüchlichen Moderne mit den daraus resultierenden gesellschaftlichen Problemen.
Esoterik und Gesellschaft
Staudenmaier weist außerdem darauf hin, dass es in der Weimarer Republik kaum möglich war, nicht von Rudolf Steiner zu hören. Nicht die Esoterik als gesellschaftliche Randerscheinung, so Staudenmaier, sondern ihre breite Verankerung im frühen 20. Jahrhundert sei die Bedingung dafür gewesen, dass auch faschistische Organisationen und Einzelpersonen sich mit esoterischen Strömungen beschäftigten. Lebensreform und Apokalyptik, nationaler Messianismus und Erlösungssehnsucht seien z.B. Themen gewesen, die Anthroposophen und andere Esoteriker mit völkisch geprägten Gruppen geteilt hätten, argumentiert Staudenmaier.
Durch die esoterischen, völkischen und lebensreformerischen Schriften jener Jahre zogen sich Themen, die sich bis heute auch in Teilen anthroposophischer Publizistik finden. Als Beispiele nennt Staudenmaier Verschwörungstheorien über okkulte Logen, Analysen zum Machthunger von Amerika, Ressentiments gegen den demokratischen Rechtsstaat oder eine materialistische Wissenschaft, Tendenzen denen in diesen Publikationen die tiefere Sicht eines „Mitteleuropa“ entgegengesetzt werde.
Personelle Überschneidungen
Staudenmaier belegt schließlich in der NS-Zeit nicht nur ideologische, sondern auch personelle Überschneidungen zwischen Anthroposophie und Nationalsozialismus wie z.B. bei anthroposophischen Medizinern und Landwirten, die sich in nationalsozialistisch-lebensreformerischen Vereinen engagierten und in deren Periodica publizierten. Auch der Umstand, dass ökologischer Landbau und alternative Medizin bei führenden Mitgliedern des NS-Regimes – am bekanntesten darunter Rudolf Hess – Interesse weckten, sei vor dem geschilderten Hintergrund zu sehen.
Hess z.B. hielt seine Hand auch über die Waldorfschule Dresden, erst 1941 nach seinem Englandflug wurde sie – wie die anderen Waldorfschulen – geschlossen. Staudenmaier bietet zu diesen Überschneidungen viel Material. Danach gab es Anthroposophen, die Enthusiasten der „deutschen Erneuerung“ waren und Mitglieder von SS und NSDAP, einzelne wie Georg Halbe oder Hans Merkel machten eine steile Karriere im NS-Staat.
Staudenmaier leugnet im Gegenzug dazu auch nicht den paranoiden und agitatorischen Hass, den Teile der Nazi-Elite gegen jede Form von Esoterik schürten: ein Kapitel ist der Nazi-„Aktion gegen Geheimlehren“ 1941 gewidmet. Der Historiker verschweigt weder die universalistischen und individualistischen Ambitionen Steiners noch die Tatsache, dass einige seiner Schüler erklärte Gegner des NS-Regimes waren.
Dass die Vorstandsmitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft Ita Wegman und Elisabeth Vreede sowie viele ihrer Anhänger Hitler ablehnten, und sie sich um die Internationalisierung und Auswanderung von Anthroposophen bemühten, erwähnt Staudenmaier nicht. Auch die Ablehnung des Nationalsozialismus durch den deutschen Vorstand 1933 bleibt unberücksichtigt, nur der schnell darauf (1934) eintretende Kurswechsel unter Hermann Poppelbaum wird beschrieben.
Dass die Gegnerschaft zum NS-Regime nicht im Mittelpunkt seiner Studie steht, kann man Staudenmaier jedoch nicht vorwerfen, da es ihm ja erklärtermaßen in seiner Forschung um Verflechtungen zwischen Anthroposophie und Nationalsozialismus ging.
Anthroposophie im faschistischen Italien
Bei diesem Thema klaffen in der bisherigen Forschung große Lücken, verdienstvoll ist von daher auch Staudenmaiers erste umfassende Darstellung der Anthroposophie im faschistischen Italien. Hier gab es offensichtlich unter den Anthroposophen nicht nur Befürworter antisemitischer Politik wie Massimo Scaligero, sondern auch Personen, die direkt an Planung und Umsetzung von Judenverfolgung beteiligt waren wie Ettore Martinoli.
Anders als Uwe Werners eher ereignisgeschichtlich angelegtem Buch „Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus“ (1999) stellt Staudenmaier Berührungspunkte von Anthroposophie und Nationalsozialismus in den Vordergrund seiner Untersuchung. Wer sich einen umfassenden Eindruck von der Geschichte der Anthroposophie in Mitteleuropa im 20.Jahrhundert verschaffen will, kommt an den von Staudenmaier zusammengestellten bedrückenden Dokumenten nicht vorbei.
Einschränkung
Eine Einschränkung erfährt die Aussagekraft seine Studie allerdings in anderer Hinsicht. Staudenmaier betont im Vorwort seiner Arbeit (S.19), dass er „interne anthroposophische Dispute“ nicht berücksichtigt hat.
Gemeint ist wohl vor allem die Spaltung der Anthroposophischen Gesellschaft nach dem Tod Rudolf Steiners in Dornach-treue Gruppen und Anhänger von Wegman bzw. Vreede. Diese Blickrichtung führt dazu, dass viele führende Anthroposophen jener Jahre bei Staudenmaier überhaupt nicht oder nur am Rande vorkommen.
Ida Oberman hat 2008 in ihrer Studie zur Geschichte der Waldorfschulbewegung (The Waldorf Movement in Education, Lewiston 2088, 72-171) gezeigt, dass das Schicksal der Waldorfschulen in der NS-Zeit ohne Berücksichtigung der tiefgreifenden Spaltung der anthroposophischen Bewegung während dieser Jahre nicht verständlich wird. Erst recht gilt das für die Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft.
Zu ungenau ist auch Staudenmaiers Darstellung von Steiners Rassentheorie, die er nur teilweise zurecht als widersprüchlich bezeichnet. Unscharf bleibt so auch der Aspekt der Transformation von Steiners durchaus pointierten völkerpsychologischen und rassentheoretischen Modellen unter seinen Anhängern. Staudenmaier zeigt zwar mit einer Fülle von Belegen, dass dabei auch völkische, esoterische ebenso wie Mainstream-Rassentheorien adaptiert wurden. Aber hier wirkt sein Werk eher wie eine breit angelegte Diskursanalyse und nicht wie eine genaue Analyse der konkreten Vorstellungen bestimmter anthroposophischer Autoren.
Wie unterschiedlich die einschlägigen Theoreme Steiners unter seinen Schülern weiterentwickelt wurden, gerät dabei zu oft aus dem Blick. Das spricht aber nicht eigentlich gegen die Studie, sondern dafür, das darin erschlossene Feld weiter zu erkunden.
Peter Staudenmaier: Between Occultism and Nazism. Anthroposophy and the Politics of Race in the Fascist Era [ARIES-Book Series: Texts and Studies in Western Esotericism, Vol. 17], Leiden (Brill) 2014.
Bericht-Nr.: 140907-05DE Datum: 7. September 2014
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