“Vollgas mit Handbremse“ (5.): Schule für Menschen
13. Juli 2009 at 6:47 pm 5 Kommentare
Jetzt möchte ich noch einmal einen Bogen zur eingangs erwähnten Unterrichtssitutaion schlagen: Die Verankerung von SVen im Verwaltungs“organismus“ der FWSen ist konzeptionell den Darstellungen Rudolf Steiners entgegengesetzt. Auch die starke Rolle der LehrerInnen wird seit Jahren mehr und mehr kritisch hinterfragt ( und zurecht! ), gerade unter WaldorfSVlerInnen. So hat sich auch etwa die oben erwähnte SMV der FWS Schwäbisch Hall etwa entschieden für einen offeneren, dezentraleren Unterricht ausgesprochen ( siehe 4. ).
Eine Erziehung tatsächlich vom Kind aus kann nicht funktionieren, wenn vorne einE LehrerIn steht, und ( und sei es noch so bemüht ) Stoff vermitteln will!
Jüngst forderte der bereits zitierte Rüdiger Iwan eine radikale Reform des Prinzips „Epoche“: Es ginge darum…
„…was das Kind nach außen setzen und sich wirklich auch erarbeiten möchte (…) etwas zur Lebensepoche, zum Lebensthema für ein Kind zu machen, weil es wirklich zur Entwicklung des Kindes gerade passt und es sich damit beschäftigen will. (…) Also nach innen begründet es das Prinzip: Erziehung vom Kinde her. Zusätzlich erfordert es nach außen, die Umgebungsumstände so einzurichten, dass tatsächlich jeder sein Thema finden und freisetzen kann. Das umfasst die Lernumgebung und im besonderen Maße die Frage, wie wir die Lernzeit in der Schule organisieren. Und dieser Aspekt ist nie wirklich realisiert worden. (…) Wenn wir dafür heute Praxisbeispiele suchen, dann muss ich leider sagen, würden wir eher bei einer Montessori-Schule fündig als in einer Waldorfschule.“
( Rüdiger Iwan: „Waldorfschule, ein Reformmodell im Umbruch“, Interview in: info3, Sonderheft Frühjahr 2009, S. 18f. )
In seinem eingangs zitierten Buch „Die neue Waldorfschule“ greift er die Schulrealität mit befreiender Offenheit und an vielen konkreten Beispielen an – mit vernichtendem Fazit. In Anlehnung an das schwedische Erfolgsmodell der „Portfolio“-Methode fordert er, Waldorf von einer „alternativen Schule“ ( deren Ansprüche teilweise nie verwirklicht wurden ) wirklich umzugestalten: in eine Alternative zur Schule.
Gedanken, die an vielen Stellen innerhalb der Waldorf-„Szene“ immer stärker auftauchen – Initiativen wie Captura stehen dafür, die das o.g. Steiner-Zitat anschaut und fragt:
„Was ist zu tun jeden Tag? Wenn ich an die momentane Situation der Oberstufe in den Waldorfschulen denke, sehe ich, dass da ein Programm abläuft, in dem es keine Tagesgestaltung gibt, in dem ein dynamisches Element, das jeden Tag, jede Woche, jedes Jahr vom Kind bzw. Jugendlichen aus liest, was zu tun ist. Womit ich nicht die meistens hervorragenden Leistungen der tätigen Lehrer kritisieren will (…) womit ich aber das gesamte Konzept: ‚Lernen findet nur dann statt, wenn ein Lehrer da ist, der Unterricht gibt‘ in Frage stellen will.
Wo soll ein lebendiges Geistesleben entstehen, wenn alles zugeplant ist? (…) Wie wirkt sich die heutige Schule auf die Initiativkraft aus?
Die heutige Oberstufe hat für mich etwas von Laufen wollen, obwohl man einen Krampf im Bein hat – oder von einem Auto, dass mit angezogener Handbremse Vollgas fährt.“
( Florian Lück in: „Herausforderung Freiraum…zum Leben und Lernen. Dokumentation der Tagung ‚Captura 2006‘, Witten, 2006, S. 62 )
Zweitens die Notwendigkeit eines festgelegten Lehrplans ( wie das heute meist zwischen geistleerem Dogma und aussagelosem Anspruch schwankende Konzept von „Jahrsiebten“ und den daraus vor Urzeiten abgeleiteten Epocheninhalten ).
Captura plädiert für das „Wagnis Freiraum“ auf Kosten der bisherigen Organisation von Schule. Einen Unterricht, der auf Bedürfnisse und Interessen der/ des Einzelnen Rücksicht nimmt, aber vor allem auch Platz für Begegnung schafft – ohne eine Art UnterrichtsleiterIn. Eine Schule ohne geliebte ode rungeliebte Autoritäten, sondern rein menschliche Menschen.
Dieses Problem betrifft natürlich nicht nur die Situation an Waldorfschulen, sondern die des gesamten ( zumindest des deutschen ) Bildungssystems! Dort herrscht Frontalunterricht ebenso wie an FWSen, natürlich verstärkt durch die eigenen und nicht minder schweren systemimmanenten Probleme ( Notengebung in frühen Lebensaltern, Versetzungsdruck, Selektion meist nach Klasse 4 etc. ).
Wie gesagt: Es geht nicht um einen Angriff auf einzelne LehrerInnen, meine eigene Schule empfinde ich zumindest weit überwiegend als eine gute, und zahlreiche Umfragen und Studien zeigen ähnliches für das Gros der WaldorfschülerInnen, aber das „System“ Waldorf als solches ist in vielen Aspekten geradezu erstaunlich verkrustet und überdeutlich reformbedürftig! Neue Möglichkeiten bieten sich an, Ideen ( etwa im Portfolio-Ansatz ) existieren, einzelne Schulen suchen schon aktiv nach Mitteln zur Umsetzung. Was fehlt, sind Menschen, die eine breite Basis dafür bilden, und sich aktiv für ihre Verwirklichung einsetzen! Ich bin überzeugt, dass dies v.a. SchülerInnen sein müssen.
Entry filed under: Allgemein, Anthroposophie & Philosophie, SchülerInnenpartizipation an FWSen.
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1.
Ansgar Martins | 13. Juli 2009 um 7:15 pm
Achja, im Zitat von Florian Lück auch die Beantwortung der Frage, warum die Reihe „Vollgas mit Handbremse“ heißt 😉
2. Epochenunterricht zwischen Idee, Wirklichkeit und individualisierender Neukonzeption « Waldorf Blog | 23. Oktober 2009 um 4:45 pm
[…] Diese Version von Epochenunterricht schließt ein ganz anderes Verständnis von „Epoche“ ein, das weit über das heute an FWSen gepflegte hinausgeht: Epoche als Lebensabschnitt, in dem ein bestimmtes Thema für ein Leben förderlich ist – ein gewichtiges Motiv. (vgl. Vollgas mit Handbremse 5) […]
3.
Gertrud Kiefer-Volkert | 1. Januar 2010 um 5:36 pm
Wenn oben geschrieben stände: „Warum Waldorfschulen vernünftige Lehrpläne, Lehrbücher, Unterrichtsmaterialien, -programme und pädagogische Konzepte brauchen und nicht nur auf ihre Persönlichkeit und auf anthroposophische Loyalität geprüfte Lehrer, dann hätte ich hier noch einiges anzubringen.
Schüler haben sicher einige Schulkompetenz, doch (er)finden können sie die Unterrichtsinhalte und – methoden, mit denen sie dann behandelt werden, nicht selber.
Viel zu wenig beachtet wird bei solchen Auseinandersetzungen immer, dass die schulische Bildung zu den Hoheitsaufgaben des Staates gehört. Davon (manche reden auch vom Bildungsmonopol) kann der Staat – wie im Falle von Waldorfschulen praktiziert – dispensieren.
Doch liegt die Aufsicht über das gesamte Schulwesen immer in Staatshand (Art. 7 GG).
4. Steiner = Jesus. Ein Gott, seine Gläubigen, die Ketzer und ein „trojanisches Pferd“ « Waldorf Blog | 8. Januar 2010 um 4:56 pm
[…] Wenn etwa der oben behandelte Sebastian Gronbach Steiners Heilslehre nur und ausschließlich als „symbolisch für etwas“ verstanden haben will. Oder wenn Otto Schily in seinem Vorwort zu Steiners „Kernpunkte[n] der sozialen Frage“ 1996 Steiners autoritäre Töne übersprang und diese stattdessen als Aufforderung zur „Einübung eines realitätszugewandten Denkens“ deutete (S. 167). Oder wenn anthroposophische UnternehmerInnen wie Götz Werner sich für ein Bedingungsloses Grundeinkommen, WaldorflehrerInnen wie Rüdiger Iwan für eine methodische (nicht theologische) Umorientierung des gesamten Bildungssektors bemühen (Versteinerung und Innovation, Der Schatten einer Seifenblase, Schule für Menschen). […]
5. Erziehung und Evolution – Steiners “Jahrsiebte” und die “Chimäre der Ganzheitlichkeit” zwischen Autorität, Selbsterziehung und Biologismus « Waldorf Blog | 16. Februar 2010 um 7:58 pm
[…] so dezidiert autoritäres Konzept (vgl. Vollgas mit Handbremse 1 und 5)ist für ein selbstständiges Lernen (bis ins Alter von 14!) in meinen Augen dagegen eher […]