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Neue Waldorfpädagogik? André Sebastiani kritisiert Jost Schieren

Vor kurzem wurde hier Jost Schieren, Professor für Waldorfpädagogik an der Alanus-Hochschule (Alfter) interviewt, der sich um eine Annäherung von anthroposophischer „Erziehungskunst“ und akademischer Erziehungswissenschaft bemüht. Der folgende Kommentar von André Sebastiani sieht diese Bemühungen skeptisch:

Jost Schieren entwirft hier ein vermeintlich neues, moderneres Bild der Waldorfpädagogik. Die Waldorfpädagogik soll auf Augenhöhe mit den Wissenschaften gehoben und ein zeitgemäßer Diskurs auf wissenschaftlicher Grundlage ermöglicht werden. Dabei stört der esoterische Überbau der Waldorfpädagogik, weshalb esoterische Aussagen Rudolf Steiners marginalisiert und relativiert werden. Steiners Freiheitsbegriff mit Anknüpfungspunkten beim deutschen Idealismus und der Romantik rückt in den Mittelpunkt von Joost Schierens „neuer Waldorfpädagogik“. Steiner wird damit vom Esoteriker zum Philosophen, die Waldorfpädagogik öffnet sich dem wissenschaftlichen Diskurs. Ich habe meine Zweifel an dieser Darstellung und halte sie im Kern für widersprüchlich.

Schieren sagt, man könne „nicht einfach über Steiners ‚esoterische‘ Aussagen verfügen und sie operational einsetzen“, man könne sie „lediglich als Annahmen und als Denkmöglichkeiten verwenden.“ Als Beispiel nennt er die Reinkarnation, von der man nicht wissen könne, ob sie stattfinde oder nicht. Aber der „Gedanke der Reinkarnation“ beinhalte ein „Individualitätsverständnis“, das es erlaube, den Menschen nicht nur als „allein fremdbestimmtes Wesen“, als Produkt seiner Gene und verschiedener Umweltfaktoren, zu begreifen. Das erscheint wenig schlüssig und seltsam konstruiert. Es macht für einen Pädagogen doch wohl keinen Unterschied, ob der Mensch nun als Produkt vorangegangener Inkarnationen, oder als Produkt seiner Gene und seiner Umwelt vor ihm steht. Er hat es in beiden Fällen mit einmaligen Individuen zu tun. Der ganz reale und nachweisbare Einfluss, den Gene und Umweltfaktoren auf den einzelnen Menschen haben, wird zudem nicht kleiner, wenn der Lehrer seine Schüler als reinkarnierte Wesen betrachtet, er gerät höchstens aus dem Blickwinkel.

Doch auch das angepriesene „Individualitätsverständnis“ hat seine Tücken, schließlich gibt es eine ungute anthroposophische Tradition auch Krankheiten und Behinderungen karmisch, als Resultate vorangegangener Inkarnationen, zu deuten. Der kranke oder behinderte Mensch erscheint unter diesem Blickwinkel eher als Sklave seiner angeblichen Verfehlungen aus früheren Leben, denn als freies Individuum. Schieren scheint sich dieses Problems bewusst zu sein, denn er warnt vor „Inkarnationsforschungen“. Er vermag es aber nicht aufzulösen. Seiner Forderung, „dass der Pädagoge die Kinder und Jugendlichen sehr genau beobachtet und nicht mit vorgefassten Begriffen operiert“, läuft die Vorstellung der Reinkarnation zuwider, schließlich ist sie selbst ein vorgefasstes Konzept (mit vorgefassten Begriffen). Für die Konzepte von Freiheit und Individualität leistet die Vorstellung von Reinkarnation nichts, die Spekulation über vorangegangene Inkarnationen (vor der Schieren warnt), kann aber umgekehrt zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden. Wer jungen Menschen vorurteilsfrei gegenübertreten möchte, tut gut daran auf solche Grundüberlegungen zu verzichten.

Die Anthroposophie ist und bleibt die Grundlage der Waldorfpädagogik, auch nach Jost Schierens neuer Lesart, wie er selbst klarstellt. Dabei gehe es in der Waldorfpädagogik primär um die Freiheitsentfaltung. „Die Waldorfpädagogik schafft lediglich den Entwicklungsraum der Freiheit, aber dies auf sehr praktische Art und Weise.“ Auch diese These erscheint nicht schlüssig, denn anthroposophische Konzepte wie die Jahrsiebte- oder die Temperamentenlehre schränken letzten Endes den postulierten Entwicklungsraum der Freiheit ganz entscheidend und aus wissenschaftlicher Perspektive völlig unbegründet, ein.

Jost Schieren nimmt für sich und seine Kollegen in Anspruch einen „auch nach heutigen Standards vertretbaren wissenschaftlichen Umgang mit der Waldorfpädagogik und mit den entsprechenden Aussagen Rudolf Steiners“ einzufordern. Was die Verfahren der quantitativen und qualitativen Sozialforschung einschließe. Das wäre glaubhafter, wenn dieses Ansinnen in der Praxis eingelöst würde.

Grundsätzlich ist die Öffnung der Waldorfschule für die pädagogische Forschung, wie sie unter anderem durch die Untersuchungen von Heiner Barz und Dirk Randoll betrieben wurden und werden zu begrüßen. Betrachtet man die bisher vorgelegten Arbeiten genauer, so mischt sich ein bitterer Beigeschmack hinzu. In der Studie „Bildungserfahrungen an Waldorfschulen“ von Liebenwein, Barz und Randoll, wird beispielsweise eine Fragebogenerhebung mit 827 Waldorfschülern mit einem Datensatz verglichen, der an hessischen Gesamtschulen gewonnen wurde. Ein „wissenschaftlich vertretbarer Umgang“ würde eine wirklich vergleichbare erfordern, zumindest aber müsste problematisiert werden, dass hessische Gesamtschüler wohl kaum repräsentativ für alle Schüler an staatlichen Schulen sind. Auch der soziokulturelle und ökonomische Hintergrund der Elternhäuser müsste in den Vergleich einfließen. All das passiert aber nicht. Stattdessen vergleicht man munter Äpfel mit Birnen und versucht (manchmal mit Gewalt) einen waldorffreundlichen Schluss zu ziehen. Wenig schmeichelhafte Befunde, werden ignoriert oder relativiert. 30 Prozent der Waldorfschüler fühlen sich unterfordert, gleichzeitig nimmt die Hälfte der Waldorfschüler Nachhilfe in Anspruch.

So entsteht der Eindruck, dass es im Kern eher darum geht die Waldorfpädagogik durch ein wissenschaftliches Feigenblatt gegen Kritik zu immunisieren, als sie einem wissenschaftlich-kritischen Diskurs zu öffnen. Das zeigt auch die Aussage Schierens, es gehe im Kern darum „Steiner aus der Ecke einer nebulosen Esoterik herauszuholen und zu zeigen, wie zentrale Thesen beispielsweise der pädagogischen Anthropologie, der Entwicklungspsychologie und der Didaktik der Waldorfpädagogik tatsächlich zeitgemäß formuliert und diskutiert werden können.“ Zu einem wissenschaftlichen Umgang würde auch eine ergebnisoffene Herangehensweise gehören. Es würde auch die Bereitschaft dazugehören, sich von zentralen Thesen zu trennen, wenn diese sich als nicht haltbar erweisen. All das ist für mich in der Praxis bisher nicht erkennbar.

Ob die Einschätzung zutrifft, dass die inneranthroposophische Kritik an der Arbeit der Alanus-Hochschule tatsächlich, wie behauptet, als marginal zu bewerten ist, kann ich nicht beurteilen. Bis hin zu einem Diskurs mit den akademischen Wissenschaften auf Augenhöhe ist es noch ein sehr langer Weg. Ob man ihn überhaupt gehen will, bleibt abzuwarten.

sebastiani

André Sebastiani lebt in Bremen und arbeitet dort als Lehrer an einer Grundschule. Er setzt sich in der Skeptikerorganisation GWUP für wissenschaftlich-kritisches Denken ein und veröffentlichte mehrere kritische Artikel zur Waldorfpädagogik.

25. März 2016 at 3:15 pm 6 Kommentare

Waldorf heute: Vom „Eingeweihtenwissen“ zum „akademischen Diskurs“? Ein Interview mit Jost Schieren

Die „Alanus-Hochschule für Kunst und Gesellschaft“ (Alfter) ist eine akkreditierte Hochschuleinrichtung mit anthroposophischen Wurzeln. Keineswegs alle Professuren sind mit Anthroposophen besetzt. Andererseits gibt es einen Studiengang Eurythmie sowie eigene Lehrstühle für Anthroposophie oder Waldorfpädagogik, durchaus mit dem Ziel, diese akademisch anschlussfähig zu machen. Derzeit läuft beispielsweise ein Graduiertenkolleg Waldorfpädagogik an, federführend ist hier Prof. Jost Schieren. Letzterer widersprach neulich dem Mainzer Erziehungswissenschaftler Heiner Ullrich, der in einer neuen Waldorf-Einführung ausführte, die Anthroposophie sei die dogmatische Grundlage der Waldorferziehung. Gegen diese kaum überraschende These verwahrte sich Schieren mit Nachdruck – Grund genug, einmal nachzufragen, wie man das Verhältnis von Anthroposophie und Pädagogik in Alfter versteht. Jost Schieren war so freundlich, ausführlich zu antworten.

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Logo der Alanus-Hochschule (Quelle: Wikipedia)

Ansgar Martins: Herr Schieren, Sie sind Professor für Waldorfpädagogik. Ich unterstelle mal, Ihr Amt wird von dogmatischen Anthroposophen als akademische Verwässerung der Lehre Steiners und von Anthroposophiekritikern als Versuch verdächtigt werden, ebendiese Lehren unter dem Mantel des Akademischen zu vermarkten. Welche Probleme sehen Sie hinsichtlich der Vermittelbarkeit von Waldorfpädagogik und akademischen Wissenschaften?

Jost Schieren: Ihre Frage beinhaltet zwei Teile. Der eine Teil bezieht sich auf die inneranthroposophische Kritik an dem Bemühen, die Waldorfpädagogik wissenschaftlich zu verankern und zu etablieren. Solche Kritiken wurden vor zehn Jahren und mehr zu Beginn meiner Tätigkeit an der Alanus Hochschuleteils vehement vorgetragen, sind aber meines Erachtens inzwischen verstummt oder werden nur von einigen wenigen, vermutlich recht dogmatisch gesinnten Persönlichkeiten vorgetragen. Insgesamt ist in der Waldorfbewegung und auch innerhalb der anthroposophischen Szene eine viel größere Bereitschaft gewachsen, in einen Dialog und in eine Diskussion mit den akademischen Wissenschaften zu treten, so dass die genannte Kritik an diesem Weg aus meiner Sicht als eher marginal zu bewerten ist.

Der zweite Teil der Frage, nämlich wie Waldorfpädagogik und akademische Wissenschaften vermittelbar sind, hat tatsächlich eine hohe Relevanz. Den Weg, den meine Kollegen und ich beschreiten, ist derjenige, dass wir einen auch nach heutigen Standards vertretbaren wissenschaftlichen Umgang mit der Waldorfpädagogik und mit den entsprechenden Aussagen Rudolf Steiners einfordern. Dies schließt zum einen die quantitativen und qualitativen methodischen Verfahren der empirischen Sozialforschung im Umgang mit der Praxis der Waldorfpädagogik ein und zum anderen geht es auch um eine hermeneutische Erschließung zentraler Aussagen Rudolf Steiners zur Waldorfpädagogik im Sinne einer Grundlagenarbeit. Bei Letzterem geht es darum, Steiner aus der Ecke einer nebulosen Esoterik herauszuholen und zu zeigen, wie zentrale Thesen beispielsweise der pädagogischen Anthropologie, der Entwicklungspsychologie und der Didaktik der Waldorfpädagogik tatsächlich zeitgemäß formuliert und diskutiert werden können. Das heißt natürlich nicht, dass diese Thesen dann überall Akzeptanz finden, damit kann man nicht rechnen. Aber es wird eine Möglichkeit geschaffen, dass ein Diskurs mit der akademischen Wissenschaft auf Augenhöhe geführt wird. Allerdings liegt hier noch ein weiter Weg vor uns.

AM In einer Rezension haben Sie kürzlich Heiner Ullrichs Bewertung der Waldorfschulen als massiv anthroposophische Institutionen zurückgewiesen. Ich zitiere: „Eine gegenwärtige Waldorfpädagogik begreift die Anthroposophie als Methode und nicht als Inhalt. Das wissenschaftliche Ideal dieser Methode ist die Phänomenologie. Eine kritische Distanznahme zu allen anthroposophischen Inhalten und Aussagen Steiners ist unabdingbar. Die Anthroposophie wird durchgängig auf ihre pädagogische Relevanz und Anwendbarkeit überprüft. Es geht ferner um eine lediglich heuristisch zu erprobende und in einem hohen Maße selbstreflexive Art, mit Steiners Aussagen umzugehen.“ Was genau heißt das für den Umgang mit den einzelnen „menschenkundlichen“ bzw. inhaltlichen Äußerungen Steiners? Was bedeutet in diesem Rahmen Heuristik oder Phänomenologie? Und was „Distanznahme“?

JS Viele der Aussagen Rudolf Steiners beruhen seinem eigenen Anspruch gemäß auf so genanntem Eingeweihtenwissen. Ob das, was Steiner auf dieser Basis behauptet, stimmt oder nicht, entzieht sich damit unserer Beurteilung. Die gängige akademische Wissenschaft fällt daher das Diktum, dass es sich bei diesem Wissen um Mystik, Gnosis oder schlichtweg Spinnerei handele. Der Wissenschaftsrat bezeichnet dementsprechend die Waldorfpädagogik als eine „außerwissenschaftliche Erziehungslehre“. Viele Anthroposophen gehen mit den Aussagen Steiner umgekehrt so um, als handele es sich um „geoffenbarte Wahrheiten“ und meinen dann, darüber verfügen zu können bzw. sie schlimmstenfalls operativ einsetzen zu dürfen. Wenn ich von „Distanznahme“ spreche, so meine ich, dass wir uns des realen Erkenntnisabstandes zu Rudolf Steiners Aussagen bewusst sein müssen. Wir können in der Waldorfpädagogik nicht einfach über Steiners „esoterische“ Aussagen verfügen und sie operational einsetzen. Damit würden wir unser individuelles Einsichtsvermögen korrumpieren. Wir können die Aussagen Steiner, mögen sie richtig sein oder nicht, lediglich als Erweiterung unseres Beobachtungshorizontes, als Annahmen und als Denkmöglichkeiten verwenden. Konkret heißt dies beispielsweise bezogen auf das Konzept der Reinkarnation, dass es schlichtweg offen ist, ob Reinkarnation stattfindet oder nicht, denn das wissen wir nicht. Hier stoßen wir an unsere Erkenntnisgrenzen. Aber man kann sich fragen, welche Sichtweise auf den Menschen bietet das Konzept der Reinkarnation. Und da ist es nun interessant, dass der Gedanke der Reinkarnation ein bestimmtes Individualitätsverständnis beinhaltet, das es erlaubt, den Menschen nicht als irgendwie allein fremdbestimmtes Wesen (Gene, Sozialisation, Gehirnprägungen usw.) zu denken, sondern ihn als im Kern als auf sich selbst gegründet zu begreifen. Wenn ich nun als Pädagoge vor ein Kind trete, so ist es etwas vollständig anderes, ob ich die Persönlichkeit des Kindes als das alleinige Resultat von Vererbung und Umgebung ansehe, oder ob ich denke, dass das Kind und der Jugendliche zudem eine eigene auf sich selbst begründete Persönlichkeit in sich tragen, die auch nicht irgendwie zufällig entstanden ist. Denn das Reinkarnationskonzept Steiners schließt ja diesen Gedanken ein, dass der Mensch seine eigenes Wesen selbstverantwortlich durch eine Reihe von Verkörperungen selbst bildet. Hier muss ich als verantwortlicher Pädagoge allerdings innehalten. Es geht nicht um Inkarnationsforschungen oder dergleichen, sondern lediglich darum, die Freiheit des Menschen konsequent zu denken und dann im eigenen pädagogischen Handeln, dafür einen entsprechenden Entwicklungsraum zu schaffen. Phänomenologie heißt in diesem Zusammenhang, dass der Pädagoge die Kinder und Jugendlichen sehr genau beobachtet und nicht mit vorgefassten Begriffen operiert.

AM Wie hätte in einer solchen Waldorfpädagogik die Entwicklung und Institutionalisierung von pädagogischer Innovation gegenüber Angaben und Annahmen Steiners abzulaufen

JS Viele konkrete waldorfpädagogische Konzepte sind naturgemäß zeitbedingt. Sie sind den politischen und gesellschaftlichen Zeitumständen geschuldet. Gerade in Deutschland gibt es eine starke Waldorftradition und es entsteht schnell der Eindruck, als würde man an den Grundfesten der Waldorfpädagogik rühren, wenn man einmal bestimmte Traditionen wie beispielsweise die achtjährige Klassenlehrerzeit in Frage stellt. Zum Glück hat sich die Waldorfpädagogik auch international sehr breit entwickelt. Ich habe den Eindruck, dass wir von diesen internationalen Entwicklungen, die eben zum Teil unter anderen gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Verhältnissen stattfinden, sehr viel darüber lernen können, welche neuen Wege Waldorfpädagogik beschreiten kann und soll. Besonders das Bemühen um eine interkulturelle Waldorfpädagogik wie sie z.B. in Mannheim und neuerdings auch in Hamburg stattfindet, halte ich für sehr zukunftsweisend.

AM Ist Waldorfpädagogik ohne Anthroposophie möglich? Und was heißt – wenn „ja“ oder „nein“ – in diesem Fall Anthroposophie?

JS Nein, die Anthroposophie bildet unzweifelhaft die Grundlage der Waldorfpädagogik, aber eben nicht wie Klaus Prange, Heiner Ullrich, EhrenhardSkiera und andere Erziehungswissenschaftler behaupten als dogmatisches Gedankensystem, das indoktrinierend und ggf. manipulierend den pädagogischen Prozess kontaminiert. Die Anthroposophie ist im Kern auf das Ideal des freien Menschen ausgerichtet. Diesen denkt sie nicht dualistischer Getrenntheit von den Welterscheinungen, sondern sie in einem monistischen Sinne den Menschen und dessen Freiheitsentwicklung als Teil des Weltgeschehens. Mit dieser Denkform, die an die Tradition des Idealismus und auch an die Romantik anknüpft, steht die Anthroposophie dem Mainstream eines positivistischen und eben auch dualistischen Wissenschaftsverständnisses gegenüber, das den Menschen nicht als autonomes Wesen, sondern letzten Endes alle seelischen und geistigen Qualitäten als Epiphänomene von materiellen Ursachen auffasst. Diese Position der Anthroposophie einer Orientierung an der Freiheitsentfaltung unseres Menschseins ist auch in der Waldorfpädagogik entscheidend. Insofern ist die Anthroposophie und ihr Menschenbild untrennbar mit der Waldorfpädagogik verbunden. Aber diese Position der Freiheit ist ja kein Dogma, sondern lediglich eine Entwicklungsperspektive, dem die Waldorfpädagogik im pädagogischen Handeln den Boden bereitet. Es liegt ja gerade im Begriff der Freiheit, dass sie nicht von außen erzwungen werden kann. Die Waldorfpädagogik schafft lediglich den Entwicklungsraum der Freiheit, aber dies auf sehr praktische Art und Weise. Dabei kommt es entscheidend auf die Lehrerpersönlichkeit an, nämlich ob er/sie im Sinne einer eigenen Schulung und Entwicklung selbst das Beispiel einer freien Persönlichkeitsentwicklung darlebt. Auch hierzu bietet die Anthroposophie zahlreiche Hilfsangebote der inneren Schulung.

AM Im Wissenschaftsbegriff Steiners ist auch ein hellseherischer Schulungsweg als Initiationsvorgang enthalten, der zur Schau höherer Welt- und Wesenszusammenhänge führen soll. Immer wieder beansprucht Steiner – etwa gegenüber der Geschichtswissenschaft und einigen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen – die Superiorität der durch höhere Einsicht in die Dinge gewonnenen Befunde. In diesem Sinne unterstreicht er in der „Allgemeinen Menschenkunde“, die „allein richtige“ pädagogische„Stimmung“ werde das Bewusstsein geben: „Hier in diesem Menschenwesen hast du mit deinem Tun eine Fortsetzung zu leisten für dasjenige, was höhere Wesen vor der Geburt getan haben.“ Wie gehen Sie im Rahmen Ihrer Arbeit mit diesem inner-esoterischen Wissenschaftsanspruch um?

JS Aus Steiners Perspektive ist dies eine nachvollziehbare Haltung. Hier gilt, was ich oben schon ausgeführt habe, dass es bei einer modernen Waldorfpädagogik weder um eine radikale Ablehnung noch um eine dogmatische Vertretung solcher Aussagen Steiners gehen kann, sondern sie müssen in einen angemessenen theoretischen Rahmen diskutiert werden. Die von Ihnen zitierte Aussage bezieht sich ja auf eine bestimmte pädagogische Haltung der Ehrfurcht vor dem Kind. Eine solche Ehrfurcht vor der Entwicklung des Kindes und Jugendlichen und die damit einhergehende Bescheidenheit und Zurückhaltung des Pädagogen hat eine große Tradition, die von Pestalozzi über Korczack bis Buber geht. In dieser Tradition steht die Waldorfpädagogik zweifellos. Hier wird auf eine religiöse Grunddimension des pädagogischen Handelns angesprochen, die für die Waldorfpädagogik sehr wichtig ist, die aber eben niemals argumentativ vertreten werden oder den Anspruch auf Wissenschaft machen kann.

AM Ein anderes Beispiel: Die Waldorf-Zeitschrift „Erziehungskunst“ berichtete 2011 von „Elementarwesen“ als realen Entitäten, die in der Natur wirken, mit Menschen kommunizieren und von ihnen zuweilen erlöst werden. Eine ganze Schar von Zwergen, Elfen und so weiter findet sich in der Tat nicht selten auf den „Jahreszeitentischen“ von Waldorfkindergärten und –grundschulklassen sowie in allerlei dort erzählten Geschichten. Klaus Prange nannte die Waldorfpädagogik deshalb eine „Weihnachtsmannpädagogik“: Wie man kleinen Kindern gegenüber den Weihnachtsmann einführt, arbeite auch die Steiner-Erziehung mit einer Reihe von christlichen Jahreszeitenfesten, Märchen- und Mythenfiguren. Die Frage nach deren realer Existenz bleibe schwammig und beunruhigend unklar bleibe. Wie lässt sich eine solche oszillierende Vorgehensweise wissenschaftlich ausweisen?

JS Man muss wohl unterscheiden, welchen didaktischen Wert auf der einen Seite Bilder, Mythen und Märchen haben und welche Bedeutung in einer religiösen und christlichen Erziehung liegt. Dies kann kurz gesagt ein berechtigter Ansatz sein, die Grundstimmung eines ganzheitlichen Weltbezugs zu pflegen. Auf der anderen Seite gehen mir viele waldorfpädagogische Zwergen- und Engel- und Märchenwelten zu weit, das ist fast so etwas wie Waldorfdisney und ist nicht nur kitschig, sondern auch problematisch. Da kann ich manche Kritiker gut verstehen.

AM An der Alanus-Hochschule kann man Pädagogik, Waldorfpädagogik und Kunstpädagogik studieren. Viele Studienorte für Waldorflehrer dagegen, an denen Fach- und Klassenlehrer ausgebildet werden, haben keinen so stark akademischen Charakter. Nach verschiedenen empirischen Studien wird die fachliche Qualifikation von WaldorflehrerInnen in Zweifel gezogen. Genügt die gegenwärtige Waldorflehrerausbildung den epistemischen Standards, die Sie skizzieren?

JS Eine Waldorflehrerausbildung, die nicht zugleich auch in einem dialogischen Austausch mit der gegenwärtigen Erziehungswissenschaft arbeitet, genügt sicherlich nicht den Kriterien, die für eine gegenwärtige Lehrerausbildung entscheidend sind: hohe Fachlichkeit, ein breiter Rahmen pädagogischen Reflexionswissens, didaktisch-methodische Vielfalt, Diagnostik und die Entwicklung einer pädagogischen Persönlichkeit, die heiter, humorvoll, klar, strukturiert und beziehungsfähig ist, um nur einiges zu nennen.

AM Nach Dirk Randolls empirischer Befragung von Waldorflehrern (2013) scheint sich das Lager der „praktizierenden“ Anthroposophen an den Schulen allmählich zu verdünnen, laut der Studie „Bildungserfahrungen an Waldorfschulen“ von Liebenwein, Barz und Randoll 2012 assoziieren Waldorfeltern „Steiner“ eher negativ. Was bedeutet diese faktische Relativierung der Anthroposophie für die Waldorf-Theorie? Aufruf zum Grundlagenstudium oder Anzeichen für Neuerungsbedarf?

JS Ich vermute, dass die „alte“ Form einer treuen Steinerrezeption und –vertretung im Rückzug begriffen ist und dass es tatsächlich um eine neue, moderne, dialog- und diskursfähige Waldorfpädagogik gehen muss. Ich bin überzeugt, dass eine solche Form „offene“ Waldorfpädagogik auch die Anthroposophie nicht nur als Problemfall, sondern als spannendes Denkangebot begreifen wird.

AM Manche Waldorf-Kreise haben in letzter Zeit deutliche Sympathien für verschwörungsideologische Figuren gezeigt, während die diffuse Sympathie einiger rechter Esoteriker für Waldorfschulen nicht abreißt. Das ganze ordnet sich auch in gesamtgesellschaftliche Entwicklungen ein, in der Verschwörungstheorien oder „Reichsbürger“-Elemente sowohl im rechten als auch im tendenziell linken Spektrum an Salonfähigkeit gewinnen. Wie steht es bei einer Schulbewegung, die lange Zeit gesellschaftlich eher introvertiert war, um die politische Bildung?

JS Dies ist ein wichtiger Bereich einer kritischen Selbstreflexion, wo die Waldorfbewegung aus meiner Sicht inzwischen einiges gelernt hat: Sie agiert sehr viel transparenter, selbstkritischer und auch handlungskonsequenter in politischen Fragen, als es in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. Zudem taucht das Fach „Politik“ bzw. „politische Bildung“, das lange Zeit an der Waldorfschule unter „Geschichte“ subsumiert worden ist, in vielen Curricula inzwischen als eigens Fach auf. Ob dies ausreichend ist oder ob an einzelnen Schulen noch spezifischer Handlungsbedarf besteht, das kann ich nicht beurteilen. Der Bund der Freien Waldorfschulen hat sich in diesen Fragen aus meiner Sicht erfreulich klar und offensiv positioniert: Rechtsextremismus, Rassismus, Diskriminierung und Ausgrenzung haben keinen Platz in der Waldorfpädagogik.

21. März 2016 at 11:07 am 26 Kommentare


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Hallo allerseits,
Ich bin Ansgar Martins, geb. 1991 und war bis Juni 2010 Schüler an der FWS Mainz. Inzwischen studiere ich Religionsphilosophie, Soziologie und Geschichte in Frankfurt a. M. Dieser Blog ( dessen "Leitbild" ganz oben rechts ) ist mein persönliches Projekt, um die oft einseitigen und selbstgerechten Pro- und Contra-Positionen in der Debatte um die Waldorfpädagogik und Anthroposophie kritisch zu kommentieren. Ich hoffe, das gelingt, und freue mich über Rückmeldungen jeder Art!

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