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„Seelenpflege-bedürftige“ und „minderwertige“ Kinder

Im letzten Jahr ist die erste umfassende „Geschichte der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie“ erschienen – ein durchaus erfreuliches und vor allem lehrreiches Buch, das ich hier besprochen habe. Einen Kommentar zu meiner Rezension schrieb Christoph Betz, der die Seite „Siebenzwerge-Report“ betreibt und dort Kritisches v.a. zu einer anthroposophischen Drogenklinik „Siebenzwerge“ dokumentiert. Mit Christoph habe ich über den Ursprung des Begriffs „Seelenpflege“ bzw. die Titulierung „Seelenpflege-bedürftige Kinder“ diskutiert. Beides sind Standard(selbst-)bezeichnungen in der anthroposophischen Heilpädagogik. Zur Begründung dafür gibt es in der mir bekannten Literatur nur ein Zitat, über das in jüngster Zeit gestritten wurde. Im Folgenden ein paar Überlegungen dazu.

„Seelenpflege groß geschrieben“

Besagtes Zitat stammt von Albrecht Strohschein, einem der führenden Heilpädagogen der ersten Generation. Strohschein schreibt über die Gründung des anthroposophischen „Heil- und Erziehungsinstituts Lauenstein“ bei Jena:

“So meinten wir unter anderem, man müsse einen Prospekt herausbringen und dachten, wir könnten die vorhandene Heimbezeichnung unseres Vorgängers auf dem Lauenstein einfach übernehmen; es war ein Arzt, der ein ‘Heim für pathologische und epileptische Kinder’ hatte gründen wollen. – ‘Nein’, entgegnete Dr. Steiner, ‘es muß schon aus dem Titel ersichtlich sein, was dort geschieht.’ Ich schaute ihn fragend an, worauf er antwortete: ‘Heil- und Erziehungsinstitut für Seelenpflege-bedürftige Kinder’. Noch immer schaute ich ihn fragend an, ich verstand die neuen Worte nicht recht, zückte aber mein Notizbuch und nun diktierte er mir Wort für Wort: ‚Seelenpflege groß geschrieben, bedürftige klein…‘ Und fügte hinzu: ‘Wir müssen einen Namen wählen, der die Kinder nicht gleich abstempelt.’ Nun erst ging mir langsam auf, dass Seelenpflege etwas war, was zu jeder Erziehung gehörte und was jeder Mensch zu treiben in die Lage kam; es war also nichts, was unsere Kinder abtrennte von anderen. Und damit hatten die künftigen Stätten unserer Heilpädagogik ihren Namen erhalten.” (Strohschein: Die Entstehung der anthroposophischen Heilpädagogik, in: Wir erlebten Rudolf Steiner. Erinnerungen seiner Schüler [1967], Stuttgart 1980, S. 216f.)

Anthroposophische Heilpädagogen sind auf diese aus zweiter Hand überlieferte Begriffsbildung anscheinend mächtig stolz. So schreibt Johannes Denger in einem einschlägigen Aufsatz:

„Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, gab schon 1924 einen immer noch zeitgemäßen, ja zukunftsträchtigen Ansatz, indem er den Begriff ‚Seelenpflege-bedürftige Kinder‘ prägte. Eine defektologische Betrachtung, die besagt, was der Betroffene nicht kann (z.B. ‚geistig behindert‘), wird überwunden zugunsten eines Begriffs, der verdeutlicht, wessen der Mensch bedarf: der Seelenpflege“ (Johannes Denger: Heilpädagogik und Sozialtherapie auf anthroposophischer Grundlage, in: Michaela Glöckler/Jürgen Schürholz/Martin Walker (Hg.): Anthroposophische Medizin, Stuttgart 1993, S. 140)

Ent-Täuschung

Interessanterweise findet sich der Begriff in Steiners Schriften jedoch nicht ein einziges Mal. Der Anthroposophie-Gründer sprach jedoch kurz darauf, nämlich 1924 in seinem „Heilpädagogischen Kurs“ (GA 317), oft von „abnormen“ oder „minderwertigen“ Kindern. 2010 haben die inzwischen leider eingeschlafenen „Nachrichten aus der Welt der Anthroposophie“ in Reaktion auf Dengers selbstbewusste Begriffsdeutung geschrieben:

„Der Autor dieser Zeilen und die Herausgeber des Bandes wissen selbstverständlich ganz genau: Nichts von alledem ist wahr. Natürlich konnte Rudolf Steiner den Begriff der Behinderung nicht „überwinden“, weil dieser sich zu seinen Lebzeiten noch gar nicht durchgesetzt hatte. (Welti, Felix: Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat, Tübingen 2005) … Ohne jede fachliche Ausbildung agierte Steiner als Arzt und verordnete kranken und behinderten Kindern intravenöse „Blei-Therapien“, um so „kosmischen Gesetzen“ gerecht zu werden. Steiner und seinen Anhängern gelten Menschen mit Behinderungen als Leidtragende ihrer eigenen Missetaten aus einem früheren Leben, für die sie zu büßen hätten … Die Wendung „Seelenpflege-bedürftige Kinder“ benutzte Steiner nicht ein einziges Mal, und zwar weder im Verlauf dieser Vortragsreihe noch sonst irgendwann, nicht vorher und nicht nachher, sondern niemals. In der Gesamtausgabe seiner Werke kommt der Begriff an keiner Stelle vor. Rudolf Steiner hat die angeblich von ihm aus edelsten Motiven erfundene und verfochtene Vokabel definitiv nicht verwendet. Stattdessen spricht er konsequent und durchgängig von Kindern mit Behinderungen als „minderwertigen Kindern“ (GA 317, S. 21, 33, 36, 39 [2x], 40 [2x], 41, 70, 106, 124, 145, 148 [2x], 153, 156, 162, 173 [4x], 175, 185)“

Denger schreibt nicht, Steiner habe konkret den Begriff „Behinderung“ überwinden wollen, sondern, er habe eine Einstellung, nämlich die „defektologische Betrachtung“ weggefegt. NWAs Kritik trifft trotzdem zu. Von dem mit spitzer Feder geschriebenen Artikel über Steiners „Wahnvorstellungen“ zur Heilpädagogik mag man halten was man will oder vermag. Zumindest was die Abstrusität von Steiners Diagnosen und Therapievorschlägen angeht, ist er weitestgehend zutreffend. Schon die Lobhudelei, die im Zitat (und weiteren Text) von Denger durchscheint, legitimiert eine solche desillusionierende Polemik.

Vor allem aber wurde von vielen Seiten über eine enttäuschende Praxis in konkreten anthroposophisch-heilpädagogischen (bzw. anthroposophischen-sozialtherapeutischen) Einrichtungen berichtet: zum Beispiel nun wieder durch Christoph Betz, erst neulich von Patrick Kelly und in den 90ern ausführlich von Kathrin Taube („Ertötung aller Selbstheit“. Das anthroposophische Dorf als Lebensgemeinschaft mit geistig Behinderten, München 1994). Diesen Berichten ließen sich viele ähnliche und freilich auch gänzlich gegenläufige beifügen, ähnlich wie bei den Erfahrungsberichten zur Waldorfpädagogik. Jüngst ist zudem eine empirische Befragungsstudie unter LehrerInnen an heilpädagogischen Waldorfschulen von Dirk Randoll, Bernhard Schmalenbach und Jürgen Peters erschienen, die mir leider noch nicht vorliegt. (vgl. auch: „Die richtige Gesinnung“) Ich habe in meiner (Waldorf-)schulzeit einmal ein Praktikum an einer heilpädagogischen Waldorfschule absolviert, aus dem ich nichts Negatives zu berichten habe. Natürlich wird die Erfolgsgeschichte der anthroposophischen Heilpädagogik nicht durch die schlechten, sondern die gelungenen Einrichtungen zu erklären sein. Oder vielmehr, wie Valentin Hacken treffend formulierte, aus dem so üblichen debil-waldorfianischen Ausruhen darauf, „dass man irgendwie nicht allzu schlecht ist.“

 

Autoritäre Entmündigung statt esoterischer „Seelenpflege“: Patrick Kelly berichtete eindrücklich vom Aufenthalt in einem Waldorfinternat, in dem die Launen der Lehrkräfte und ein minutiös geregelter Alltag die unumstößlichen Gesetze gewesen seien. (mehr hier)

Der dreimalgroße Meister

Dass Steiners Rede von „minderwertigen Kindern“ einer „Verachtung“ für die von den Heilpädagogen Betreuten entspringe, wie NWA an anderer Stelle des Artikels meinte, ist jedoch unplausibel – weder sind Steiners Ausführungen im Detail verächtlicher als seine Vorträge zu Waldorferziehung, Medizin oder Landwirtschaft noch gäbe seine Biographie derartiges her. Der anthroposophische Prophet selbst hatte einen taubstummen Bruder, um den er sich kümmern musste, für den er schon im Kindesalter Gebärdensprache lernte und für dessen spätere Unterkunft in einer Taubstummenschule er sorgte. (vgl. Wolfgang Vögele: Auf den Spuren Gustav Steiners, in: Seelenpflege in Heilpädagogik und Sozialtherapie, 3/2012, S. 21-29)

In seiner Wiener Zeit hatte Steiner als Hauslehrer den konzentrationsschwachen und an einem Wasserkopf leidenden Otto Specht betreut und mit dessen Mutter Pauline, zu der sich eine intensive Freundschaft entwickelte, auch medizinische Literatur gelesen und debattiert. Helmut Zander vermutet, dass hinter Pauline Spechts (beachtlicher) Zuneigung zu Steiner auch die Dankbarkeit „für dessen Bemühungen um dieses Sorgenkind der Familie“ stand. (Zander: Rudolf Steiner, S. 53) Dass Steiner mit seiner esoterischen Konversion plötzlich ein Verächter von Behinderten geworden sei, ist angesichts dessen eine merkwürdige These. Auch in seinem zwischenzeitlichem Briefwechsel mit dem Herausgeber des „Magazins für Krüppelfürsorge“, der sich während des Ersten Weltkriegs nach „mystischen“ Bemerkungen zur „Krüppelfürsorge“ erkundigt hatte, wäre nichts davon zu spüren. (GA 262, 461-465) Der ganze Duktus des Heilpädagogischen Kurses spricht nicht Verachtung aus, sondern den üblichen paternalistischen Kosmozentrismus, mit dem Steiner jedes Problem zu lösen meinte und in dem selbst seine berührendsten Texte, die Liebesbriefe an Ita Wegman, verfasst sind.

Diese biographischen Züge sind zweifellos relevant für Steiners Heilpädagogik. Trotzdem darf man die Bedeutung seiner Person für deren Wesen nicht überschätzen: Dass der dreimalgroße Meister Steiner in seiner allumfassenden Liebe mit einer Begriffsprägung, die in seinem Werk nicht vorkommt, ausgerechnet jene „defektologische“ Sicht „überwinden“ wollte, die dagegen in seinem Werk sehr oft vorkommt, ist eine gegenstandslose Annahme. Und ebenso müßig ist es, die Rede von „abnormen“ und „minderwertigen Kindern“ einer ganz persönlich gehegten, aber durch nichts näher explizierten Verachtung Steiners für die so bezeichneten Kinder zuzuschieben. Denn beide Bezeichnungen waren zu seiner Zeit nichts Ungewöhnliches. Der gute Menschheitsführer und der böse Menschheitsverführer Steiner sind in gleichem Maße Phantasieprodukte seiner Fans bzw. Gegner. An der anthroposophieinternen Begriffsgeschichte der „Seelenpflege“ kann man das lehrbuchartig ablesen: Es ist schon bezeichnend, dass anthroposophische Heilpädagogen in ihrer notorischen Berufung auf Steiner nachweislich schon Ende der Zwanziger fast durchgehend einen Begriff verwendeten, der ihnen selbst aber ins progressistische Selbstbild passte, der Wortwahl des Religionsstifters aber ganz entgegengesetzt ist.

Vom Nutzen der Ideengeschichte

Wie der erwähnte Band zur Geschichte der Anthro-Heilpädagogik einmal mehr ausführlich dokumentiert, hat anthroposophisch-heilpädagogische Praxis längst existiert und funktioniert, bevor Steiner nachträglich seinen „Heilpädagogischen Kurs“ abhielt. Existiert hatten auch die umstrittenen Begriffe, und zwar als Fachbegriffe in der einschlägigen Literatur. (Frielingsdorf/Grimm/Kaldenberg: Geschichte der anthroposophischen Heilpädagogik, S. 105) „Psychopathische Minderwertigkeiten im Kindersalter“ (1893) oder „Die Anfänge der abnormen Erscheinungen im kindlichen Seelenleben“ (1902) hießen beispielsweise zwei Titel des Reformpädagogen Johannes Trüper (1855-1921). Der hatte unter anderem 1890 ein „Heim für entwicklungsgeschädigte und -gestörte Kinder“ in Jena gegründet, das später mit seinem Erziehungsheim auf der „Sophienhöhe“ zusammengelegt wurde. Trüpers Tochter Änne stellte später den Kontakt zu einer anthroposophischen Studentengruppe her, u.a. auch zu Strohschein, so dass auf der „Sophienhöhe“ die späteren führenden anthroposophischen Heilpädagogen Siegfried Pickert und Franz Löffler eingestellt wurden. (vgl. ebd., 26) Daraus ging die Gründung des „Instituts Lauenstein“ letztlich hervor. Dieses Trüpersche Umfeld hat Steiners Heilpädagogik freilich nicht determiniert, aber neben anderem geprägt.

Auch die bei Wortschöpfung „Seelenpflege“ war keine Steiners, wie die Autoren des Bandes ausführlich darlegen:

„Den Ausdruck ‚Seelenpflege‘ findet man auch schon vor Steiner, z.B. bereits in der – Steiner bekannten – Philosophie [Johann Christian August] Heinroths, so in seinem ‚Lehrbuch der Seelengesundheitskunde‘, das 1824 erschien, also exakt hundert Jahre vor der Begründung der anthroposophischen Heilpädagogik (Heinroth 1924). Auch in der Heilpädagogik war die Bezeichnung nicht neu: Der Arzt Georg Friedrich Müller, Begründer der ‚Anstalt Stetten‘ im Remstal, hatte den Begriff ‚Seelenpflege‘ zur Fundierung einer theologisch verstandenen Heilpädagogik verwendet (Dinzinger 1999, passim), und auch bei einem anderen bedeutenden Vertreter der frühen diakonischen Sorge für Menschen mit Behinderung, Johann Hinrich Wichern, ist er zu finden (Ellger Rüttgart 2008, 101). Freilich hat er sich weder im kirchlichen noch im allgemeinen Kontext außerhalb der Anthroposophie durchgesetzt. Als Bezeichnung für Kinder mit Behinderung oder Entwicklungsstörungen wurde der Terminus ’seelenpflegebedürftig‘ von den Heilpädagogen der ersten Stunde gern, aber nicht durchgängig verwendet – übrigens entgegen der später notierten Erinnerung Strohscheins in individuell sehr unterschiedlicher Schreibweise.“ (ebd., S. 175)

Steiner hat den Begriff also gekannt. Nichts spräche dagegen, dass er ihn mündlich vorgeschlagen hat. Strohschein jedenfalls wird die ihm so „neuen Worte“ wohl kaum aus einem anderen Kontext gekannt haben – trotzdem könnten sie freilich auch von sonstwem in den binnenanthroposophischen Diskurs geworfen worden sein. Aber da wir nur Strohscheins Anekdote haben, sind auch solchen Spekulationen enge Grenzen gesetzt. Jedenfalls: Dass ein Begriff wie „Seelenpflege-bedürftig“ heute eher an abgedroschenen anthroposophischen Slang als irgendetwas anderes erinnert, zeigt einmal mehr, wie wenig der vermeintlich anthroposophischen Eingenheiten genuin anthroposophisch war.

Steiners und seiner Anhänger Wortwahl historisch zu verstehen, nimmt den Wind aus den Segeln von ad hominem-Argumenten über seine Person. Davon können sowohl seine Kritiker als auch seine Fans profitieren – natürlich nur bis zu einem gewissen Grad. Denn dass nach 1900 die Rede von behinderten Kindern als „minderwertig“ und „abnorm“ gängig war, zeigt nicht, dass Steiners Verwendung dieser Worte harmlos, sondern wie problematisch (bei aller Leistung) die damalige Heilpädagogik als Ganze war. Auch wenn anthroposophische Heilpädagogen der ersten Stunde den Begriff „Seelenpflege“ vorzogen und ihre heutigen Erben daran festhalten: Vortragsstenographien von 1924 sollten nicht die unumstrittene Basis eines ganzen pädagogischen Zweiges sein. Seine tatsächliche Fähigkeit, das Funktionieren heilpädagogischer und sozialtherapeutischer Einrichtungen zu garantieren, wurde nicht selten angezweifelt:

„Den ‚Heilpädagogischen Kurs‘ kann der interessierte Laie nicht so ohne weiteres lesen, da umfassende Kenntnisse über die anthroposophische Menschenkunde, Entwicklungslehre und Medizin vorausgesetzt werden. A.Zeller hat sich in ihrer Dissertation ‚Anthroposophische Heilpädagogik‘ der Mühe unterzogen, Steiners Heilpädagogik kritisch mit der heilpädagogischen Praxis der Gegenwart zu vergleichen. In A-dorf hingegen hielten sich entsprechende Bemühungen in Grenzen. Der ‚Heilpädagogische Kurs‘ wurde zwar immer wieder gemeinsam gelesen, aber seine Erkenntnisse flossen in den Betreuungsalltag nicht spürbar ein.“ (Taube: „Ertötung aller Selbstheit“, a.a.O., S. 57)

Die negativen Erfahrungsberichte aus der jüngeren Zeit zeigen in aller Schärfe, dass Steiners esoterische Laienpädagogik, trotz aller veröffentlichten und unveröffentlichten positiven Berichte, in keiner Weise hinreichend ist. Das Durchsickern dieser Einsicht in die anthroposophische Heilpädagogik wäre ihre gleichzeitige Selbstabschaffung, wohlwollend interpretiert: Bedingung für eine (dreifache) Aufhebung. Zu einer solchen Relativierung bleibt es ein langer Weg, die historisch-kritische Behandlung sakraler Texte jedoch ist schon immer ein Katalysator von Säkularisierungsprozessen gewesen. Dass eine doch in weiten Teilen solide Geschichte der anthroposophischen Heilpädagogik inzwischen aus anthroposophischer Feder und in einem anthroposophischen Verlag erscheint, ist kein Grund zur Entwarnung, aber immerhin ein Schritt in die richtige Richtung.

19. September 2014 at 4:02 pm 2 Kommentare

Erste Geschichte der anthroposophischen Heilpädagogik erschienen

„Derartige spezielle Fördermaßnahmen für lernschwache Kinder entsprachen ganz dem damaligen Geist der Zeit: So hatte der ‚Deutsche Lehrerverein‘ 1919 in seinem Schulprogramm die „besondere Förderung behinderter Schüler, auch der Schwachbefähigten, grundsätzlich anerkannt“ und ausdrücklich eine adäquate Unterrichtsversorgung gerade dieser Kinder gefordert … Ganz im Sinne solcher allgemeinpädagogischer Intentionen, die in den Anfangsjahren der Weimarer Republik auch im öffentlichen Schulwesen eine echte Aufbruchstimmung widerspiegeln, konnten in Stuttgart Rudolf Steiner und das junge Lehrerkollegium der ersten Waldorfschule unbürokratisch daran gehen, für die schwachen Schüler eine sonderpädagogische Förderung eigener Prägung einzurichten.“
– Volker Frielingsdorf, Rüdiger Grimm, Brigitte Kaldenberg: Geschichte der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie. Entwicklungslinien und Aufgabenfelder 1920-1980, Verlag am Goetheanum/Athena Verlag, Dornach 2013, S. 60f.

Neben und in der Waldorfschul-Pädagogik hat die Anthroposophie Rudolf Steiners auch eine „Heilpädagogik“ für sog. „Seelenpflege-bedürftige Kinder“ hervorgebracht. Diese lebt heute in über 700 Schulen sowie betreuten Wohn- bzw. Dorfgemeinschaften – deren bekanntester Zweig dürfte die (von ins englische Exil geflüchteten jüdischen Anhängern Steiners unter Karl König gegründete) „Camphill-Bewegung“ sein. 2013 ist die erste systematische Geschichte der anthroposophischen Heilpädagogik erschienen. Ein quellengesättigter, aufschlussreicher Band, der sich aber nie länger bei problematischen Facetten aufhält. Die folgende Rezension erschien zuerst in Info3 (September 2014).

Die anthroposophische Pädagogik für „seelenpflege-bedürftige“ Kinder findet oft weniger Beachtung als die Waldorfschulen. Dem nimmt sich jetzt eine im Verlag am Goetheanum erschienene „Geschichte der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie“ an. Von einer liebevollen Rekonstruktion der Pionierzeit in den 20er Jahren entwickelt sich das Buch zu der systematischen Nachzeichnung einer globalen Erfolgsgeschichte. Man erfährt nicht nur, wann und wie die anthroposophische Heilpädagogik sich in verschiedenen Ländern etablierte, sondern erhält etwa gleichzeitig einen chronologischen Überblick zu Publikationen oder konzeptionellen und organisatorischen Herausforderungen der verschiedenen Jahrzehnte.

Während die Gründung der ersten Waldorfschule in Stuttgart 1919 unter Steiners direkter inhaltlicher Leitung erfolgte, entwickelte sich die Heilpädagogik aus drei Wurzeln: Seit 1920 existierte eine „Hilfsklasse“ an der ersten Waldorfschule, ab 1923 nahm das „Klinisch-Therapeutische Institut“ in Arlesheim auch physisch und psychisch behinderte Kinder auf, 1924 schließlich eröffnete das „Heil- und Erziehungsinstitut Lauenstein“ bei Jena. Erst im Zusammenhang damit hielt Steiner seinen „Heilpädagogischen Kurs“, der damit im Nachvollzug eine bereits existente Praxis einholte. Steiner selbst hatte für seinen taubstummen Bruder Gustav als Jugendlicher Gebärdensprache gelernt. Umso interessanter, wie stark seine Anweisungen im „Heilpädagogischen Kurs“ Fall- und Einzelbesprechungen waren – und dass unter den Zuhörern bereits praktizierende Heilpädagogen saßen.

Im Buch wird deshalb betont, die anthroposophische Pädagogik für „Seelenpflege-Bedürftige“ sei keine „creatio ex nihilo“ gewesen, sie weise „zeitbedingte Elemente“ auf und habe eindeutig „Verläufer und Anreger“ gehabt. Die Autoren arbeiten heraus, dass die führenden Akteure des Instituts „Lauenstein“ (auch Hauptinitiatoren von Steiners Kurs) zuvor am Jugendsanatorium „Sophienhöhe“ in Jena gearbeitet hatten. Dessen Gründer war der Reformpädagoge Johannes Trüper (1855-1921). Seine Tochter Änne heiratete später den prägenden anthroposophischen Heilpädagogen Franz Löffler – beide hatten sich auf der „Sophienhöhe“ kennengelernt und verbanden die Impulse beider Einrichtungen. Die anthroposophische Heilpädagogik sollte sich auch nach Steiners Tod zunächst wesentlich auf die durchaus eigenständigen Pioniergestalten stützen.

In der Nazizeit waren ihre Schützlinge durch die Euthanasie des totalitären Regimes bedroht. Entschlossen versuchten die heilpädagogisch-anthroposophischen Einrichtungen, von denen drei bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs geöffnet bleiben konnten, die Kinder zu beschützen. Dabei setzten die anthroposophischen Heilpädagogen auf Heimlichkeit und profitierten vom steten Machtkampf in Nazielite und -behörden, der einen konsequenten Umgang mit anthroposophischen Einrichtungen stets erschwerte. Löffler hatte überdies gute Kontakte zur NSDAP – die drei Autoren stufen diesen Umstand als Anpassungsstrategie ein. Sie erwähnen aber nicht, dass Löffler auch vor 1933 mit völkischen Ideen in Kontakt gekommen war und explizit sympathisierte.

Überhaupt wird kritische Literatur im Buch nicht angesprochen, umso größer ist leider die Selbstlobhudelei. Dem sachlichen Wert tut das keinen Abbruch: Das Buch ist nicht nur ein Meilenstein zur Geschichte der Heilpädagogik, sondern setzt auch Maßstäbe für die Erforschung anderer anthroposophischer Praxisfelder.


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„…und sich an die Regeln halten“. Bericht aus einem Waldorf-Internat

9. September 2014 at 2:14 pm 3 Kommentare

„…und sich an die Regeln halten“: Bericht aus einem Waldorf-Internat

„In Hochheim durfte ich alleine in die Stadt gehen. Die Beziehung zu den Erzieherinnen und Erziehern war fast freundschaftlich. Die Erzieherinnen wurden geduzt. Niemand hatte Angst vor ihnen. Die Internatsbewohner sagten deutlich, was ihnen nicht passte. Man konnte mit den Erzieherinnen über alles reden. Man wurde nicht von morgens bis abends beschäftigt und kontrolliert. Für die Internatsbewohner war ich – glaube ich – ein komischer Vogel. Schon wie ich redete: Am Anfang wenn ich rausgehen wollte sagte ich nicht: ‚ich gehe jetzt spazieren‘, sondern ‚ich gehe in die Natur raus‘. Die haben sich kaputt gelacht. Ich habe das nicht gemerkt. Für mich war das noch normal, solche Worte zu gebrauchen. Einmal habe ich den Erzieherinnen erzählt, dass es im anthroposophischen Internat, in dem ich vorher war, üblich ist im Umgang mit Erzieherinnen, dass sich ein Junge verbeugt und ein Mädchen einen Hofkniks machen musste. Die haben mich nur erstaunt angesehen. Das geschah nicht in den 50er Jahren oder 60er Jahren, sondern in den 80ern in einem anthroposophischen Internat!“

Es gibt gute und schlechte Bücher, und ganz gelegentlich solche, die einem den Atem stocken lassen. Das eben zitierte gehört in letztere Kategorie, trägt den Titel „‚Die Betreuer sind sehr nett‘. Bericht von meinem Aufenthalt in einem Waldorf-Internat“ und den Untertitel „Wenn ich ehrlich bin, freue ich mich sehr auf die Ferien“. Sein Autor Patrick Kelly wurde 1972 geboren, arbeitet seit 2010 ehrenamtlich in der Altenpflege und hat 1984 bis 1988 ein Waldorf-Internat am Bodensee besucht. Da er als Kind neben vielem anderen Lernschwierigkeiten hatte, schickten ihn die Eltern schließlich in eine heilpädagogische anthroposophische Einrichtung. Das Buch (erschienen 2013 bei Epubli – Auszüge bei Google Books) ist so aufschlussreich, weil es viel mehr ist als retrospektiver Erfahrungsbericht allein. Den weit überwiegenden Teil füllen Tagebucheinträge, Briefe und Epochenheftseiten aus, die teilweise abgeschrieben, teilweise als Faksimiles abgedruckt sind.

In der Form von Erläuterungen und Überleitungen führen Kellys Kommentare durch diese niederschmetternde Dokumentation. Und deren Höhepunkt stellen keineswegs Hofknickse und Verbeugungen dar. Man liest von Erzieherinnen, die sog. „Missetaten“ routiniert beim gemeinsamen Abendessen bloßstellten, von einem Internatsalltag, der jede freie Minute durchplante und keine Abweichungen duldete. Man liest von Lehrkräften, die in ihrem Unterricht keine von der ihren abweichende Meinung zuließen – und eine davon schwärmte enthusiastisch vom BDM. Dazwischen Eurythmie, Laternen basteln, eine kleine Feier zu Rudolf Steiners Geburtstag und viel – viel – Gartenarbeit. Patrick Kelly fühlte sich dort lange Zeit wohl, wie aus den Tagebucheinträgen ersichtlich wird. Aber mit der Zeit wurde der Alltag immer bedrückender. Langsam nehmen in den Briefen Beschwerden über den Internatsalltag zu. Er müsse etwas „munterer“ werden, schrieb er am 7.2.1987 an seine Mutter, denke aber stattdessen an zu Hause.

„Weißt du, ich spüre es jetzt viel stärker wie die Erwachsenen wirklich sind. Ich beobachte sehr vieles im Internat. Was die Erwachsenen alles im Internat nicht wollen. Ich denke darüber nach, was man zu mir den ganzen Tag so sagt. Ich habe auch gemerkt, dass viele von der R.Gruppe (die Älteren) und T.Gruppe (Mittlere) den Kopf voll haben mit dem, womit sie nicht einverstanden sind oder sich ungerecht behandelt fühlen. Die müssten sich mal kräftig aussprechen. Viele gehen nach dem Motto ‚Ich sage nichts dann bekomme ich keinen Ärger‘.“ (S. 51)

Dasselbe Verhalten bescheinigt er selbst sich im Rückblick. „Ich wollte jeden Ärger vermeiden, Ärger mit den Lehrerinnen und den Erzieherinnen“, und weiter:

„Wie macht man es, dass man im Internat nicht auffällt? Fleißig und freundlich sein, und sich an die Regeln halten. Ich wollte den Lehrerinnen gefallen und habe versucht alles zu machen was diese verlangten. Den Ärger und den Frust habe ich sonntags beim Briefeschreiben an meiner Mutter losgelassen. Allerdings erst am Ende meiner Zeit im Waldorf Internat. In dem Tagebuch 1987 kommen immer wieder Andeutungen vor, dass ich Angst hatte, was am Montag auf mich zukommen konnte. Habe ich etwas falsch gemacht? Gibt es Ärger? Ich war sehr stark unter Anspannung … Nach den Ferien war es immer besonders schwierig wieder ins Internat zu fahren. Ich kann mich  an diese [vorher in einem Tagebucheintrag vom 10. Juni ’87 beschriebene] Rückfahrt von den Pfingstferien erinnern. Wir saßen, ich und ein Junge, mit dem ich zusammen ins Internat gebracht wurde, im Taxi. Das Waldorf Internat war nicht mehr weit. Wir haben uns gegenseitig damit getröstet, dass die nächsten Ferien bald wieder kommen und dass es nicht so schlimm wird.“ (S. 32ff.)

Der Kontakt zu diesem Jungen, der im Intenat „zu den Kleinen“ gehörte, war der Auslöser des finalen Konflikts. Mit großer Beharrlichkeit, so die Darstellung Kellys, versuchten die Erzieherinnen, den Kontakt beider Kinder zu unterbinden. Mit Kontakten unter Nicht-Gleichaltrigen habe man schlechte Erfahrungen gemacht, außerdem verhindere das Lernfortschritte. Auch die Interventionsversuche der Eltern konnten offenbar nichts bewirken – was Kelly nicht schreibt, ist, dass dies einem der höchsten Grundsätze der Waldorfpädagogik entsprach. „Da sich Didaktik und Methodik auf das Lebensalter und die Entwicklungsbedürfnisse der Schüler beziehen, werden Mädchen und Jungen gemeinsam in altershomogenen Jahrgangsklassen unterrichtet“, heißt es im Leitbild der deutschen Waldorfschulen. Die Briefe an die Mutter, die Erzieherinnen doch umzustimmen und den Kontakt zu erlauben, werden flehentlicher. Der Konflikt mit dem Internat, vor allem mit einzelnen Erzieherinnen wächst.

„Ich merke, dass ich ziemlich ängstlich werde. Ich bin immer mehr viel lieber alleine im Internat. Die Erzieherin Frau R ist mir unangenehm geworden. Diese Person kann bei der kleinsten Sache schimpfen und aus der Haut fahren. Da muss ich aufpassen. Man muss gleich schalten. Sie kann aber auch sehr witzig sein. Manche Witze gefallen mir nicht. Bitte, bitte pass auf, was sie dir beim Gespräch so auftischen … Viel Glück beim Gespräch. Ich werde mich schon die letzte Woche [vor den Osterferien] durchbeißen.“ (13.3.1988, S. 60f.)

Das erwähnte Gespräch war das letzte mit der Schule. Patrick Kelly ist danach in das eingangs beschriebene neue Internat in Hochheim gekommen, was offenbar eine gute Entscheidung war. Ein Einzelfall? Mitnichten. Im Nachwort zum Buch schreibt zwar Kellys Kinderarzt Hans von Lüpke: „…ein humanes, respektvolles Konzept war durch rigide Reglementierungen zu einer Art ‚Diktatur‘ geworden…“ (S. 65). Aber mag hier auch ein intentional humanes Konzept entgleist sein, so sind doch genau solche Konflikte in Grundstrukturen anthroposophischer Pädagogik vorprogrammiert und eskalieren immer wieder: Hinter der Reglementierung steht die „rhythmische“ Tagesgestaltung und die Überbetonung der Lehrerautorität. Schon früher sind ähnliche Fälle bekannt geworden. (vgl. z.B. Kathrin Taube: „Ertötung aller Selbstheit“. Das anthroposophische Dorf als Lebensgemeinschaft mit geistig Behinderten, München 1994)

Kellys Buch ist trotzdem eine Besonderheit: Weil es eine denkbar intime Dokumentation ist, weil es kein Blatt vor den Mund nimmt, aber vor allem, weil die ganze Ambivalenz seiner Erfahrungen zur Sprache kommt. Das Waldorfinternat wird nicht hasserfüllt als hinterlistige Kinderhölle beschrieben, vielmehr werden auch positive Eindrücke nicht verhehlt oder geleugnet. Das Internat zeigte sein hässliches Gesicht langsam und subtil, in der eingeforderten Anpassungsleistung, die keinen Widerspruch erlaubte, und in der Entschlossenheit, mit der jeder Widerspruch ausgetrieben werden sollte. Wer sich für Waldorfpädagogik interessiert (ob nun kritisch oder solidarisch) sollte dieses Buch lesen.

12. Juni 2014 at 2:35 am 2 Kommentare


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Hallo allerseits,
Ich bin Ansgar Martins, geb. 1991 und war bis Juni 2010 Schüler an der FWS Mainz. Inzwischen studiere ich Religionsphilosophie, Soziologie und Geschichte in Frankfurt a. M. Dieser Blog ( dessen "Leitbild" ganz oben rechts ) ist mein persönliches Projekt, um die oft einseitigen und selbstgerechten Pro- und Contra-Positionen in der Debatte um die Waldorfpädagogik und Anthroposophie kritisch zu kommentieren. Ich hoffe, das gelingt, und freue mich über Rückmeldungen jeder Art!

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