„…und sich an die Regeln halten“: Bericht aus einem Waldorf-Internat
12. Juni 2014 at 2:35 am 2 Kommentare
„In Hochheim durfte ich alleine in die Stadt gehen. Die Beziehung zu den Erzieherinnen und Erziehern war fast freundschaftlich. Die Erzieherinnen wurden geduzt. Niemand hatte Angst vor ihnen. Die Internatsbewohner sagten deutlich, was ihnen nicht passte. Man konnte mit den Erzieherinnen über alles reden. Man wurde nicht von morgens bis abends beschäftigt und kontrolliert. Für die Internatsbewohner war ich – glaube ich – ein komischer Vogel. Schon wie ich redete: Am Anfang wenn ich rausgehen wollte sagte ich nicht: ‚ich gehe jetzt spazieren‘, sondern ‚ich gehe in die Natur raus‘. Die haben sich kaputt gelacht. Ich habe das nicht gemerkt. Für mich war das noch normal, solche Worte zu gebrauchen. Einmal habe ich den Erzieherinnen erzählt, dass es im anthroposophischen Internat, in dem ich vorher war, üblich ist im Umgang mit Erzieherinnen, dass sich ein Junge verbeugt und ein Mädchen einen Hofkniks machen musste. Die haben mich nur erstaunt angesehen. Das geschah nicht in den 50er Jahren oder 60er Jahren, sondern in den 80ern in einem anthroposophischen Internat!“
Es gibt gute und schlechte Bücher, und ganz gelegentlich solche, die einem den Atem stocken lassen. Das eben zitierte gehört in letztere Kategorie, trägt den Titel „‚Die Betreuer sind sehr nett‘. Bericht von meinem Aufenthalt in einem Waldorf-Internat“ und den Untertitel „Wenn ich ehrlich bin, freue ich mich sehr auf die Ferien“. Sein Autor Patrick Kelly wurde 1972 geboren, arbeitet seit 2010 ehrenamtlich in der Altenpflege und hat 1984 bis 1988 ein Waldorf-Internat am Bodensee besucht. Da er als Kind neben vielem anderen Lernschwierigkeiten hatte, schickten ihn die Eltern schließlich in eine heilpädagogische anthroposophische Einrichtung. Das Buch (erschienen 2013 bei Epubli – Auszüge bei Google Books) ist so aufschlussreich, weil es viel mehr ist als retrospektiver Erfahrungsbericht allein. Den weit überwiegenden Teil füllen Tagebucheinträge, Briefe und Epochenheftseiten aus, die teilweise abgeschrieben, teilweise als Faksimiles abgedruckt sind.
In der Form von Erläuterungen und Überleitungen führen Kellys Kommentare durch diese niederschmetternde Dokumentation. Und deren Höhepunkt stellen keineswegs Hofknickse und Verbeugungen dar. Man liest von Erzieherinnen, die sog. „Missetaten“ routiniert beim gemeinsamen Abendessen bloßstellten, von einem Internatsalltag, der jede freie Minute durchplante und keine Abweichungen duldete. Man liest von Lehrkräften, die in ihrem Unterricht keine von der ihren abweichende Meinung zuließen – und eine davon schwärmte enthusiastisch vom BDM. Dazwischen Eurythmie, Laternen basteln, eine kleine Feier zu Rudolf Steiners Geburtstag und viel – viel – Gartenarbeit. Patrick Kelly fühlte sich dort lange Zeit wohl, wie aus den Tagebucheinträgen ersichtlich wird. Aber mit der Zeit wurde der Alltag immer bedrückender. Langsam nehmen in den Briefen Beschwerden über den Internatsalltag zu. Er müsse etwas „munterer“ werden, schrieb er am 7.2.1987 an seine Mutter, denke aber stattdessen an zu Hause.
„Weißt du, ich spüre es jetzt viel stärker wie die Erwachsenen wirklich sind. Ich beobachte sehr vieles im Internat. Was die Erwachsenen alles im Internat nicht wollen. Ich denke darüber nach, was man zu mir den ganzen Tag so sagt. Ich habe auch gemerkt, dass viele von der R.Gruppe (die Älteren) und T.Gruppe (Mittlere) den Kopf voll haben mit dem, womit sie nicht einverstanden sind oder sich ungerecht behandelt fühlen. Die müssten sich mal kräftig aussprechen. Viele gehen nach dem Motto ‚Ich sage nichts dann bekomme ich keinen Ärger‘.“ (S. 51)
Dasselbe Verhalten bescheinigt er selbst sich im Rückblick. „Ich wollte jeden Ärger vermeiden, Ärger mit den Lehrerinnen und den Erzieherinnen“, und weiter:
„Wie macht man es, dass man im Internat nicht auffällt? Fleißig und freundlich sein, und sich an die Regeln halten. Ich wollte den Lehrerinnen gefallen und habe versucht alles zu machen was diese verlangten. Den Ärger und den Frust habe ich sonntags beim Briefeschreiben an meiner Mutter losgelassen. Allerdings erst am Ende meiner Zeit im Waldorf Internat. In dem Tagebuch 1987 kommen immer wieder Andeutungen vor, dass ich Angst hatte, was am Montag auf mich zukommen konnte. Habe ich etwas falsch gemacht? Gibt es Ärger? Ich war sehr stark unter Anspannung … Nach den Ferien war es immer besonders schwierig wieder ins Internat zu fahren. Ich kann mich an diese [vorher in einem Tagebucheintrag vom 10. Juni ’87 beschriebene] Rückfahrt von den Pfingstferien erinnern. Wir saßen, ich und ein Junge, mit dem ich zusammen ins Internat gebracht wurde, im Taxi. Das Waldorf Internat war nicht mehr weit. Wir haben uns gegenseitig damit getröstet, dass die nächsten Ferien bald wieder kommen und dass es nicht so schlimm wird.“ (S. 32ff.)
Der Kontakt zu diesem Jungen, der im Intenat „zu den Kleinen“ gehörte, war der Auslöser des finalen Konflikts. Mit großer Beharrlichkeit, so die Darstellung Kellys, versuchten die Erzieherinnen, den Kontakt beider Kinder zu unterbinden. Mit Kontakten unter Nicht-Gleichaltrigen habe man schlechte Erfahrungen gemacht, außerdem verhindere das Lernfortschritte. Auch die Interventionsversuche der Eltern konnten offenbar nichts bewirken – was Kelly nicht schreibt, ist, dass dies einem der höchsten Grundsätze der Waldorfpädagogik entsprach. „Da sich Didaktik und Methodik auf das Lebensalter und die Entwicklungsbedürfnisse der Schüler beziehen, werden Mädchen und Jungen gemeinsam in altershomogenen Jahrgangsklassen unterrichtet“, heißt es im Leitbild der deutschen Waldorfschulen. Die Briefe an die Mutter, die Erzieherinnen doch umzustimmen und den Kontakt zu erlauben, werden flehentlicher. Der Konflikt mit dem Internat, vor allem mit einzelnen Erzieherinnen wächst.
„Ich merke, dass ich ziemlich ängstlich werde. Ich bin immer mehr viel lieber alleine im Internat. Die Erzieherin Frau R ist mir unangenehm geworden. Diese Person kann bei der kleinsten Sache schimpfen und aus der Haut fahren. Da muss ich aufpassen. Man muss gleich schalten. Sie kann aber auch sehr witzig sein. Manche Witze gefallen mir nicht. Bitte, bitte pass auf, was sie dir beim Gespräch so auftischen … Viel Glück beim Gespräch. Ich werde mich schon die letzte Woche [vor den Osterferien] durchbeißen.“ (13.3.1988, S. 60f.)
Das erwähnte Gespräch war das letzte mit der Schule. Patrick Kelly ist danach in das eingangs beschriebene neue Internat in Hochheim gekommen, was offenbar eine gute Entscheidung war. Ein Einzelfall? Mitnichten. Im Nachwort zum Buch schreibt zwar Kellys Kinderarzt Hans von Lüpke: „…ein humanes, respektvolles Konzept war durch rigide Reglementierungen zu einer Art ‚Diktatur‘ geworden…“ (S. 65). Aber mag hier auch ein intentional humanes Konzept entgleist sein, so sind doch genau solche Konflikte in Grundstrukturen anthroposophischer Pädagogik vorprogrammiert und eskalieren immer wieder: Hinter der Reglementierung steht die „rhythmische“ Tagesgestaltung und die Überbetonung der Lehrerautorität. Schon früher sind ähnliche Fälle bekannt geworden. (vgl. z.B. Kathrin Taube: „Ertötung aller Selbstheit“. Das anthroposophische Dorf als Lebensgemeinschaft mit geistig Behinderten, München 1994)
Kellys Buch ist trotzdem eine Besonderheit: Weil es eine denkbar intime Dokumentation ist, weil es kein Blatt vor den Mund nimmt, aber vor allem, weil die ganze Ambivalenz seiner Erfahrungen zur Sprache kommt. Das Waldorfinternat wird nicht hasserfüllt als hinterlistige Kinderhölle beschrieben, vielmehr werden auch positive Eindrücke nicht verhehlt oder geleugnet. Das Internat zeigte sein hässliches Gesicht langsam und subtil, in der eingeforderten Anpassungsleistung, die keinen Widerspruch erlaubte, und in der Entschlossenheit, mit der jeder Widerspruch ausgetrieben werden sollte. Wer sich für Waldorfpädagogik interessiert (ob nun kritisch oder solidarisch) sollte dieses Buch lesen.
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