„Übersinnliche Wellness pur.“

9. Mai 2011 at 8:08 pm 4 Kommentare

(von Andreas Laudert)

aus Ders: Abschied von der Gemeinde, Futurum-Verlag, Dornach 2011.

 

Vorwort von Ansgar Martins — Nach Sebastian Gronbach („Missionen“, 2008) und Taja Gut („Wie hast du’s mit der Anthroposophie?“, 2010), nimmt nun ein weiterer anthroposophischer Autor eine offene Abrechnung mit der anthroposophischen Szene vor. Dabei handelt es sich um Andreas Laudert, Schriftsteller und Pfarrer der anthroposophienahen „Christengemeinschaft“, der bisher nicht eben „szene“-kritisch aufgetreten ist und dem ich so ziemlich jede Aussage zugetraut hätte – bis auf diese. Über vieles ließe sich natürlich nach allen Regeln der Zunft streiten, insgesamt ist dem Autor aber inhaltlich (und nicht zuletzt: stilistisch!) ein guter Wurf gelungen. Das Buch liest sich durchaus nicht als „Aussteigerbericht“ eines „Christengemeinschafts“-Pfarrers, sondern als ein Bekenntnis zur Anthroposophie, aber es plädiert auch für kulturelle Öffnung ihrer Propagandist_innen, für das Ablegen peinlicher Narzissmen, die Demokratisierung eines elitären, vermeintlichen „Geheimwissens“, für den „Abschied von der Gemeinde“. Auch aus anthroposophiekritischer Perspektive ist das Buch ein interessantes Dokument für die aktuelle Selbstwahrnehmung in der anthroposophischen Szene. Dem „Futurum-Verlag“ danke ich für die „Abdruck-Genehmigung“ zu den im Folgenden zu lesenden Ausschnitte.

S. 32ff.

Ein Rudolf-Steiner-Haus. Filmpremiere von Zwischen Himmel und Erde des Schweizer Regisseurs Christian Labhart – das angenehm offene Ergebnis der indirekten Selbstbefragung eines Künstlers und Waldorfvaters: Portraits verschiedener mit Anthroposophie in Berührung gekommener Menschen. Im Saal das typische Hauspublikum einschließlich der obligatorischen Gäste „von außen“, zu denen die Frau an der Kasse mich auch zu zählen schien, da sie mir unbefragt Auskunft erteilt. Was ist es, das einen nach wenigen Minuten mit Unbehagen erfüllt – jenem Unbehagen, das mich bei diesen Gruppen des Einverständnisses immer wieder befällt? Man begrüßt sich mit Namen, man nickt sich zu und lächelt eilfertig, man schüttelt Hände, man scherzt. Alles normal, alles menschlich. Aber dann – die ersten humorigen Bemerkungen: „In der Pause gibt’s Langnese!“ – „Aber erst nach der Werbung!“.

Warum (warum noch immer?) fühlt man sich gedrängt, auf diese verkrampfte Weise die Tatsache herauszustellen, dass in einem Steiner-Haus ein Kinofilm gezeigt wird? Fühlt man sich unbewusst gebauchpinselt, weil es um einen selber, um die Anthroposophen geht? Muss man es immer noch vor sich selbst rechtfertigen, das es sich hier mal nicht um einen erhebenden Vortrag über Chartres oder die Externsteine handelt? Muss man sich beieinander vergewissern, dass man unter sich ist?

Dann, nachdem der Film schon eine Weile läuft: Zart ansteigendes Gekicher, weil zwei der Portraitierten breites Schwytzerdütsch sprechen. Die Veranstalter unterbrechen und stellen die Untertitel ein. Großes „Aaah!“ und „Ooh!“ im Saal.

Szenenwechsel. Ein anthroposophischer Kongress mit eingebauten Happenings. Ich soll aus eigenen Texten lesen, sage ein paar einleitende, auflockernde Worte und lese dann aus einem deftigen work in progress, das mir für das Thema der Veranstaltung passend scheint. Hinterher das Folgende, wie schon hundertfach vorher erlebt, seit Jahren, nur in abgewandelter Form: In dem Fall anthroposophische VIPs, die einen bis dahin nicht weiter beachtet hatten, obwohl sie einen, wenn nicht kannten, so doch irgendwie einordnen konnten, auf die man teilweise auch selber zugegangen war, um zum Beispiel eine positive Rückmeldung zu geben auf einen ihrer Artikel, den man kürzlich gelesen hatte – dieselben (ich weiß nicht: entweder scheuen oder eitlen) Gockel, nachdem sie mitbekommen haben, dass das junge, unabhängige Publikum sich über das Vortragende sehr gefreut hatte, schleichen danach um einen herum, fragen, wo man denn die Bücher herbekäme. Mehrere erkundigen sich aber auch – ich verstehe die Frage zunächst gar nicht, denke, es handle sich um einen Witz -, von wem der Text gewesen sei, den man gelesen habe. Wiederum andere halten die Ironie des Gelesenen sofort für fehlenden Mysterienernst, vielleicht sind ihnen auch literarische Töne als solche unvertraut, wenn sie nicht gerade von Adalbert Stifter oder Nelly Sachs kommen, jedenfalls schweigen sie beredt wie Kafkas Sirenen.

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S. 65f.

Kurz zu einem Tick von Typen wie mir: wollen immer versöhnen und vernetzen. Ist einfach so. Wollen immer Menschen zusammenbringen. (Absurd: Dabei können wir die größten Aggressoren sein!) Unsereins will verbinden das Unverbindbare, will vereinen! (Und hasst Vereine.) Liebet einander! (Deshalb war Johannes mit Johannes verbunden.) Gleiche Augenhöhe für alle! Gleiche Augenhöhe sogar mit „dem“ Christus.

Warum lassen wir Potenziale brachliegen, warum lassen wir Synergien nicht zu? Ist doch längst egal, was andere über uns denken, und was die Maschinen erfassen. Die große Blase der Daten und der Spekulationen über Profile wird zerplatzen auf den Gipfeln des Geists. Wohl dem, der Nutzer seiner selbst ist und Seiten besucht, die es gar nicht gibt. Jeder profiliert sich gegen den anderen. Geläster und doppelbödige Spitzfindigkeiten, Weckrufe und Warnungen, Unterstellungen und Zitatschlachten. Hochgezogene Augenbrauen allüberall. Gut, man kann nichts erzwingen, ich weiß. Platoniker, Aristoteliker … große Geister bloggen manchmal nur neben-, nicht miteinander … Gott, das Karma eben! Fuck Karma. Ausreden. Deshalb rufe ich mir und meinen Doppelgängern zu: Ändert euren Sinn.Ändert die Blickrichtung. Bereitet dem Ich des anderen den Weg. Und zwar genau den Weg, in welchem er euch steht. Es muss ja nicht gleich so laufen wie in einer Buchbesprechung in Gegenwart 2/2010:

„In der Gestalt des Lazarus-Johannes haben sich die Kain- und die Abelströmung mit ihren jeweils bestausgebildeten Wesensgliedern zu einer Wesenheit gewissermaßen über Kreuz so wiedervereinigt, wie sich der nathanische Jesus der Hirtenströmung … und der salomonische Jesus der Königsströmung … zur Gestalt des Jesus-Jesus wiedervereinigten. Allerdings mit dem Unterschied, dass die zugehörigen Marien kurz darauf auch ihre Wesensglieder zu einer Wesenheit der Maria-Maria vereinigten und schließlich der Jesus-Jesus und die Maria-Maria ihre Wesensgliedersubstanz vor der Jordan-Taufe so austauschten, dass sie das für die Inkarnation Christi geeignete Wesensgliedergefäß bereitstellen konnten.“

Karma als Bauanleitung

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S. 108

Am schlimmsten war der Staubsaugervertreterton, den man ja überall in Vereinen – es liegt in der Natur der Sache (wieder: die „Sache“) – an den Tag legen muss, wenn man über potenzielle Mitglieder spricht. Oft fragte ich mich: Ob diese Leute, die der Gemeinde ihre Adresse und Telefonnummer zur Verfügung gestellt haben  und somit „im Verteiler“ sind, wissen, wie über sie spekuliert wird?

Beispielsweise bei einem Pfarrerwechsel: Der scheidende Kollege geht mit dem neuen die Mitgliederliste durch. Jedes Mitglied bekommt einen Werbetrailer, eine kleine Erkennungsmelodie. Das Leitmotiv dabei scheint nicht wirklich der Mensch als Mensch, das Kriterium der Kommentare ist notgedrungen nur seine Nähe oder Ferne zur Gemeinde. Da heißt es dann zwischen Priesterkollegen: Da könne man mal „dranbleiben“, mal anrufen, das „lohnt sich vielleicht“, der und der sei zuletzt wieder „öfters gekommen“, die „kriegen wir vielleicht übers Ministrieren“, den anderen „über die Waldorfschule“.

Eine Sprache wird gepflegt, die beharrlich mit einem Innen und Außen operiert. Aber schützt die Wahrheit, was immer sie ist, nicht sich selbst? Sie ist zwischen innen und Außen. Sie drückt als Kraft gegen die Wände.

Immerzu ist die Rede von einem „Hineinkommen“ oder „Hineinfinden“. Der Berufsanfänger muss hineinkommen in das Amt und das Mitglied in die Gemeinde; es gibt regelrechte Karrieren. Hinein, hinein! Aber was kommt dabei heraus? Was ist in all den Jahrzehnten daraus erwachsen? Letztlich eine Auffassung vom Zeitgenossen als Kind. Neugeweihte werden intern launig als „Babies“ bezeichnet; erwartet wird allen Ernstes, in den ersten drei Jahren mehr oder weniger den Mund zu halten. (Wenn man schon dieses Bild benutzt: Dabei sind Neugeborene nahe am Himmel. Vielleicht hätten sie Überraschendes zu berichten.)

Dass das Subjekt heutzutage in so viele biografische und gesellschaftliche Prozesse verwoben ist, die es mit hineinnehmen muss in jeden neuen Lebensabschnitt, um ihn glaubwürdig und erfüllt tun zu können – diese Lebenstatsache kommt nur alibimäßig zu ihrem Recht. Aus Prinzip partnerlose Priester und Priesterinnen bitten die nicht selten verblüfft-belustigten Weihekandidaten-Ehemänner und -Ehefrauen, die dem geplanten Berufswechsel ihres Lebenspartners loyal wie neutral gegenüberstehen, zum Extragespräch und geben „aus Erfahrung“ Empfehlungen. Man fragt sich, welche.

Szenenwechsel. Ein Elternabend mit den Eltern einer gerade Konfirmierten. Eine Mutter, betroffen von erwachendem Zweifel, erzählt, dass sich bisher all ihre Kinder nach der Konfirmation vollkommen von der Kirche abgewandt hätten. Sie seien einfach nur froh gewesen, nicht mehr in die Sonntagshandlung zu müssen. (Was im Übrigen die Regel ist.) Die Pfarrerin antwortet in beruhigendem Ton, ja, das dürfe durchaus sein. Ein Vater, der bis dahin eigentlich nur dagehockt und sich gefragt hat, wann der Abend wohl endlich vorbei sei, wird schlagartig wache:

Moment fragt er, wieso dürfe das sein? Wird das bloß erlaubt? Was soll dieses Gönnerische, sprechen daraus nicht auch schon bestimmte Bewertungen?

Lieber wird der objektiv zunehmende Legitimationsdruck beim Unterrichten von Religion, über den die Öffentlichkeit im Gegensatz zur Christengemeinschaft leidenschaftlich und ergebnisoffen diskutiert, beharrlich bagatellisiert – auch die geringe Anziehungskraft und die für manche bedrückende Gestalt des eigenen Gottesdienstes für Kinder.

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S. 112 ff.

Das Suggestive, Pädagogische, nicht Offene und Spielerische im Umgang mit mündigen Menschen – wie bei jenem beispielhaften Elternabend – steht in auffälligem Kontrast dazu, dass man stets beflissen und (wieder:) beruhigend betont, es habe ja immer auch Freigeister und „richtige Künstler“ in den Reihen der Priesterschaft gegeben.

Bezeichnend, ja, peinlich ist nur, dass einem dabei immer und immer wieder, wirklich von allen Seiten (und keiner merkt es, jeder meint, er gäbe da einen ganz exklusiven Tipp) lediglich ein Name genannt wird!

Ein einziges echt künstlerisches Naturell innerhalb der Priesterschaft muss als Feigenblatt herhalten, der ewige Johannes Rath, so wie für die anthroposophische Bewegung meinetwegen der ewige Michael Ende, der ewige Christian Morgenstern (auf den ich nichts kommen lasse). Künstler gelten nichts für sich, sondern weil sie mit der Anthroposophie „verbunden“ gewesen seien. Jemand wie Kafka hat es da schon schwerer. Aber das wäre ein eigenes Kapitel.

:Schlägst du es auf?

:Augen zu und durch. Was dazu zu sagen wäre, steht schon geschrieben. […] Kafka überzeichnet . Die Überzeichnung ist das Vorrecht der Literatur. Kafka steht für nichts, er steht nur für sich und zu sich, als Gezeichneter – von sich selbst. Kafka aktualisiert sich durch Zeitlosigkeit. Er entzieht isch, je mehr er herbeizitiert wird. Als die Sektion für Schöne Wissenschaften am Goetheanum vor einigen Jahren Dornachs erste Kafka-Tagung veranstalten wollte, fiel sie mangels Teilnehmern aus. Während „Christus“fortwährend als „anwesend“ zelebriert wird, bevorzugt als Licht-Gestalt, glänzt Kafka durch Abwesenheit. In der Finsternis leuchtet sein Stern. Als Lichtgestalt taugt er nicht.

: Der ewige Jude?

: Der ewige Sohn. So der Titel einer neueren Biografie. Nicht tauglich als Übervater.

Szenenwechsel. Haubesuch des Pfarrers. Bei Kaffee und kuchen bekommt er vom Gastgeber stolz und arglos Fotos gezeigt, auf denen dieser dem Betrachter fröhlich in SS-Uniform entgegenlacht. Kein Wort dazu, auch nicht von der beschwingt weitere Anekdoten beisteuernden Ehefrau. Was ist das? Ein Einzelfall? (Mitnichten.) Nur ein Generationenproblem? Oder doch Symptomatisches: Varianten jenes seltsamen Hierarchieverständnisses, das sich in der trocken-triumphalen Bemerkung einer intern zu Recht hochverehrten Persönlichkeit verbarg, nachdem dieser Priester einen Studenten, der ihm im Kurs widersprochen hatte, rausgeschmissen hatte: „Es kann nur einer König sein“?

Man sollte nicht so naiv sein, zu glauben, dreißig Jahre Anthroposophie oder Menschenweihehandlung würden gegen Gedankenlosigkeit und Ressentiment imprägnieren. Sie haben diese nur verfeinert.  Hybris den „zurückgebliebenen“ Naturreligionen gegenüber. Hybris gegenüber dem zu „weichen“ Buddhismus. Es mal besorgt denken zu dürfen, will man schon. Mal von oben herab und selbstgerecht, mal ungeschminkt-giftig, niederste Instinkte. Vereinzelte, mag sein. Trotzdem nimmt es nicht wunder, wenn man dann von außen unrechterweise in Sippenhaft genommen wird. Das Widerwärtigste ist das gut versteckte Ressentiment gegen Lebensläufe.

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S. 158

…Ich will mich in diese Debatten [um Sebastian Gronbach und Taja Gut – AM]  inhaltlich nicht einmischen. Es geht halt mal wieder um Höherentwicklung.

: Darf ich fragen, was ausgerechnet du gegen Höherentwicklung einzuwenden hast?

: Im Prinzip nichts.

: Hat’s bislang persönlich noch nicht so geklappt?

: Ach danke. Mach dir keine Sorgen. Der Weg der Höherentwicklung birgt genügend Fallgruben.

: Da wäre ich jetzt ohne dich gar nicht drauf gekommen.

: Eben. Das ist, wie gesagt, auch gar nicht der Punkt. Ich fühle mich nur einer anderen inneren Lebensgeste näher, und ich nenne diese Lebensgeste die Vertiefung. Nicht gleich: seinen Meister haben oder Meister werden wollen. Sondern sich vertiefen in das Scheitern jedes Mitmenschen. In seine Fehler. In die eigenen. Das Unvollkommene lieben, aushalten, zutiefst bejahen. Nicht als Ziel. Aber zunächst. Erst einmal. Und es kann sogar auch bis zum Tode dabei bleiben: dass der Sinn eines Lebens nicht in einer Entwicklung besteht, sondern in einem Aushalten und Durchleben. Das ist der Entwicklungssprung. Eine Spannung, etwas Unauflösbares (und daher Spannendes) biografisch verkörpert zu haben.

Dieses „erst einmal“ ist chronologisch wichtig. Wir meinen als beflissene Kenner der GA [Gesamtausgabe von Steiners Werken] zu wissen, das nach dem Tod das und das kommt. Das Nachtodliche eben. Die verschiedenen Stufen, Erlebnisse und Wesen. Der Tunnel, das Licht, die Liebe – offenbar ein einziges Sphären- und Sonnenbad, übersinnliche Welness pur. Aber erst einmal kommt im Tod der Tod, oder? Wirklich ein Nichts. Tiefe Trauer: Ich bin nicht mehr. Die Verwirrung. Die Einsamkeit. Und ich glaube, es ist von Bedeutung, dass da nicht jemand an mich herantrit, der diese Abgründe leugnet oder mit einem Trick aus der Bibel zuschüttet. Sondern der sie kennt. Der sie auch durchlebt hat. Der mich fühlen kann, tief von innen. Nicht der Meister, sondern der Bruder. Christi Auferstehung ist die Auferstehung des Menschen – der Sieg über den Tod eines Menschen, nicht eines Gottes.  Wenn Gott den Tod meistert, ist das keine Kunst. Von einem Gott würde ich das erwarten. Mich aber interessiert es, wenn etwas eine Kunst ist, eine große Überraschung, Menschenwerk. Die Auferstehung ereignete sich geradezu nebenbei. Bitte nicht falsch verstehen! Natürlich gab es ein Erdbeben! Der Tempelvorhang zerriss … und dennoch: Wie war das denn? Eine stille Morgenfrühe, ein Tag in einem Garten, eine Frau, ein Mensch, der sie mit dem Vornamen ansprach. Dann Tränen, Erkennen: Ein auferstandener Freund? Oder: dass Jesus spazieren ging mit den beiden Wanderern auf dem Weg nach Emmaus. Sie befragte über sich selbst. Eine Selbstbefragung auf dem Wege. So herrlich nebenbei. Wie er sich liebevoll unwissend stellte. Welch feiner Humor, welch göttliche Ironie liegt in dieser Szene!

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S. 174

Szenenwechsel. Die Informationsveranstaltung eines Initiativkreises. Ich trete in den schwach besetzten Raum und frage, ob ich hier richtig sei. Bei ihnen sei ich immer richtig, antwortet der Gesprächsleiter. Er strahlte die Souveränität eines Mannes aus, der genau weiß, wo der Hund begraben wird, und in den nächsten sechzig Minuten würde er ihn ausbuddeln und vorzeigen. Es handelte sich nämlich in Wahrheit um ein Krisengespräch. Ein anderer, sehr blasser und schmächtiger junger Mann, der den Abend offenbar maßgeblich organisiert hat und schon von der äußerlichen Konstitution her die fragliche Krise gleichsam zu verkörpern schien, ergriff das Wort und schien vor allem besorgt um die Finanzen. Man sei sich ja einig über die schwierige Situation. In jedem zweiten Satz benutzte er das Wort praktisch. Es sei praktisch so, dass man nicht mehr rekonstruieren könne, wohin das Geld überwiesen worden sei. Es sei praktisch so, dass man jetzt gemeinsam eine Lösung finden müsse. Sein Vortrag erschöpfte ihn bald, denn nachdem er fertig war, nahm er zehn Globuli und sagte zunächst keinen Ton mehr. Dafür ergriff jetzt der fröhliche Gesprächsleiter das Wort. Dieses war: ganz konkret. Man müsse jetzt ganz konkret prüfen … Man sollte auch bei diesem öffentlichen Treffen ganz konkret darüber reden … Das Lustige war, dass er im Weiteren keine Anstalten machte, dem als Rundgespräch gedachten Palaver eine Form zu geben, weshalb sich das Konkrete ziemlich bald in Luft auflöste. Vornehmlich lag das an einer Frau, die sich in der Vorstellungsrunde als metaphysische Beraterin präsentiert hatte. Am Ende der völlig ergebnislosen knapp einstündigen „Tagung“ sagte der Gesprächsleiter noch, dass er es gute fände, dass man jetzt nicht mit einem Ergebnis nach Hause ginge. Dann wünschte er allen ein schönes Wochenende und wies auf eine für zehn Euro zu erstehende Studie von ihm hin, die er zu Beginn in die Tischmitte gelegt hatte.

Andreas Laudert (* 1969, Bingen/Rhein), studierte szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin und Theologie in Hamburg und Stuttgart. Tätigkeit als Deutschlehrer und in der Heilpädagogik sowie Autor von Lyrik und Theaterstücken, erhielt 2001 der Georg-K.-Glaser-Förderpreis des Landes Rheinland-Pfalz.

 

Entry filed under: Andreas Laudert, Literarisches.

Georg Wahrmunds Vorzeit-Früchte „Licht, mehr Licht!“ – zu Jana Husmann…

4 Kommentare Add your own

  • 1. S.E.  |  9. Mai 2011 um 8:27 pm

    😀

    Gut ist v.a. der letzte Ausschnitt.

    Anderes liest sich so, als wäre er ein bisschen naiv („Wohl dem, der Nutzer seiner selbst ist und Seiten besucht, die es gar nicht gibt. Jeder profiliert sich gegen den anderen. Geläster und doppelbödige Spitzfindigkeiten, Weckrufe und Warnungen, Unterstellungen und Zitatschlachten. Hochgezogene Augenbrauen allüberall.“ – ich meine: was will er erreichen, indem er das schreibt. Andererseits: Es trifft ja 100% auf die Kommentarfunktion deines Blogs zu, oder?^^)

    Den Autor Andreas Laudert kenne ich sogar ausnahmsweise nicht aus anthro-Zusammenhängen, sondern aus der Zeit (falls es derselbe ist):

    http://www.zeit.de/2003/37/Nichtreisen

    „Soll man Mitleid mit den Zuhausebleibern haben? Keineswegs, meint Andreas Laudert. Bekenntnisse eines Nichtreisenden“

    Auch naiv, aber auch gut.

    Anmerkung AM

    Rätselhaft:
    Du kennst ausgerechnet den (jedenfalls m.W.) einzigen Artikel Lauderts in der ZEIT? Woher?

    Zu den Kommentaren auf diesem Blog: ja, trifft hundertprozentig zu. Deswegen habe ich mich auch bemüht, eben diese Stelle hier zu bringen, auch wenn ich alles darauf verwetten würde, dass es zu keiner Besserung führt 😉

    Antworten
    • 2. S.E.  |  10. Mai 2011 um 2:00 pm

      Naja, ein Christengemeinschaftspfarrer, der auch in der ZEIT publiziert hat, wird natürlich gern zum Aushängeschild gemacht. Deswegen kam mir auch der verlinkte Artikel unter^^

      Anmerkung AM

      Darauf wollte ich hinaus. Danke 😉

  • 3. Andreas Lichte  |  10. Mai 2011 um 7:47 am

    kann man „locker-normales“ von Menschen erwarten, die einen „Irren“ oder „Durchgeknallten“ anbeten?

    .

    nur 2 mails:

    – der Redakteur: „Die Öffentlichkeit sollte erfahren, was für ein irrer Typ Steiner wirklich war.“

    – der Schüler: „ja, in meinen Augen ist er wirklich durchgeknallt, auch wenn ich mir darüber vermutlich kein Urteil erlauben darf, da ich nur einen Bruchteil seiner Schriften kenne. Das macht die staatliche Schule wieder erträglicher.“

    geschrieben, nachdem sie Rudolf Steiner im Original gelesen hatten:

    …………………………………………….

    http://www.ruhrbarone.de/150-jahre-rudolf-steiner-–-„aber-ich-hab’-doch-nichts-davon-gewusst“/

    „150 Jahre Rudolf Steiner – „Aber ich hab’ doch nichts davon gewusst!“

    (…) „Töne wie aus einer undichten Gummizelle!“ sagt Harry Rowohlt über Rudolf Steiner …

    Ist Rudolf Steiner psychisch krank? Wenn ja, wie lässt sich das feststellen? Wie wäre es damit, Steiner zu lesen? Unten ein link zu einem Vortrag Steiners, der unzweifelhaft rassistisch ist. Aber spannender als diese Feststellung ist die Frage, wie Steiner sein Programm „Die weiße Rasse ist die zukünftige, ist die am Geiste schaffende Rasse“ begründet:

    Warum ist das so, Zitat Steiner: „Auf der einen Seite hat man die schwarze Rasse, die am meisten irdisch ist. Wenn sie nach Westen geht, stirbt sie aus. Man hat die gelbe Rasse, die mitten zwischen Erde und Weltenall ist. Wenn sie nach Osten geht, wird sie braun, gliedert sich zu viel dem Weltenall an, stirbt aus.“

    Besuchen Sie Steiner in seiner „Gummizelle“, seien Sie Zeuge von Steiners „Kampf zwischen Vorderhirn und Hinterhirn im Kopf“. Und sagen Sie bitte nicht mehr: „Aber ich hab’ doch nichts davon gewusst!“

    http://fvn-rs.net/index.php?option=com_content&view=article&id=3709:dritter-vortrag-dornach-3-maerz-1923&catid=247:ga-349-vom-lebens-des-menschen-und-erde-&Itemid=19

    link zu: Rudolf Steiner, „Vom Leben des Menschen und der Erde – Über das Wesen des Christentums“, GA 349, Dritter Vortrag, Dornach, 3. März 1923

    Anmerkungen AM

    Lieber Andreas!

    1. Ja, kann „man“.

    2. Du hast doch einen Beleg dafür vor dir. Aber wenn der dir nicht reicht: Auch Michael Ende, um eine von Laudert kritisierte Praxis zu zelebrieren und einen halbwegs bekannten Anthro zu zelebrieren, halte ich für einen guten Autor. Dass er Anthroposophisches („psychisch krankes“?)Material verarbeitet, ist für Fantasyliteratur offenbar tauglich.

    3. Ich finde nicht, dass mensch das von Katholik_innen nicht erwarten kann, auch wenn sie jetzt eine Ampulle altes Papstblut anbeten dürfen (ach du schreck: ich bin ja selbst katholisch getauft). Ich weiß auch gar nicht, ob Religionen für psychisch krank gehalten werden sollten – ich meine: was bringt das dem, der sie so nennt, außer dem tollen Selbstgefühl, selbst „gesund“ zu sein. (3.b: Du wirst jetzt nicht ernsthaft behaupten wollen, die katholische Dogmatik und Tradition sei rationaler als die anthroposophische, sie haben allenfalls so etwas wie „Gewohnheitsrecht“, und das ist bei inhaltlich-konzeptionellen Debatten auch kein Argument.

    4. Du kannst einen Artikel, in dem du die Frage nach einer psychischen Erkrankung Steiners offen lässt, doch nicht als Beleg für ebendas anführen 😀

    5. Erwartest du, dass ich schon wieder den Rassenkram streife? Genau diese Stelle haben wir mehrfach erschöpfend diskutiert, sie ist eine derjenigen, die sich am Leichtesten historisch kontextualisieren lässt, die Paralleläußerungen über „Neger“ und „Triebe“ z.B. bei Friedrich Ebert kennst du ja inzwischen zur Genüge. Das macht den Rassismus auf gar keinen Fall besser, schließt aber eine schizoide oder psychotische Genese dieser Vorstellung aus (auf die du ja auch nur unter Ausblendung des historischen Kontexts kommst). Ich frage mich allerdings, warum du genau das wieder und wieder in derselben Weise anführst und fühle mich ebenfalls schon wieder darauf zurückgewiesen, dass du entweder

    6.a meine Kommentare nicht liest

    6.b sie ignorierst, auch wenn sie Relevanz für deine Thesen hätten

    7. Die Debatte über psychische Defizite Steiners sollte an und zu seiner Person, v.a. biographisch geführt werden, du unternimmst nichts in diese Richtung. Dein Versuch, sie als Vorwand zu benutzen, um nicht auf anders gelagerte Aussagen von heutigen Anthroposoph_innen einzugehen, schadet der seriösen Debatte darüber eher noch.

    8. Dein Kommentar ist hier allenfalls bedingt relevant. Da ich mich aber tatsächlich mal über eine Diskussion zum einschlägigen Text (in diesem Fall: der von Andreas Laudert) freuen würde, möchte ich dich bitten, entweder auf ebendiesen einzugehen, oder das ewige Posten immergleicher Zitate zumindest hier einfach mal sein zulassen. Ansonsten sei an die in der Spalte „rechts“ zu lesende Information zu meiner Handhabung von Kommentaren erinnert:

    Jeder Artikel kann kommentiert werden. Da ich aber bei Internetdiskussionen zu diesem Thema schon einiges an widerlichen Unterstellungen und Beleidigungen von pro- wie antianthroposophischen Seite gelesen habe, werden die Kommentare aber vor ihrer Veröffentlichung geprüft und ich behalte mir vor, sie ggf. zu kürzen oder nicht freizuschalten. Ich will damit niemanden „zensieren“, sondern versuchen, eine faire und möglichst sachliche Diskussionskultur zu schaffen.

    Vielen Dank für dein Verständnis! 🙂

    Antworten
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Hallo allerseits,
Ich bin Ansgar Martins, geb. 1991 und war bis Juni 2010 Schüler an der FWS Mainz. Inzwischen studiere ich Religionsphilosophie, Soziologie und Geschichte in Frankfurt a. M. Dieser Blog ( dessen "Leitbild" ganz oben rechts ) ist mein persönliches Projekt, um die oft einseitigen und selbstgerechten Pro- und Contra-Positionen in der Debatte um die Waldorfpädagogik und Anthroposophie kritisch zu kommentieren. Ich hoffe, das gelingt, und freue mich über Rückmeldungen jeder Art!

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Da ich dieses Risiko gerade bei den bekannten Verstiegenheiten anthroposophischer Websites nicht eingehen will, distanziere ich, Ansgar Martins, mich hiermit vorsorglich von ausnahmslos allen Gestaltungen und Inhalten sämtlicher fremder Internetseiten, auch wenn von meiner Seite ein Link auf besagte Internetseite(n) gesetzt wurde.

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