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Inhalte überwinden: Was Peter Sloterdijk zu Steiner zu sagen hat

Über Anthropotechnik, Kulturkapitalismus und fliegende Reptilien. Eine Polemik

„Menschlich am Menschen ist in der Welt von Schrecken und Herrschaft bloß der Dämon.“ (Theodor W. Adorno: Beethoven. Philosophie der Musik. Fragmente und Texte, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1993, 241)

Peter Sloterdijk, Philosoph, Fernsehmoderator und Essayist, war am 14. Oktober in Weil am Rhein zu Gast. Der freudige Grund: Eine Ausstellung über den Anthroposophen Rudolf Steiner (1861-1925) im rennomierten Vitra-Design-Museum. Es soll sich, so die Veranstalter, um die „erste Retrospektive auf den wohl einflussreichsten und zugleich umstrittensten Reformer des 20. Jahrhunderts“, also auf Steiner handeln und es gibt sicher Interessantes zu sehen (vgl. „Kreative Fundgrube“). Nachdem die Ausstellung in Stuttgart und Wien zu sehen war, kehrt sie nun zu ihrem Ausgangsstandpunkt Wolfsburg zurück. Sloterdijk diskutierte zu diesem Anlass über Steiner mit Matteo Kries (Museumskurator) und Walter Kugler vom Steiner-Archiv in Dornach. Einen genauen Bericht über den Abend und die Ausstellung hat Wolfgang Vögele vorgelegt, einen weiteren gab’s in der Badischen Zeitung. Auf Youtube ist auch ein 10-minütiger Videomitschnitt zu sehen.

Dem Vitra-Design-Museum wie dem Steiner-Archiv ist zu dieser Aktion in ökonomischer Hinsicht (und ohne Anflug von Ironie) nur zu gratulieren: Wer wäre zu diesem Anlass PR-tauglicher gewesen als Sloterdijk?

„In der ihm eigenen Weise sagt Sloterdijk zu jedem beliebigen Thema treffsicher genau das, was alle denken, aber es klingt immer irgendwie anders, ist in einer Weise metaphorisch verpackt, die der deutsche Durchschnittsintellektuelle für philosophisch, das heißt tiefsinnig hält.“ (Manfred Dahlmann: Biedermann und Übermensch. Peter Sloterdijks deutsche Ideologie, in: Alex Gruber/ Philip Lenhard (Hg.): Gegenaufklärung. Der postmoderne Beitrag zur Barbarisierung der Gesellschaft, Freiburg 2011, 257)

Sehr hübsche metaphorische Verpackungen benutzte Sloterdijk auch in in Weil. Er erklärte beispielsweise, Steiner – den er als „größten mündlichen Philosophen des 20. Jahrhunderts“ bezeichnete – sei kein Guru gewesen, sondern würde inzwischen als „ganz normales Genie“ erkannt. Das ist zwar Konsens aller, die den „spirituellen“ Dschungel des Steinerschen Weltanschauungskosmos‘ heute mit postmodernen Motiven als Steinbruch benutzen  – frei nach dem Motto: Der habe alles irgendwie „ganz anders“, rein konstruktivistisch, heuristisch, kreativ gemeint. Sogar Bundespräsident Christian Wulff nannte Steiner kürzlich in einer Reihe mit Heinrich Schliemann, Joachim Gauck und Albert Einstein (es ging um wissenschaftliche Vorbilder aus der Stadt Rostock, vgl. „Sie werden gebraucht“). Aber: Wie angenehm, dass Sloterdijk das alles auch findet! Mein Kollege Jens Heisterkamp, Chefredakteur der Zeitschrift „Info3 – Anthroposophie im Dialog“ und (damit schon von Berufs wegen) ein wacher Beobachter der anthroposophischen Szene, hat Aussagen und Stimmung des Abends in einem Bericht eingefangen dem ich die obigen Sloterdijkzitate verdanke. Im Folgenden kommentiere ich Sloterdijks Steiner-Vereinnahmungen nach dem Wortlaut dieses Berichts.

Anthropotechnik und „Schulungsweg“

„Besonders interessant“, so Jens Heisterkamp, „war Sloterdijks medientheoretische Deutung des Phänomens Steiner: Der Gründer der Anthroposophie habe mit seinem Ansatz »die Vertikalität neu definiert« und die menschliche Subjektivität an eine andere Sphäre gekoppelt. Steiners Übermittlung von Hinweisen aus einer »Geistigen Welt«, mit denen er die Pädagogik, die Landwirtschaft, die Medizin und viele andere Gebiete erneuerte, interpretierte Sloterdijk als quasi-mediale Durchgaben eines »Imperativs zur Veränderung« (Ein genialer Trandmitter)

Diese Sloterdijksche Steinerexegese ist so allgemein, dass man ihr tatsächlich zustimmen könnte. Zunächst: „Vertikalität“ in Sloterdijks Welt bedeutet so viel wie Übung, Selbstdisziplin, Training, das einen über die profanen Niederungen der gesellschaftlichen „Horizontalität“ hinausführen soll. Und tatsächlich: Auch Steiner wollte die menschliche Subjektivität zum „Geistigen im Weltenall“ und über den „materialistischen“ Zeitgeist emporheben. Dazu legte er einen meditativen „Schulungsweg“ vor, der im finalen Punkt die vollbewusste, hellsichtige „Erforschung“ einer übersinnlichen, „geistigen Welt“ ermöglichen sollte. So grundsätzlich betrachtet passt das zu Sloterdijks Konstrukt der „Anthropotechnik“, die er so definiert:

„Ich verstehe hierunter die mentalen und physischen Übungsverfahren, mit denen die Menschen verschiedenster Kulturen versucht haben, ihren kosmischen und sozialen Immunstatus angesichts von vagen Lebensrisiken und akuten Todesgewissheiten zu optimieren.“ (Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt 2009, 23)

Sloterdijk versucht also, die verschiedenen religiösen Traditionen zu entkernen und projiziert in sie alle ein urprotestantisches Arbeitsethos mit sinnstiftendem Endziel: Religiöse Praktiken und Rituale seien deren eigentlicher Zweck, einfach, weil sie praktisch sind. Es sei bloß nötig, diese „Übungsverfahren“ von den religiösen Vorstellungen zu reinigen, um das eigene Leben in die „Vertikalität“ zu heben und zuguterletzt als glücklicher Übermensch zu enden. Der ideale (post-)religiöse Mensch wäre nach diesem Ideal zwar irgendwie und erklärt inhaltslos, aber fit in verschiedenen „Übungs“techniken und -ideologien. Sloterdijks Versessenheit auf „Übung“ bleibt, das nur nebenbei, nicht auf dem Gebiet verstümmelter Religion, es geht grundsätzlich und bis in eugenische Bereiche darum, den Menschen zu optimieren.

Steiner und Sloterdijk, treffen sich in der Tat darin, ehemals der Religion vorbehaltene Themen dem menschlichen Bewusstsein methodisch verfügbar machen zu wollen. Beide stehen hier im Traditionsfeld der westlichen Esoterik: Die Neuplatonismen der Rennaissance über die Spiritisten bis zu den LSD-Experimenten der Transpersonalen Psychologie enthalten trotz gewaltiger Differenzen das Grundmotiv, „Geistig-Göttliches“ irgendwie technisch-methodisch zugänglich zu machen. Sloterdijks Weltbild kann vor diesem Hintergrund nicht nur als esoterisch bezeichnet werden, es bietet, wie man sagen könnte, geradezu Esoterik „auf der Höhe der Zeit“: „postmetaphysisch“ und lifestyle-orientiert. Statt psychisch riskantem Tischerücken oder anstrengenden Meditationen winkt hier ein so weitgefasster wie übersichtlicher Begriff bienenfleißigen „Übens“.

So weit, so schlecht. Während es Sloterdijk also um die Abschaffung von Inhalten und den Aufbau einer Übungsmentalität, die Internalisierung des „unternehmerischen Selbstes“ zu gehen scheint, sind bei Steiner jedoch gerade die Inhalte zentral: Die Aufgabe ist keine geringere als das (Wieder-)Aufschließen einer „objektiv“ existenten „geistigen Welt“. Den Lehrplan seiner Waldorfpädagogik komponierte Steiner daher bis in Details mit kosmischen Diktaten aus (vgl. Gänzlich „ganzheitlich“?).

ausgefahrene Äther-Antennen

Von Allgemeinplätzen abgesehen, vereinnahmt Sloterdijk den „modernen Propheten“ (Miriam Gebhardt) also zu Unrecht. Dafür wieder umso schöner: die von Sloterdijk verwendeten Metaphern – in der Wiedergabe von Jens:

„Im Blick auf die inzwischen in vielen Museen der Welt gezeigten Wandtafelzeichnungen, mit denen Steiner seine Vorträge illustriert hatte, meinte Sloterdijk, Steiner habe „die Powerpoint-Präsention mit Kreide“ erfunden. Die eigentliche „Power“ habe er dabei allerdings nicht wie heute aus einem auf Folien abgelegten Wissen bezogen, vielmehr habe er sich darauf verlassen, dass ihm im entscheidenden Moment die Evidenz selbst zur Hilfe kam. Steiner habe sich von der Inspiration überraschen lassen. Er sehe ihn deshalb als eine Art Medium, als einen „Antennenmenschen“. „Ich glaube Steiner ist und bleibt wichtig, weil er einer von denen war, die die Antennen ausgefahren haben schon bevor die Antennen erfunden waren“, sagte Sloterdijk abschließend. Seither horchten die Menschen ja tatsächlich in den Äther hinein und wollten erfahren, was zu tun ist.“ (Ein genialer Transmitter)

Zwar ist es, wie oben gezeigt, scheinbar Sloterdijks Programm, Inhalte zu überwinden, und er liegt damit zweifellos im Trend der zeitgenössischen Selbstsatire (vgl. das gleichnamige Wahlplakat der PARTEI). Trotzdem wäre es sinnvoll, wenigstens Metaphern mit Inhalt in die Welt zu setzen. Die erste funktionstüchtige Antenne beispielsweise entstand 1886, Steiner entwickelte seine Anthroposophie jedoch erst ab 1900. Mir will sich auch nicht erschließen, was der „Äther“ sein soll, in den „die Menschen“ (alle?) „seither“ (seit wann?) „tatsächlich“ (oder nicht doch eher im übertragenen Sinne?) „hineinhorchen“ sollen (wie?). Und ganz obendrein finde ich die Titulierung von Steiners Wandtafelzeichnungen als „Powerpoint-Präsentation“, gelinde gesagt, zusammenhanglos. Als Kostprobe sei eine Aussage Steiners über das sog. lemurische Zeitalter wiedergegeben, und dazu die entsprechende Wandtafelillustration:

„So würde sich einem Menschen … zurückwandernd in jene Zeit, die das lemurische Zeitalter mit dem atlantischen verbindet, ein besonderer Anblick darbieten: solche riesigen fliegenden Eidechsen mit einer Laterne auf dem Kopf, die leuchtet und wärmt; unten etwas wie eine weiche, morastartige Erde, die aber etwas außerordentlich Anheimelndes hat, weil sie dem Besucher von heute eine Art von Geruch darbieten würde, der zwischen Moderduft und dem Duft der grünenden Pflanzen mitten drinnen steht. Etwas Verführerisches auf der einen Seite und außerordentlich Sympathisches auf der anderen Seite würde dieser Schlamm der weichen Erde darbieten.“ (Steiner, GA 232, S. 84)

Wandtafelzeichnung Rudolf Steiners: Fliegende Eidechse aus Lemurien. Peter Sloterdijk sieht in diesen Zeichnungen Steiners eine Vorwegnahme der Powerpoint-Präsentation

Um zu erklären, was das denn so für belauschbarer Äther sein könne, gebraucht Sloterdijk einen weiteren diffusen Ausdruck: „Meeresrauschen“ und begibt sich damit wieder in mythische Gefilde:

„Sloterdijk bezog sich dabei auf den Satz von Robert Musil: „Wir horchen in uns hinein und wissen nicht, welches Meeresrauschen wir hören.“ „Die Sender [offenbar die der „Antennen“ zum „Äther“-Hören – AM] waren noch nicht genau eingestellt“, erläuterte Sloterdijk. „Gleichzeitig hat bei Steiner ein viel intensiverer Empfang begonnen. Er wirkt wie unter einem Diktat und hört offenbar im Äther einen Auftrag für eine Lebensreform. Hundert Jahre später nach diesem verlorenen 20. Jahrhundert fahren die Menschen wieder ihre Antennen aus und wissen nicht genau, welches Meeresrauschen sie hören. Aber sie hören den neuen absoluten Imperativ: ‚Du musst Dein Leben ändern’. Es geht um den Auftrag eine Lebensreform zu entwickeln, die den Fortbestand der Menschheit auf dem gefährdeten Planeten sichert. Und Steiner ist ein genialer Transmitter für diese Botschaft.““ (Ein genialer Transmitter)

Zwar hielt Steiner den Planeten tatsächlich für gefährdet, aber nicht aufgrund von politischen, gar Umweltkrisen. Er sah eine Gefährdung durch kosmische Kräfte: Der prädestinierte Kalender der spirituellen Evolution sagte Steiner die baldige „Inkarnation Ahrimans“ voraus. Ahriman – den Namen verdankt Steiner dem Zoroastrismus – stellt in der Anthroposophie den Anführer schrecklicher dämonischer Geister (der „ahrimanischen Wesenheiten“) dar. Deren Plan ist es, die Menschen mental an die Technik und die Vergötzung des Materiellen zu binden und letzten Endes die Erde in eine Art Roboterzustand verwandeln: den „Neuen Saturn“. Sloterdijk müsste erst belegen, wo er in Klima-, Umwelt-, Umwelt, Finanz- oder beliebiger anderer Krise die Handschrift Ahrimans ausfindig zu machen glaubt, um sich hier glaubwürdig auf Steiner berufen zu können. Die Feststellung, dass Steiner einen Lebenswandel forderte, ist so frappierend trivial, dass es wohl keinen Philosophen, Esoteriker oder religiösen Prediger des letzten Jahrhunderts gäbe, auf den Sloterdijk diese Charakteristik nicht beziehen könnte. Auf unverblümte Weise hat das ein Repräsentant orthodox-anthroposophischer Publizistik, Lorenzo Ravagli, demonstriert. Der berief sich in seinem Buch „Aufstieg zum Mythos“, das einmal mehr in enthusiastischen Prophezeiungen über die künftige Glorie der remythisierten Menschheit mündet, wohl auf name-dropping-Gründen, auf Sloterdijk, gestand aber in einer Fußnote diskret:

„Peter Sloterdijk kommt in seinem Buch ‚Du musst dein Leben ändern‘ zu einer übereinstimmenden Zeitdiagnose. Seine Therapievorschläge weichen von den hier vorgetragenen ab.“ (Lorenzo Ravagli: Aufstieg zum Mythos. Ein Weg zur Heilung der Seele in apokalyptischer Zeit, Stuttgart 2009, 11)

Gutes Karma für Reformer

Wie am Atomausstieg mit Grillparty-Atmosphäre oder Populismen um die Euro-Rettung zu sehen, ist man hierzulande aber mit „Wir ändern uns“-Slogans immer gut beraten. „So sehr man an Sloterdijks Denkbemühungen auch nicht ein gutes Haare lassen kann, eines ist ihm zuzugestehen: er hat ein untrügliches Gespür dafür, wie Deutsch-Denken (und -Fühlen) den aktuellen Umständen entsprechend zum Ausdruck zu bringen ist.“ (Manfred Dahlmann, a.a.O.). Dazu noch einen Teil aus Jens Heisterkamps Bericht.

„Den Grund der neuen Offenheit für Steiner sah Sloterdijk in einer besonderen geistesgeschichtlichen Konstellation unserer Zeit. Der Ansatz der Lebensreform als Gegenentwurf zur politischen Revolution erscheine wieder hoch aktuell. Denn im Rückblick auf das „verlorene 20. Jahrhundert“ (Sloterdijk) zeige sich heute, dass die „Revolutionäre“ im Unrecht gewesen seien. Ansätze, die Welt durch Veränderung der Verhältnisse ändern zu wollen, haben nur Zerstörung hinterlassen. Die Lebensreform dagegen, die eine Erneuerung von Innen anstrebte, hätte sich als der richtige Weg erwiesen.“ (Ein genialer Transmitter)

Peter Sloterdijk 2009 bei der Präsentation seiner Buches „Du musst dein Leben ändern“, (Foto von Rainer Lück; Wikipedia-Commons)

Sloterdijk konstruiert also einen Gegensatz „Reform versus Revolution“ und entscheidet sich für erstere. Hier zeigt sich ein weiterer Sloterdijkscher Standard: Der Hang zur „Provokation“, die „niemanden wirklich provoziert, weil alle insgeheim dasselbe denken“ (Dahlmann, a.a.O). Dem linksspießbürgerlichen und liberalen Umfeld, zwischen dem sich das umfangreiche Milieu anthroposophischer SympathisantInnen aufspannen dürfte, kommt der Terminus der Revolution in der Tat eher ungelegen. Dagegen ist das Selbstverständnis, Träger eines neuen, bewussteren, nachhaltigen und zumindest auch ein bisschen spirituellen Trends zu sein, immer zu haben für „Reformen“. Insbesondere dann, wenn man selbst den reformerischen Geist ohnehin schon für sich gepachtet zu haben meint. Dazu einmal wieder Jens Heisterkamp, diesmal im Vorwort des von ihm herausgegebenen Buches „Kapital = Geist“:

„Es sind Marken wie Weleda, Voelkel und Stockmar, die bereits ökologisch, verantwortungsbewusst und im Sinne einer weltzentrischen Ethik wirtschafteten, als diese Begriffe noch gar nicht erfunden waren; es sind Firmen wie Alnatura, hessnatur oder die GLS-Bank, die an einen ökologisch-ethischen Breitenmarkt dachten, als erst eine kleine Subkultur von diesen Ideen überzeugt war. Es sind schließlich Firmen wie Wala oder Sonnett, die bereits vor Jahren mit einer Krise des Ego-Kapitalismus rechneten und bis in ihre Rechtsformen hinein entsprechende Konsequenzen zogen … Ihr Beispiel zeigt, wie die Ideen Rudolf Steiners heute bis in die wirtschaftliche Praxis hinein Wirkung haben.“ (Heisterkamp: Pioniere der Nachhaltigkeit. Anthroposophie und neues Denken in der Wirtschaft, in: Ders. (Hg.): Kapital = Geist. Pioniere der Nachhaltigkeit. Anthroposophie in Unternehmen, Frankfurt a.M. 2009, 8f.)

Das ist, jedenfalls in den groben Umrissen, wohl wiederum inhaltsgleich mit Sloterdijks „Vertikalität“ oder Anthropotechnik. Der Versuch eines „bewussten“ Kapitalismus allerdings ändert nichts am Kapitalismus, sondern führt zu einer subtileren, verinnerlichten Form ehemals äußerlicher ideologischer Programme: zu den diffusen, „ätherischen“ „Verändere dich“-Idealen.

„Im Zeitalter der liberalen Expansion lebte Amusement vom ungebrochenen Glauben an die Zukunft: es würde so bleiben und doch besser werden. Heute wird der Glaube noch einmal vergeistigt; er wird so fein, dass er jedes Ziel aus den Augen verliert und bloß noch im Goldgrund besteht, der hinters Wirkliche projiziert wird.“ (Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung (1945), Frankfurt a.M. 1969, 152)

Und damit ist der gesellschaftsverändernde Gehalt der Lebensreform auch bald ausgeschöpft. Im Glauben gefangen, „das Bewusstsein“ sei momentan „endlich“ bereit, sich zu einer weltzentrischen Verantwortungsbereitschaft zu „entwickeln“, bleibt das Luftholen zum Bewusstseins-Sprung, der dazu nötig wäre, aus. Stattdessen wird ein „Karmakapitalismus“ produziert, der glücklich im eigenen guten Gewissen um sich selber kreist: Das Moment der Utopie bleibt aus, das „klassiche“ kapitalistische Motiv des  finanziellen, irgendwie materiellen Gewinnes ist aber ebenfalls als Option verschwunden. Es wird ersetzt durch säkularisiert-religiöse Fitnessprogramme wie Sloterdijks übend-vertikale „Anthropotechnik“. Der populäre Philosoph und Lacanianer Slavoj Žižek erläuterte das 2009 am Beispiel einer neuen, ökologisch wertvollen Starbucks-Werbekampagne:

„Das nennt man «Kulturkapitalismus». Der kulturelle Mehrwert liegt hier auf Hand: der Kaffeepreis ist höher als nirgendwo [sic!] sonst, denn was Sie in Wirklichkeit kaufen, ist eine «Ethik des Kaffees»… mit Umweltbewusstsein, sozialer Verantwortung, an einem Ort, an dem Sie am öffentlichen und sozialen Leben teilnehmen können (schon von Anfang an hat Starbucks seine Cafés als Orte der Bürgerlichkeit inszeniert). … Indem wir sie kaufen, kaufen wir nicht nur ein Konsumprodukt, sondern wir tun zusätzlich noch etwas, nämlich etwas, was unseren Wunsch nach Verantwortung, unser Gewissen oder die Teilnahme an einem ehrgeizigen sozialen Projekt zeigen will… Eine neue Disziplin hat sich etabliert, die happiness studies. Wie aber kommt es, dass im selben Moment Angst und Depression trotzdem nicht abnehmen? Die Selbstsabotage des Glücks und der Lust zeigt mehr als alles andere die Wahrheit einer Freud’schen Erfahrung.
Der Protest der 60er Jahre fügte der Kritik der ökonomischen Ausbeutung eine Kulturkritik bei: Entfremdung am Alltagsleben, Verdinglichung des Konsums, Uneigentlichkeit der Massengesellschaften, sexuelle Unterdrückung. Der neue Geist des Kapitalismus hat im Triumph die egalitäre und antihierarchische Rhetorik von 1968 übernommen und präsentiert sich nun als gelungene libertäre Revolte gegen die gesellschaftlichen Unterdrückungssysteme (seien sie kapitalistisch oder sozialistisch) … Ein toleranter Hedonismus bleibt als Rest von der sexuellen Befreiung der 60er Jahre. Kürzlich habe ich Folgendes in einer Broschüre eines New Yorker Hotels gelesen: «Sehr geehrter Kunde, um Ihnen einen angenehmen Aufenthalt zu bieten, informieren wir Sie, dass dies ein komplett raucherfreies Hotel ist. Jeder Verstoß gegen diese Regel wird mit einer Geldbuße von 200 Dollar geahndet.» Diese Formel strotzt vor Schönheit: Sie werden bestraft, wenn Sie es wagen, ihren Aufenthalt in diesem Hotel nicht gut finden! … Willkommen in der besten aller Welten des hedonistischen Über-Ichs!“
(Willkommen im Kulturkapitalismus)

Unter absolutem Verzicht auf die hedonistische Komponente waren anthroposophische Unternehmen tatsächlich Vorreiter dieses ethisch-existentiell ambitionierten Kulturkapitalismus. Sloterdijk teilt mit diesen anthroposophischen Unternehmern und ihren glücklichen Kunden allerdings mehr, als beide mit Steiner teilen, wenn sie im LOHAS-Rad der fair gehandelten Wiedergeburten ihre ewigen Kreise ziehen:

Steiner arbeitete noch mit einer überschaubaren Zahl von AnhängerInnen, keiner globalen Modebewegung. Er denunzierte jede andere religiöse und politische Bewegung als überholt oder defizient. Er glaubte nicht daran, zog gar nicht in Erwägung, dass seine Waldorfschule einmal zum weltweiten Exportschlager werden würde, er erlebte nicht, wie Weledakosmetik Einzug in die Apothekenregale hielt, nicht, wie anthroposophische Banken oder AktivistInnen Ethikpreise abstaubten. Wenn er sich auch von den Praktiken der Lebensreformer oder Reformpädagogik Anregungen holte, plante er letztlich nur konsequent im Sinne seiner privaten „geistigen Welt“. Steiner hielt in einer penetrant dogmatischen Religiosität letztlich an der utopischen Idee der Revolution fest: Die Veränderung der Welt geschehe nicht einfach so, sondern nur – und zwar nur – durch die konsequente Verwirklichung der Anthroposophie, die folglich im Plan der höheren Mächte vorgesehen war. Auch wenn das paradox klingt, wäre den postmodernen „Reformern“ für die Umsetzung ihrer Ideale zumindest ein Stück solcher Konsequenz zu wünschen: „Fair wirtschaften“ nicht, weil alles irgendwie bunt, (post)modern und gutes Karma wäre, sondern trotzdem. Der „Kulturkapitalismus“ bedient sich wohlklingender Schlagwörter und erreicht darin Dimensionen, die der „kalte“ „Ego-Kapitalismus“ nicht kannte (vgl. Generation Dümpel). Statt in diesem Strohm mitzuschwimmen, ist eine wirklich glaubwürdige Praxis nur möglich, wenn man beispielsweise den zitierten fairen Kaffeehandel wirklich betreibt, um Ausbeutung verhinden, Menschenwürde zu wahren, um konkreten menschlichen Schaden zu begrenzen… und nicht, weil es „ganzheitlich“, karmisch hilfreich oder Symptom bewusstseinsevolutionären Fortschritts sei. Diese glaubwürdige Praxis kann nur stattfinden, wenn die Intentionen hinter den postmodernistischen Idealen von Pluralismus, Solidarität und Selbstverwirklichung Selbstweck sind und nicht zu postmodernistischen Phrasen oder mentalem Fitnesstraining à la Sloterdijk werden. Letzteres steht aber der Anthroposophie bevor, so wie sie sich im Umfeld der Steinerausstellung im Vitra-Design-Museum präsentiert. Schließlich: Fans der Sloterdijkschen Steinerdeutung, und erst recht Peter Sloterdijk selbst, sollten einen konsequenteren Umgang mit Steiners Anthroposophie finden: Steiner derart liberal zu deuten, ist – davon bin jedenfalls ich überzeugt – nur nach einer historisch-kritischen Einordnung legitim.

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Post scriptum

Wenn ich Sloterdijk als Esoteriker bezeichne, will ich damit nicht von der Verpflichtung entbinden, sich mit seinem Werk und seinen Aussagen auseinanderzusetzen. Das Thema ist sogar noch um einiges komplizierter: Sloterdijks esoterische Weltanschauungskonstrukte, die sich zum Beispiel im Postulat einer metahistorisch existenten „gnostischen“ Denkform manifestieren (vgl. sein Vorwort „Die wahre Irrlehre“ zu: Ders./Peter Macho (Hg.): Weltrevolution der Seele. Ein Lese- und Arbeitsbuch der Gnosis, Zürich 1993 – das Buch enthält auch einen Textauszug von Steiner) regen auch erklärte KritikerInnen der Gnosis oder der Esoterik an. Jüngst auf diesem Blog besprochen habe ich zum Beispiel die Dissertation von Jana Husmann. Die kritisiert zwar die schwarz-weiß-codierten Denkformen der spätantiken Gnosis, der aufklärerischen Philosophie oder den Wissenschaftsbegriff der Anthroposophie, beruft sich in geschichtlichen und religionsphilosophischen Belangen immer wieder unkritisch auf Sloterdijk. Husmann übernimmt etwa Sloterdijks Begriff des „demiurgischen Humanismus“, „des“ neuzeitlichen Menschen, der als „Gott der zweiten Schöpfungswoche“ agiere, wenngleich sie das sicher wesentlich kritischer meint als Sloterdijk (Jana Husmann, S. 124). Forschung und Forschungsgegenstand sind also auch im Falle von Esoterik und Esoterikforschung nicht nur offen für Synthesen, sondern begründen sich gegenseitig inhaltlich (vgl. zu diesen unbewussten Bündnissen Michael Bergunder: Was ist Esoterik? Religionswissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Esoterikforschung, in: Monika Neugebauer-Wölk (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation, Tübingen 2008, 477-507).

18. Oktober 2011 at 8:40 pm 10 Kommentare


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Hallo allerseits,
Ich bin Ansgar Martins, geb. 1991 und war bis Juni 2010 Schüler an der FWS Mainz. Inzwischen studiere ich Religionsphilosophie, Soziologie und Geschichte in Frankfurt a. M. Dieser Blog ( dessen "Leitbild" ganz oben rechts ) ist mein persönliches Projekt, um die oft einseitigen und selbstgerechten Pro- und Contra-Positionen in der Debatte um die Waldorfpädagogik und Anthroposophie kritisch zu kommentieren. Ich hoffe, das gelingt, und freue mich über Rückmeldungen jeder Art!

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