Der Schatten einer Seifenblase oder: Warum dieses Blog?
19. Juli 2009 at 1:02 pm 6 Kommentare
Da kämpft mensch sich durch Bücher und Vorträge, um darzustellen, wo eine Erneuerung der Waldorfpädagogik ansetzen müsste ( das Ergebnis liegt vor in Vollgas mit Handbremse ), und erhält insgesamt maximal 50 BesucherInnen am Tag und interessierte Rückmeldungen von genau fünf Personen. Eine konstruktive Kritik mit Aufruf zur fundamentalen Renovierung der Waldorfpädagogik stößt offenbar nicht auf viel Interesse, vor allem bei AnthroposophInnen. Warum? Glaubt mensch sich dort am Gipfel der Innovation im Bildungssystem, obwohl diese Innovation selbst schon lange zur Tradition, zum Dogma erstarrt ist?
Wie auch immer.
Dann allerdings bearbeite ich noch ein anderes Thema, das mir sehr wichtig erscheint ( Ravagli, die „Rassen“ und die Rechten ) und sah die BesucherInnenzahlen binnen zwei Stunden(!) in die Höhe schießen. Auf einmal war ich auf dem revolutionären Platz 62 der WordPress-Blogs of the day, sah mich plötzlich mit Mails bombandiert, deren AbsenderInnen ich meine Adresse sicher nie gegeben hatte, erhielt Kommentare mit beleidigendem, teils buchstäblich rassistischem Inhalt, die ich beim besten Willen nicht veröffentlichen kann. In diesen Mails und Kommentaren werden ich und mein Blog nicht nur wahlweise in die Nähe zu den oh so böööööösen „Linken“ oder irgendwelchen faschistoiden Ansätzen verdammt sondern auch der Verleugnung vermeintlich realer „Seelenzusammenhänge“ der „Völker“ bezichtigt ( vgl. zu rassistischen Einstellungen in der heutigen Anthroposophie kritisch nerone ). Teilweise wurde mir auch „nur“ eine Feindschaft zu den Waldorfschulen und glühender, unverfälschter Hass auf die Antroposophie und ihre Angehörigen vorgeworfen.
Für alle Fanatikerinnen und Fanatiker dieser Beiträge: Wenn ich die Waldorfschulen vernichten wollte, würde ich kein Blog aufmachen, in dem ich zur Erneuerung dieser Schulen auffordere.
Wenn ich die Anthroposophie vernichten wollte, würde ich AnthroposophInnen nicht dazu auffordern, sich von Steiners Rassentheorien zu distanzieren, sondern behaupten, beide seien untrennbar wesenseins.
Ich weiß, dass die Anthroposophie vielen Menschen jenseits von „Sekte“ und „Pathologie“ eine Antwort auf ihre Erkenntnisbemühungen, ein Fenster zum „Sinn“ ihres Lebens ist, das ihnen niemand nehmen kann und sollte. Es ist aber auch so, dass viele AnthroposophInnen dabei Verstand und eigenes Urteil in Bezug auf die Anthroposophie, ihre Angehörigen und ihren Begründer an der Kasse erleichtert von sich werfen.
Die Haltung dieser anthroposophischen FundamentalistInnen hat Sebastian Gronbach in einem sarkastischen Kommentar perfekt getroffen:
- Niemand, der nicht zu uns gehört, kann uns und unsere Weltanschauung beurteilen, der nicht zu uns gehört.
- Wir können jeden Menschen in eine Weltanschauungsschublade einordnen, sobald er nur den Mund aufmacht
- Wer uns kritisiert, hat sich nur noch nicht richtig mit der Anthroposophie befasst.
- Selbstverständich ist vernünftige Kritik an Steiner gerechtfertigt – man wird aber, wenn man vorurteilslos und vernünftig an die Sache herangeht, nichts Kritikwürdiges finden können.
( Gronbach: „Missionen“, Freies Geistesleben, Stuttgart 2008, S. 68 )
Gronbach lokalisiert das Problem zutreffenderweise nicht in der Haltung der KritikerInnen ( wenn es von denen auch sicher „unglaublich dumme und böswillige“ gibt ), sondern in der nicht vorhandenen „Streit- und Kritikkultur“ von AnthroposophInnen. Gronbach verschenkt aber leider die Möglichkeiten einer Aufarbeitung dieses anthroposophischen „Schattens“ und eine entsprechende Ausrichtung der Anthroposophie, da er zwar anregt, sich mit den Anthroposophiekritiken auseinanderzusetzen, die am härtesten treffen, dieser Auseinandersetzung keine Zeile widmet.
Ähnlich in Bezug auf die Waldorfschulen. Deren Probleme werden aus dem lichten, lieben Schulalltag verdrängt und manifestieren sich ebenfalls in „bösen“ KritikerInnen oder giftigen heimlichen Hetzreden und Gerüchten zwischen LehrerInnen, Eltern und SchülerInnen, die so manche schöne Schulveranstaltung heimlich überschatten.
Diese Wirklichkeiten lassen sich nicht durch Gerichtsprozesse gegen die KritikerInnen oder Schönrednerei noch der widerlichsten Aspekte und Schattenseiten therapieren, sondern nur, wenn AnthroposophInnen und FreundInnen der Waldorfpädagogik sich selbstkritisch mit ihren Tätigkeitsfeldern auseinandersetzen. Dieser Weg ist steinig und fordert das Opfer vieler liebgewonnener Selbstglorifizierungen und Mythen, er ist aber der einzig gangbare, um Anthroposophie und Tochterbewegungen in der heutigen Lebenswirklichkeit ankommen zu lassen.
Anthroposophie steckt nicht nur hinter Schulen, Medizin und Landwirtschaft. KünstlerInnen wie Kandinsky, Beuys oder Schönberg wurden von anthroposophischen Vorstellungen angeregt. WissenschaftlerInnen an Max-Planck-Instituten sehen sich zu ihrer Arbeit durch anthroposophische Überzeugungen motiviert. Die dm-Drogeriemarkt-Kette, die Naturkosmetikfirmen Speick und Dr. Hauschka, der Reinigungsmittelhersteller Sonett, die Lebensmittelketten Alnatura und Tegut, das Naturtextilienversandhaus Hess Natur, der Wachsmalstifthersteller Stockmar, Bio-Lebensmittelhersteller wie Naturata, Spiegelberger oder Bauck und der Fruchtsaftproduzent Voelkel schöpf(t)en ( unterschiedlich intensiv ) in wirtschaftlichen Fragen, der MitarbeiterInnenstruktur und in der Herstellung ihrer Produkte aus dem geistigen Fundus der Anthroposophie. Die Deutsche Bahn beschäftigte anthroposophische Designer zur Gestaltung von Zugabteilen, die Grünen wurden von AnthroposophInnen mitgegründet, ebenso haben AnthroposophInnen eine nicht zu unterschätzende Rolle in der deutschen Plebiszitbewegung oder im Engagement für ein Bedingungsloses Grundeinkommen gespielt. Gerade da also, wo Anthroposophie aus der autistischen Seifenblase ihres esoterischen Elfenbeinturms in die Alltagswelt der Gegenwart hinaustritt und als solche oft gar nicht mehr zu erkennen ist, hat sie diese Alltagswelt, diese Gegenwart bereichert.
Wenn Anthroposophie über diese hinaus wirksam bleiben will, muss sie bereit sein, den Elfenbeinturm selber für diese Gegenwart zu opfern, die autistische Seifenblasenexistenz aufzugeben und sich mit den durchaus nicht geringen Schattenseiten ihres Daseins auseinanderzusetzen, die bisher fast alleiniges Arbeitsfeld der KritikerInnen waren. Es müssen Neuausrichtungen, Neuentwürfe her, Schlusstriche gezogen und Prioritäten gesetzt werden.
Dafür will ich mit diesem Blog plädieren! Das in ihrem Umfeld anzustoßen fordere ich alle anthroposophie- oder waldorfnahen LeserInnen auf!
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1.
Helga | 19. Juli 2009 um 6:44 pm
„Wer uns kritisiert, hat sich nur noch nicht richtig mit der Anthroposophie befasst.“
Das triffts perfekt.^^ Sehrgut^^
2. Die Mächte des (L)ICH(ts) – Symptome der Steinerschen „Geisterkenntnis“. Eine philosophische Stellungnahme « Waldorf Blog | 26. September 2009 um 2:20 pm
[…] Welcher rote Faden zieht sich von Letzterem zu den oben aufgelisteten obskuren Phantasien? (vgl. Der Schatten einer Seifenblase) Wieso hinterlässt ein Mensch ein 360-bändiges Lebenswerk mit dem Inhalt […]
3.
Stefan Gerhard | 17. Oktober 2009 um 9:31 pm
Da kämpft mensch sich durch Bücher und Vorträge, um darzustellen, wo eine Erneuerung der Waldorfpädagogik ansetzen müsste.
Und ich lese es! Mit großem Interesse. Wie sind ganz viele.
4.
Stefan Gerhard | 17. Oktober 2009 um 9:32 pm
Sorry: WIR sind ganz viele. War schon spät 😉
5. Typen? Themen? TEMPERAMENTE! (Just another anthroposophical typology) « Waldorf Blog | 15. Dezember 2009 um 7:58 pm
[…] mensch sich ja offiziell die schlichte Untauglichkeit eines Steinerschen Gedankens eingestehen (Der Schatten einer Seifenblase), außerdem wäre die Außenwirksamkeit seltsam: Ein Schulsystem, dass sich seiner „Erziehung […]
6. Steiner = Jesus. Ein Gott, seine Gläubigen, die Ketzer und ein „trojanisches Pferd“ « Waldorf Blog | 8. Januar 2010 um 4:55 pm
[…] Ein weiterer Stein des anthroposophischen Anstoßes ist Info3-Redakteur Sebastian Gronbach, über dessen gern „provokanten“ und darin nicht selten politisch unkorrekten Ton sich übrigens auch AnthroposophiegegnerInnen gern und auch oft nicht zu Unrecht echuaffierten (polemisch dazu NWA: Mütter und Helden und ebenso polemisch die Antwort von Felix Hau: Mütter und Helden, ausgezeichnet finde ich persönlich dagegen seine Beschreibung der anthroposophischen Betonfraktion, vgl. Der Schatten einer Seifenblase). […]