Nazi-UFOs, Schamballah und der Longinus-Speer

9. April 2012 at 6:02 pm 5 Kommentare

Anthroposophie und UFO-Gläubigkeit im Diskurs der rechten Esoterik

„Flugkreisel“

Seit dem 5. April 2012 können deutsche Kinozuschauer den Film „Iron Sky“ bewundern, eine so platte wie verdrehte Science-Fiction-Komödie des finnischen Regisseurs Timo Vuorensola. „Iron Sky“ handelt von einer versteckten Nazi-Kolonie auf der dunklen Seite des Mondes. Dorthin 1945 evakuiert, planen die mit fliegenden Untertassen und dem Raumschlachtschiff „Götterdämmerung“ bewehrten Nazi-Exilanten eine Invasion auf der Erde. Der Film, voll von Andeutungen und Zitaten, lässt kein antiamerikanisches, deutsches oder Naziklischee aus, erteilt Seitenhiebe auf Tea-Party-Fanatikerin Sarah Palin und bringt dabei nach Ansicht des SPIEGEL-Rezensenten Wolfgang Höbel „selbst die verstocktesten Cineasten und die nüchternsten Moralprediger zum Lachen“, ja er vermöge „selbst jene vollkommen anachronistischen Menschen zu begeistern, denen es in diesem Leben nie und nimmer einfallen wird, sich zur Spezies der Nerds zählen zu wollen.“ (Nazis im Weltall).

"Iron Sky" (Pressefoto)

Materialvorlage für den Streifen ist eine der prosaischsten Verschwörungstheorien der Nachkriegszeit: Die Nazis hätten die Konstruktion UFO-förmiger Flugzeuge betrieben, sogenannter „Reichsflugschreiben“. Je nach Variante wurde Hitler damit zum (natürlich in Wahrheit subtropisch temperierten) Südpol evakuiert, habe außerirdische Hilfe vom Aldebaran bestellt – oder sich eben auf den Mond zurückgezogen. Was der SPIEGEL sich nicht auf die Fahnen schrieb: In genau dieser Zeitschrift hatte der Verschwörungsmythos seinen Anfang genommen. Im März 1950 publizierte der SPIEGEL ein Interview mit dem Flugkapitän Rudolf Schriever, der in der Naziära als Aeronautikingenieur gearbeitet hatte. Titel: „Untertassen – sie fliegen aber doch“ (vgl. Der Spiegel, 30. März 1950, 33-35). Schriever erzählte, er habe 1942 an einem senkrecht startenden Flugzeug gearbeitet, das nicht länglich, sondern rund sein sollte. Um eine zentrale „Gondel“ sollte eine „Schaufelblattscheibe“ von 15 m Durchmesser angeordnet sein, die wie bei einem Hubschrauber rotierte. „Flugkreisel“ nannte Schriever diese Erfindung. Die Originalpläne waren ihm selbstredend auf mysteriöse Weise entwendet worden und inzwischen in der Hand fieser tschechischer Ingenieure.

Auf elegante Weise bediente diese Geschichte zwei damals kursierende Mythen: Der Sportpilot Kenneth Arnold wollte am 24. Juni 1947 neun untertassenförmige Flugobjekte gesehen haben. Und in der internationalen Presse kursierte seit Juli 1945 das Gerücht, Hitler habe möglicherweise den Zweiten Weltkrieg überlebt und sei in die Antarktis (1938/39 Ziel einer deutschen Expedition) oder nach Südamerika geflohen – und warum nicht gleich auch noch in einem „Flugkreisel“? Nach Schrievers Bericht (wenn der denn stimmt) war zwar nicht ein einziges Modell gebaut worden. Aber verschwörungstheoretisch Interessierten stehen Fakten ja grundsätzlich nicht im Wege. Umgehend wurde der Mythos in genau dieser Hinsicht fortgeschrieben: Hitler & Co seien nun in Fliegenden Untertassen unterwegs. Erich Halik, Anhänger des Wiener Esoterikers und üblen Rassisten Wilhelm Landig, verkündete, die UFO-Sichtungen seien „keine Invasion aus dem Weltraum“ (vgl. Mensch und Schicksal, Nr. 9/1954, 3-5). Sie legten vielmehr davon Zeugnis ab, dass die Nazis weiter aktiv seien. In den folgenden Jahrzehnten trieb die Verschwörungstheorie munter weitere Blüten. Jim Keith schließlich stellte 1994 die „Iron Sky“ zugrundeliegende Theorie auf, die Nazis hätten sich von der Erde zurückgezogen, „by constructing bases on Mars or the Moon to carry the ancient Grail of Aryan racial purity away from what they conceive as a cataclysm-doomed Earth.“ (Keith: Casebook on Alternative 3. UFOs, Secret Societys and World Control, Lilburn 1994, 153).

Luzifer und Ahriman – Schamballah und Agartha

UFOs gehören spätestens seit der „Prä-Astronautik“ Erich von Dänikens zu den großen Themen in der Esoterikszene des 20. Jahrhunderts. Das klingt, milde gesagt, abstrus, ist aber keine überraschende Konstellation, wenn man die Geschichte der jüngeren Esoterik betrachtet: Hatten die Spiritisten versucht, die Geister von Verstorbenen mit „modernen“ Mitteln zu „beweisen“, hatten Helena Blavatsky oder Rudolf Steiner eine spirituelle Alternative zur Evolutionstheorie des 19. Jahrhunderts entworfen, hatte Ken Wilber einen postmodernen Ekklektizismus zur post-postmodernen „integralen Landkarte“ stilisiert, so selbstverständlich integrierten jüngere esoterische Ansätze eben die Möglichkeiten moderner Technik und die Fantasien der Science-Fiction-Literatur. Der erwähnte Erich Halik hielt die Nazi-UFOs für Manifestationen eines uralten „Archetyps“, des Heiligen Gral. In Wahrheit seien sie von „ätherischer“ Beschaffenheit gewesen (vgl. Halik: Das Phänomen der Fliegenden Untertassen, in: Mensch und Schicksal, Nr. 19/1951, 4-7).

Nach Haliks Auffassung hatten die Nazis am Nord- und Südpol Kolonien aufgebaut, und zwar unter den Zeichen der „Goldenen Sonne“ und der „Schwarzen Sonne“ – sie stünden einander dualistisch entgegen: Der eine Pol verkörpere mit der Goldenen Sonne eine „luziferische“ Erleuchtung, die in Zusammenhang mit dem tragischen Katharerforscher und zeitweiligen Himmler-Günstling Otto Rahn stehe, der andere stehe mit der Schwarzen Sonne unter dem Einfluss „saturnischer, satanischer Logen der SS“ (vgl. Nicholas Goodrick-Clarke: Im Schatten der Schwarzen Sonne, Wiesbaden 2009, 277). Haliks Intimus Wilhelm Landig brachte den Glauben an die Existenz dieser dämonischen Weltmächte in Zusammenhang mit dem prominenten völkischen Mythos von Agartha und Schamballah. Landig ist der Autor einer Romantrilogie über den Mythos von Thule (einer Art völkischen Variante des theosophischen Atlantis). Die Helden der Trilogie reisen munter mit Nazi-UFOs über den Planeten, begegnen freimaurerischen Verschwörungen und einer esoterisch-nationalsozialistischen Internationale, zu denen chinesische Weise ebenso zählen wie tibetische Lamas. Die Legende der beiden unterirdischen Städte Schamballah und Agartha ist in Landigs Geschichte omnipräsent. Schamballah ist der Sitz der „Herrn der Furcht“, Zentrum okkulter Logen und politischer Mächte des Westens. Agartha dagegen ist das unterirdische Reich des Geistes und der Besinnung, hier regiert der gute König der Welt. Beide Mächte konstituierten als Pole die spirituelle Energie unseres blauen Planeten. Sie müssten sich stets in Ausgleich befinden. Am Scheitern des Nazismus sei ein zu großes Überwicht der Macht von Schamballah schuld gewesen (vgl. Wilhelm Landig: Wolfszeit um Thule, Wien 1980, 629ff.).

Die beiden Städte hat Landig allerdings nicht erfunden. Als „böse Zwillinge“ werden die „Weltmächte Agarthi und Schamballah“ in einem zehn Jahre älteren Werk behandelt: Im „Speer des Schicksals“ des Anthroposophen Trevor Ravenscroft (1921-1989). Nach Ravenscrofts Auffassung repräsentierten die beiden unterirdischen Städte die irdischen Wirkungspunkte der anthroposophischen Dämonen Ahriman und Luzifer:

„Das Luziferorakel wurde ‚Agarthi‘ genannt und für ein Meditationszentrum gehalten, das ‚die Mächte‘ unterstützte. Das Ahrimanorakel wurde ‚Schamballah‘ genannt und galt als ein Zentrum, in dem Rituale durchgeführt wurden, mit denen die den Elementen innewohnenden Kräfte unter Kontrolle gehalten werden sollten. Die Eingeweihten von Agarthi beschäftigten sich vornehmlich mit Astralprojektion und versuchten, alle Zivilisationen der Welt mit falschen Führern zu versorgen. Schamballahs Adepten dagegen versuchten die Illusion des Materialismus aufrechtzuerhalten und jedwede menschliche Tätigkeit im Abgrund enden zu lassen“ (vgl. Ravanscroft: Der Speer des Schicksals, Zug 1974, 262).

Nach Ravenscrofts ‚Forschungen‘ waren die Nazis mit Agarthi verbündet, die Alliierten dagegen mit Schamballah:

„Drei Jahre nach dem ersten Kontakt mit den Eingeweihten von Agarthi und Schamballah wurde eine tibetische Gemeinde mit Zweigniederlassungen in Berlin, München und Nürnberg in Deutschland gegründet. Aber nur die Adepten Agarthis, die Luzifer dienten, waren bereit, die Sache der Nazis zu unterstützen. Schamballahs Eingeweihte, die den Materialismus und das Maschinenzeitalter fördern wollten, verweigerten ganz einfach die Zusammenarbeit. Durch ihren Dienst für Ahriman waren sie bereits mit der abendländischen Welt in Verbindung getreten und arbeiteten mit bestimmten Logen in England und Amerika zusammen!“ (ebd., 263)

Walter Johannes Stein und Adolf Hitler

Ravenscroft beanspruchte, persönlicher Schüler von Walter Johannes Stein zu sein. Stein war Lehrer an der ersten (Stuttgarter) Waldorfschule und sehr vertraut mit dem Gründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner.

„Bei Dr. Stein“, so Ravenscroft, „hatte ich annähernd sieben Jahre studiert, seine Vorlesungen besucht und direkten individuellen Anschauungsunterricht in den Meditationsdisziplinen, in der Entwicklung geistiger Fähigkeiten und in der Erlangung höherer Bewusstseinsstufen erhalten. Ein[e] Schulung, die er ‚das Lernen des ABC des Grals ohne die Kunst der schwarzen Magie‘ zu nennen pflegte.“ (Ravenscroft: Der Kelch des Schicksals, Basel 1981, 7f.)

Der Anthroposoph Walter Johannes Stein (1891-1957): Waldorflehrer der ersten Stunde und Teil von Ravenscrofts Hitlermystifizierung

Ravenscroft wollte Stein in den 50ern kennengelernt haben, 1960 wurde er Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft, 12 Jahre später erschien sein eben zitierter Bestseller „Der Speer des Schicksals“. Mit dem „Speer“ ist der Speer des Longinus gemeint, jene heilige Lanze, die der gleichnamige römische Legionär dem gekreuzigten Christus in die Seite gestoßen haben soll. Genau wie sein Gegenstück, der Heilige Gral Joseph von Arimathias, ist der Speer mit der Legende von König Artus und der ritterlichen Gralssuche verknüpft. „Vielfältig sind die Verästelungen der Gralsgeschichten, deren fast jede auf eine weitere, ursprünglichere zurückzuführen ist, so, wie in russischen Spielzeugpuppen immer eine und nochmals eine in der anderen steckt.“ (Franz Baumer: König Artus und sein Zauberreich, München 1991, 243).

Es konnte nicht ausbleiben, dass im Zuge einer steigenden Heidentums- und Artusnostalgie auch die Anthroposophen die Gralslegende ausbauten. Selbstverständlich spielte dabei das deutsche Kaisertum eine besondere Rolle: „Das sind die Fakta, aus denen die Sagengestalt Friedrisch Barbarossas entstanden ist. Durch Blutsfolge hat er seine Lebensaufgabe als Kaiser angetreten. Zur freien Individualität hat er sich als Mensch durchgerungen. Durch Schicksalsfügung ist er als Gralssucher durch den Tod gegangen.“ (Ernst Uehli: Die drei großen Stauffer (1959), Wiesbaden 2010, 143). Das ist, wie Franz Baumer zurecht meint, „etwas viel ‚Volksgeist‘-Esoterik und von Steiner geschaute geschichtsphilosophische Sinnzuschreibung. Aber auch ohne einem Gralsmystizismus sektiererischer Färbung zu huldigen, dürfen wir im Aufkommen der Gralsromane (und in Übereinstimmung mit der Anthroposophie) den Ausdruck einer religiösen Strömung erkennen, die am Rande der kirchlich reglementierten Glaubenswelt angesiedelt und auf ein esoterisches Christentum gerichtet war.“ (Baumer: König Artus…, a.a.O., 236)

Christus, der Gral, Longinus und vor allem dessen Lanze haben nach Ravenscrofts Meinung natürlich alle existiert, und der „Speer des Schicksals“, mit einer ganzen Reihe von übersinnlichen Kräften versehen, landete nach einer ereignisreichen Geschichte in der Wiener Hofburg. Dort wurde er, behauptet Ravenscroft, 1912 von niemand geringerem als Adolf Hitler entdeckt. Hitler war natürlich im Bilde über Schamballah, Luzifer und ihre spaßigen Freunde und sich voll bewusst, dass er am Ringen der okkulten Mächte auf Seiten Luzifers teilnahm.

„Aber Hitler haßte Christus und empfand nur Spott und Verachtung für alle christlichen Bestrebungen und Ideale. Und diese Hingabe an das Böse erklärt, warum der Speer des Longinus solch einzigartige Anziehungskraft auf ihn ausübte. In seinen Augen war der Speer ein apokalyptisches Symbol für einen manichäischen Krieg der Welten, eine mächtige kosmische Auseinandersetzung zwischen den Hierarchien des Lichtes und der Dunkelheit, die sich auf Erden im Ringen der guten und bösen Mächte um das Schicksal der Menschheit widerspiegelte.“ (Ravenscroft, Speer, 268)

Kreuzigungsszene mit der Heiligen Lanze

Ravenscroft berichtet: Im selben Jahr hatte Hitler Walter Johannes Stein kennengelernt. Der Anthroposoph Stein erfuhr mit einer gewissen Angstlust von Hitlers okkulten Interessen. Dazu gehörte selbstverständlich die Weltherrschaft, die durch den Besitz des Longinusspeers abgesichert werden sollte. In Rudolf Steiner, „der Prophet des kosmischen Christus unserer Zeit war“, sah Hitler seinen größten Gegner. In letzter Sekunde wusste Stein, ein Nazi-Attentat auf Steiner zu verhindern (ebd., 269ff.). Natürlich steckten die Nazis (diesmal Hitlers Mentor Dietrich Eckart) auch hinter dem Brandanschlag auf Steiners Erstes Goetheanum, einen Jugendstilbau in Dornach bei Basel, der Zentrum der anthroposophischen Bewegung werden sollte. Ravenscroft stilisierte Steiner zur galaktischen Potenz und zum einzigen Warner vor der „luziferischen Hierarchie“, die „von Adolf Hitlers Seele Besitz ergreifen konnte“ sowie vor dem „globalen Anti-Menschen im ich-losen Körper des Reichsführer SS Heinrich Himmler, der wohl schrecklichsten Verkörperung von Terror und Inquisition in der gesamten Geschichte der Menschheit.“ (ebd., 295).

Tatsächlich gab es einige Krawalle bei Vorträgen Steiners, die als Attentatversuch gewertet werden können. Doch ob dahinter die spätere Leitung der NSDAP steckte, darf man getrost bezweifeln. Tatsächlich wurde das Dornacher Goetheanum niedergebrannt und tatsächlich gab es Drohungen von völkischer Seite, doch die Frage nach der Brandursache des Ersten Goetheanums ist bisher letztlich ungeklärt. Tatsächlich hat Hitler die Anthroposophie unter die „jüdischen Methoden zur Zerstörung der normalen Geistesverfassung der Völker“ eingereiht (Hitler: Staatsmänner oder Nationalverbrecher?, in: Völkischer Beobachter, 15.3.1921, 1), doch aus dieser (einzigen) Erwähnung zu schließen, Steiner sei Hitlers größter Gegner gewesen, ist gewaltig übertrieben. Tatsächlich hetzte Dietrich Eckart gegen systematisch gegen Steiner (vgl. Anthroposophie im Widerstand). Eine Begegnung zwischen Stein und Hitler hat es ebensowenig gegeben wie ein Wiener Antiquariat Pretzsche. Behauptungen über Hitlers Beeinflussung durch rechts-theosophische Kreise sind inzwischen als sensationslüsterne Legenden überführt. Christoph Lindenberg hat Ravenscrofts Suggestionen bereits 1974 als Erfindungen entlarvt (Lindenberg: Jenseits von Wirklichkeit und Wahrheit, in: Die Drei, Jg. 1974, 631ff.).

Dennoch wurde der „Speer des Schicksals“ als „Geheimtipp“ über die okkulten Inspirationen des Nationalsozialismus in anthroposophischen Zirkeln herumgereicht (so Uwe Werner: Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse, 57ff.). Für viele anthroposophisch gebildete erzeugten die Ausführungen Ravenscrofts sicher bestimmte Evidenzerfahrungen: Hatte nicht schon Albert Steffen den frisch verstorbenen Steiner im Jahr 1925 mit der Gralslegende in Verbindung gebracht und als „den Erfüller Parzivals“ bezeichnet (zit. n. Rudolf Meyer: Zum Raum wird hier die Zeit. Die Gralsgeschichte, Frankfurt a.M. 1983, 240)? 1996 übernahm sogar der inzwischen prominenteste Anthroposophiekritiker Helmut Zander Ravenscrofts Begegnungskonstrukte, als er schrieb: „Hitler selbst soll durch den Anthroposophen Walter Johannes Stein mit Vorstellungen Steiners bekannt gemacht worden sein und eine Vorliebe Hitlers für biodynamische Produkte wird kolportiert; Steiners politische Vorstellungen hat Hitler allerdings explizit abgelehnt.“ (Sozialdarwinistische Rassentheorien). AnthroposophInnen wie Amnon Reuveni, Sergej Prokofieff oder Lorenzo Ravagli haben auch nach der Widerlegung und Diskreditierung Ravenscrofts die Geschichte von Adolf Hitlers dämonischer Beeinflussung (allerdings: ohne explizite Anknüpfung an Ravenscroft) fortgeschrieben.

„Die Schwarze Sonne von Tashi Lunpo“

Die realen Verbrechen des Naziregimes kommen bei Verschwörungstheoretikern wie Ravenscroft allenfalls am Rande vor. Dennoch hielt dieser Autor die Nazis immerhin für schlecht und für die Repräsentanten des Bösen. Doch es war ein Leichtes, sich in der Folge und unter Berufung auf dieselbe Geschichte auf die Seite der Nazis und „Agarthas“ zu schlagen. Ravenscrofts Mythos über den Heiligen Speer, vermischt mit den Annahmen Landigs und Haliks wurden 1991 in dem deutschen Roman „Die Schwarze Sonne von Tashi Lunpo“ auf beunruhigende Weise fortgeschrieben (ich danke Hans-Jürgen Bracker und Arfst Wagner für wertvolle Hinweise). Hier erscheinen Hitler und die seinen als gewaltfreie, attackierte Untergrundorganisation unter dem Segen von Agartha, während die UNO, diverse Freimaurer und westliche Regierungen vor keinem Verbrechen zurückschrecken, um die Nazi-Krieger des Lichts zu stoppen. Natürlich stehen diese westlichen Mächte unter dem Einfluss des finsteren Schamballah. Das Buch erschien im rechtslastigen „Arun-Verlag“, als Autor steht auf dem Cover ein Russel McCloud. Doch der ist ein Pseudonym, das sich ein „Pressebüro Globe“ ausgedacht hat. Die Organisation informiert in ihrer Onlinepräsenz: „Wir realisieren für Sie als Herausgeber, Co-Autoren oder Ghostwriter Ihre Buchprojekte.“ (Pressebüro Globe) und wirbt:

„Im Bereich des Ghostwriting hat Globe beispielsweise für den Arun Verlag das Buch „Die Schwarze Sonne von Tashi Lhunpo“ (ISBN 3-927940-04-6) unter dem Autorenpseudonym Russell McCloud realisiert. Der Hauptautor wollte bei diesem Thriller um die Wiederkehr des SS-Ordens im Kampf mit dem fiktiven UNO-Geheimdienst lieber nicht namentlich genannt werden. Der Clou des Autorennamens war „to cloud something with a ruse“; d.h. etwas mit einer List (Pseudonym) zu umwölken.“ (ebd.)

Als Kontanktperson wird auf der Webseite ein „Herr Mögle-Stadel“ angegeben. Stephan Mögle-Stadel, vor allem bekannt durch sein Engagement im Umfeld der UN sowie seine „spirituelle“ Dag Hammarskjöld-Biographie, ist auch als Vortragsredner in der anthroposophischen Welt unterwegs (vgl. Paracelsus-Zweig Basel), ohne mir bekannte Begründungen wurde auch über Verbindungen zu Scientology spekuliert. Mögle-Stadel hat in anthroposophischen Zeitschriften wie „Das Goetheanum“, den Flensburger Heften oder Info3 publiziert. Von Info3 grenzt er sich inzwischen ab:

„Bemerkenswert dürfte sein, dass Stefan Mögle-Stadel, ehemals selbst Autor für ‚Info3’, zuletzt mit Kontakten zu Peter Ustinov und Yehudi Menuhin im Rahmen der Vereinten Nationen wirkend, und weltweit bekannt als Verfasser der anerkannten Biographie über den ermordeten UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld, mir via Email am 11. Juli die Einschätzung gab: ‚Ich hatte ja früher einmal für die (andere) Info3 als Mitarbeiter viel geschrieben. Diese ‚alte’ Info3 erscheint mir Lichtjahre von dem entfernt, was heute daraus geworden ist…’“ (Steiert: Positive Resonanz zur Info3-Kritik)

Wenn man nähere Angaben zur Person sucht, die hinter dem Autorenpseudonym Russel McCloud steckt, stößt man (wenig überraschend) erneut auf Mögle-Stadel: „Hinter dem angelsächsischen Pseudonym verbirgt sich ein Autorenteam unter der Leitung des deutschen Wissenschaftsjournalisten Stephan Mögle-Stadel.“ (Goodrick Clarke: Im Schatten, a.a.O., 252). Auch im neuen Sammelband von Uwe Puschner und Clemens Vollnhals zur „völkisch-religiösen Bewegung im Nationalsozialismus“ (Göttingen 2012, 532) wird McCloud als Pseudonym für Mögle-Stadel angeführt. Ich wurde darauf hingewiesen, dass Mögle-Stafel sich nicht als Anthroposoph bezeichnet,  seine Ideen stehen aber deutlich in der Tradition eines Ravenscroft: Auch bei ihm ist vom tausenjährigen Kampf der Mächte von Agartha und Schamballah die Rede, beide sollen die Nachfahren von Göttern aus Atlantis (bzw. Thule) sein. Dabei kommt Schamballah als dämonische Macht vor, die Geheimdienste, die EU und allerlei anderes kontrolliert, während Agartha in Zusammenarbeit mit den Nazis an der Verwandlung der Menschen zu Übermenschen arbeite. Hitler und die SS stehen im halluzinierten globalen Kampf also auf Seiten der Guten. Was Ravenscroft nur im raunenden Ton anthroposophischer Geschichtsesoterik vorgetragen wurde, Hitlers angebliche Gier nach dem Longinusspeer, wird in der „Schwarzen Sonne von Tashi Lunpo“ zum kitschigen Zauberritual:

„Plötzlich begann sein Oberkörper zu zittern, erst ganz leicht, dann immer stärker. Schließlich wurden seine Hände, sein Kopf, seine Beine davon ergriffen. Auf seinem Gesicht bildeten sich Schweißtropfen, die bei ihrem Abwärtsgleiten ihre salzigen Spuren auf der Haut hinterließen und die Haare seines schmalen Oberlippenbartes benetzten. Das Zittern ging in einen regelrechten Schüttelfrost über, doch sein Blick blieb weiterhin starr auf die Spitze des Speers gerichtet. Aber die Trance, die ihn überfiel, um sich seines Geistes zu bemächtigen, ließ seine Sinne nichts mehr wahrnehmen. Sein Mund öffnete sich und heraus brach ein Schrei, der nichts Menschliches an sich hatte. Seine Arme schossen nach vorne, packten den Speer, rissen ihn in die Luft. Sein Kopf ruckte nach oben, seine dunklen Augen hefteten sich an das Stück Geschichte, das er in seinen ausgestreckten, zitternden Händen hielt. Seine Uniformmütze rutschte herab und fiel zu Boden. Eine Strähne seiner Haare hing ihm in die schweißgebadete Stirn. Er war eins geworden mit den magischen Kräften, die der Speer ausstrahlte, deren Fluidum sich auf ihn übertrug, ihn erfüllte und ein Hochgefühl erzeugte, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte. Vier mal sieben Jahre – 28 insgesamt – hatte er auf diesen Moment gewartet. Jetzt, in der Nacht vom 14. auf den 15. März 1938, hielt er endlich den Speer in seinen Händen. Er war eins mit dem Schicksal geworden, ja er war selbst Schicksal. Sein Schrei verebbte, lief aus in einem Röcheln, sein Oberkörper fiel nach vorne und schlug polternd auf dem kleinen Tisch auf. Seine Finger umkrampften das Stück Metall, so, als ob sie schwören würden, es nie wieder loszulassen.“ (McCloud: Die schwarze Sonne…, a.a.O., 5f.)

In „Die Schwarze Sonne von Tashi Lunpo“ wird erstmalig die Verbindung zwischen der ominösen „Schwarzen Sonne“ und dem aus 12 Sig-Runen bestehenden, berühmten Emblem aus dem Obergruppenführersaal der Wewelsburg hergestellt, die Himmler zu einer Art „SS-Vatikan“ (Goodrick-Clarke) ausbauen wollte. Als Symbol für die kosmische Evolution taucht bereits bei Helena Blavatsky eine unsichtbare, „zentrale, geistige Sonne“ des Universums auf (vgl. Blavatsky: Die Geheimlehre (1888), Burg-Haamstede, Bd. I, 127). Sie sei das große Mysterium, eine Art ‚Ding an sich‘ des Kosmos und „die Lehrer“ sagten „offen, dass nicht einmal die höchsten Dhyani-Chohans [die „Baumeister der Welt“, identisch mit Steiners siebenfältigen Elohim – AM] jemals die Geheimnisse jenseits jener Grenzen, welche die Milliarden von Sonnensystemen von der ‚Centralsonne‘, wie es genannt wird, trennen, durchdrungen haben.“ (ebd., 41).

Darstellung der "Schwarzen Sonne" als Sonnenrad aus dem ehemaligen SS-Obergruppenführersaal der Wewelsburg (Wiki-Commons)

Steiner und Blavatsky als Projektionsflächen rechter Esoterik

„Das Buch von Ravenscroft erfüllt den Tatbestand geistiger Umweltverschmutzung.“ (Christoph Lindenberg: Jenseitsvon Wirklichkeit und Wahrheit, a.a.O., 635), Arfst Wagner zerpflückte Russel McClouds Phantasien über Agartha und Schamballah (Nationalokkultismus II). Man kann aufgrund dieser eindeutigen und eloquenten Abwehr wohl nicht sagen, dass die Anthroposophie in toto mit nationalsozialistischer Esoterik kompatibel ist – auch unter Einbezug von Steiners eigenen Rassismen: „Elemente rassischen Denkens implizieren nicht automatisch eine Zugehörigkeit zur völkischen Bewegung.“ (Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, 633). Dennoch waren Steiner und die Inhalte der Anthroposophie bei interessierten Rezipienten stets geeignet, um als Inspiratoren oder Inhalte rassistischen oder nazistischen Geistes zurechtgebogen zu werden. Bereits 1943 phantasierte der an der Judenverfolgung im faschistischen Italien beteiligte Anthroposoph Ettore Martinoli:

„Rudolf Steiner war ein wahrhaft idealer Vorläufer des neuen Europa von Mussolini und Hitler. Ziel dieser Schrift war es, den Geist und die Figur dieses grossen, modernen, deutschen Mystikers für die Bewegung zu beanspruchen – eine Bewegung, die nicht nur politisch, sondern auch spirituell ist – eingeführt in die Welt von den zwei parallelen Revolutionen, der Faschistischen und der Nationalsozialistischen Revolution, denen Rudolf Steiner als echter Vorläufer und spiritueller Pionier in idealer Weise angehört.“ (Ettore Martinoli, „Un preannunziatore della nuova Europa: Rudolf Steiner“, in: „La Vita Italiana“, Juni 1943, Seite 566, zit. bei Andreas Lichte)

Rudolf Steiner wurde hier vom kulturell praktisch irrelevanten Stifter einer esoterischen Religion zum politischen Rassisten erklärt. Martinolis Fiktion stützt sich auf dekontextualisierte oder schlicht erfundene Belege. Georg Werner Haverbeck, von dem sich hochrangige Anthroposophen schnell und durchaus glaubhaft distanzierten, stilisierte Steiner ebenfalls zum „Anwalt“ des von Hitler „heraufgeführten“ Deutschland (vgl. Christoph Lindenberg: Mißbrauch und Verdrehung. Wie Haverbeck Steiner-Zitate in den Dienst seiner Nazi-ldeologie stellt, in: Die Drei, Nr. 12/1989, 906-910, Sergej Prokofieff: Wessen ‚Anwalt‘ ist Haverbeck?, ebd., 910-914). 1997 wurde ein anthroposophisches „Projekt gegen NS-Nostalgiker in den eigenen Reihen“ gegründet, da es „immer wieder einzelne Anthroposophen“ gebe, „die eine spirituelle Sicht der Geschichte mit eigenen Sympathien für Nationalismus und Nationalsozialismus vermischen.“ (Anthroposophie und NS). Die Vieldeutigkeit Blavatskyscher und Steinerscher Theoreme machte beide zu beliebten Gewährsmännern der rechten Esoterik: Hatte Blavatsky nicht Agartha (Agadi) als unterirdische Feste des alten Babylon beschrieben? Zeitreisefreudige Verschwörungstheoretiker fügten hinzu, dass die mit „Reichsflugscheiben“ ausgestatteten Nazis „durch den ‚transdimensionalen Kanal‘ zurück in die Vergangenheit gereist sind und Zuflucht im alten Babylon gefunden haben, wo die deutschen Besatzungsmitglieder als ‚weiße Götter‘ aus einer anderen Welt empfangen und verehrt wurden.“ (Goodrick-Clarke: Im Schatten, a.a.O., 340).

"Reichsflugscheibe" am Goetheanum, dem Sitz der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft (Collage von Esowatch)

Hatte nicht Steiner behauptet, die Seelen der Menschen seien in grauer Vorzeit („lemurische Epoche/Wurzelrasse“) durch hochentwickelte Engel von den anderen Planeten des Sonnensystems auf die Erde gesandt worden, um sich erstmals in biologischen Körpern zu inkarnieren und zu eigenständigen Menschen zu werden (GA 13, 241)? Hatte er nicht die Existenz geheimnisvoller Luftschiffe aus Atlantis verkündet? „Sie erinnern sich, wie die eigentliche Technik der Atlantier war. Auf kleinen Luftschiffen fuhren die Atlantier dahin über die Erde, nahe der Erde, weil die Luft durchsetzt war von dichten Nebelmassen.“ (GA 109, 79). Und dann wäre da noch die mysteriöse Substanz „Vril“, die bei Steiner ebenso vorkam wie bei heutigen Epigonen ‚ätherischer‘ UFOs (vgl. zum Kontext Marco Frenschkowski: Die Geheimbünde. Eine kulturgeschichtliche Analyse, Wiesbaden 2007, 169-172, Zander: Anthroposophie…, a.a.O., 642-646). In grobstofflicher Interpretation lässt sich aus diesem Cocktail leicht der Schluss ziehen, die Menschheit habe außerirdische Vorfahren von verschiedenen Planeten gehabt: Die Deutschen seien in Wahrheit Außerirdische aus der „Herrenrasse der ‚Lichtgottmenschen‘ (Alpha-Aldebaraner)“ (Goodrick Clarke: Im Schatten, a.a.O., 336). Fließend kommt man von solchen Vorstellungen zu den anthroposophischen „Flugscheiben“-Affirmationen Herwig Duscheks oder den „Die-Götter-waren-Aliens“-Theoremen eines Erich von Däniken, der den mysteriösen Kontinent Atlantis zum Sitz dieser außerirdischen Mächte erklärte. Auch Ravenscroft hatte die Existenz von Atlantis besungen – und es zur Brutstätte der Arier erklärt:

„Auf diese Weise wurden die besten Eigenschaften in den erlesensten Exemplaren der Rasse enwickelt, und die Veredlung der arischen Völkcr schritt dadurch immer weiter fort. Die Herrscher der degenerierenden Rassen im Süden des Kontinents erkannten die Gefahr einer höheren Entwicklung der neuen arischen Rasse und erklärten ihr den Krieg. Aus dem Nebel, der den Fuß der Berge umgab, rückten den arischen Verteidigern Horden plündernder Krieger entgegen. Viele von ihnen waren riesengroß, hatten ein groteskes Aussehen und waren mit furchtbaren magischen Kräften ausgerüstet, die ihnen übermenschliche Stärke verliehen. Ihnen gegenüber setzten die Arier ihre neugewonnene Intelligenz ein, und die Fähigkeit zur Improvisation war wertvoller als alle von den Angreifern eingesetzte Magie.“ (Ravenscroft: Der Speer, a.a. O., 248)

Mögle-Stadel alias McCloud meinte, in Hitler doch noch ein Fünckchen esoterischer Hoffnung erkennen zu können: „Es gab keine Zufälle, höchstens Dinge, die gewöhnliche Menschen mit gewöhnlichen Gründen erklärten. Jetzt verzehrten die Flammen das Fleisch jenes Mannes, der zum Symbol für eiskalte Vernichtung geworden war. Feuer und Eis, im ewigen Spiel der magischen Kräfte. Es schien, als ob die Flammen Tribut forderten für die Millionen Toten, die zurückgeblieben waren. Doch das Feuer würde Asche gebären, und die Asche würde der Samen sein für einen neuen Phönix, der sich in fernen Zeiten mit mächtigem Flügelschlag aus ihr erheben würde.“ (McCloud: Die Schwarze Sonne…, a.a.O., 9).

Die „Nazi-Mysterien“

Der oben mehrfach zitierte britische Esoterikforscher Nicholas Goodrick-Clarke fasst Literatur vom Schlage eines Ravenscroft, McCloud usw. unter dem Stichwort „Nazi-Mysterien“ zusammen. Er sieht darin

„Bemühungen seitens der fiktionalen und der nichtfiktionalen Literatur…, den Nationalsozialismus entpolitisierend und enthistorisierend mit Religiösem, Okkultistischem, Esoterischem, Mythischem und dergleichen in Verbindung zu bringen und diese metaphysischen Bezüge als ‚wahres Wesen‘ der braunen Bewegung hinzustellen … Das Grundmuster bildet die Suggestion: Die Nazis wurden getrieben von verborgenen, okkulten, oder wie ein in diesem Kontext gern benutztes Fachwort heißt, ‚arkanischen‘ Mächten, die womöglich gar nicht von dieser Welt waren.“ (Goodrick-Clarke: Im Schatten, a.a.O., 223).

Sein deutscher Kollege Hans-Thomas Hakel weitet die Bestimmung auch auf kryptohistorische Verschwörungsmythen aus, die eine ‚okkulte‘ Vorgeschichte des Nationalsozialismus propagieren: „Niemand wird … leugnen wollen, dass es im Deutschland der zwanziger und dreißiger Jahre einen okkulten Boom gegeben  hat. Nur – darf man daraus schließen, dass deswegen Hitler und der Nationalsozialismus ebenso okkulte Ursprünge gehabt haben müssen? Dieser Trugschluss wird auch durch noch so viele Hinweise auf die damalige okkulte Szene in Deutschland nicht wahrer.“ (Hans Thomas Hakl: Nationalsozialismus und Okkultismus, in: Nicholas Goodrick-Clarke: Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus (1982), Wiesbaden 2004, 217)

Es ist richtig und wichtig, solche Verschwörungstheorien (auch) durch satirische Antworten wie den Film „Iron Sky“ oder „Die Mondverschwörung“ zu kontern. Allerdings werden dadurch die „Nazi-Mysten“ in keiner Weise beeindruckt. Das Dilamma esoterisch-okkulter Geschichtsdeutungen, wie sie die Anthroposophie pflegt, im Umgang mit einem Phänomen wie dem Nationalsozialismus, bleibt so unauflösbar wie die Theodizeefrage. Auch potente Theologen schlängeln sich nicht selten auf ähnlichem Niveau herum: „Manchmal möchten wir zu Gott am liebsten sagen: Hättest du den Menschen doch weniger groß gemacht, dann wäre er auch weniger gefährlich … Und doch wagen wir es dann letztlich nicht zu sagen, weil wir auch dankbar sein müssen, dass Gott die Größe geschaffen hat.“ (Joseph Ratzinger: Gott und die Welt. Glauben und Leben in unserer Zeit, Ein Gespräch mit Peter Seewald, Stuttgart/München 2000, 102). Hitler allerdings, „der aus dem Untersten aufgestiegen war“ und „als Nichtstuer herumgelebt“ habe, spricht Ratzinger diesen Status des Menschseins und der potenziellen Größe ab (ebd., vgl. S. 108).

Die schiere Feststellung, dass Esoterik, vielleicht religiöse Geschichtsdeutung generell, auch der Mystifizierung von Verbrechen gegen die Menschheit dienen kann (vgl. Armin Pfahl-Traughber: Rechtsextremismus in der Bundesrepublik, München 2006, 47-50), impliziert keine generelle Bewertung von Religion und Esoterik als regressiv oder barbarisch. Es ist im Gegenteil gerade die christlich-jüdische (insbesondere im ‚Alten‘ Testament begründete) Ethik der „Menschheit“ mit ihrer Feststellung, „dass die Beziehung zum Göttlichen über das Verhältnis zu den Menschen führt und mit der sozialen Gerechtigkeit zusammenfällt“ (Levinas: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt a.M. 1992, 32; vgl. Amos 6,4-6; Amos 9, 7; 3. Mose, 19,18/33-34; 5. Mose 30, 15/19), die eine jede Religionskritik materialistisch beerben muss, um an der Vorstellung von menschlicher Würde und Solidarität festzuhalten. Anders als unter Berufung auf die Idee der Menschheit lässt sich auch den geschichtsverzerrenden Deutungen nationalokkultistischer und rechts-esoterischer Provenienz nicht begegnen.

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Anthroposophie im Widerstand „Ja, gewiss kam es zu Spannungen…“ – ein Interview mit Peter Staudenmaier

5 Kommentare Add your own

  • 1. Andreas Lichte  |  9. April 2012 um 6:28 pm

    Sehr geehrter Herr Martins,

    in Ihrem Artikel schreiben Sie, Zitat:

    »“Rudolf Steiner war ein wahrhaft idealer Vorläufer des neuen Europa von Mussolini und Hitler. Ziel dieser Schrift war es, den Geist und die Figur dieses grossen, modernen, deutschen Mystikers für die Bewegung zu beanspruchen – eine Bewegung, die nicht nur politisch, sondern auch spirituell ist – eingeführt in die Welt von den zwei parallelen Revolutionen, der Faschistischen und der Nationalsozialistischen Revolution, denen Rudolf Steiner als echter Vorläufer und spiritueller Pionier in idealer Weise angehört.” (Ettore Martinoli, „Un preannunziatore della nuova Europa: Rudolf Steiner“, in: „La Vita Italiana“, Juni 1943, Seite 566, zit. bei Andreas Lichte)

    Rudolf Steiner wurde hier vom kulturell praktisch irrelevanten Stifter einer esoterischen Religion zum politischen Rassisten erklärt. Martinolis Fiktion stützt sich auf dekontextualisierte oder schlicht erfundene Belege.«

    Können Sie Belege für Ihre folgende Behauptung anführen, Zitat: „Martinolis Fiktion stützt sich auf dekontextualisierte oder schlicht erfundene Belege“ ?

    Zusatzinformation für die Leser:

    Ettore Martinoli war Mitbegründer der “Anthroposophischen Gesellschaft Italiens” [„Società Antroposofica d’Italia“], deren Sekretär Martinoli seit ihrer Gründung 1931 war.

    Peter Staudenmaier: „Italienische Anthroposophen fahren bis heute damit fort, Martinoli als einen ihren wichtigsten Ahnen zu ehren.“

    „Italian anthroposophists continue to honor Martinoli today as one of their chief forebears.“

    Quelle: http://www.waldorfcritics.org/articles/Anthroposophy-and-Fascism-in-Italy.html

    Anmerkung AM

    Die einzige bekannte Äußerung Hitlers über Steiner ist eine Ablehnung, dergleichen ist mir von Mussolini nicht bekannt. Ein Engagement Steiners in Vorläuferorganisationen der NSDAP gab es m.W. ebenfalls nicht. Im Artikel werden mehrere Begegnungskonstrukte kritisiert und wird die Einschätzung Helmut Zanders angeführt, dass „Elemente rassischen Denkens“ am Beispiel Steiner zwar parallel zum völkischen Diskurs gehen, aber keine Zugehörigkeit zur völkischen Bewegung implizieren. Erfundene Belege: Steiner sei im Wien der 1880er als Antisemit bekannt gewesen – Fehlanzeige. Steiners deutschliberaler Antijudaismus beschränkte sich in *dieser* Epoche auf eine bedingungslose Assimilationseinforderung, von biologischem Antisemitismus wie dem Martinolis keine Spur. Unter Bezug auf Steiners esoterische Bezeichnung des Judentums als anachronistische „Jahwe-Kultur“, durchaus im Rahmen seiner (sozialdarwinistischen) Rassentheorie, behauptet Martinoli überdies, Steiner habe die jüdischen Einflüsse auf die Moderne problematisiert. Das war aber zu Steiners Zeit zutiefst gesellschaftlich etabliert. Bereits damals dröhnten den realen Vorläufern des Nazismus die Köpfe vor ganz anderen Exzessen, die vor Mord und Totschlag nicht zuürckschreckten – bei Steiner allein gibt es noch nicht die Gemengelage, die Martinolis Überzeugungen mit dem italienischen Faschismus verbindet.

    Wenn Sie die Konstruktionen eines faschistischen italienischen Anthroposophen, der sich aktiv für antisemitische Rassengesetze einsetzte, für glaubwürdige Zeugnisse zur Einordnung Steiners halten, betreiben Sie ebenfalls eine Okkultisierung des Faschismus:
    “Niemand wird … leugnen wollen, dass es im Deutschland der zwanziger und dreißiger Jahre einen okkulten Boom gegeben hat. Nur – darf man daraus schließen, dass deswegen Hitler und der Nationalsozialismus ebenso okkulte Ursprünge gehabt haben müssen? Dieser Trugschluss wird auch durch noch so viele Hinweise auf die damalige okkulte Szene in Deutschland nicht wahrer.” (Hans Thomas Hakl: Nationalsozialismus und Okkultismus, in: Nicholas Goodrick-Clarke: Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus (1982), Wiesbaden 2004, 217) – zitiert im Obigen Artikel.

    ——————-

    Zum Hintergrund von Steiners Wiener Antisemitismus – um die schwierige Quellenlage am Beispiel aufzuzeigen: Die einzige Passage, in der ein Zeitgenosse Steiners Antijudaismus (jedenfalls vor Hans Büchenbacher, Vorsitzender der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland zu Beginn der Nazi-Ära und Schmuel Hugo Bergmann, Zionist und Anthroposoph) thematisiert, ist nur in Steiners stark apologetischer Autobiographie überliefert. Steiner schrieb in seinem Lebensrückblick 1925:

    „All dieses, das Seelenleben einer Frau, deren schönste Hingabe an ihre Söhne, das Leben der Familie innerhalb eines weiten Verwandten- und Bekanntenkreises lebte ich mit. Aber dabei ging es nicht ohne Schwierigkeit ab. Die Familie war eine jüdische. Sie war in den Anschauungen völlig frei von jeder konfessionellen und Rassenbeschränktheit. Aber es war bei dem Hausherrn, dem ich sehr zugetan war, eine gewisse Empfindlichkeit vorhanden gegen alle Äußerungen, die von einem Nicht- Juden über Juden getan wurden. Der damals aufflammende Antisemitismus hatte das bewirkt.

    [135] Nun nahm ich damals an den Kämpfen lebhaften Anteil, welche die Deutschen in Österreich um ihre nationale Existenz führten. Ich wurde dazu geführt, mich auch mit der geschichtlichen und sozialen Stellung des Judentums zu beschäftigen. Besonders intensiv wurde diese Beschäftigung, als Hamerlings »Homunculus« erschienen war. Dieser eminent deutsche Dichter wurde wegen dieses Werkes von einem großen Teil der Journalistik als Antisemit hingestellt, ja auch von den deutschnationalen Antisemiten als einer der ihrigen in Anspruch genommen. Mich berührte das alles wenig; aber ich schrieb einen Aufsatz über den »Homunculus«, in dem ich mich, wie ich glaubte, ganz objektiv über die Stellung des Judentums aussprach. Der Mann, in dessen Hause ich lebte, mit dem ich befreundet war, nahm dies als eine besondere Art des Antisemitismus auf. Nicht im geringsten haben seine freundschaftlichen Gefühle für mich darunter gelitten, wohl aber wurde er von einem tiefen Schmerze befallen. Als er den Aufsatz gelesen hatte, stand er mir gegenüber, ganz von innerstem Leid durchwühlt, und sagte mir: »Was Sie da über die Juden schreiben, kann gar nicht in einem freundlichen Sinn gedeutet werden; aber das ist es nicht, was mich erfüllt, sondern daß Sie bei dem nahen Verhältnis zu uns und unseren Freunden die Erfahrungen, die Sie veranlassen, so zu schreiben, nur an uns gemacht haben können.« Der Mann irrte; denn ich hatte ganz aus der geistig-historischen Überschau heraus geurteilt; nichts Persönliches war in mein Urteil eingeflossen. Er konnte das nicht so sehen. Er machte, auf meine Erklärungen hin, die Bemerkung: »Nein, der Mann, der meine Kinder erzieht, ist, nach diesem Aufsatze, kein ›Juden freund‹.« Davon war er nicht abzubringen. Er dachte keinen Augenblick daran, daß sich an meinem Verhältnis zu der Familie etwas ändern solle. Das sah er als eine Notwendigkeit an. Ich konnte noch weniger die Sache zum Anlaß einer Änderung nehmen. Denn ich betrachtete die Erziehung seines Sohnes als eine Aufgabe, die mir vom Schicksal zugefallen war. Aber wir konnten beide nicht anders als denken, daß sich in dieses Verhältnis ein tragischer Einschlag gemischt hatte.

    Es kam zu alledem dazu, daß viele meiner Freunde aus den damaligen nationalen Kämpfen heraus in ihrer Auffassung des Judentums eine antisemitische Nuance angenommen hatten. Die sahen meine Stellung in einem jüdischen Hause nicht mit Sympathie[136] an; und der Herr dieses Hauses fand in meinem freundschaftlichen Umgange mit solchen Persönlichkeiten nur eine Bestätigung der Eindrücke, die er von meinem Aufsatze empfangen hatte.“

    http://www.zeno.org/Philosophie/M/Steiner,+Rudolf/Mein+Lebensgang.+Eine+nicht+vollendete+Autobiographie/13.

    Antworten
  • 2. Gauloises  |  9. April 2012 um 7:49 pm

    Hallo,

    in einem früheren Artikel hast Du geschrieben: Steiner selbst schon hat über „Schamballah“ spekuliert und der Kinderbuchautor Michael Ende hat diesen Mythos in seinem Buch „Jim Knopf“ popularisiert. Ich finde das in diesem Zusammenhang relevant, auch wenns darum geht, was Schamballah mit der Anthroposophie zu tun hat:

    „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer brechen von der winzigen Insel Lummerland auf und retten schließlich die Prinzessin Li Si vor dem Drachen “Frau Mahlzahn”, den sie aber aus Barmherzigkeit nicht töten, woraufhin er sich zum “goldenen Drachen der Weisheit” verwandeln kann. Im Haus des Drachen in der Vulkanstadt “Kummerland” entsprang auch der “gelbe Fluss”, der Retter und Gerettete bis in Li Sis esoterisch-luftiges Heimtland Mandala zurückbringt. Am Ende erweist sich die Insel Lummerland als oberster Gipfel des (wie Atlantis) versunkenen Landes Schamballa. Das ist ein fernöstliches (und theosophisches) Sagenland, das auch Steiner gelegentlich im Zusammenhang mit seinem “Ätherischen Christus” als verlorenes und einst wiederzugewinnendes “Land” anführte. Jim, stellt sich heraus, ist Nachfahre und Erbe von Kaspar, einem der biblischen “Weisen aus dem Orient”, den Steiner in seiner Rassentheorie mit dem wie Atlantis im Meer versunkenen ”Lemuria” verknüpfte. Vor langer Zeit hatte der Drache Mahlzahn Schamballa im Kampf mit Kaspar irgendwie versenkt und stattdessen das sturmumtoste “Land, das nicht sein darf” aufsteigen lassen. Das wiederum wird von der “Wilden 13″ bewohnt, einer Piratentruppe, die am Ende feststellt, dass sie doch nur aus zwölf Personen besteht und sich dann Jim Knopf anschließt – eine Christusmetapher.“

    Anmerkung AM

    Hier noch der Link zum Artikel:

    „Kreative Fundgrube“? – Der „neue“ Steiner und die Kunst

    Natürlich: Schamballah war, genau wie Luzifer und Ahriman, etwas, das Ravenscroft auch bei Steiner schon vorgefunden hatte. Danke für den Kommentar.

    Antworten
  • 3. ketopuk  |  10. April 2012 um 8:12 am

    danke ansgar, sehr erhellend!

    noch mehr lesestoff… (kennst du?)

    http://www.berzinarchives.com/web/de/archives/advanced/kalachakra/shambhala/nazi_connection_shambhala_tibet.html

    alexander berzin zählt hier am anfang seines artikels weitere frühe – englische und französische – quellen bzw. publikationen zum thema auf… insgesamt etwas mit vorsicht zu genießen. am schluss ein kommentar zu ravenscroft.

    zu agarthi und schamballa schreibt berzin ausführlich hier: http://www.berzinarchives.com/web/de/archives/advanced/kalachakra/shambhala/mistaken_foreign_myths_shambhala.html

    und – besonders über asiatische politische implikationen – hier: http://www.berzinarchives.com/web/de/archives/advanced/kalachakra/shambhala/russian_japanese_shambhala.html

    Anmerkung AM

    Danke meinerseits! Interessante Hinweise, aber die Behauptung des Autors, dass die Nazis selbst diesen „verschrobenen okkultistischen Vorstellungen“ anhingen, würde ich nur sehr vorsichtig angehen.

    Antworten
    • 4. ketopuk  |  10. April 2012 um 11:43 am

      es ist immer heikel, zu verallgemeinern und von „den Nazis“ zu sprechen. Nazis waren letztlich auch heterogen und jedes grüppchen hielt die eigenen ideen für „den“ nationalsozialismus…

      Anmerkung AM

      Genau deswegen bestreite ich ja, dass „der“ Nazismus unter okkulten Einflüssen stand – und insbesondere bei der Person Hitler selbst. Das sind längst wderlegte Fiktionen.

  • 5. Andreas Lichte  |  11. April 2012 um 9:38 am

    Sehr geehrter Herr Martins,

    zu Kommentar 1 – „9. April 2012 um 6:28 pm“ – und Ihrer Antwort:

    Um nachzuweisen, dass Ettore Martinoli, Mitbegründer der “Anthroposophischen Gesellschaft Italiens”, Rudolf Steiner zu unrecht als einen idealen Vorläufer von Adolf Hitler bezeichnet, ist eine allgemeine Aussage eines Sekundärtextes – wie von Nicholas Goodrick-Clarke – nicht geeignet.

    Relevant in diesem Zusammenhang ist, was Martinoli selber sagt, sie müssen die Martinoli-Originaltexte analysieren und vorstellen.

    Ich selber stand vor einer ähnlichen Frage:

    In Peter Staudenmaier, “Der deutsche Geist am Scheideweg: Anthroposophen in Auseinandersetzung mit völkischer Bewegung und Nationalsozialismus” heisst es auf Seite 15:

    „Um die Zusammengehörigkeit von anthroposophischer und nationalsozialistischer Rassenlehre zu dokumentieren, zitierte er [Richard Karutz] Steiner und Hitler nebeneinander als Beweis, „dass sich hierin die auf Blut, Boden, Vererbung aufgebaute Weltanschauung des Dritten Deutschen Reiches und die Geisteswissenschaft nicht widersprechen“.“

    Ich habe Peter Staudenmaier gebeten, mir den Originaltext von Karutz zu schicken, Auszug aus meiner mail:

    „Ich würde mich wirklich freuen, wenn Sie mir den Zitat-Vergleich Steiner–Hitler von Karutz schicken könnten !

    Ich bin gespannt …

    Ich habe Adolf Hitller, „Mein Kampf“, gelesen, nach meiner „Ausbildung“ zum Waldorflehrer am „Seminar für Waldorfpädagogik Berlin“.

    Ich wollte wissen, ob sich Hitler und Steiner ähnlich geäussert haben. Meines Erachtens: Nein.

    Hitler setzt einfach voraus, dass der Arier überlegen ist, und der Jude eine Gefahr. Eine „Rassenlehre“ gibt es in „Mein Kampf“ nicht. Anders als bei Steiner !

    Wer ist also der üblere Rassist ?“

    Anmerkung AM

    Um zu überprüfen, ob Steiner ein Vorläufer Mussolinis oder Hitlers war, genügt eine Überprüfung von a) Steiners Vita, b) Steiners politischen Konzepten, c) Steiners rassentheoretischen Erörterungen. Dazu hat Helmut Zander und jüngst eben Peter Staudenmaier zur Genüge publiziert, wie Sie wissen, da sie die einschlägigen Passagen selbst ernstnehmen bzw. zitieren. Auch die (Ihnen bekannten?) älteren Publikationen von Goodrick-Clarke, James Webb usw. haben hier wichtiges zutage gefördert. Eine Steinerrezeption durch Mussolini, Hitler oder Himmler ist mir unbekannt, zwei exemplarische Argumente bei Martinoli haben ich oben kritisiert. Wenn anthroposophische Faschisten Steiner durch ihre Brillen lasen, ist das als Quelle für die korrekte Einordnung Steiners so irrelevant wie deren Berufung auf Goethe, Jakob Böhme oder die Bibel als vermeintlich „arischen“ Text: Das ist nicht mehr und nicht weniger als namedropping – irrelevant und als Beleg unseriös. Es erläutert lediglich, dass diese faschistischen Anthroposophen, genau wie die der Gegenwart, ihre eigenen Überzeugungen tüchtig in Steiner hineinlesen konnten.

    Da Hitler die Vernichtung der Juden fordert und Steiner bedingungslose Assimilation – da Hitler Politik auf halluzinierte Rassenkämpfe gründen will und Steiner nicht – beantwortet sich Ihre Frage von allein. Ich frage mich: haben Sie da bloß Informationslücken oder halten Sie es tatsächlich für „rassistischer“, wenn jemand „Marsgeister“ oder „Neger“-„Hinterhirne“ bemüht, als wenn er Genozid und Völkermord gutheißt? Sind okkulte Details einer Rassenlehre in Ihren Augen schlimmer als politischer Vernichtungswille?

    Indem Sie Martinoli als Quelle zur authentischen Einordnung Steiners präsentieren, betreiben sie (jedenfalls in meinen Augen) genau die Geschichtsverwässerung, die ich kritisiere. Statt das noch auf die Spitze zu treiben, sollten Sie vielleicht rechtzeitig auf Distanz zu solchen Vorstellungen gehen: Käme am Ende Nazi-Banalisierung durch „Steiner war genauso schlimm“ raus, wären Sie vermutlich nicht nur in meinen Augen diskreditiert.

    Wenn Sie tatsächliche esoterische Parallelerscheinungen zu den frühen Nazis suchen, rate ich Ihnen, sich die Schriften von Adolf Lanz und Guido List anzuschauen: Da finden sich auch schon Vernichtungs- und Weltkriegspläne im Namen der „arischen Rasse“. Auch hier fragt sich allerdings, ob sie Ideengeber oder Vorläufer Hitlers waren, relevante Einflüsse lassen sich kaum belegen.

    Die Bücher von Karutz sind leicht erreichbar. Da er als Professor für Ethnologie auch in nichtanthroposophischen Medien publizierte, kommt man da glücklicherweise verhältnismäßig leicht ran.

    Antworten

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Hallo allerseits,
Ich bin Ansgar Martins, geb. 1991 und war bis Juni 2010 Schüler an der FWS Mainz. Inzwischen studiere ich Religionsphilosophie, Soziologie und Geschichte in Frankfurt a. M. Dieser Blog ( dessen "Leitbild" ganz oben rechts ) ist mein persönliches Projekt, um die oft einseitigen und selbstgerechten Pro- und Contra-Positionen in der Debatte um die Waldorfpädagogik und Anthroposophie kritisch zu kommentieren. Ich hoffe, das gelingt, und freue mich über Rückmeldungen jeder Art!

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Da ich dieses Risiko gerade bei den bekannten Verstiegenheiten anthroposophischer Websites nicht eingehen will, distanziere ich, Ansgar Martins, mich hiermit vorsorglich von ausnahmslos allen Gestaltungen und Inhalten sämtlicher fremder Internetseiten, auch wenn von meiner Seite ein Link auf besagte Internetseite(n) gesetzt wurde.

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