Esoterische Alternativen im deutschen Kaiserreich

27. November 2012 at 12:03 am 6 Kommentare

 – spirituelle Sucher, wechselhafte Weltanschauungen und der Aufstieg des modernen Okkultismus

von Peter Staudenmaier

Erst in den letzten beiden Jahrzehnten hat sich eine historische Analyse der neuzeitlichen Esoterik etabliert, die die Religionsgeschichte mit Fokus auf neureligiöse und ‚okkulte‘ Bewegungen gegenliest. Die Eingrenzung ihres Gegenstandes ist immer noch umstritten. Peter Staudenmaier erläutert im folgenden Text die okkulte Bewegung im wilhelminischen Deutschland – also den geschichtlichen Kontext, in dem auch die Anthroposophie entstand. Dabei schildert er Verflechtungen und Gemeinsamkeiten von „Mainstream“-Esoterikern (wie Theosophie und eben Anthroposophie) mit politisch „extremen“ Strömungen wie der völkischen Ariosophie. Staudenmaier deutet den Okkultismus als „alternative Moderne“, als Versuch, traditionelle Grenzen von Glaube und Vernunft aufzuheben. Dem Text liegt ein im Oktober 2012 auf der German Studies Association Conference gehaltener Vortrag zugrunde. Die deutsche Übersetzung wurde von Peter Staudenmaier korrigiert.

Vielen heutigen Beobachtern scheint die Welt okkulter und esoterischer Gruppen unvorstellbar fremdartig und vielleicht unverständlich, sie erscheint als kompromisslose Ablehnung des aufklärerischen Erbes. Für weite Kreise gebildeter Deutscher in der Zeit des deutschen Kaiserreichs allerdings stellte das Okkulte und Esoterische eine stark anziehende alternative Form von Aufklärung dar: Ein Weg, der erleuchtendes Wissen über die fernsten Weiten des Kosmos und die dunkelsten Tiefen der Seele versprach, ein Zugang zu versteckten Quellen spiritueller Weisheit und klarer Einsicht in die Geheimnisse des Universums. Die Anhänger und Praktizierenden verschiedenster esoterischer Strömungen behandelten okkulte Weltsichten als Antithese zum Materialismus, die eine entzauberte Welt wieder verzaubern könne, sie formulierten Schlüsselthemen der Moderne neu und erweiterten Bildungs-Ideale zu einem lebenslangen Prozess der Fortentwicklung menschlicher Fähigkeiten.

Dieser Vortrag untersucht an bekannten literarischen und künstlerischen Personen ebenso wie an obskuren okkultistischen Autoren einige der Gründe, aus denen heraus eine ganze Reihe deutscher Denker den etablierten Wissensformen esoterische und akademisch sanktionierte Alternativen vorzog. Das grundlegende Muster, das sich herausbildete, bestand nicht nur aus spirituellen Suchern, die unkonventionelle Themenfelder erkundeten, sondern auch aus praktisch orientierten Personen, die sich oft zu traditionellen Werten und Überzeugungen bekannten und auf wissenschaftliche Entdeckungen und akademische Innovationen antworteten. Der historische Befund zeigt eine große Flexibilität esoterischer Traditionen im deutschen Kaiserreich, dieselben Figuren adaptierten – zeitweise oder gleichzeitig – ein weites Spektrum von manchmal widersprüchlichen okkultistischen Standpunkten und unterhielten dabei vielfältige Beziehung zum lebensreformerischen Milieu, zu völkischen Zirkeln, neuheidnischen Strömungen und minoritären Zweigen des Christentums – unter anderem. Diese esoterischen Pioniere kombinierten auf unterschiedlichem Wege universalistische Grundsätze und kosmopolitische Ansichten mit einer starken Betonung der deutschen geistigen Mission.

Spirituelle Suche und Wissenschaft im Wandel (1880-1920)

In den Jahrzehnten um 1900 waren wichtige Teile des deutschen Bildungsbürgertums zu neuen Ansätzen in Wissenschaft, Philosophie und wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden hingezogen, zum Teil angeregt von einer erfolgreichen Popularisierung der Wissenschaft, aber auch von Innovationen und Entdeckungen der verschiedenen Naturwissenschaften. In einer Zeit, die aufstrebendes Vertrauen in die deutsche Wirtschaft, parallele Entwicklungen im Erkenntnisgewinn der Wissenschaften und deren Verbindung mit der Gesellschaft umfasste, schien dieser neue intellektuelle Horizont großartige Aussichten auf beispiellose Möglichkeiten anzubieten: Könnten wir schließlich die Geheimnisse des Kosmos und der Seele begreifen? Zur selben Zeit verunsicherte die Forschung in so unterschiedlichen Feldern wie Bibelkritik, Geschichte und Physik die traditionellen Wissenskonzepte. Der moderne Aufschwung des deutschen Okkultismus wuchs aus dieser Mixtur und bot eine reiche Palette von Lösungen für die Rätsel dieser Ära an.

Mit dem Aufstieg der modernen theosophischen Bewegung, die mit einer „Synthese von Wissenschaft, Religion und Philosophie“ warb (so der Untertitel von Helena Blavatskys Buch „Die Geheimlehre“ von 1888, ein zentraler theosophischer Text, großenteils in Deutschland entstanden), sammelten die okkulten Alternativen eine wachsende Zahl von Anhängern und neugierigen Zaungästen.

Helena Petrovna Blavatsky 1887, ein Jahr vor dem Erscheinen ihrer „Geheimlehre“ (Foto:Wikipedia)

Esoterische Ansätze versprachen nie da gewesene Erkenntnisse durch die Entwicklung höherer Fähigkeiten, verschiedene Meditationsformen, einen Weg der Einweihung oder andere Techniken. Praktizierende und Förderer vertraten, dass okkulte Methoden der persönlichen Erleuchtung, spirituellem Wachstum, Heilung, dem Erreichen höherer Bewusstseinsebenen, der Erkenntnis von Zukunft oder Vergangenheit, der Entdeckung oder Wiederentdeckung von Geheimwissen über das Innenleben der Welt und die Kultivierung ungeahnter Seelenkräfte dienten. Seinen Enthusiasten bot der Okkultismus an, die Verbindungen zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos zu enthüllen sowie Geist und Natur in eine wiederverzauberte Welt zu vereinigen. Verfechter der Esoterik präsentierten ihre Ansätze als eine „werdende Wissenschaft“ mit respektablen Vorgängern und glänzenden Aussichten.[1]

Diese Ansprüche stießen damals auf entschiedenen Widerstand und bleiben bis heute kontrovers. Wie ist ihre historische Bedeutung einzuschätzen? Welche Rolle spielten sie im facettenreichen kulturellen Kontext des deutschen Kaiserreichs? Wieso waren sie für Aristokraten und Künstler, für gebildete Eliten und unkonventionelle Bohèmiens attraktiv, für diejenigen mit wissenschaftlicher Ausbildung und kreativen Bestrebungen, in Deutschland und darüber hinaus? Ich werde darlegen, dass adäquate Antworten auf diese Fragen einen Wechsel der wissenschaftlichen Perspektive erfordern, in Richtung einer stärker kritischen und kontextualisierenden Beschäftigung mit dem Okkulten in der modernen deutschen Geschichte.

Die Wechselhaftigkeit esoterischer Weltsichten im deutschen Kaiserreich

Viele Individuen, die in der Zeit des Kaiserreichs zu esoterischen Weltsichten hingezogen waren, identifizierten sich nicht nur mit einer einzigen Perspektive, Organisation oder Ausprägung, sondern mit mehreren Richtungen okkulten Denkens und Handelns. Gleichzeitige oder phasenweise Beteiligung in unterschiedlichen esoterischen Strömungen war eher typisch und kann zum Teil auf zwei miteinander verbundene Faktoren zurückgeführt werden: Der Hang esoterischer Akteure, sich in fortlaufender spiritueller Suche, in Experimenten und Vergleichen widersprüchlicher Alternativen zu engagieren und der zerstrittene Charakter des okkulten Milieus als Ganzem. Ein weiterer relevanter Faktor beruhte auf der Aneignung vorgeblich östlicher geistiger Traditionen in einem westlichen Rahmen. Diese Mehrfach-Zugehörigkeiten beleuchten auch die Fähigkeit esoterischer Konzepte, nationale Grenzen zu überschreiten; einige der prominenteren Strömungen zogen  Mitglieder nicht nur aus Deutschland sondern auch aus Österreich und der Schweiz an.[2]

Eine Fallstudie kann diese Dynamiken erhellen: Der deutsch-schweizerische Okkultist Karl Heise (1872-1939) wurde in Berlin geboren und zog um 1905 nach Zürich, 1907 wurde er in theosophischen Zirkeln aktiv. In kurzer Folge trat Heise einer theosophischen Loge, der ariosophischen Guido-von-List-Gesellschaft und der Mazdaznanbewegung bei, dann wurde er 1916 Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft. Er lebte eine zeitlang in einer Mazdaznan-Kommune mit dem Namen Aryana und gab in den späten 20ern die Zeitschrift „Gral: Zeitschrift für Sucher eines esoterischen Christentums“ heraus. Heise war ein Schüler Rudolf Steiners und korrespondierte mit anderen Anthroposophen. Seine Publikationen bedienten sich intensiv von Blavatsky, List, Steiner sowie anderen Figuren und wurden auf einer weiten Reihe esoterischer Plattformen veröffentlicht.[3] Mitglied in einer neuen Gruppierung zu werden, bedeutete für Heise nicht, die früheren aufzugeben und sein Werk präsentierte ein Amalgam esoterischer Überzeugungen, die aus einem ekklektischen Spektrum von Quellen stammten. Die Periodica, in denen er schrieb, zeigen ein ähnlich vielfältiges Profil. Der Untertitel der Zeitschrift „Theosophische Kultur“ lautete beispielsweise “Monatsschrift zur Erweckung und Pflege der höheren Seelen- und Geisteskräfte und zur Verwirklichung der Idee einer allgemeinen Menschenverbrüderung auf der undogmatischen Grundlage der göttlichen Selbsterkenntnis.” Es war das Organ der Internationalen Theosophischen Verbrüderung in Leipzig. Derselbe Verlag publizierte auch die „Astrologische Rundschau“, herausgegeben von Rudolf von Sebottendorf.

Solche Überlagerungen waren in der Wilhelminischen Periode üblich und verbreiterten sich in die Weimarer Jahre hinein. Die Zeitschrift „Psyche: Monatlich erscheinende Zeitschrift für den gesamten Okkultismus und alle Geheimwissenschaften, für wissenschaftliche Erforschung der okkulten Phänomene des Seelenlebens, ferner für Indische Philosophie, Theosophie, Spiritualismus, wahre, ethische Kultur, naturgemäße Lebensweise und Sozialreform“ wurde von Karl Brandler-Pracht (1864-1939) herausgegeben, einer wichtigen Figur in okkulten und astrologischen Kreisen, der auch das „Zentralblatt für Okkultismus“ (veröffentlicht im Max Altmann Verlag, dem führenden theosophischen Verlagshaus) herausgab. „Psyche“ erschien mit einem „Beiblatt“, die „Astrologischen Blätter: Zentral-Organ für wissenschaftliche Astrologie“. Zusätzlich zu Artikeln von Brandler-Pracht und regelmäßigen Beiträgen von Heise bot „Psyche“ Schriftstücke von Peryt Shou (Pseudonym von Albert Schultz, 1873-1953), einem Unterstützer der Theosophie und der „deutschen Neugeistbewegung“, dem Ariosophen und Astrologen Ernst Ißberner-Haldane und dem deutsch-russischen Autoren Gregor Schwartz-Bostunitsch an, der nacheinander ein Theosoph, ein Anthroposoph, ein Ariosoph, ein Anhänger von Artur Dinters völkisch-religiöser Bewegung, ein selbsternannter „christlicher Okkultist“ und dann ein vehementer Gegner der esoterischen „falschen Propheten“ war. Brandler-Pracht war auch Herausgeber von „Prana: Zentralorgan für praktischen Okkultismus, Monatsschrift zur Förderung der okkultistischen Bewegung, Organ für angewandte Geheimwissenschaften“  (vertrieben durch das Theosophische Verlagshaus in Leipzig) von seiner Gründung 1909 bis 1914; 1915 übernahm der Ariosoph Johannes Balzli die Herausgeberschaft. „Prana“ enthielt Beiträge von Balzli, Brandler-Pracht, Peryt Shou, C. W. Leadbeater, Rudolf Steiner, Franz Hartmann, Hugo Vollrath, Ernst Boldt und vielen anderen.

Weitere Beispiele für die Fluidität des esoterischen Milieus sind Harald Grävell und Max Seiling, beide durchliefen eine beträchtliche universitäre Erziehung, bevor sie sich zum Okkultismus wandten. Grävell (1856-1932) war ein völkischer Autor, der theosophische, anthroposophische und ariosophische Themen kombinierte; seine Arbeiten erschienen in vielen der oben erwähnten Publikationsorganen sowie in Buchform, etwa Harald Grävell, Aryavarta (Leipzig: Akademischer Verlag, 1905), Grävell, Die arische Bewegung, eine ethische Bewegung (Leipzig: Theosophisches Verlagshaus, 1909), and Grävell, Zarathustra und Christus (Leipzig: Baumann, 1913). In Berlin geboren, lebte er zu verschiedenen Zeiten in Straßburg, Wien und Breslau, außerdem in Belgien und England. Wie viele andere Okkultisten legte er Wert auf lebensreformerische Prinzipien in einem esoterischen Kontext. Ebenso sein bayrischer Zeitgenosse Seiling (1852-1928), ein langjähriger Theosoph, Anthroposoph und Ariosoph, der sich später zur katholischen Mystik wandte, dabei aber eine esoterische Auffassung beibehielt. Wie Heise war er ein Mitglied sowohl der Guido-von-List- als auch der Anthroposophischen Gesellschaft. Seiling war auch Vegetarier sowie ein Befürworter von Tierrechten, aktiv in der Anti-Vivisektions-Bewegung und ein Sympathisant der Naturheilkunde.[4]

Das Zusammenlaufen ganz verschiedener okkultistischer Ideen in Leben und Werk von Personen wie diesen zeigt, dass eine bedeutsame Neubewertung verwickelter Zweige des modernen deutschen Okkultismus angebracht ist, die jede einfache oder gradlinige Trennung zwischen esoterischen „Mainstream“-Tendenzen wie Theosophie und Anthroposophie und „extremen“ Varianten wie der Ariosophie hinterfragt. Überdies ging das Spektrum von Themen, das in den Schriften und Aktivitäten der wilhelminischen Okkultisten behandelt wurde, weit über die spirituelle Standardkost hinaus und ging sowohl auf alltäglich anstehende Themen ein als auch auf kontroverse soziale Fragen, sowie Fragen der persönlichen Moral und des Lebensstils, auf aktuelle Themen und dringende Gegenstände des öffentlichen Interesses, beispielsweise Deutschlands Stellung in der Welt sowie die Ursachen und Konsequenzen des Ersten Weltkriegs. Jedes dieser Themen wurde von einem esoterischen Standpunkt mit einem Blick auf seine weiteren kulturellen Zusammenhänge untersucht. Sogar während sie sich vom angeblich leblosen Bereich akademischen Wissens, ‚materialistischer‘ Wissenschaft, den starken Beschränkungen lediglich diesseitiger Informationen und Experimente distanzierten, waren die Okkultisten oftmals universitär geschulte Weltmänner, weltoffen und weitgereist. Während sie den Anspruch der Wissenschaftlichkeit für ihre eigenen Weltsichten erhoben, bewegten sie sich ohne Weiteres zwischen esoterischen und exoterischen Sphären, zwischen stark unterschiedlichen Erkenntnis-, Urteils- und Diskursformen.

Okkultismus als Alternative Moderne

In der neuen geistigen Landschaft des deutschen Kaiserreichs, flankiert von technischem Fortschritt, wissenschaftlichem Erfolg und einer zunehmend wichtigen Rolle auf der europäischen und globalen Bühne, könnten esoterische Neigungen nicht so sehr als Verirrung, sondern als Erweiterung des sich rapide ausbreitenden Modernisierungsprozesses erscheinen. Ein einflussreicher jüngerer Interpretationsansatz behauptet, dass okkulte Weltsichten und Praktiken, seit der moderne deutsche Okkultismus versuchte, die Trennung von Wissenschaft und Religion zu überschreiten und wissenschaftliche Methoden in einem Rahmen neu zu gestalten, als eine eigene Form wissenschaftlicher Forschung gesehen werden sollten, die „verbunden waren mit der liberalen Version einer Gesellschaft, die sich langsam in eine aufgeklärtere Zukunft entwickelt.“[5]

Es gab zweifellos viele liberale, kosmopolitische und progressive Aspekte im wilhelminischen und Weimarer Okkutismus und in der Tat sahen Adepten der Esoterik ihre Aktivitäten als innovative Form von Wissenschaft. Aber diese Perspektive vernachlässigt die ebenso wichtigen Strömungen des Okkultismus, die sich nicht durch eine weitläufige Überschneidung mit wissenschaftlichen und liberalen Ambitionen, sondern mit lebensreformerischen und völkischen Tendenzen auszeichneten, ein Element, das die langjährige „Verbindung zwischen Theosophie und völkischer Weltanschauung“ reflektiert.[6] Die Verbindung war paradigmatisch für einen größeren Zusammenfluss von Ideen im Kaiserreich, ein maßgebliches Beispiel für “das tiefere Eindringen lebensreformerischer, theosophischer, astrologischer und völkischer Gedanken in breite bürgerliche Schichten des deutschen Volkes.”[7] Diese lebensreformerischen und völkischen Themen waren genauso Teil der aufsteigenden Moderne des Kaiserreichs wie Industrialisierung, innenpolitische Reform oder Fortschritte in der Physik und nahmen an derselben ambivalenten Modernisierungsdynamik und deren zweideutigen sozialen Folgen teil. Die Feststellung, dass der moderne Charakter der Esoterik den Okkultismus notwendigerweise mit liberalen, rationalen und wissenschaftlichen Trends – den angeblichen Säulen einer modernen Aufassung – verbinde, basiert auf einem verkürzten Begriff der Moderne und verkennt das entscheidende Streben der Okkultisten, ein alternatives Modell von Moderne zu formulieren.

Ein paradoxer Faktor, der diesen Umstand vielfältig illustriert, ist die Rolle rassentheoretischen Denkens in modernen esoterischen Bewegungen. Obwohl Wissenschaftler, die die liberalen und rationalen Facetten des Okkultismus unterstreichen, dazu tendieren, rassentheoretisches Denken als einen relativ unbedeutenden Rückfall zu schildern, der in früheren Darstellungen des Themas unfairerweise überbetont wurde, stellt die rassentheoretische Komponente esoterischer Weltsichten einen ihrer wichtigsten modernen Züge dar. Rassenkunde war ein prominenter Teil des wissenschaftlichen Mainstreams im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, und rassentheoretische Voraussetzungen durchzogen liberale, evolutionäre und progressive Gesellschaftsmodelle. In der selektiven Aneignung wissenschaftlicher Themen und liberaler Motive nahmen Okkultisten eine Vielzahl von Ideen über Rasse auf und durchtränkten sie mit spiritueller Bedeutung. Theosophische Denker bauten Rassenkategorien in ein umfassendes Evolutionsmodell ein, das geistige und physische Aspekte vereinte und das sie als Alternative zur angeblich materialistischen Wissenschaft des Fin de siècle aufstellten. Dieses Konzept spirituell-rassischer Evolution gab das Gerüst ab für viele esoterische Lehren und begründete okkulte Sichtweisen auf Reinkarnation, Karma, die Entwicklung der Seele, die Evolution der Menschheit und die Entfaltung des kosmischen Schicksals. Rasse wurde so zu einem Schwerpunkt für esoterische Bemühungen, wissenschaftliche und spirituelle Vorstellungen von Fortschritt zu verbinden – und ein Symbol für den modernen Charakter okkultistischen Denkens. Für esoterische Denker in Deutschland waren Rassenthemen selbstverständlich mit nationalen verknüpft, eine Entwicklung, die von esoterischen Überschneidungen  mit dem völkischen Milieu angeregt wurde. Diese nationalistischen Neigungen des deutschen Okkultismus wurden besonders klar am Ende des Kaiserreichs, mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.[8] In diesem Sinne waren Okkultisten Kinder ihrer Zeit, selbst wenn sie versuchten, die Beschränkungen ihrer Zeitgenossen zu überschreiten. Ebenso zeitbedingt war der Einfluss des rassentheoretischen Denkens auf Vertreter der Esoterik. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert waren Rassentheorien, die heute bestenfalls als abstrus erscheinen, oftmals ein Zeichen von Gelehrsamkeit und Kultiviertheit.

Um esoterische Rassenvorstellungen historisch angemessen zu begreifen, muss man versuchen, diese Vorstellungen in ihrem geschichtlichen Kontext zu verstehen, statt sie von einem post-1945-Standpunkt daraufhin durchzusehen, was davon heutzutage salonfähig wäre und was nicht. Dabei sollte man auch klar erkennen, dass viele dieser Überzeugungen rassistisch waren, trotz der hohen Idealen ihrer Befürworter. Obwohl geneigte Beobachter der okkultistischen Szene generell zögern, dies zuzugestehen, ist dieses Motiv esoterischen Denkens zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht spurlos verschwunden, weder in Deutschland noch anderswo.[9]

Solche Herausforderungen haben der Esoterikforschung immer wieder den Vorwurf eines verfehlten Unternehmens eingebracht. Die Vielfalt und Komplexität des Gegenstandes und seine geschichtlichen Widersprüche können nur schwierig adäquat aufgeklärt werden, umso mehr als das Thema weiterhin eine besondere Faszination auf Verschwörungstheoretiker und diejenigen ausübt, die glauben, dass finstere okkulte Einflüsse den Gang der Geschichte heimlich mit einem Schleier verdecken, den zu durchdringen Historiker machtlos sind. Diese Situation erfordert besondere Aufmerksamkeit im Umgang mit „dem grauen Bereich von Publikationen auf halbem Weg zwischen Okkultismus und wissenschaftlicher Forschung.“[10] Sie zeigt auch, dass eine gelassene und historisch informierte Antwort angebracht ist, wenn alarmierte Berichte warnen, dass okkulte Pseudowissenschaften die Universität unterwandern.[11] Und sie kann als Erinnerung daran dienen, dass eine angemessen empathische Annäherung an die Themen unserer Untersuchung bedeutet, sowohl Okkultisten als auch ihre Kritiker zu verstehen; frühe Kritiken esoterischen Denkens enthielten zum Teil bedeutende Einsichten und verdienen weiterer historischer Aufmerksamkeit.[12]

Gab es also eine esoterische Aufklärung im Deutschland des Fin de siècle? Okkultistische Tendenzen verstanden sich selbst als Alternativen zum wissenschaftlichen Mainstream, zur etablierten Religion, zu konventionellen Formen von Rationalität und zum gesellschaftlichen status quo; ihre esoterischen Ambitionen drückten neue Ziele und Interessen für die Mitglieder eines aufsteigenden Bildungsbürgertums inmitten sozialer Unsicherheit, politischer Stagnation und kultureller Unbeständigkeit aus. Sie prophezeiten eine neue persönliche Aufklärung, teilweise in Spannung mit und teilweise eine Erweiterung der Prinzipien der klassischen Aufklärung. Dass ihre Ambitionen zur Verflechtung mit rassistischen und nationalistischen Mythen gelangten – war keineswegs außergewöhnlich im Kontext dieser Zeit. Aufmerksamkeit für diese Verflechtung ist eine Grundvoraussetzung, um die nachfolgende Entwicklung esoterischer Ideen und Aktivitäten in der Weimarer und NS-Zeit zu verstehen. Für Germanisten, Kulturhistoriker, Religionshistoriker und andere können Forschungen zur umstrittenen Stellung okkultistischer Unternehmen eine Möglichkeit sein,  um geläufige Annahmen über Modernität und ihre Gegensätze, Wissenschaft und ihre Gegensätze sowie diese scheinbar weltfremden Versuche, die vermeintlich restriktiven Grenzen von Wissenschaft, Religion und Vernunft neu zu überdenken.


[1] Vgl. Ferdinand von Paungarten, Werdende Wissenschaft: Eine kritische Einführung in esoterische Forschung (Leipzig: Max Altmann, 1913). Paungarten war ein Anhänger Rudolf Steiners. Zum Hintergrund vgl. Ekkehard Hieronimus, “Okkultismus und phantastische Wissenschaft” in Horst Bürkle, ed., Kursbuch der Weltanschauungen (Frankfurt: Ullstein, 1980), 301-49; Justus Ulbricht, “‘Buddha’, ‘Sigfrid’ oder ‘Christus’: Religiöse Suchbewegungen als Ausdruck kultureller Identitätskrisen im deutschen Bildungsbürgertum” Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 4 (1998), 209-26; Michael Bergunder, “Das Streben nach Einheit von Wissenschaft und Religion: Zum Verständnis von Leben in der modernen Esoterik” in Eilert Herms, ed., Leben: Verständnis, Wissenschaft, Technik (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2005), 559-78; Sabine Doering-Manteuffel, Das Okkulte: Eine Erfolgsgeschichte im Schatten der Aufklärung (Munich: Siedler, 2008); Helmut Zander, “Esoterische Wissenschaft um 1900” in Dirk Rupnow, Veronika Lipphardt, Jens Thiel and Christina Wessely, eds., Pseudowissenschaft – Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte (Frankfurt: Suhrkamp, 2008), 77-99; Heather Wolffram, The Stepchildren of Science: Psychical Research and Parapsychology in Germany, c. 1870-1939 (New York: Rodopi, 2009); Corinna Treitel, “What the Occult Reveals” Modern Intellectual History 6 (2009), 611-25; Claudia Barth, Esoterik – die Suche nach dem Selbst: Sozialpsychologische Studien zu einer Form moderner Religiosität (Bielefeld: Transcript 2012). Für eine anthropologische Perspektive auf die Geschichte der Grenzlinien des “Okkulten” und der “Wissenschaft” vgl. Stanley Tambiah, Magic, science, religion, and the scope of rationality (Cambridge University Press, 1990).

[2] Vgl. Wouter Hanegraaff, “On the Construction of ‘Esoteric Traditions’” in Antoine Faivre and Wouter Hanegraaff, eds., Western Esotericism and the Science of Religion (Leuven: Peeters, 1998), 11-61; Titus Hjelm, “Tradition as Legitimation in New Religious Movements” in Steven Engler and Gregory Grieve, eds., Historicizing “Tradition” in the Study of Religion (New York: de Gruyter, 2005), 109-25; Olav Hammer, “Schism and consolidation: The case of the theosophical movement” in James Lewis and Sarah Lewis, eds., Sacred Schisms: How Religions Divide (Cambridge University Press, 2009), 196-217; Jörg Wichmann, “Das theosophische Menschenbild und seine indischen Wurzeln” Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 35 (1983), 12-33; Gauri Viswanathan, “The Ordinary Business of OccultismCritical Inquiry 27 (2000), 1-20; Karl Baier, Meditation und Moderne: Zur Genese eines Kernbereichs moderner Spiritualität in der Wechselwirkung zwischen Westeuropa, Nordamerika und Asien (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009); Douglas McGetchin, Indology, Indomania, and Orientalism: Ancient India’s Rebirth in Modern Germany(Associated University Presses, 2009), 132-38, 169-77; Christine Maillard, “Ex oriente lux. Zur Funktion Indiens in der Konstruktion der abendländischen esoterischen Tradition im 19. und 20. Jahrhundert” in Andreas Kilcher, ed., Constructing Tradition: Means and Myths of Transmission in Western Esotericism (Leiden: Brill, 2010), 395-412.

[3] Karl Heise, Karma – das universale Moralgesetz der Welt (Lorch: Rohm, 1909); Heise, Das Alter der Welt im Lichte der okkulten Wissenschaft (Leizpig: Fändrich, 1910); Heise, “Germaniens Runenkunde: Die Initiation in das Geheimnis der Ario-Germanischen Sieben Ur-Heils-Runen” Theosophische Kultur 3 (1911), 64-70; Heise, “Ist Deutschland in Gefahr?” Zentralblatt für Okkultismus July 1912, 39-44; Heise, “Die Lehre von der Wiederverkörperung der menschlichen Individualität” Prana 4 (1913), 299-303, 420-28; Heise, “Der Krieg und seine Folgen” Zentralblatt für Okkultismus November 1914, 213-16; Heise, “Das Geheimnis des spirituellen Fortschrittes” Psyche: Zeitschrift für den gesamten Okkultismus 3 (1918), 13-17; Heise, Entente-Freimaurerei und Weltkrieg (Basel: Finckh, 1919); Heise, Die englisch-amerikanische Weltlüge (Konstanz: Wölfing, 1919); Heise, “Die Toten leben” Zentralblatt für Okkultismus April 1920, 433-44; Heise, “Wünschelrute und Gestirneinflüsse” Astrologische Rundschau 14 (1923); Heise, Der katholische Ansturm wider den Okkultismus (Leipzig: Max Altmann, 1923); Heise, Parsifal: Ein Bühnenweih-Festspiel Richard Wagners in okkult-esoterischer Beleuchtung (Berlin: Linser, 1924); Heise, Die astrale Konstitution des Menschen vom Standpunkte der okkulten Wissenschaft aus dargelegt (Leipzig: Fändrich, 1926); Heise, Wie aus Traum und übersinnlichen Tatsachen Weltgeschichte wurde (Zurich: Gral-Verlag, 1931).

[4] Seine Publikationen sind unter anderem: Max Seiling, Goethe und der Materialismus (Leipzig: Mutze, 1904); Seiling, Was soll ich? Weise Lebensregeln und Gesundheitsregeln (Leipzig: Baumann, 1908); Seiling, Das Professorentum, der Stolz der Nation? (Leipzig: Mutze, 1908); Seiling, Theosophie und Christentum (Berlin: Philosophisch-Theosophischer Verlag, 1910) mit einem enthusiastischen Nachwort von Rudolf Steiner und Auszügen aus Guido von Lists ariosophischer Gründungsschrift Die Religion der Ario-Germanen; Seiling, Richard Wagner, der Künstler und Mensch, der Denker und Kulturträger (Munich: Kuhn, 1911), das sowohl Steiner als auch List feiert; Seiling, “Richard Wagner und die Theosophie” Bayreuther Blätter 34 (1911), 41-49; und Seiling, Goethe als Okkultist (Berlin: Baum, 1919), das nach seinem Bruch mit Steiner erschien. Vergleichbare Beispiele sind etwa der bekannte völkische Autor Friedrich Lienhard, der sowohl ein Ariosoph als auch ein Sympathisant der Anthroposophie war und dabei half, die Schriften des Österreichers List beim deutschen Publikum einzuführen sowie Heinrich Kipp, ein Theosoph und Anhänger von Franz Hartmann, der unter dem Namen K. Heinz veröffentlichte; vgl. Heinz, Von Häckel zur Theosophie (Leipzig: Grunow, 1913), Heinz, Der Krieg im Lichte der okkulten Lehren: Ein Wort an die weiße Rasse (Breslau: Faßhauer, 1915), and Heinz, Goethes Faust als Weltanschauung und Geheimlehre (Leipzig: Theosophisches Verlagshaus, 1921). Kipps Werke zeigen einen ökumenischen Umgang mit den verschiedenen theosophischen Fraktionen, die in einer Reihe mit Gruppen wie dem Mazdaznan und dem „Gralsorden“ alle befürwortet werden, er zitierte Hartmann, Blavatsky, Besant, Sinnett, Steiner, Peryt Shou und andere mit ebenbürtiger Autorität. Ein weiteres bemerkenswertes Beispiel für die Fluidität esoterischer Glaubenssysteme und die Neigung der Okkultisten, ‚zwischen den Weltsichten zu wandern‘ ist der theosophische Wortführer Johannes Maria Verweyen; vgl. die exzellente Biographie von Jessica Klein, Wanderer zwischen den Weltanschauungen: Johannes Maria Verweyen (1883-1945) (Münster: Lit, 2009).

[5] Corinna Treitel, A Science for the Soul: Occultism and the Genesis of the German Modern (Johns Hopkins University Press, 2004), 190. Für eine Vielzahl von Sichtweisen vgl. Geoff Eley, “German History and the Contradictions of Modernity” in Eley, ed., Society, Culture, and the State in Germany, 1870-1930 (University of Michigan Press, 1996), 67-103; Olav Hammer, Claiming Knowledge: Strategies of Epistemology from Theosophy to the New Age (Leiden: Brill, 2001); Alex Owen, The Place of Enchantment: British Occultism and the Culture of the Modern (University of Chicago Press, 2004); Thomas Laqueur, “Why the Margins Matter: Occultism and the Making of Modernity” Modern Intellectual History 3 (2006), 111-35; Marco Pasi, “The Modernity of Occultism: Reflections on some Crucial Aspects” in Wouter Hanegraaffand Joyce Pijnenburg, eds., Hermes in the Academy (Amsterdam University Press, 2009), 59-74; Bradford Verter, Dark Star Rising: The Emergence of Modern Occultism, 1800-1950 (PhD dissertation, Princeton University, 1998). Eher als “eine Gegenbewegung zur Aufklärung,” sieht ein großer Teil der jüngeren Geschichtsschreibung im modernen Okkultismus ein Stiefkind aufklärerischen Denkens (Verter, Dark Star Rising, 30).

[6] George Mosse, “The Mystical Origins of National Socialism” in Mosse, Masses and Man: Nationalist and Fascist Perceptions of Reality (New York: Fertig, 1980), 204.

[7] Norbert Klatt, Theosophie und Anthroposophie: Neue Aspekte zu ihrer Geschichte (Göttingen: Klatt, 1993), 9. Zum Hintergrund vgl. Janos Frecot, “Die Lebensreformbewegung” in Klaus Vondung, (Hg.), Das wilhelminische Bildungsbürgertum: Zur Sozialgeschichte seiner Ideen (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1976), 138-52; Martin Green, Mountain of Truth: The Counterculture Begins, Ascona, 1900-1920 (University Press of New England, 1986); Nicholas Goodrick-Clarke, The Occult Roots of Nazism: The Ariosophists of Austria and Germany 1890-1935 (New York University Press, 1992); Helmut Zander, “Sozialdarwinistische Rassentheorien aus dem okkulten Untergrund des Kaiserreichs” in Uwe Puschner, Walter Schmitz, and Justus Ulbricht, eds., Handbuch zur ‘Völkischen Bewegung’ 1871-1918 (Munich: Saur, 1996), 224-51; Uwe Puschner, “Lebensreform und völkische Weltanschauung” in Kai Buchholz, ed., Die Lebensreform: Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900 (Darmstadt: Häusser, 2001), 175-78; Matthew Jefferies, “Wilhelmine reform movements” in Jefferies, Imperial Culture in Germany, 1871 – 1918 (Palgrave, 2003), 191-223; Bernd Wedemeyer-Kolwe, “‘Umgang mit dem Zwischenreich’: Die Lebensreformer Walter Fränzel und Herbert Fritsche” in Judith Baumgartner and Bernd Wedemeyer-Kolwe, eds., Aufbrüche, Seitenpfade, Abwege: Suchbewegungen und Subkulturen im 20. Jahrhundert (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004), 81-89; Oliver Piecha, “Das Weltbild eines deutschen Diätarztes: Anmerkungen zum Verhältnis zwischen Lebensreform und völkischem Fundamentalismus” in Sabine Kruse and Jürgen-Wolfgang Goette, eds., Von Ascona bis Eden: Alternative Lebensformen (Lübeck: Erich-Mühsam-Gesellschaft, 2006), 118-58; Helmut Zander, Anthroposophie in Deutschland: Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884–1945 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007); Sandra Franz, Die Religion des Grals: Entwürfe arteigener Religiosität im Spektrum von völkischer Bewegung, Lebensform, Okkultismus, Neuheidentum und Jugendbewegung (1871-1945) (Schwalbach: Wochenschau, 2009); Gilbert Merlio, “Kulturkritik um 1900” in Michel Grunewald and Uwe Puschner, eds., Krisenwahrnehmungen in Deutschland um 1900: Zeitschriften als Foren der Umbruchszeit im wilhelminischen Reich (Frankfurt: Lang, 2010), 25-52; Gregor Hufenreuter, Philipp Stauff: Ideologe, Agitator und Organisator im völkischen Netzwerk des Wilhelminischen Kaiserreichs (Frankfurt: Lang, 2011).

[8] Zusätzlich zu den oben zitierten Primärquellen von Heise und Heinz siehe z.B. Harald Grävell, “Deutsche Kultur und französische Zivilisation im Kampf” Theosophie 5 (1915), 377-93, und Friedrich Lienhard, Deutschlands europäische Sendung (Stuttgart: Greiner & Pfeiffer, 1915) sowie die Analyse von Ulrich Linse, “‘Universale Bruderschaft’ oder nationaler Rassenkrieg – die deutschen Theosophen im Ersten Weltkrieg” in Heinz-Gerhard Haupt and Dieter Langewiesche, eds., Nation und Religion in der deutschen Geschichte (Frankfurt: Campus, 2001), 602-45 und Helmut Zander, “Kriegszeit: Anthroposophie in den Zeiten des Blutrausches” in Zander, Rudolf Steiner: Die Biografie (München: Piper, 2011), 329-50.

[9] Vgl unter anderm Mattias Gardell, Gods of the Blood: The Pagan Revival and White Separatism (Duke University Press, 2003), und Andreas Speit, “Ohne Juda, ohne Rom”: Esoterik und Heidentum im subkulturellen Rechtsextremismus (Braunschweig: Arbeitsstelle Rechtsextremismus und Gewalt, 2010). Das mit dem Aufstieg des modernen Okkultismus fast gleichzeitige und oft mit ihm verflochtene Auftreten neuheidnischer Themen  kann als ähnlicher Prozess einer Auseinandersetzung mit der Moderne gedeutet werden; teilweise kam der Anstoß zur neuheidnischen Renaissance im deutschen Kaiserreich von der Bedrohung traditioneller christlicher Überzeugungen durch wissenschaftliche Ansätze in der Bibelkritik, der Leben-Jesu-Forschung usw.

[10] Wouter Hanegraaff, Esotericism and the Academy: Rejected Knowledge in Western Culture (Cambridge University Press, 2012), 238.

[11] Siehe z.B. Bernd Kramer, “Der akademische Geist – Esoteriker unterwandern die deutschen Hochschulen” Die Zeit 31 Mai 2011, aus dem ZEIT Wissen Magazin 4/2011.

[12] Als Beispiel hier der Schlussparagraph einer 1913 erschienenen Studie von Hans Freimark (1881-1945), einem prominenten kritischen Beobachter des wilhelminischen theosophischen und anthroposophischen Milieus, der eine Reihe okkultistischer Interessen verfolgte: „Die Umwege der Geheimlehre und Geheimwissenschaft sind die Menschen oft und lange genug gewandert. Es ist an der Zeit, daß sie begreifen, wie sehr in die Irre diese Pfade leiten, ehe sie den Suchenden ans Ziel bringen. Nur die Wenigsten haben Kraft und Ausdauer, um ans Ziel zu gelangen. Den Meisten wird der Pfad zum Ziel. Gewiß hat Blavatzky und haben alle Anwälte der Seele recht, wenn sie erklären: Die einzige Welt der Realität ist die subjektive! Das Ich, dieses Einzelne und Einzige, kann sich von keiner andern Welt völlig befriedigt fühlen. Nur die, die es sich selbst erbaut, vermag ihm zu genügen, nur in dieser seiner eigenen Welt ist es restlos glücklich. Will es aber diesem Glück Dauer verleihen, so muß es sich von der Welt der andern abwenden, es muß sich von allem lösen, was es äußerlich mit dieser ihm innerlich fremden Welt verbindet. In dem Augenblick aber, wo der Mensch die letzten Brücken abbricht, wo er das letzte Band zerstört, das sein Ich mit der für es unrealen objektiven Lebensform der andern verbindet, zerstört er zugleich seine eigene Besonderheit, zerstört er gerade das, auf dessen Erhaltung es ihm ankommt. Die radikale Lösung des Ichproblems ist zugleich dessen Beseitigung. Um diesen Übelstand zu vermeiden, schaffte der Mensch sich Mittelungen, die ihm ein Leben in einer subjektiven Welt gestatteten, ohne doch sein Dasein in der objektiven zu gefährden. Zu diesen Mitteln gehören neben den Religionen und der Kunst, die mancherlei Geheimlehren und Geheimwissenschaften. Aber sie sind trügerische Mittel, da sie ihren wahren Charakter als subjektive Gebilde zu verschleiern trachten. Es ist daher rätlicher, sich der Mittel zu bedienen, die den Stempel der Subjektivität nicht verleugnen. Das sind einmal die relgiösen Bekenntnisse, zum andern die Offenbarungen der Kunst. Wer für die einen keinen rechten Glauben aufbringen kann und für die andern zu wenig schöpferische Kraft besitzt, dem bleibt der dritte Weg der ehrlichen aufrichtigen Mitarbeit an der sozialen Verbesserung des Daseins. Er baut dann freilich nicht an seiner Welt, lebt nicht im Sinne seines Ichs und wird dessen einzige Realität nie erfahren. Aber indem er an der Welt der andern baut, indem er für ihr Wohl wirkt, baut und wirkt er seine Gaben und Kräfte in diese Welt hinein, er webt sich gewissermaßen mit dieser Welt zusammen. Und das ist die andere Unsterblichkeit. Es ist nicht eine Unsterblichkeit, die mühselig Beweise herbeibringen muß, sie ist bewiesen durch das Wirken selber, das fortdauernd neues Wirken erzeugt. Der Realität des Ich stehen die Realitäten der andern Iche gegenüber und heben sich gegenseitig auf. In der Objektivität des Du ist für alle Raum und darum ist in ihr der einzig untrügliche und wahre, weil ständig sich entwickelnde Ausdruck des allumfassenden Geistes gegeben.” Hans Freimark, Geheimlehre und Geheimwissenschaft (Leipzig: Heims, 1913), 145-46.
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Peter Staudenmaier (Foto: Privat)

Peter Staudenmaier ist Juniorprofessor für Neuere deutsche Geschichte an der Marquette University (Milwaukee, Wisconsin). 2010 promovierte er an der Cornell University zum Thema “Between Occultism and Fascism: Anthroposophy and the Politics of Race and Nation in Germany and Italy, 1900-1945.”

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Hallo allerseits,
Ich bin Ansgar Martins, geb. 1991 und war bis Juni 2010 Schüler an der FWS Mainz. Inzwischen studiere ich Religionsphilosophie, Soziologie und Geschichte in Frankfurt a. M. Dieser Blog ( dessen "Leitbild" ganz oben rechts ) ist mein persönliches Projekt, um die oft einseitigen und selbstgerechten Pro- und Contra-Positionen in der Debatte um die Waldorfpädagogik und Anthroposophie kritisch zu kommentieren. Ich hoffe, das gelingt, und freue mich über Rückmeldungen jeder Art!

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