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Die Scheidung der Geister: Eine Zwischenbilanz zur anthroposophischen Erinnerungskultur

„Unter Steiners heutigen Schülern ist die Geschichte der anthroposophischen Bewegung im nationalsozialistischen Deutschland noch weitgehend unaufgearbeitet; der Hintergrund der gestörten Verflechtungen mit völkischen Strömungen so gut wie unerkannt. Diese uneingestandene Vergangenheit wirkt entsprechend nach und erschwert die ohnehin mühsame Diskussion zwischen Anhängern der „Geisteswissenschaft“ und nichtanthroposophischen Wissenschaftlern. Möglicherweise steht die Anthroposophie, ihrem Selbstverständnis nach Sprachrohr des deutschen Geistes, noch einmal am Scheideweg im Hinblick auf ihren eigenen Werdegang.“
– Peter Staudenmaier: Der deutsche Geist am Scheideweg

„Nach dem Krieg glaubte man anderes zu tun zu haben und leugnete oder vertuschte den eigenen … Anteil an dieser unrühmlichen Vergangenheit. Das Problem, über Jahre mit seinen spirituellen oder vermeintlich spirituellen Urteilen versagt zu haben, wurde verdrängt. Es darf aber in der Geschichte der [Anthroposophischen] Gesellschaft nicht fehlen, denn es strahlt auch in andere Schichten des gesellschaftlichen Geschehens aus…“
– Klaus Hartmann: Herbert Witzenmann. Eine Biographie, s.u.

„Hans Büchenbacher zum Gedächtnis“ hieß eine Veranstaltung, die am 13. September im Herbert-Witzenmann-Zentrum Dornach stattfand. Dort spielte Wolfgang von Dechend Musik des in Auschwitz ermordeten Anthroposophen Viktor Ullmann, sprach Klaus Hartmann über die Beziehung von Büchenbacher und Witzenmann. Zum Schluss hielt ich einen Vortrag über die Geschichte der Anthroposophie im Nationalsozialismus sowie Büchenbachers apokalyptische Philosophie nach 1945. Hätte mich vor Kurzem überrascht, dass derlei in Dornach überhaupt Raum findet, so war doch ein weiterer Umstand noch überraschender: Das Publikum. Jene kreischenden Anthroposophen, die ihre eigene Kritikunfähigkeit wie eine Monstranz vor sich hertragen und jeden Kritiker für einen willentlichen Lügner halten – hier fehlten sie zur Gänze. Es war aber nicht das erste Mal, dass ich gerade zu diesem heiklen Thema vorbehaltlos kritische Diskussionen mit Anthroposophen führen konnte. Offensichtlich gibt es bei manchen in der Szene inzwischen die ehrliche Bereitschaft, sich selbstkritisch mit den faktischen Verschmelzungen von Anthroposophie und völkischem Gedankengut zu konfrontieren.

Hans Büchenbachers zu gedenken, heißt auch, zu bedenken, dass nach 1933 wohl die meisten Anthroposophen Nazis waren – oder alternativ einer politisch  schlicht naiven Hoffnung auf das „geistige Deutschtum“ anhingen, das gewiss irgendwann von Hitler erkannt werden würde. Von „zwei Dritteln“, die sich „mehr oder weniger“ positiv zu den Nazis stellten, schreibt Büchenbacher. Vieles spricht für seine Beobachtung. „Offenbar verhindert nur der starke Anteil anderer Länder an der anthroposophischen Bewegung, dass diese geschlossen zu Hitler übergeht.“ schrieb 1935 besorgt Ernst Bloch, der 1917 noch eine Synthese von Steiner und Husserl schreiben wollte. Vorstandsmitglied Guenther Wachsmuth begeisterte sich im anthroposophischen Nachrichtenblatt (Nr. 26/1933): „Es ist gut zu sehen, dass diejenigen, die ‚dabei‘ sein wollen, auch in unseren Reihen überwiegen.“ Ein irritierendes weiteres Beispiel ist Roman Boos, enger Vertrauter von Steiners Witwe, dessen zahllose Vorträge über Steiner und die „deutsche Erneuerung“ gar so viel Aufmerksamkeit erregten, dass umgekehrt nazistische Esoterikgegner ihre Schritte gegen die Anthroposophie beschleunigten. (vgl. „Die nazistischen Sünden der Dornacher“?) Zwar wurden die meisten anthroposophischen Organisationen letztendlich geschlossen und verboten, doch nach der Einsicht von Franz Neumanns „Behemoth“ gehörte zum Grauen des Nazismus auch seine Fähigkeit, „einen Teil seiner Opfer zu Anhängern zu machen.“

Dies und anderes erwähnte ich auch am 13.9. im Witzenmann-Zentrum. Es war nicht die erste Veranstaltung zu Büchenbachers „Erinnerungen“ und meinen Recherchen auf deren Spuren. Schon im Mai hat eine entsprechende Podiumsdiskussion in Hannover stattgefunden, zu der der dortige Pfarrer der „Christengemeinschaft“, Frank Hörtreiter, geladen hatte. Im März wiederum war ich zu meiner Überraschung zu den von Junganthroposophen organisierten „Rudolf Steiner Forschungstagen“ eingeladen worden, über „Die Einführung des Nationalsozialismus in die Anthroposophie“ vorzutragen. Alle drei Male war ich überrascht, welche Rückmeldungen und Diskussionsbeiträge kamen. Von zahlreichen Veranstaltungen und aus noch mehr LeserInnen-Mails kenne ich das leider durchaus wahre Klischee des pöbelnden anthroposophischen Mobs.

Hier ganz anders: Nicht einer der Anwesenden schwang sich zu apologetischen Verharmlosungen anthroposophischer Nazisympathisanten auf. Vielmehr wurde etwa kritisch nachgefragt, wie denn Büchenbacher selbst zu seinem jüdischen Vater gestanden habe. Oder diskutiert, wie das Verhalten des Vorstandsvorsitzenden Albert Steffen zu erklären (und zu werten) sei. Steffen hielt, wie man an zahllosen Tagebucheinträgen sehen kann, Hitler für den Antichristen, brachte es aber offenbar bis 1935 nicht über sich, öffentlich gegen Wachsmuths und Marie Steiners von Boos beeinflussten Kurs zu protestieren. Steffen setzte ganz auf eine Überwindung des Bösen durch „geistigen“ Widerstand, den der Dichter in seinen Dramen ausdrücken wollte. Immer wieder war bei den Diskussionen der apokalyptische Einschnitt Thema, den der „Zivilisationsbruch“ Auschwitz darstellt, eben auch für die anthroposophische Geschichte.

Im Witzenmann-Zentrum war unerwartet sogar eine hoch betagte Schwiegertochter Büchenbachers anwesend. Aus dem Gedächtnis steuerte sie allerlei zur Person Büchenbachers bei, bekräftigte energisch, wie ihm die „geistige Welt“ nach 1945 verdunkelt schien und wies nicht zuletzt auf die Blindheit „fanatischer“ Anthroposophen hin. Immer wieder fielen auf den drei Veranstaltungen Worte, die auch Büchenbachers verbitterte Semantik im Rückblick auf seine Genossen in der Nazizeit prägen: „Versagen“ der Anthroposophie, „Verrat“ an den eigenen Prinzipien.

Ich betone demgegnüber Kontinuitäten: Ein Richard Karutz zitierte 1934 „Mein Kampf“ und meinte, damit ausgerechnet die anthroposophische Ich-Philosophie zu erläutern. Ein Jürgen von Grone schrieb während des Zweiten Weltkriegs über eine Weltverschwörung angloamerikanischer „Geheimgesellschaften“, die trotz des „Führers“ „Bemühungen“ um den Frieden den Krieg angezettelt hätten. Dies speist sich offenkundig aus Steiners Konspirationsmodellen aus dem Ersten Weltkrieg. Roman Boos‘ Wahn für die „deutsche Erneuerung“ stellt eine gewiss einseitige, aber konsequente Verlängerung von Steiners Völkerpsychologie dar. Die universalistischen Widerlager in Steiners Weltanschauung wurden dabei nicht vergessen, sondern (siehe Karutz) schlicht nicht als solche empfunden. Mit Jean Améry (in „Jenseits von Schuld und Sühne“) könnte man formulieren, dass an Auschwitz jeder Geist, der diesen Namen verdiente, vor der Wirklichkeit versagte. Wie Nietzsche, Hölderlin und Beethoven, die Améry exemplarisch nennt, lies sich auch Steiner scheinbar rest- und fugenlos in die nazistische Kultursubreption einbauen.

Dass heutige Anthroposophen derlei nüchtern konfrontieren können, dafür wird wohl 2011 eine (freilich diskutable) Äußerung Bodo von Platos Dämme gebrochen haben, nach der die Anthroposophie auf den „ganzen Menschen“ setze, worin man eine „Disposition für alle totalitären Systeme“ erkennen könne, so dass Anthroposophen „vielleicht besonders empfänglich“ gewesen seien und sich heute besonders kritisch mit dieser „anthropologischen Disposition“ beschäftigen müssten. (vgl. Vielleicht besonders empfänglich) Die beginnenden, oft noch marginalen Versuche unter Anthroposophen, völkische Umtriebe ihrer Vorgänger kritisch zu realisieren, sind jedoch selbst Anthroposophie. Sie sind zeitgeschichtliche (Neu)Konstruktionen der Weltanschauung Steiners. Sie gehen mit einer entsprechenden Umdeutung Steiners, einer Verlagerung von Prioritäten einher. Dies ist ein ideologischer Selektions- und Transformationsprozess, aber wohl ein notwendiger, wie kürzlich auch Peter Staudenmaier angedeutet hat:

„Here is much more for Steiner’s followers to learn about the legacy they carry. There is no reason for anthroposophists to despair in the face of this task. Honest engagement with the past can be a boon to alternative spiritual movements, and anthroposophy is no exception. If it helps devotees of Steiner grapple with the topic, they can think of it as something Steiner himself would have encouraged. At its emergence a century ago, anthroposophy represented the flowering of German aspirations for an occult enlightenment. Its latter-day adherents do not need to abandon these hopes for a better world and enhanced consciousness and a different mode of life. Their dreams of more lucid understanding, of changed human relationships, of a new approach to nature, of a world freed of spiritual narrowness are all eminently worth seeking and striving toward. But realizing such a vision calls for other means, including clear-eyed social critique and political engagement. Those means are all too often hindered, rather than furthered, by esoteric ideals and practices. Far from forsaking their high ambitions, anthroposophists need only reflect candidly on what it is that has kept these aims from being fulfilled for so long. Facing up to their own history, straightforwardly and without excuses, will be an indispensable step on that path.“

Bei der erwähnten Podiumsdiskussion in Hannover saß auch der Waldorflehrer Arfst Wagner auf dem Podium, der Anfang der 90er als erster selbstkritisch aus anthroposophischer Perspektive über die Nazizeit geschrieben hat. Er berichtete unter anderem, welch energische Opposition seine Publikationen auslösten: gezielte Boykottaufrufe gegen seinen Verlag zum Beispiel. Oder persönliche Anfeindungen des angeblichen „Nestbeschmutzers“, der „karmisch längst ausgeglichene“ Themen hervorziehe und den bösen Anthroposophiegegnern Futter liefere. Er habe sich daraufhin immer mehr vom Thema ab- und der Politik zugewandt, berichtete Wagner, der für die GRÜNEN im letzten Bundestag saß – und ungebrochen Eurythmielehrer an der Waldorfschule Rendsburg ist.

Von dem feindseligen Klima, das sich in den Neunzigern noch zur Hetzjagd auf Arfst Wagner steigerte, habe ich seit Veröffentlichung der Memoiren Hans Büchenbachers nichts, und ich meine: nichts zu spüren bekommen. Zweifellos ist das seinen Pionierarbeiten zu verdanken, ebenso wie derjenigen Uwe Werners und schließlich Peter Staudenmaiers jüngeren Forschungen – nicht auch zuletzt Michael Eggert, der seit Jahren Texte Staudenmaiers auf seinem Blog zur Verfügung stellt. Last but not least ist Andreas Lichte zu nennen, der mit vernichtenden Artikeln zum Thema bei den „Ruhrbaronen“ 2012 eine breitere Aufmerksamkeit auf Staudenmaiers Funde gelenkt hat. Wie der Einschlag Lichtes und Staudenmaiers zeigt, hinterlässt auch scharfe externe Kritik bisweilen ihre noch so sublimen Spuren im anthroposophischen Selbstverständnis. Spuren, die sich vertiefen können.

Und doch fallen diese neueren Entwicklungen auf einen gern übersehenen, aber vorhandenen Boden. Es gibt sie, die intern leisen und extern praktisch nicht wahrgenommenen Anthroposophen, die beispielsweise aus der Beschäftigung mit Steffens Tagebüchern oder aus dem Wissen um die Gegner des anthroposophischen Widerständlers Karl Rössel-Majdan (der nach 1945 Probleme mit nazi-affinen Kollegen bekam, vgl. Anthroposophie im Widerstand) längst wissen, wie viel anthroposophischerseits im Argen lag und liegt. In der ersten Reihe anthroposophischer Weltanschauungspolitik stehen diese offenkundig nicht.

Herbert Witzenmann (1905-1988), eine sehr umstrittene und marginalisierte Figur in der anthroposophischen Geschichte, repräsentiert vielleicht einen weiteren solchen Strang. Wie Büchenbacher studierter Philosoph und mit diesem seit den 50er Jahren im Austausch, stellte Witzenmann ein Leben lang Steiners frühe philosophische Schriften ins Zentrum seines Interesses. Er lebte zu Beginn der Naziära in Pforzheim, und genau hier wurde ihm sehr schnell vor Augen geführt, was vom Nationalsozialismus zu halten war.

Im „Pforzheimer Anzeiger“ startete der enttäuschte Ex-Anthroposoph und nationalsozialistische Steinerhasser Gregor Schwartz-Bostunitsch („Rudolf Steiner. Ein Schwindler wie kein anderer“) sehr früh eine wirkungsvolle Hetzkampagne gegen die Anthroposophie. Dann wurde noch Witzenmanns Freund Fritz Schnurmann, Arzt jüdischer Abstammung und Pforzheimer „Zweigleiter“, 1935 inhaftiert, weil er zusammen mit einem ehemaligen SPD-Mitglied die Broschüre „Man flüstert in Deutschland. Die letzten Witze über das Dritte Reich“ verbreitet habe. Witzenmann riet Schnurmann nach seiner Entlassung, zu emigrieren. Solche Erfahrungen waren Witzenmann offenkundig Lehre genug über den Nationalsozialismus. Der Gastgeber der Büchenbacher-Gedenkveranstaltung am 13. September in Dornach, Klaus Hartmann, steuerte einen Vortrag über das Verhältnis Witzenmann – Büchenbacher bei. Im ersten Band seiner umfangreichen Witzenmann-Biographie zeichnete Hartmann 2010 dessen Distanz zum Nationalsozialismus nach. Er verstieg sich jedoch nicht dazu, Witzenmann als Sprungbrett zum „Anthroposophen waren gegen Hitler immun“-Mythos zu missbrauchen, sondern schrieb:

„Die aus der Perspektive der Verfolgung verfasste Arbeit von Uwe Werner verzichtet weitgehend auf eine selbstkritische Analyse von Haltungen von Mitgliedern der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft zur NS-Ideologie, auch wenn er die Erinnerungen Dr. Hans Büchenbachers als zuverlässig (S. 27) wertet und ausgiebig zitiert. Büchenbacher möchte aber gerade mit seinen Erinnerungen auf den schwerwiegenden Verrat an der anthroposophischen Sache durch viele führende Anthroposophen aufmerksam zu machen, der 1935 durch das Gesellschaftsverbot unsichtbar gemacht wurde … Nach dem Krieg glaubte man anderes zu tun zu haben und leugnete oder vertuschte den eigenen, wenn auch zuallermeist nur in der Gesinnung liegenden Anteil an dieser unrühmlichen Vergangenheit. Das Problem, über Jahre mit seinen spirituellen oder vermeintlich spirituellen Urteilen versagt zu haben, wurde verdrängt. Es darf aber in der Geschichte der [Anthroposophischen] Gesellschaft nicht fehlen, denn es strahlt auch in andere Schichten des gesellschaftlichen Geschehens aus … Viele Angaben zu allen möglichen Gesellschaftsvertretern in den durchweg verklärenden Biographien sind in dieser Hinsicht wertlos. Zu den bei Arfst Wagner veröffentlichten Dokumenten und Stellungnahmen gibt es noch immer keine von Seiten des Goetheanums die Binnenperspektive überschreitende Darstellung.“ (Klaus Hartmann: Herbert Witzenmann 1905-1988. Eine Biographie, I, Dornach 2010, S. 180f.)

Solche Stimmen machen Mut. Auch am 13. September in Dornach hat Hartmann seine kritische Einschätzung – verschärft – wiederholt.

Natürlich ist Anthroposophiekritik weit, weit mehr als Kritik an Verschmelzungen von völkischem Denken und Anthroposophie: Die problematischen Aspekte und paranoiden Züge, von der Waldorferziehung bis zum Werbecksingen, sind Legion. Man denke nur an die kontinuierlichen Attacken, die von verquast-orthodoxen Anthroposophen selbst gegen einen Steiner so geneigten Wissenschaftler wie Christian Clement ausgehen. Aber diese Verschmelzungen stellen, historisch und gesellschaftlich, einen der mit Abstand gefährlichsten Umstände dar. Sie wurden unter Anthroposophen lange derart offensiv verdrängt und verbogen, dass die Verdrängung sich bis zur armseligen Affirmation von Nazi-Anthroposophen steigerte. Lorenzo Ravagli karikierte etwa die nazi-affine Elisabeth Klein zu einer „Waldorflehrerin, die sich mutig für die Weiterexistenz ihrer Schule gegen die nationalsozialistischen Machthaber einsetzte“. (Ravagli: Unter Hammer und Hakenkreuz, Stuttgart 2004, 212) Tatsächlich setzte sie, die in herzlichem Kontakt zu verschiedenen Nazigrößen stand, sich für die Einbindung ihrer Schule in ein nationalsozialistisches Versuchsschulprogramm ein. Selbst in ihrer Autobiographie verharmloste sie beispielsweise noch den Naziphilosophen Alfred Bäumler, der versucht hatte, sich als eine Art neutraler Gutachter im nationalsozialistischen Streit um die Waldorfschulen zu etablieren.

Solch verzweifelte Beschönigungsversuche werden nicht über Nacht verschwinden. Aber vielleicht werden sie in Zukunft abnehmen. Vielleicht bleiben eines schönen Tages ihre Kunden aus. Vielleicht darf man mit und trotz Büchenbacher hoffen, dass die diesbezüglich klarsichtigen Anthroposophen mehr als bisher aus dem Schatten treten. Auch zu Büchenbacher muss man letztendlich historisch-kritisch Distanz einnehmen: Er raunt beispielsweise über schwarzmagische „Logen“, die hinter dem Nationalsozialismus standen – ironischerweise hatte er derlei, wie er selbst unverblümt in den „Erinnerungen“ schreibt, aus dem Buch „Bevor Hitler kam“ des Nationalokkultisten Rudolf von Sebottendorff übernommen. Hier trifft zu, was Nicholas Goodrick-Clarke über die „Nazi-Mysterien“ schreibt:

„Man muss eben die Mystifikation von dem empirisch Beweisbaren trennen. Wie einst die Nazis ihre putativen arischen Ahnen mythologisierten, um ihren Anspruch auf rassische Überlegenheit zu begründen, so werden in jüngerer Zeit die Nazis ihrerseits mythologisiert, nämlich zu einer einzigartigen Kraft des Bösen – von gewissen obskurantistischen Schreibern, die dergestalt ihren esoterischen oder verschwörungstheoretischen Spintisierereien ein Fundament geben wollen … Zwar liegt den meisten Nazi-Mystifikatoren gewiss der Vorsatz fern, Nazi-Apologie zu betreiben, doch nutzen Interessierte deren Mystifikationen längst in genau diesem Sinne … Die geächteten Führer des Nationalsozialismus und ihre Ideen erscheinen jetzt wie verbotene Götter eines dunklen Reichs – ein Faszinosum für nicht weniger, die der Reiz des Verbotenen lockt.“ (Goodrick-Clarke: Im Schatten der Schwarzen Sonne, Wiesbaden 2009, S. 264f.)

Sollten sich jene Keime einer nazikritischen Anthroposophenschaft in der Bewegung verbreitern: Für viele von ihnen mögen dann die „Nazi-Mysterien“ eine Versuchung sein, aufgrund des eigenen spirituell-mythologischen Geschichtsbildes. Aber eine, der durch die wache Beachtung des historisch Nachweisbaren widerstanden werden kann. So muss man mit Blick auf Büchenbachers okkulte Verschwörungstheorien erwähnen, dass der Anthroposoph Christoph Lindenberg bereits 1978, Jahre vor dem Erscheinen von Goodrick-Clarkes einschlägigen Schriften, Sebottendorffs Nazimystifikationen vernichtend kritisiert hat (vgl. Lindenberg: Die Technik des Bösen, 3. Auflage, Stuttgart 1985, S. 15-25). Auf die weiteren Entwicklungen darf man wohl durchaus gespannt sein.

15. September 2014 at 12:42 pm 5 Kommentare

Albert Steffen: Der Auszug aus Ägypten

„Wo Deutsche sich auf eine Auseinandersetzung mit den Juden in humanem Geiste eingelassen haben, beruhte solche Auseinandersetzung stets, von Wilhelm von Humboldt bis zu George, auf der ausgesprochenen und unausgesprochenen Voraussetzung der Selbstaufgabe der Juden, auf der fortschreitenden Atomisierung der Juden als einer in Auflösung befindlichen Gemeinschaft, von der bestenfalls die Einzelnen, sei es als Träger reinen Menschentums, sei es selbst als Träger eines inzwischen geschichtlich gewordenen Erbes rezipiert werden konnten.“
– Gershom Scholem: Noch einmal: Das „deutsch-jüdische Gespräch“,
in: ders.: Judaica, II, Frankfurt a.M. 1970, 9.

Nicht alle Vorstudien und Recherchen im Zusammenhang mit der Hans Büchenbacher-Edition sind in das veröffentlichte Buch inhaltlich eingegangen. Unter anderem eine kurze Betrachtung zu Albert Steffens expressionistischem Drama „Der Auszug aus Ägypten“, 1916 veröffentlicht. Es geht um die entsprechende Bibelpassage: Die Auswanderung der Israeliten aus dem pharaonischen Ägypten unter Mose. Dieses Stück ist unter anderem interessant, weil Steffen, der Hitler nachweislich verachtete, aber nicht gegen Nazis in der Führungsebene der Anthroposophischen Gesellschaft vorging, sich entschieden gegen jeden Antisemitismus verwahrte. Wie sah – gute 30 Jahre vor Beginn der nationalsozialistischen Diktatur, Steffens Einschätzung des biblischen Judentums aus? Im „Auszug aus Ägypten“ exerziert Steffen die (unbiblische und dem jüdischen Verständnis von Nation völlig entgegengesetzte) Völker- und Entwicklungsleiter der Anthroposophie durch. Die evolutionäre Ordnung wird an der Konfrontation von Israeliten und Ägyptern veranschaulicht – erstere gelten als höher entwickelt, aber nur als Vorbereiter Christi.

steffencover

Steffen, Nachfolger Steiners als Vorsitzender der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, hat Hitler als dämonisch abgelehnt und von der gefährlichen Verführung des Nationalsozialismus gesprochen. [1]  Er beobachtete die Judenverfolgung mit Schrecken. Steffen, dessen dichterische Bekanntheit nach 1900 öfter verkannt wird, hat sich mit so manchem zeitgenössischen Denker und Schriftsteller (und diese mit ihm) auseinandergesetzt. Dazu gehörte Else Lasker-Schüler, die auch den „Sturz des Antichrist“ besuchte und möglicherweise Motive aus Steffens zahlreichen Arbeiten übernahm.[2] 1913 hörte er zum ersten Mal einen Vortrag Martin Bubers. „Ich fühlte zum eigentlich ersten Male im Leben das Judentum in mir“, schrieb er in sein Tagebuch.[3] In der Wohnung seines jüdischen Freundes Stanislas Stückgold, der Maler war und ihn 1919 portraitierte, wurde Steffen Buber zum ersten Mal vorgestellt. Retrospektiv war dies für ihn eine der „wertvollsten Menschenbegegnungen“.[4] Zwischen beiden hatten sich ein gelegentlicher Briefwechsel und weitere Vortragsbesuche angeschlossen. 1947 besuchte Buber Steffen in Dornach, sehr wohl mit Interesse, was auf seine Ablehnung der Anthroposophie keinen Einfluss ausübte (nach Steffens Ansicht: „er geht an Rudolf Steiners Werk vorüber.“[5]).[6] 1935 heiratete Steffen die inzwischen verwitwete, aber bereits länger mit ihm verbundene Elisabeth Stückgold. Die Adoption ihrer behinderten Tochter sah er, wie aus seinen Tagebüchern hervorgeht, auch als Protest gegen die Euthanasie im Nazistaat (vgl. 3.). Büchenbacher schildert Steffen als einen Verbündeten in Dornach, der nach 1933 zu keinem Zeitpunkt antijüdisch agitiert habe. Steffen war jedenfalls alles andere als ein überzeugter Antisemit, obwohl sich auch in seinem Denken hartnäckig die Betonung eines jüdischen „Blutsprinzips“ hielt, das Hitler sich gegen die Juden angeeignet habe[7] –gerade diese Konstellation macht seine dichterischen Überlegungen zum Auszug der Israeliten aus Ägypten äußerst aufschlussreich.

Den ersten Akt des Dramas bildet ein Streitgespräch zwischen Moses und Ramses II. Der Pharao erscheint dabei als kurzsichtiger, weil ethnozentrischer, aber auch ängstlicher Tyrann. Er wird immer verzweifelter, weil sich auch Sohn und Gattin zu Moses Prophetie bekennen. Auf seinen Vorwurf „Ägypten scheint Dir weniger als Kanaan“ antwortet Moses: „Wir ziehn nach Kanaan, auf dass ein Bild für jedes Gottessucherschicksal werde. Es lebt in uns der ungebaute Tempel, zu dessen Schwelle alle Völker wallen. Denn Israel, als priesterlichem Volk, ist diese Tat bestimmt, nicht nur für sich, nein zur Erneuerung der ganzen Welt.“[8] Das Theologumenon der Gottesebenbildlichkeit verknüpfte Steffens Moses mit einer (ontologisch in Jahve verwurzelten) Reinkarnationsgeschichte. „O sieh dich sterben, sieh dich wiederkommen, nicht als Ägypter, nicht als Israelite, als freier Mensch, der in der Gottheit wurzelt. Bis dahin werden viele Völker sinken. Der Einzelne, er lebt, wenn er sich will als Kind der Gottheit, deren Name ist: Ich, der Ich bin war und werde – Jahve“. [9] Ägypten erscheint als atavistischer Vergangenheitskult und Moses wie ein in die Antike versetzter Anthroposoph, der dem Pharao die „die Sphinx bezwingenden“ Kräfte des „Sonnengeistes“ vorhersagt. Erst bei letzterem Appell, nicht bei der Lobpreisung Jahves, wird der Pharao (zumindest vorübergehend) einsichtig, will sein „eng ägyptisch Wesen opfern“, weil er sieht, „dass einst der Sohn der Sonne niedersteigt, zu wohnen in dem Leibe eines Menschen, der einem starken Stamm entsprossen ist“. Moses blieb „Vorbereiter“ Christi.[10]

Das auserwählte Volk war jenes, das Christus sich zur Inkarnationsmaterie erkoren hatte. Auch die lineare anthroposophische Kulturevolution legte Steffen seinem Moses in den Mund. Nachdem der Pharao im zweiten Akt beschließt, Moses doch noch als Feind der Ägypter zu verfolgen, antwortet jener: „Das Feuer, das uns [die Israeliten, AM] nährt, verzehrt Ägypten … Wir leben schon die nächste Weltenstufe, wir leben sie, und wer nicht mit uns lebt, sinkt hin … und wer sich stemmen und abseits stellen will, zerstört sich selbst.“ Wenig befreiend wirkte da die Verheißung der Reinkarnation des Individuums auf verschiedenen Kulturstufen („dass jeder Mensch den ewigen Gang der Seele sehen muss“). Der unerbittliche Weltenplan, den Steffens Moses predigt, überzeugt den Pharao jedoch nicht („Ich feg dies Bild hinweg!“), er ruft sein Reich zusammen. Die Regieanweisung beschreibt eine „dumpfe Masse der Ägypter … langsam, mit verhaltener Roheit“. [11]

Die Ägypter stürzen sich zur Verzückung des Pharaos auf die Israeliten. Sein Sohn warnt: „Du lässt den Völkerteufel los in ihnen, den Israelitenhass, der lange schon den Augenblick erlauert hat, zu wüten.“[12] Dieses Bild erklärt den „Israeliten“- und das heißt wohl auch „Judenhass“ – zum dumpfen, rohen Antagonismus der Höherentwicklung, als „Völkerteufel“, der sich der kosmischen Vorsehung entgegenstellt. Der mordlustige Mob der Ägypter regrediert auf die Stufe der „Tierheit“.[13] „Die Lippen warten schon, um zu zerfleischen, sie sprechen nicht mehr Gottesworte aus … der Leib voll Gier, die wie die Schlange schleicht. Sieh doch die Schnauzen, Rüssel, Wackelköpfe.“[14]

Unterdessen wird der Pharaonengattin bzw. ihrer Seele, die in einer Pyramide als Sphinx mit Moses kommuniziert, mitgeteilt, dass ihr Sohn seinen mordlustigen Vater zur Rache erschlagen wolle. Die in der Pyramide offenbar zur Clairvoyance gekommene Gattin ruft ihrem Kind entsetzt zu: „Die dunklen Triebe von Ägypten sind von ihm zu dir gelangt.“[15] Daraufhin opfert sich der Sohn freiwillig stellvertretend für seinen Vater und die Sünden Ägyptens. Für den Pharao bleibt das folgenlos, der zu allem Überfluss gleich darauf auch noch von seiner Frau verlassen und von Dämonen in Besitz genommen wird. Er beschließt, die inzwischen hastig ausgewanderten Israeliten weiter zu verfolgen. Im dritten Akt, noch während er im Roten Meer versinkt, kündigt der diabolische Pharao seine schreckliche Rache aus dem Jenseits an, wo sich „die finstren Sterbekönige“ um ihn versammeln würden, um die Israeliten „zum schwarzen Abgrund nieder“ zu drücken: „Mein Arm wird lang, mein leibbefreiter Geist ersinnt ihm Waffen, die euch doch erreichen, den Tod der Menschheit über weite Meere und durch die fernste Zukunft tragende … so erfass ich euch.“[16]

Steffen stellte in der Nebenhandlung auch Rettung in Aussicht, die sich interessanterweise mit den zwei weiblichen Figuren verbindet: In der Pharaonengattin und in Moses Schwester Myriam. Die Pyramidenszene der ersten zeigt, wie deren sphinxgestaltige Seele durch Moses geläutert wird. Diese Katharsis weiblicher Intuition vollendet sich schließlich im Freudentanz der Miriam, hinter der die Sonne aufgeht, als würde sie selbst leuchten.[17] Um die Interpretation dieser Stelle eindeutig zu machen, steuert Steffens Moses auch gleich das anthroposophische Konzept dahinter bei: Miriams Tanz zeige dem (gerade im Meer ertrinkenden) Pharao „das Bild der Seele, die sich mit dem Geist durchdringt, der alles Dunkle, das im Meer verborgen ist und tückisch lauert, tilgt, … und uns hindurchträgt durch jedes Graun“. Er beschreibt Miriam als „Weib, das die Sonne trägt“, was auf die Schilderung der sonnenhaften Gottesmutter in der Johannesapokalypse hinweist.

Die mit neutestamentarischen Anspielungen gespickten Schlussseiten des Dramas zeigen, dass Steffen die eschatologische Erlösung von den Wunden der Geschichte, von Mord, „Israelitenhass“ und verrohten Massen, im Bekenntnis zu Christus sah. Die plakativen Bilder und Symbole des „Auszugs aus Ägypten“ demonstrieren die damals gängige anthroposophische Antisemitismuskritik: Der Hass auf die Juden wird als Rückfall in ethnozentrischen Blutrausch, in überwundene und inzwischen vom Bösen in Besitz genommene Schichten der seelisch-menschheitlichen Entwicklungsskala beschrieben. Zugleich aber erscheint das Judentum nicht an sich, sondern als Träger des Fortschritts und Vorstufe zum Christentum als positiver Faktor der spirituellen Geschichte. Was auf die Ägypter zutraf, würde hier nach dem Erscheinen Christi auch das Judentum treffen. So entfaltet Steffen zwar eine intentional wertschätzende Behandlung des Judentums aus anthroposophisch-evolutionärer Perspektive, in der aber zugleich jene Geschichtsteleologie mitschwingt, die bei anderen Autoren zum unverhohlenen Antisemitismus wurde. Es ist die Forderung nach steter Fungibilität, bereitwilliger Einordnung jedes Interesses unter den Steinerschen Evolutionsprozess, das anthroposophischen Antisemitismus ebenso durchdringt wie die auf die Antike beschränkte Steffen’sche Würdigung des Judentums.


Anmerkungen

[1] Vgl. dazu „Die nazistischen Sünden der Dornacher“ (PDF)

[2] Vgl. Sigrid Bauschinger: Else Lasker-Schüler. Biographie, Göttingen 2004, S. 360f. Um 1900 hatte Lasker-Schüler auch mit Steiner zu tun, vgl. Helmut Zander: Rudolf Steiner, S. 110, 148.

[3] Steffen, Tagebucheintrag vom 6. März 1913, zit. n. Gerhard Wehr: „Was sollen uns, wenn es sie gibt, die oberen Welten?“ Martin Bubers Missverstehen der Anthroposophie – aus der Sicht Hugo Bergmans und Albert Steffens, in: Ralf Sonnenberg: Anthroposophie und Judentum, S. 135.

[4] Steffen, Tagebucheintrag vom 29. Mai 1962, zit. n. ebd.

[5] Steffen, Tagebucheintrag vom 26. März 1958, zit. n. ebd., S. 135.

[6] Bei dem Besuch 1947 sprachen beide auch über den Palästinakonflikt: „Die Gespräche drehten sich um die Möglichkeit eines neuen Krieges. Buber sah ihn gegen das Jahr 1960 kommen, wenn nicht neue Methoden kämen … Ich fragte ihn nach dem Verhältnis der Juden und Araber, das einer Katastrophe zutreibt … Er: Das Gute sei, dass jetzt Christen und Juden zusammen gingen.“, Tagebucheintrag vom 29. Juni 1947, in: Hinweise und Studien, 8/9, S. 44.

[7] Über Hitler notierte er am 14. Mai 1936 in sein Tagebuch: „Vor allem hat er die Lehre vom Blut, welche die Juden hatten, sich zu eigen gemacht. Nur das Deutsche hat er nicht.“, in: Hinweise und Studien, 4, S. 26.

[8] Albert Steffen: Der Auszug aus Ägypten/Die Manichäer. Zwei Dramen, Berlin 1916, S. 18.

[9] Ebd., S. 20f.

[10] Ebd., S. 30f.

[11] Ebd., S. 38f.

[12] Ebd., S. 40.

[13] Ebd., S. 49.

[14] Ebd., S. 59.

[15] Ebd., S. 50.

[16] Ebd., S. 70.

[17] Vgl. ebd., S. 72.

25. Juli 2014 at 9:04 pm 1 Kommentar

„Im Grunde nur ein Verein von alten Tanten…“ Hans Büchenbachers Erinnerungen im historischen Kontext – Aufklärung und Kritik

Eine Buchempfehlung (und zugleich eine auto-biografische Vergegenwärtigung des Komplexes Anthroposophie/Nationalsozialismus)

von Hans-Jürgen Bracker

Hans-Jürgen Bracker ist Waldorflehrer und ehemaliger Redakteur der anthroposophischen Kulturzeitschrift „Novalis“. Zur historischen Anthroposophieforschung hat er vor allem mit seinen Publikationen zu den großen jüdischen Schülern Rudolf Steiners, Ernst Müller und Schmuel Hugo Bergman, beigetragen. Ein weiteres Feld der Auseinandersetzung sind für ihn die Verflechtungen von Anthroposophie und völkischem Gedankengut. Zur kürzlich erschienenen Hans Büchenbacher-Edition hat er inhaltlich z.T. entscheidende Hinweise beigesteuert. Nun reflektiert er das Projekt in Verbindung mit einem „auto-biografischen“ Rückblick auf die anthroposophische Politik des Unpolitischen.

Hans-Jürgen Bracker (Foto: Privat)

Hans-Jürgen Bracker (Foto: Privat)

Wer von der lieben Verwandtschaft ein Haus erbt, der kann beim Aufräumen, Aussortieren oder Ausmisten manch unangenehme Überraschung erleben. Es müssen nicht gerade Leichen im Keller sein –, aber üble Hinterlassenschaften, die jahrzehntelang im Dunkeln vor sich hingegammelt, gemodert, gar gefault haben, tun auch schon das Ihre dazu, dass man sich überlegt, das ganze Erbe auszuschlagen und vielleicht irgendwo etwas Neues anzufangen. An diese Situation mögen sich heutige Freunde der Anthroposophie erinnert fühlen, wenn sie auf bestimmte „Hinterlassenschaften“ ihrer Vorgänger schauen. Ansgar Martins schaut sich im Haus „Anthroposophie“ um und leuchtet im Keller auch in die hintersten entlegenen Winkel. Nicht als Unbeteiligter, sondern als neugieriger, kritischer, vielleicht entfernter Verwandter…

Der bayerische Anthroposoph Hans Büchenbacher (geboren 1887 in Fürth), war als Sohn eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter getauft und christlich erzogen worden, er galt somit nach den NS-Rassegesetzen als „Halbjude“. In der Nazizeit gelang ihm, der seit 1931 Vorsitzender der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland war, die Emigration in die Schweiz, wo er auch nach 1945 bis zu seinem Tode 1977 lebte. Seine im Alter verfassten „Erinnerungen 1933-1949“ erschienen im Frühjahr im Frankfurter info 3 / Mayer Verlag, herausgegeben und kommentiert vom Betreiber dieses Blogs, Ansgar Martins.

Neonazismus und Anthroposophie

Büchenbachers Erinnerungen an die Jahre der NS-Diktatur sind mir seit 1992 bekannt; damals bekam ich Fotokopien eines 34-Seiten-Typoskripts in die Hände, das ich in einer Nacht mit Spannung und nicht geringer Fassungslosigkeit durchlas. Das Thema „Anthroposophen im Nationalsozialismus“ beschäftigte mich damals schon seit Jahren. Spätestens seit Jan Peters Buch „Nationaler ‚Sozialismus‘ von rechts“ (Berlin 1980) war die Problematik – anhand der dort behandelten Biografie des ehemaligen Christengemeinschaftspriesters Werner Georg Haverbeck – auf dem Tisch. In der Folge des Anwachsens der grün-alternativen Bewegung kam auch damals schon das Schlagwort vom „Ökofaschismus“ auf.

Das markante Erscheinungsbild des Vorsitzenden der GLSH (Grüne Liste Schleswig-Holsteins) und Demeter-Bauern Baldur Springmann im Russenkittel war prägend in der Gründungsphase der grünen Partei. Dass er neben ökologischem nicht nur konservatives, sondern auch völkisches Gedankengut vertrat, wurde erst allmählich bekannt. Springmann gehörte wie Haverbeck (dieser als Präsident) und der Bio-Lieferant Ernst-Otto Cohrs dem „Weltbund zum Schutze des Lebens“ (WSL) an, einer Umweltschutzorganisation, die in der Anti-AKW-Bewegung der 70er Jahre unauffällig mitwirkte. Peters zeigte in seinem Buch gerade am Beispiel des WSL interpretationsbedürftige Verbindungslinien von der grünen in die braune Szene auf und stellte die Frage, ob gewisse personelle Schnittmengen Zufall oder ideologie-immanent seien.

In der Zeitschrift „Die Bauernschaft“ des schleswig-holsteinischen Alt- und Neonazis Thies Christophersen las ich ungefähr gleichzeitig zum ersten Mal von biologisch-dynamischer Landwirtschaft in Auschwitz, und E.-O. Cohrs schrieb dort belustigt in einem Leserbrief, dass er in Büchern von Rudolf Steiner Hakenkreuze gefunden hätte – ob man diese deshalb etwa auch verbieten wolle (so wie die vom Verfassungsschutz beobachtete und wegen des Abdrucks von Hakenkreuzen vom Verbot bedrohte „Bauernschaft“). – Die drei Genannten wurden in der Öffentlichkeit allerdings nicht in erster Linie als Anthroposophen sondern als Umwelt-Aktivisten wahrgenommen.

Anthroposophische Aufarbeitungen der anthroposophischen Geschichte

Dass es „Berührungen“ zwischen Anthroposophen und dem NS gab, war mir also 1992 keineswegs neu – zumal Haverbeck 1989 mit seinem Buch „Rudolf Steiner. Anwalt für Deutschland“ mit seinem rückwärtsgewandten Welt- und Geschichtstbild an die Öffentlichkeit getreten war, welches auf heftige Ablehnung in der aufgeschreckten anthroposophischen Szene gestoßen war. 1991 veröffentlichte die progressiv-anthroposophische Zeitschrift „Flensburger Hefte“ zwei Nummern zum Thema „Anthroposophen und Nationalsozialismus“, insbesondere der zweiteilige Hauptartikel des Rendsburger Eurythmisten und Verlegers Arfst Wagner (Untertitel: „Probleme der Vergangenheit und Gegenwart“) stellte einen ersten Markstein in der inneranthroposophischen Aufarbeitung der „eigenen“ NS-Vergangenheit dar. Viele, die es hätte angehen sollen, wollten aber gar nicht so genau wissen, was im Detail bei Wagners Recherchen herausgekommen war (deren Ergebnisse er – ohne irgendwelche Unterstützung und auf eigene Kosten – in fünf Materialbänden herausgab); stattdessen wurde er als Nestbeschmutzer beschimpft. Einige Jahre später schließlich legte der damalige Goetheanum-Archivar Uwe Werner im anerkannten Wissenschaftsverlag Oldenbourg seine umfassende Studie „Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus“ vor (München 1999), in der er – anders als Wagner – auf Büchenbachers Erinnerungen zurückgreifen konnte. Damit war zunächst einmal einiges Material veröffentlicht; die Meinungen darüber, ob nun das Thema abgeschlossen werden könne, gingen natürlich weit auseinander. Den einen war Werners Duktus zu apologetisch, konservative Anthroposophen hingegen schien die ganze „Aufarbeitung“ unnötig, manchen erschien diese schmerzhafte Beschäftigung aber doch als eine notwendige Pflicht – im Sinne einer Begegnung bzw. Auseinandersetzung mit dem eigenen Doppelgänger oder den „Schattenbildern“.

Zum Thema der „okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus“ gibt es seit 1985 die Studie des britischen Historikers Nicholas Goodrick-Clarke, der speziell Theosophie und Ariosophie im Blick hatte und Steiner hinsichtlich einer geistigen „Mitschuld“ oder eines „Vorbereitertums“ kaum belastete. Und Micha Brumlik konstatierte 1992 in seiner Studie „Die Gnostiker“: „Trotz einiger Wirrungen der Anthroposophie ist ihr im ganzen jedenfalls nicht anzulasten, dass sie sich während der Zeit des Nationalsozialismus ähnlich diskreditiert hätte wie die protestantischen und katholischen Kirchen…“ Ob dieses Urteil zu kurz greift, möge der Leser nach der Lektüre von Ansgar Martins Buch selber bewerten. Der amerikanische Historiker Peter Staudenmaier jedenfalls meint im Gegensatz zu Goodrick-Clarke und Brumlik eine innere Wesensverwandtschaft zwischen dem von ihm so wahrgenommenen okkultistisch-rassistisch-völkischen Weltbild Steiners und dem Nationalsozialismus oder zumindest einigen Strömungen innerhalb desselben zu erkennen.

Durch Wagners und Werners Arbeiten wurden mittlerweile die Namen bestimmter Protagonisten des ganzen Komplexes bekannt. Dazu gehören u.a. der Münchener anthroposopphische Arzt Hanns Rascher (NSDAP-Mitglied seit 1931), das Dornacher Vorstandsmitglied der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft Guenther Wachsmuth, die Dresdner Waldorflehrerin Elisabeth Klein und der Landwirt Erhard Bartsch, auf NS-Seite der Führerstellvertreter Rudolf Hess als Protektor anthroposophischer Tätigkeit im Dritten Reich, Alfred Bäumler, Oswald Pohl oder Otto Ohlendorf. Alles diese Namen tauchen auch in Büchenbachers Erinnerungen auf. Der Herausgeber Ansgar Martins macht die Geschichte von deren Entstehung in den 70er Jahren weitestgehend deutlich und stellt auch die Editionsgeschichte dar. Anlässlich Werners Buchveröffentlichung, in der Büchenbachers Erinnerungen ausgewertet und ausführlich zitiert wurden, kamen größere Teile davon im April 1999 erstmals in Info3 zum Abdruck; seither ist deren Existenz allgemein bekannt. Im vorliegenden Band machen die nunmehr vollständig edierten und mit 300 Fußnoten versehenen Erinnerungen 70 Seiten aus, mithin ein Siebtel des Gesamtumfangs. –

Seit 1999 sind weitere Arbeiten zum Thema entstanden, auch wurden neue peinliche Verstrickungen zutage gefördert, so die Nazivergangenheit des Christengemeinschaftspfarrers Friedrich Benesch (2004) oder auch die autobiografischen Retuschen der anthroposophischen Historikerin Renate Riemeck (2007). Vor allem in Amerika wurde einiges publiziert, wobei Staudenmaiers Dissertation „Between Occultism and Fascism: Anthroposophy and the politics of Race and Nation in Germany and Italy, 1900-1945“ aus dem Jahre 2010 hervorzuheben ist. Staudenmaier machte auch die Namen zahlreicher Persönlichkeiten bekannt (s. Info 3 Nr. 7/8, 2007), die beiden Lagern angehörten.

Ansgar Martins‘ Anhänge zur Büchenbacher-Edition

Martins zitiert und verarbeitet diese Arbeiten und große Mengen weiterer, bisher meist unbekannter oder nicht ausgewerteter Quellen in seinen fünf umfangreichen Anhängen, die im Buch dem Abdruck der Erinnerungen folgen und 340 Seiten umfassen. Gut 50 Seiten Quellen- und Personenregister beschließen den stattlichen Band, der es insgesamt auf stolze 1335 Fußnoten bringt. Den Anhängen ist ein ausführliches Inhaltsverzeichnis derselben vorangestellt.

Dem mit der Thematik wenig vertrauten Leser würde ich empfehlen, die Lektüre des Buches mit Ansgar Martins „Einleitung zu den Anhängen“ zu beginnen und erst danach den Text Büchenbachers zu lesen. Dieser spricht und steht für sich, unvermittelt und ohne Einleitung am Anfang des Buches. Büchenbacher konstatiert darin für das Jahr 1934, „dass [nach seinem Eindruck] ungefähr 2/3 der Mitglieder [in Deutschland] mehr oder weniger positiv zum Nationalsozialismus sich orientierten.“ – Es gibt Schilderungen im Text, die man kaum vergessen wird, hat man sie einmal gelesen. So etwa die Szene, in der Carlo S. Picht in seinem Büro der Stuttgarter Zeitschrift „Anthroposophie“ (die er bis 1933 gemeinsam mit Büchenbacher redigierte) Kristalle unter einem einem Hitlerbild aufstellt. Büchenbachers Anerbieten, von der Redaktion zurückzutreten, wurde ohne weiteres von Picht hingenommen.

Der stille Rückzug bzw. „freiwillige“ Austritt von Anthroposophen jüdischer Abstammung aus der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland 1933/34 und die Reaktion vieler Mitglieder und Funktionäre ist ein bedrückendes und beschämendes Kapitel; Helmut Zander schrieb 1999 in seiner NZZ-Rezension des Wernerschen Buches: „Liest man, mit welcher Bitterkeit er [Büchenbacher] die teilweise bereitwillige ‚Bereinigung‘ des Konfliktes um jüdische Mitglieder erfuhr, deutet sich die – andere – Perspektive der Opfer an“ –, die ihm bei Werner zu kurz gekommen war. Ansgar Martins widmet seinerseits dem Schicksal jüdischer Anthroposophen den – zugegebenermaßen deprimierenden – fünften Anhang („Ohne Opfer geht es nicht“: Judentum und Antisemitismus in der Anthroposophie) seines Buches, mit dem er die Gesamtdarstellung beschließt.

Den ersten Anhang bildet eine „intellektuelle Kurzbiografie“ Büchenbachers, in der sein anthroposophischer Werdegang vor allem als Philosoph geschildert wird, sein Kennenlernen Steiners und der Anthroposophie, sein beruflicher Werdegang, seine Militärzeit, seine „Karriere“ und historische Einordnung innerhalb anthroposophischer Organisationen zwischen dem 1. Weltkrieg und seiner Emigration sowie sein Dasein als geduldeter Emigrant in Dornach.

Im zweiten Anhang reflektiert Martins „einige politische Auseinandersetzungen der frühen Anthroposophie“, die sich nicht einfach verorten lässt, so dass er mit Recht von einem „left-right crossover“ (Peter Staudenmaier) spricht. Der heute oftmals wie selbstverständlich vorgenommenen Zuordnung der Anthroposophie – die sich ja in ihren Statuten ausdrücklich apolitisch definiert – und der Anthroposophen zum antidemokratischen, konservativ-reaktionär-nationalen Lager stehen hier einzelne Beispiele entgegen, die zeigen, dass die politische Orientierung von Anthroposophen keineswegs einem Automatismus folgt. Steiners politische Aktivitäten in der „Dreigliederungszeit“ nach dem Ersten Weltkrieg fanden auch bei links denkenden und fühlenden Menschen Anklang, wenngleich die Führer der in Gewerkschaften und Parteien organisierten Arbeiterschaft Steiners Ideen als ihren Interessen entgegengesetzt darstellten. Von extrem rechter, völkisch-nationalistischer Seite wurde Steiner ebenfalls bekämpft und als Juden- und Kommunistenfreund dargestellt. (Über seine Organisation der Abwehr eines geplanten Übergriffs auf Steiner 1922 im Münchener Hotel „Vier Jahreszeiten“ berichtete Büchenbacher öfter, so auch hier im vorliegenden Text.)

Es sei mir an dieser Stelle gestattet, ganz kurz an den „Astral-Marx“ zu erinnern (damit ist Steiner gemeint), einen „Kursbuch“-Artikel (1979, Nr. 55) von Joseph Huber, der dazumal in anthroposophischen praktischen Gründungen vieles der sozialistischen Ideale – ansatzweise – verwirklicht sah. In den 1970ern war ein naiv-unvoreingenommener Blick, gerade von links-alternativer Seite her, auf die Praxisfelder der Anthroposophie noch möglich; anders heute, wo sich im linken Diskurs eine oftmals oberflächliche und von wenig Sachkenntnis getrübte, weitgehend ablehnende steinerkritische Sichtweise durchgesetzt hat. Huber ließ seinen übrigens nicht unkritischen Text wie folgt enden: „Ich möchte sagen: über Marx hinaus- und an Steiner nicht vorbeigehen. Vielleicht ist eine unbefangene Begegnung nicht möglich, aber eine Begegnung überhaupt wäre auch schon etwas. Wer 1968/69 bei der Begegnung mit Marx gleich „Marxist“ wurde, braucht dies 1978/79 mit Steiner ja nicht gleich zu wiederholen. Spirituelle Gedanken können spiritistischer Unfug sein, sie können aber auch Inspiration bedeuten. Man kann schließlich nur dazulernen.“ – Das war vor 35 Jahren…

Roman Boos und der Dornacher Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft

Der spannende dritte Anhang – er bildet gewissermaßen eine Mitte des Ganzen – trägt die Überschrift: „Die nazistischen Sünden der Dornacher“: Der Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und die Schlüsselfigur Roman Boos 1933″. In Büchenbachers Text kommen zwei Szenen vor, die für mich seit meiner ersten Lektüre ebenfalls unvergesslich wurden: 1.) Marie Steiners Klage während einer Besprechung in Dornach über Büchenbachers Lächeln („Das ist furchtbar, dieses Lächeln zu sehen, das sind die Wogen des Blutes!“), nachdem zuvor über die Tätigkeit ihres damals (1933) in anthroposophischen Kreisen fleißig pro-nazistisch agitierenden Einflüsterers Roman Boos gesprochen worden war; dieser war in den 1920ern aufgrund psychischer Probleme jahrelang nicht in die anthroposophischen Aktivitäten einbezogen worden.

Und 2.) Guenther Wachsmuths Ausruf, er wolle am Goetheanum „keinen Judenstall haben“. In diesem Kapitel werden nicht nur die mehr oder weniger eindeutigen pro- und antinazistischen Haltungen der fünf Dornacher Vorstandsmitglieder offenbar, sondern auch, inwiefern sie im inner-anthroposophischen „Gesellschaftsstreit“, der auf der Generalversammlung 1935 mit dem Vorstandausschluss von Ita Wegman und Elisabeth Vreede (die sich später beide für die Rettung jüdischer Mitglieder aus Deutschland einsetzen sollten) seinen Höhepunkt hatte, eine Rolle spielten. Albert Steffen, dessen klare Anti-NS-Haltung in seinen Tagebüchern dokumentiert ist, und der verklausuliert Anspielungen auf den NS in seine Dramen einfließen ließ, enthielt sich als Vorsitzender allerdings jeglicher Initiative und überließ Wachsmuth und Marie Steiner das Feld, womit letztlich Roman Boos zum Zuge kam, der in Deutschland umtriebig war und Kontakte zu NS-Führern wie Hans Frank knüpfte; immer in der Absicht, die Nationalsozialisten von der Kompatibilität der Anthroposophie mit dem NS zu überzeugen, unter dauernder Betonung des „wahren Deutschtums“, das so etwas wie die eigentliche Essenz der Anthroposophie sei. Dass die verschiedenen miteinander konkurrierenden Fraktionen innerhalb des NS herzlich wenig davon hielten, merkte Boos viel zu spät. – Die Rolle von Boos beleuchtet zu haben, ist ein besonderes Verdienst der vorliegenden Arbeit. Man darf gespannt sein, ob überhaupt, und wenn ja, welche Reaktionen gerade dieses Kapitel in der anthroposophischen Öffentlichkeit nach sich ziehen wird; die Vorstellung, dass auch politische Beweggründe für das Handeln des Dornacher Rest-Vorstandes mitentscheidend gewesen sein könnten, ist mit Sicherheit nicht für jeden Anthroposophen leicht zu verdauen.

Interessant in diesem Anhang sind auch die Ausführungen über die drei antinazistischen Anthroposophen Ita Wegman, Valentin Tomberg und den mit Büchenbacher befreundeten Generalsekretär (bis 1933) der dänischen Landesgesellschaft, Johannes Hohlenberg. Letzterem hatte Marie Steiner 1936 – wohl aus Sorge um eine Kompromittierung des Rufs der Anthroposophie (bei der deutschen Führung) durch dessen kompromisslose Ablehnung des Nazismus – die Erlaubnis zum Abdruck von Steinervorträgen in seiner Zeitschrift „Vidar“ entzogen.

„Aber jetzt würde eben eine richtige Anthroposophische Gesellschaft entstehen“

Martins behandelt im vierten Anhang „Deutsche Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus“. In Büchenbachers Erinnerungstext gibt es eine Stelle, die besonders eklatant zeigt, wie unvorstellbar weit unter Anthroposophen die Fehleinschätzung der NS-Führer ging: [Prag, Spätherbst 1937, ein Treffen anthroposophischer Freunde im Atelier des jüdischen Malers Richard Pollak, der später in Auschwitz ermordet wurde. Der Christengemeinschaftspriester Eduard] „Lenz berichtete, dass ein kleines Komitee, bestehend aus dem Priester [Alfred] Heidenreich, Frau Elisabeth Klein, einem Nazi-Ministerialrat aus Berlin und Dr. Bartsch, mit Gestapo-Erlaubnis eine neue Anthroposophische Gesellschaft gründen würden. Der Ministerialrat erhielte von Frau Klein einführende Informationen über Anthroposophie. Auf die Frage eines jüdischen Mitgliedes, ob dann Frau Klein auch den Ministerialrat über Reinkarnation und Karma informieren würde, erwiderte Pfarrer Lenz, dass ein solcher Unterricht natürlich mit einem gewissen Takt gegeben werden müsse. Dass die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland verboten worden sei, wäre ja schließlich nicht schade, denn sie sei doch im Grunde nur ein Verein von alten Tanten gewesen. Aber jetzt würde eben eine richtige Anthroposophische Gesellschaft entstehen. Ich sprach an diesem Abend kein Wort, sondern hörte alles mit Interesse an.“ – Martins führt als Ausnahme vom Verhalten nichtjüdischer deutscher Anthroposophen das Beispiel des Stuttgarter Waldorflehrers Hermann von Baravalle an, der anders als die überwiegende Mehrheit Nazideutschland verließ und zunächst in die Schweiz, später in die USA emigrierte.

Die Hoffnung deutscher Anthroposophen, dass irgendwann das richtige, eigentliche, wahre und gute Deutschtum sich doch allmählich im NS durchsetzen werde und die Unsicherheit, ob bzw. wie weitgehend man sich um des Fortbestandes der bestehenden anthroposophischen Einrichtungen und Initiativen willen anpassen und mit dem NS-System arrangieren sollte, kommen in diesem Anhang immer wieder zum Ausdruck. Die Fokussierung des Blicks auf das Verbindende, Gemeinsame, gar Identische des eigenen, anthroposophischen Spirituellen mit einem angenommenen „guten Kern“ des NS führte zu einer Blindheit für die Wahrnehmung der tatsächlichen Gegensätze und für die Bosheit des Nationalsozialismus. Der NS wurde vielleicht als nicht genügend deutsch und geistig bewertet, gleichwohl wandte er sich doch (so mag man empfunden haben) auch gegen Materialismus und Rationalismus und führte „geistige“ Werte im Schilde. Man kämpfte doch gegen dieselben Feinde… so dachte man. Die amerikanische Autorin Karen Priestman hat in ihrer Dissertation (2009) diese auf eine allmähliche Veredelung und Vergeistigung des NS hoffende, aber die Realität verkennende Grundhaltung passend mit dem Begriff „Illusion of Coexistence“ bezeichnet. Die kontrovers diskutierte und unterschiedlich beantwortete Frage, wie weit Kompromisse mit dem NS gehen durften oder sollten, ist eines von vielen Beispielen für das Dilemma, in das viele Anthroposophen sich ungewollt geworfen sahen. – Man muss Martins nicht in allen seinen Urteilen zustimmen (etwa was die Vorführung von Eurythmie-Stabübungen angeht), es ist aber zu wünschen, dass sie Anlass zu einer fruchtbaren selbst-kritischen Auseinandersetzung werden. –

Vorschlag zur Güte

Helmut Zander schrieb 1999: „Über das Verhältnis von Distanz und Nähe von Anthroposophen und Nationalsozialismus in einzelnen Fragen ist wohl noch nicht das letzte Wort gesprochen.“ Das letzte Wort wird auch jetzt nicht gesprochen sein, mit Ansgar Martins Buch liegen aber auf jeden Fall zahlreiche neue Beurteilungskriterien zur Beantwortung dieser Frage vor. Dafür ist ihm uneingeschränkt zu danken und es steht zu hoffen, dass die zahlreichen im Buch angestoßenen Fragen und mancher nur gestreifte Hinweis eine gründliche Erarbeitung und nachfolgend auch Veröffentlichungen nach sich ziehen werden. – Vieles könnte in dieser Buchempfehlung noch hervorgehoben werden, doch will ich dem Leser nicht das Staunen und auch Erschrockensein angesichts zahlloser detaillierter Schilderungen und Schicksale nehmen; deshalb – und auch, damit ich jetzt zum Ende kommen kann – sei es hiermit nun gut.

Wer Ansgar Martins verdienstvolle Arbeit gelesen hat, wird viele Dinge in anthroposophischen Zusammenhängen mit anderen Augen sehen können und einen kritischen Blick gewonnen haben. Kritik ist ein Hinzugewinn und eine Bereicherung. Das sollten sich Kritiker von Anthroposophie-Kritikern wie Martins (aber auch Zander und erst recht Staudenmaier) immer vor Augen halten. Kritiker als Gegner oder gar Feinde zu titulieren mag zwar – leider und immer noch – typisch anthroposophisch sein, für mich ist es schlicht unwissenschaftlich und unanthroposophisch.


Hans Büchenbacher: Erinnerungen 1933-1949. Zugleich eine Studie zur Geschichte der Anthroposophie im Nationalsozialismus. Mit fünf Anhängen herausgegeben von Ansgar Martins, Info3, Frankfurt am Main 2014

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Weitere Rezension und Artikel zur Büchenbacher-Edition:

Peter Staudenmaier: Anthroposophist Memoir of Nazi Era

Michael Eggert: Hans Büchenbacher. Wo der Hammer hängt

Michael Eggert: Roman Boos, der Liebling Marie Steiners

Wolfgang G. Vögele: Verdienstvoller Beitrag zur Anthroposophieforschung


Mehr zum Thema Hans Büchenbacher, Anthroposophie und Nationalsozialismus auf diesem Blog:

„Die nazistischen Sünden der Dornacher“? Hans Büchenbacher und die Vorstände der Anthroposophischen Gesellschaft(en) in der Nazizeit

Hans Büchenbachers „Erinnerungen“ erschienen

Mentzels Traum

21. Juni 2014 at 2:58 pm Hinterlasse einen Kommentar

„Die nazistischen Sünden der Dornacher“?

Hans Büchenbacher, seine „Erinnerungen 1933-1949“ und die Vorstände der Anthroposophischen Gesellschaft(en) in der Nazizeit

«…dass etwa zwei Drittel der deutschen Anthroposophen weniger oder mehr auf den Nationalsozialismus hereingefallen waren», behauptet in seinen Memoiren der Anthroposoph Hans Büchenbacher, 1931 bis 1934 Vorstandsvorsitzender der deutschen Landesgesellschaft. Nach dem Wahlsieg Hitlers wurde Büchenbacher wegen der jüdischen Herkunft seines Vaters nicht nur von den Nazis angefeindet, sondern bald auch anthroposophischerseits von seinem Posten gedrängt. Um die anthroposophische Geschichte der Jahre 1933 bis 1945 historisch angemessen zu deuten, muss man die ideologische, personelle und organisatorische Kontinuität und Transformation der Anthroposophie im frühen 20. Jahrhundert analysieren – und diskutieren.

Hier zum Vortrag

In Kürze erscheinen im Frankfurter Info3/Mayer-Verlag die „Erinnerungen“ Büchenbachers. Der hier veröffentlichte Vortrag wurde auf Einladung von Philip Kovce am 1. März 2014 anlässlich der 19. Rudolf-Steiner-Forschungstage (Philosophicum Basel) gehalten.

Es handelt sich um eine Kurzzusammenfassung meiner für die Büchenbacher-Edition angestellten Recherchen im Dornacher Rudolf Steiner Archiv, dem Archiv der Anthroposophischen Gesellschaft am Goetheanum und der „Forschungsstelle Kulturimpuls“.

10. März 2014 at 4:49 pm 5 Kommentare

Wichtige Hinweise – falsche Prämissen

2011 geht scheinbar auch die Rassismusdebatte mal wieder in eine neue Runde – eröffnet von Uwe Werner, der lange das Archiv am Goetheanum geleitet hat und dem wir schon das Standardwerk zum Thema Anthroposophie in der Zeit des Nationalsozialismus verdanken. Das neue Buch bereichert durch neues Material – und bedient leider auch alte Klischees.

Zum Stichwort Steiners Rassentheorie scheint mir inzwischen das Wichtigste geklärt zu sein. Von einer irgendwie „völkischen“ Zielsetzung der anthroposophischen Meditationen oder „Praxisfelder“ lässt sich freilich nicht sprechen. Aber. Der 1861 geborene Steiner übernahm in seiner Wiener Studentenzeit Stereotype über „die Volkseelen“ von tiefsinnigen Deutschen, kindlichen Slawen und innovationsfeindlichen Juden und schrieb sogar selbst kurzzeitig für eine deutschnationale „Wochenschrift“. Nach reflektierteren Deutungen in den 1890ern (Vgl. Christoph Lindenberg: Rudolf Steiner und die geistige Aufgabe Deutschlands. Geschichte einer Hoffnung, in: Die Drei, 12, 1989, 884; Helmut Zander: Rudolf Steiner, München 2011, 115f.) überführte er diese Vorstellungen in eine an die Theosophie angelehnte esoterische Entwicklungslehre. Hier war die Rede von „Rassen“ als evolutionären Keimzellen der „Erdentwickelung“. Indianer, Afrikaner und Asiaten seien evolutiv überholte Akteure dieser Fortschrittsgeschichte, für die Gegenwart relevant seien dagegen die „Kulturepochen“ der mental fähigsten „weißen Rasse“. Die aktuelle „Bewusstseinsseelen“-Epoche eines von Erzengel Michael inspirierten Mitteleuropa solle schließlich den „Internationalismus“ fördern, was Steiner aber nicht von Äußerungen über die defizienten „Volksseelen“ europäischer Nachbarstaaten abhielt.

In den 90ern erhielten diese „Rassen“-Passagen in Steiners Aufsätzen und Vorträgen erstmals die nötige kritische Aufmerksamkeit, als sich die politische Linke von „grün-braunen“ Allianzen in ihrem Umfeld absetzte – doch die berechtigte Kritik schlug bald in falsche Unterstellungen um. AnthroposophInnen, umgekehrt schnell im Glauben, Opfer „ahrimanisch“-roter Allianzen zu sein, betonten demgegenüber nicht nur die für Steiner zentrale Ich-Philosophie: Viele versuch(t)en bis heute, jene rassisch geprägten Elemente seines Denkens möglichst progressiv umzudeuten. Erst in den letzten Jahren haben Historiker wie Helmut ZanderPeter Staudenmaier und Ralf Sonnenberg Deutungen dieser Rassismen vorgelegt, ohne deren vieldeutiges Schwanken zwischen „Universalismus, Eurozentrik und Germanophilie“ (Georg Otto Schmidt) aus den Augen zu verlieren.

Materialschlacht

Uwe Werners neues Buch ist kaum ohne diese heftige Debatte zu verstehen. In zahllosen Fußnoten (und einem eigenen Nachsatz zu Peter Staudenmaiers jüngst erschienener Dissertation) diskutiert er die bisherigen rassismuskritischen Veröffentlichungen durch und springt zwischen ihren unterschiedlichen Ansätzen. Offenkundig hat ihn besonders der historisch-kritische Ansatz Helmut Zanders beschäftigt. Dem kann er aber nur unter großen Vorbehalten positive Würdigung abgewinnen –  obwohl er selbst realisiert, dass Steiner die „Wurzelrassen“-Lehre „weitgehend aus der theosophischen Literatur übernahm“. Ähnlich bei Peter Staudenmaier. Der hat im Sommer 2010 in den USA eine Dissertation vorgelegt, in der er die Anthroposophie und ihre faktischen Verflechtungen im unübersichtlichen Netz okkultistischer, völkischer und faschistischer Organisationen für die Jahre 1900-1945 untersucht. (Staudenmaier: Between Occultism and Fascism: Anthroposophy and the politics of Race and Nation in Germany and Italy, 1900-1945, Diss., Cornell University 2010 – Neu sind hier neben ungesichteten Materialien vor allem Details zur (unrühmlichen) Geschichte von Anthroposoph_innen im italienischen Faschismus). Werner kann zeigen, dass (und wo) Staudenmaier stellenweise einseitig gearbeitet hat: Während er akribisch Berührungspunkte von AnthroposophInnen mit dem Faschismus (und umgekehrt) untersucht, kommen die Differenzen sowie biographische und Überzeugungsumbrüche zu kurz. Werner liefert hier wichtige Hinweise und Korrekturen, doch scheint mir insgesamt seine Vermutung fragwürdig, dass hinter Fehlinterpretationen Staudenmaiers ein verstecktes „Motiv“ steckt.

Rassenbegriff

Werner sieht auch durchaus,

dass Steiners Äußerungen über „Rassen“ „implizit eine Hierarchisierung von Menschengruppen enthalten … Es ist die Rede von Dekadenz, Degeneration, auf- und absteigender Entwicklung. Diese Äußerungen werden nicht ohne Grund … von Kritikern moniert.“

Selbst betont er aber die klaren Differenzen zum völkischen Rassismus, die er bei Staudenmaier so vermisste. Er beschreibt in der ersten Hälfte seines Buchs vor allem Steiners Kritik an „Rassenidealen“ und biologistischer Eugenik und zitiert Äußerungen, in denen Steiner vehement die Obsoletheit von „Rassendifferenzen“ und den Vorrang individueller Selbstbestimmung vor Blut und Genen betont. Hier sieht Werner ein „Engagement gegen Rassismus und Nationalismus“, das die später formulierte Ethik der Allgemeinen Menschenrechte  teile.

Aus dieser Perspektive heraus verfällt Werner aber einem alten Fehler: dem Versuch, Steiner vor dessen eigenem rassischen Denken in Schutz zu nehmen. So argumentiert er, dieser wollte „nur“ „ein neues, bewusstes Verhältnis zu den“ – wenn auch sekundären – „Rasse-, Volks- und Herkunftsdeterminanten“ gewinnen. Das stimmt zwar, aber Resultat dieses Unternehmens ist eben der monierte Rassismus. Die falsche Prämisse ist die: Menschen ließen sich überhaupt in abgrenzbare „Rassen“ mit unterschiedlichen mentalen Konstitutionen einteilen:

„Rassen sind Resultat, nicht Voraussetzung rassistischer Argumentation“ (so der auch von Werner zitierte Wulf D. Hund).

Chinesen etwa wurden nicht immer für „gelb“, Indianer für „rot“ usw. gehalten, die Inkubation dieser Vorstellungen und Kategorisierungen in Europa durchlief lange soziale Konstruktionsprozesse (ebd. – Auch Denker vor Steiner haben die Unhaltbarkeit des Rassebegriffs dargestellt – etwa Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophiegeschichte der Menschheit, VII, 2.), die Steiner aus den Diskursen seiner Zeit übernahm und esoterisch überformte. Auch Werner kann keine Passage aus dem Hut zaubern, in der sich Steiners Rassentypologie sinnvoll ausnimmt. Nur einmal findet sich die – übrigens schlicht falsche – Behauptung, Steiners reinkarnatorische Neuinszenierung der Ahasver-Legende (der selbstsüchtige „ewige Jude“ Ahasver muss umherirren, oder eben: als Mitglied eines „überlebten Volkes“ reinkarnieren, bis er Christus anerkennt) sei nicht antijüdisch konnotiert [1].

Folgen

Nach diesem durchwachsenen Start eilt Werner im zweiten Teil seiner Studie durch die seltsamen Blüten, die die  inneranthroposophische Rezeptionsgeschichte von Steiners Rassentheorien hervorgebracht hat: Rassismen in den Büchern von Richard Karutz, Ernst Uehli und Sigismund von Gleich –  Alfred Meebold, der Hitler für einen michaelischen Gesandten hielt –  34 Mitglieder der AAG, bei denen sich NSDAP-Mitgliedschaften ausmachen lassen (auch, weil andere Anträge von der Nazi-Partei abgelehnt wurden) – Versuche aus Dornach, das Verbot der deutschen Sektion durch die Betonung von Steiners „arischer Herkunft“ zu verhindern –  die anfänglich begeisterten, aber teils auch beeindruckend kritischen anthroposophischen Bewertungen des Nationalsozialismus (wie bei Albert Steffen und Ita Wegman). Ausführlich etwa werden politisch interessante Tagebucheinträge Steffens zitiert.

Umgekehrt überblickt Werner die nationalsozialistischen Polemiken gegen die Anthroposophie und gleichzeitigen Pläne eines Rudolf Hess, Demeterlandbau und Waldorfschulen weltanschaulich zu entkernen und nationalsozialistisch zu verwerten. Hier erweist sich Werner als der scharfsinnige und differenzierte Historiker, als der er schon 1999 aufgetreten ist. Er erwähnt wieder neues Material und sichtet vergessene Debatten. Allerdings übergeht er u.a. Wegmans rassentheoretische und Rittelmeyers antijüdische Passagen oder Steffens naive Haltung zum italienischen Faschismus [2].

An wenigen Stellen referiert Werner Widersprüchliches: So heißt es erst, der Anthroposoph Erhard Bartsch, der Hess die biodynamische Landwirtschaft schmackhaft machte, sei aus anthroposophischer Überzeugung heraus der NSDAP ferngeblieben. Aber dann wird vier Seiten später erzählt, wie ein Mitgliedsantrag desselben von der Partei abgelehnt wurde. Auch die bisher kaum untersuchte Position Marie Steiners oder Steiners Volksseelenlehre vor 1900 werden komplett ausgespart. Das sind sicher keine absichtlichen Auslassungen des Autors, aber Lücken, die noch zu füllen wären.

Fazit

Einen Paradigmenwechsel in der Rassismusdebatte wird Werners Buch wohl nicht heraufführen. Vielleicht aber zu einem faireren Diskussionsklima beitragen, durch das sich viele der jüngst erschienenen Beiträge zu diesem Thema auszeichnen: Werner, das ist deutlich zu spüren, geht es trotz seiner apologetischen Passagen nicht um Vertuschung, sondern um Wahrheitsfindung und faire Aufarbeitung. Gerade deshalb aber bleibt ein zentraler Punkt: Wer sich auf eine aktuelle humanistische Aufgabe der Anthroposophie beruft, muss auch den Willen aufbringen, sich von den fraglos zeitbedingten, aber dadurch nicht minder manifesten Rassentheorien eindeutig zu distanzieren.
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[1] Zu Ahasver:

Werner (S. 52) findet fernab kontextsensibler Analysen, „dass Steiner sich mit Ahasver nicht als Repräsentant des Judentums, sondern als indivdiduelle Persönlichkeit befasste…“. Das ist Haarspalterei. Fakt ist, dass Steiner ein bekanntes rassenantisemitisches Klischee in theosophischen Vokabeln reproduzierte, ohne Nennung des Kontextes, aber auch ohne Distanzierung davon. Zum Ahasver-Komplex bei Steiner siehe Ralf Sonnenberg: „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ (S. 9f).

[2] Zu Rittelmeyer, Wegman und Steffen:

Rittelmeyer: Deutschtum, Stuttgart 1934, S. 103ff. führt Kapitalismus, „zersetzende Kraft, unfruchtbare Dialektik“ und Materialismus auf  angebliche degenerierte israelische Tugenden zurück und erklärt:

„Materialismus, Egoismus, Intellektualismus wohnen keineswegs bloß in Judenhäuptern. Sie haben dort nur besonders fähige Vertreter.“

Wegman: Aus Michaels Wirken, in: N. Stein v. Baditz (Hg.): Aus Michaels Wirken – Eine Legendensammlung (1929), Stuttgart 1959, S. 12-17, schreibt über die denkerische Privilegiertheit der Indogermanen oder die Unfähigkeit des Judentums, eine äußere Kultur zu bilden, weil es alle völkischen „Kräfte“ für die Züchtung des Leibes Jesu verbrauchte – eine erstaunliche Auffassung, die die jahrhundertelange Tradition dieser freilich existenten Kultur konsequent ausblenden muss. Steffen äußerte sich in Mussolinis eigener Zeitung „Regime Fascista“ positiv über die ethnospirituelle Mission Italiens (so Staudenmaier: Between Occultism und Fascism, a.a.O, S. 423).

1. März 2011 at 9:54 am 22 Kommentare


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Hallo allerseits,
Ich bin Ansgar Martins, geb. 1991 und war bis Juni 2010 Schüler an der FWS Mainz. Inzwischen studiere ich Religionsphilosophie, Soziologie und Geschichte in Frankfurt a. M. Dieser Blog ( dessen "Leitbild" ganz oben rechts ) ist mein persönliches Projekt, um die oft einseitigen und selbstgerechten Pro- und Contra-Positionen in der Debatte um die Waldorfpädagogik und Anthroposophie kritisch zu kommentieren. Ich hoffe, das gelingt, und freue mich über Rückmeldungen jeder Art!

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