„Vielleicht besonders empfänglich“: Anthroposoph_innen im Nationalsozialismus

23. Juni 2011 at 10:38 am 10 Kommentare

(von Laura Krautkrämer)

Vorwort von Ansgar Martins — Einmal wieder ein Beitrag zu einem der Kernthemen dieses Blogs: Die Vernetzungen von Anthroposophie und Rassismus. Und diesmal sogar von ungewohnter Seite: Die „Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland“ scheint sich auf ihrer Jahrestagung 2011 bei einer interessant besetzten Podiumsdiskussion wenn schon nicht mit der Rassenlehre des Anthroposophie-Gründers Rudolf Steiner, so doch immerhin mit dem Verhältnis von Anthroposophie und Nationalsozialismus beschäftigt zu haben.  Dabei sind unerwartete und ungewöhnliche An- und Einsichten zutage getreten, wenn etwa Bodo von Plato Schnittmengen zwischen nationalsozialistischem und anthroposophisch-esoterischem Ganzheitsdenken feststellte. Wenn auch keine neuen historischen Informationen freigelegt wurden, scheint mir das doch ein dokumentierungswürdiges Ereignis zu sein. Der folgende Bericht stammt unter dem Originaltitel „Anthroposophie in der Zeit des Nationalsozialismus“ von Laura Krautkrämer (Medienstelle Anthroposophie). Links im Text und Fußnotentexte sind von mir gesetzt.

150 Jahre Rudolf Steiner – das Jubiläumsjahr geht weiter. Die öffentliche Tagung der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland, die Mitte Juni in Weimar stattfand, wollte zu diesem Anlass ein „Begegnungsfest“ werden und sich „dem Ursprung, der Entwicklung und der Zukunft des anthroposophischen Kulturimpulses“ zuwenden, wie es im Veranstaltungsflyer hieß.

Im Rahmen der viertägigen Veranstaltung, die vom 16. bis 19. Juni 2011 im noblen Kongresszentrum Neue Weimarhalle stattfand, wurde mit einem Podiumsgespräch zum Thema „Anthroposophie in der Zeit des Nationalsozialismus“ auch ein Thema aufgegriffen, das im öffentlichen Diskurs bislang vor allem von Kritikern der Anthroposophie besetzt ist. Gerade in Weimar, das eben nicht nur ein zentraler Ort der Deutschen Klassik (und in Steiners Biographie) ist, sondern mit Buchenwald auch ein Ort des nationalsozialistischen Grauens, lag das Thema jedoch nahe. „Steiners Ideen als geistiges Fundament des Nationalsozialismus – diesen Vorwurf, diese Frage wollten wir uns nicht von außen stellen lassen, sondern sie von innen aufgreifen und damit zur Bewusstseinsbildung anregen“, betonte Generalsekretär Hartwig Schiller in seiner Einleitung.

Während das Thema anfangs als eine der zahlreichen Arbeitsgruppen Eingang finden sollte, trafen die Verantwortlichen schließlich die Entscheidung, es im Plenum zu verhandeln. Mit Bodo von Plato, Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft am Goetheanum, den Historikern Michael Rissmann und Uwe Werner (vgl. Wichtige Hinweise – falsche Prämissen) sowie Mechtild Oltmann, Pfarrerin der Christengemeinschaft, war das Podium kompetent besetzt. Moderator war Albert Schmelzer, Dozent an der Freien Hochschule Mannheim.

Was erwartet man nun von einer solchen Veranstaltung von „offizieller Seite“ zu diesem Thema? Dass die zwar wenigen, aber dennoch extrem heiklen Äußerungen Steiners (vgl. Ausrutscher oder Rassenlehre) zum „überholten Judentum“ oder dem angeblich starken Triebleben Farbiger thematisiert würden, war unwahrscheinlich. Auch wenn die internen Auseinandersetzungen um das „Frankfurter Memorandum“, dessen Unterzeichner sich dezidiert von diesen Äußerungen distanzierten, inzwischen einige Jahre zurück liegen, sind sie doch noch in Erinnerung. Tatsächlich konnte man sich in der Weimarer Runde – zu Recht – auf die verschiedenen Untersuchungen sowohl von akademischer als auch von anthroposophischer Seite stützen, die dargelegt haben, dass der von Steiner im Rahmen seines Evolutionskonzeptes geführte Rassendiskurs nicht dem völkischen Rassismus entspricht. Der Historiker Michael Rissmann betonte in diesem Zusammenhang, dass Steiner den Begriff der Rasse als etwas, das zukünftig überwunden werden sollte, postulierte. Uwe Werner, Autor des Standardwerks Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus, wies darauf hin, dass Kritiker wie Peter Staudenmaier oder Jana Husmann bei ihren Rassismusvorwürfen gegen Steiner eine klare Definition dessen, was sie unter Rassismus überhaupt verstünden, schuldig blieben [1], wodurch der Auseinandersetzung eine wichtige Grundlage fehle.

Sehr selbstkritisch in Bezug auf die anthroposophische Bewegung äußerte sich Bodo von Plato: Das Spiel zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sei ein entscheidendes Grundmuster der nationalsozialistischen Ideologie – und zwar im Sinne einer heroischen Vergangenheit, der elenden Gegenwart und der wiederum heroischen Zukunft. Auch in der Anthroposophie sei dies ein wichtiges Muster, wie es überhaupt Parallelen in der „anthropologischen Disposition“, in der Empfänglichkeit für den Faschismus und die Anthroposophie gebe. Der Grund sei eine tiefe Sehnsucht nach dem, was verloren ist und nach einem mythischen Verstehen der Gegenwart – das durch die Rationalität verhindert werde. „Man kann da eine Disposition für alle totalitären Systeme erkennen“, führte er aus. Die Nazi-Ideologie sei in diesem Sinne als Gegenbild zur Anthroposophie zu sehen, „verwandt in der Art, nicht im Wesen“.

Michael Rissmann berichtete, dass in der historischen Forschung seit den 1990er Jahren anstelle der Gesamtbevölkerung verstärkt einzelne Biographien oder auch Berufs- und Bevölkerungsgruppen betrachtet werden. „Vielleicht sollte man nicht immer auf den Nationalsozialismus blicken, genauso wenig wie auf die Anthroposophie. Aus Einzelwahrnehmungen kristallisiert sich möglicherweise ein viel tragfähigeres Bild.“ Obgleich nach einer Aussage des damaligen Vorsitzenden der Anthroposophischen Gesellschaft, Hans Büchenbacher [2], 1933 der gesamte Landesvorstand der Gesellschaft den Nationalsozialismus einhellig abgelehnt habe, schätzte er damals, dass etwa zwei Drittel der Mitglieder den neuen Machthabern gegenüber positiv eingestellt seien (vgl. Waldorf Schools in Nazi Germany). Wie die beiden Historiker Rissmann und Werner darlegten, war diese Affinität durchaus repräsentativ für das bildungsbürgerliche Milieu der Zeit, in dem es zwar Widerwillen gegen das primitive Auftreten der Nazis, aber durchaus Sympathie für deren Anliegen – etwa das Angehen gegen die „Schande von Versailles“ – gegeben habe.

Von Plato unterstrich in diesem Zusammenhang nochmals die damals vorherrschende Sehnsucht, aus der gegenwärtigen Misere herauszukommen. „Anthroposophen waren da vielleicht besonders empfänglich, da sie die Wahrnehmung hatten, dass der Diskurs nicht weiterhilft – wie die Anthroposophie ja überhaupt diskursfeindlich eingestellt war und vielleicht noch ist, weil sie ein apodiktisches Verhältnis zur Wahrheit pflegt.“ Daher habe es wohl vielfach emotionale Affinitäten gegeben, die jedoch in der Praxis, im Handeln keine Entsprechung gefunden hätten. Wie Uwe Werner berichtete, konnten aufgrund der Forschungen des dezidiert kritischen Historikers Peter Staudenmaier bisher 34 Anthroposophen namentlich identifiziert werden, die Mitglieder in der Partei oder Parteiorganisationen waren. „Selbst wenn dazu vielleicht noch 50 weitere Namen kommen sollten, ist dies im Verhältnis zu den damals rund 8.000 Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft eine verschwindend geringe Zahl“, so Werner.

Auf die schwierige Abschlussfrage, inwiefern sich aus diesem dunklen Kapitel der deutschen Geschichte Erkenntnisse ziehen lassen, die vielleicht auch der Weiterentwicklung der Anthroposophie dienen könnten, gab es erwartungsgemäß nur vorsichtige Ausblicke. „Die Anthroposophie fordert den ganzen Menschen, so wie auch totalitäre Systeme wie der Nationalsozialismus das tun,“[3] erklärte von Plato. Es sei entscheidend, trotzdem eine Distanz sowohl zur Weltanschauung als auch zu sich selbst zu bewahren, was eine ständige Gratwanderung erzwinge.

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Fußnoten

[1] Uwe Werner lag während der Erstellung seines Buchs „Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse“ noch nicht Jana Husmanns Dissertationsschrift vor, die ausführlich auf Rassismusdefinitionen eingeht und einen sehr weiten Rassismusbegriff vorschlägt, um die fluiden geisteshistorischen Dynamiken, die im modernen Rassismus mündeten, zu erfassen.  Bei dem amerikanischen Anthroposophiekritiker Peter Staudenmaier, und der lag Werner vor, heißt es: „The interpretation proposed here is premised on the idea that anthroposophy embodied a contradictory set of racial and ethnic doctrines which held the potential to develop in different directions under particular political, social, and cultural conditions. In spite of anthroposophists’ insistence that their worldview was ‘unpolitical,’ my argument will identify an implicit politics of race running throughout their public and private statements, a body of assumptions about the cosmic significance of racial and ethnic attributes that shaped their responses to fascism. Many of Steiner’s followers considered their own views to be anti-nationalist and antiracist, and there was no straight line that led inexorably to the extreme and explicit formulations of spiritual racism. What emerged were racial and ethnic stances that were frequently ambiguous and multivalent but that in several cases found a comfortable home in fascist contexts precisely because of their spiritual orientation, one that did not deign to concern itself directly with the distasteful realm of politics.“ (Between Occultism and Fascism: Anthroposophy and the politics of race and nation in Germany and Italy, 1900-1945, Diss., Cornell-University 2010, S. X)
[2] Hans Büchenbacher (1887-1977), da selbst jüdischer Abstammung, wurde nach der „Machtergreifung“ alsbald von hoher Stelle nahegelegt, von seinen Ämtern in der deutschen Anthroposophischen Gesellschaft zurückzutreten. Ihm verdanken wir einige interessante Details über Synthesen anthroposophischer und nationalsozialistische Folklore: „Ende Februar 1933 sehe ich im Redaktionsbüro [der Vierteljahresschrift ‚Anthroposophie – Zeitschrift für Freies Geistesleben‘] ein großes Bild von Hitler und darunter auf einem hübschen Brettchen einige schöne Kristalle. In dem sich daran anschließenden Gespräch zeigte sich, dass Picht stark von der nationalsozialistischen Anschauung infiziert war.“, aber Hinweise auf Anthroposoph_innen, die sich gegen den Nationalsozialismus stellten und diesbezüglich vor der Dornacher Führung der Anthroposophischen Gesellschaft enttäuscht waren: „Zu meiner Überraschung waren alle Vorstandskollegen angereist, um mit mir eine Sitzung zu halten. Sie teilten mir mit, dass Frau Dr. Steiner und Dr. Wachsmuth ganz pronazistisch seien…“  (vgl. die Auszüge aus seinen Memoiren in info3 April 1999).
[3] Vgl. dazu auch Monika Neugebauer-Wölk: Esoterik und Neuzeit. Überlegungen zur historischen Tiefenstruktur religiösen Denkens im Nationalsozialismus. Der Glaube freilich, es gebe besondere strukturelle Übereinstimmungen zwischen Esoterik und Nationalsozialismus, lässt sich nur mit schielendem Blick aufrecht erhalten, ebenso schlagend und explizit sind  nämlich die Parallelen zu und Anlehnungen an monotheistische Frömmigkeit, vgl. Claus-Ekkehard Bärsch: Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiöse Dimension der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler, München 2002 sowie Ders.: Der junge Goebbels, Erlösung und Vernichtung, München 2004.

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Laura Krautkrämer
Geboren 1973 in Bonn, Studium der Germanistik und Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (MA). 2001-2004 Beraterin in einer Unternehmensberatung für Kommunikation in Frankfurt/Main mit Schwerpunkten in den Bereichen Kulturmarketing, Stiftungs-PR und Unternehmenskommunikation/CSR. Seit 2005 freiberuflich als PR-Redakteurin und -Beraterin sowie als Zeitschriften-Autorin tätig. Lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Oberursel im Taunus. (laura-krautkraemer.de)

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„Licht, mehr Licht!“ – zu Jana Husmann… Temperamente reloaded – „Erziehungskünstler“ mit steinernen Perspektiven

10 Kommentare Add your own

  • 1. A.M.  |  23. Juni 2011 um 9:48 pm

    Inzwischen hat Peter Staudenmaier den Artikel kommentiert:

    „It’s a report on a panel discussion about anthroposophy in Nazi Germany held last week during the annual meeting of the Anthroposophical Society in Germany, a faint indication that official anthroposophy is inching ever so slowly toward a reasonable approach to this aspect of their own history. The basic apologetics remain largely the same, but anthroposophist representatives are increasingly acknowledging historical research on the topic and attempting to respond to it. It will be interesting to see if and how this process continues through the next few years.“ (23.6.2011)

    http://egoistenblog.blogspot.com/2011/06/peter-staudenmaier-zur.html?spref=fb

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  • 2. A.M.  |  23. Juni 2011 um 9:50 pm

    …und auch Michael Eggert, der meint:

    „Man kann das sicherlich so sehen wie Bodo von Plato. Das inkriminierte teleologische „Muster“ ist aber uralt und spiegelt die Heilserwartung auch einer Institution wie der katholischen Kirche. Die von von Plato gezogenen „Parallelen“ kann man in alle möglichen Richtungen ziehen. Insofern relativiert sich die Bedeutung dieses Bezuges doch erheblich. Das nimmt der fatalen Zuordnung Steiners zum „Entwicklungsstand“ bestimmter Völker und Rassen aber nicht die Brisanz.“

    http://egoistenblog.blogspot.com/2011/06/drei-zeiten.html?spref=fb

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  • 3. Rudolf Steiners Rassenlehre | Ruhrbarone  |  24. Juni 2011 um 3:47 pm

    „Rudolf Steiners Rassenlehre | Ruhrbarone

    Wie der „Bund der Freien Waldorfschulen“ Steiners Rassismus vertuscht. Von unserem Gastautor Ansgar Martins (…)“

    weiter: http://www.ruhrbarone.de/rudolf-steiners-rassenlehre/

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  • 4. 3 Jahre Rudolf Steiner ist „zum Rassenhass anreizend bzw. als Rassen diskriminierend anzusehen“ | Ruhrbarone  |  24. Juni 2011 um 3:49 pm

    „3 Jahre Rudolf Steiner ist „zum Rassenhass anreizend bzw. als Rassen diskriminierend anzusehen“

    Vor drei Jahren, am 6. September 2007, entschied die „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien“ (BPjM), dass Bücher Rudolf Steiners rassistischen Inhalt haben. Die Bücher waren nur knapp der Indizierung durch die BPjM entgangen, weil der Verlag zusicherte, alsbald kommentierte Neuauflagen herauszubringen und bis dahin die Bücher nur mit einer Beilage auszuliefern. Doch nach drei Jahren ist noch immer nichts geschehen. Unser Gastautor Andreas Lichte erstellte für die BPjM ein Gutachten zur Praxisrelevanz von Steiners Rassismus, in dem er auch die Vermittlung von Rudolf Steiner im „Seminar für Waldorfpädagogik Berlin“ darstellte. Hier ein Auszug, Zitat (…)“

    weiter: http://www.ruhrbarone.de/3-jahre-rudolf-steiner-ist-%E2%80%9Ezum-rassenhass-anreizend-bzw-als-rassen-diskriminierend-anzusehen%E2%80%9C/

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  • 5. Gertrud Kiefer-Volkert  |  30. Juni 2011 um 2:40 pm

    Machen Sie sich da mal nicht allzu viele Hoffnungen. Zugeständnisse wie diejenigen von Bodo von Plato, dass es eine gewisse Schnittmenge gebe zwischen anthroposophischem und nationalsozialistischem Gedanken-gut(?) – was ist an diesesn Gedanken gut – es sind keine guten, sondern gefährliche und auch böse (!) Gedanken – gebe, sollten einen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der weltanschauliche Totalitarismus in Reinform namens Anthroposophie die Aufgabe hat, jegliche kulturelle Errungenschaften unter seine Deutungshoheit zu stellen, denn nach eigener Auffassung gebührt der Anthroposophie die alleinige Interpretation des Weltgeschehens. Niemand sonst verfügt angeblich über so viel Einsicht in den „göttlichen Plan“.
    Da kann man schon mal ab und zugeben, wenn es die Situation erfordert, Einsicht ist es sicher nicht.
    Wie auch Skiera feststellt, ermöglicht die durch die Lehrautorität Rudolf Steiner vorgebrachte totalitaristisch- metaphysische Erklärung der realen Welt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft die Umgehung des grundlegenden Gebotes der Aufklärung nach Kant, der Mensch möge sich seines Verstandes bedienen, will heißen, sich nicht die Ansichten eines Rudolf Steiners unkritisch anzueignen.

    In der Anthroposophie scheinen sich die Antworten für alle Eventualitäten vorgeformt zu finden, was verführerisch ist in einer Welt, die keine einfachen Erklärungen bietet.
    Die Konstruktion der Anthroposophie als „Geisteswissenschaft“, wie Rudolf Steiner sie nennt, erhebt sich in ihrer epistemologischen Unbegrenztheit über alles bekannte Denken. Sie kann einem einem Hochgefühl von Allwissenheit verschaffen, an dem teilzuhaben lohnend erscheint.

    Steiners Anschauung von der „geistigen Welt“ als Erklärung für sämtliche reale Erscheinungen scheint ein Pendant in der Mathematik gefunden zu haben: Projektive Geometrie heißt die „geistgemäße“ (Louis Locher-Ernst) Geometrie, die nach Angaben von Rudolf Steiner bearbeitet wurde und fortan von
    der mathematisch-astronomischen Sektion am Goetheanum gepflegt wird.
    Wadorflehrer sollen sie unterrichten – die Waldorfschule entscheidet sich für diese nichteuklidische Geometrie, deren Bildungsqualität mit Superlativen belegt wird.

    Vor allem durch die Modellierung in „Raum und Gegenraum“ soll Bewusstsein für polare Gestaltungen geschaffen werden.
    Weiterhin sollen dadurch Kräftebereiche (gemeint sind Ätherkräfte im Sinne von Steiner) darstellbar gemacht werden, womit große Hoffnungen verknüpft sind.

    Wenig bekannt und in ihren Konsequenzen unterschätzt sind die mathematischen „Sonderwege“ der Waldorfschule.

    Bemerkenswert ist dabei auch ein von Olive Whicher entwickeltes elementares Schulungsprogramm – anthroposophische Propädeutik sozusagen – die als Schulungsmittel für die Erziehung in der Kindergarten- und Grundschulzeit entwickelt wurde.

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  • 6. Gertrud Kiefer-Volkert  |  1. Juli 2011 um 3:00 pm

    Jetzt muss ich mich noch ganz schnell korrigieren. Der Begriff „Gedankengut“ ist nicht im Text erwähnt, meine diesbezügliche Kritik ist daher überflüssig. Unverfänglich wurde an betreffender Stelle der weit gefasste Begriff „Ganzheitsdenken“ verwendet, was den in der anthroposophischen Realität vorhandenen totalitaristischen Anspruch bezeichnet.

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  • 7. Gertrud Kiefer-Volkert  |  20. Juli 2011 um 11:15 am

    Üblicherweise werden in der vorschulischen Kinderpädagogik viele Arbeiten mit Papier ausgeführt: Bastelarbeiten erfordern Schneide- und Falttechniken, die die Feinmotorik fördern, die Auge-Hand-Koordination trainieren und – und darauf kommt es mir jetzt an – den Blick für geometrische Formen sowie den Übergang von der zweiten (Ebene) in die dritte (Raum) Dimension schulen.
    Ich beschränke mich aufs Papierfalten.

    Man faltet ein Blatt auf die Hälfte (dieser Vorgang kommt bei vielen Basteleien vor) und hat damit ein Blatt halbiert, die Anzahl der Papierlagen verdoppelt.
    Wiederholt man dies, wird ein Blatt geviertelt und die Anzahl der Papierlagen vervierfacht.
    Weitere Faltungen führen nun zur Zahlenreihe 2, 4, 8, 16, 32, 64, …
    Es sind die Zweierpotenzen, die man solchermaßen (enaktiv) erhält.

    Genauso wie die Zweierreihe lassen sich auch die Dreierpotenzen vorbereiten: man unterteilt teilt das Blatt in drei gleiche Teile, faltete auf drei, auf neun, auf siebenundzwanzig usw. Praktisch wird man bald an seine Grenzen geführt, doch die Abstraktion, das Arbeiten in der Vorstellung, kennt kein Ende, ist jedoch erst in der fortgeschrittenen Schulzeit möglich.

    Bis ein Kind diese Zahlenreihe arithmetisch erfasst, muss es (er)zählen lernen, dazu muss es zunächst trennen und zuordnen lernen. Kann es dann rechnen – kleines und großes Einmaleins – kann es auch mental weiteragieren, d.h. durch Kopfrechnen die weiteren Zahlen ausrechnen. Lernt es darüberhinaus die Notation der Potenzrechnung, ist die Sache perfekt und die nächste Stufe, nämlich das Rechnen mit Potenzen – die Erforschung der Rechengesetze – kann beginnen. DIe Umkehrung der Potenzen, also die Logarithmen, sind dann das nachfolgende Kapitel.

    Die pädagogische Kunst besteht wie immer darin, solche Aufgabenstellungen einzukleiden, um die Kinder zu motivieren, die Lernschritte mitzugehen – lernzielorientierter Unterricht also – der im Kleinkindalter beginnt, wo entscheidendes Lernen stattfindet.

    Um die kindliche Aufnahmefähigkeit in Kindergarten respektive Kindertagesstätte zu nutzen (Bildung nutzt und schadet nicht!) werden daher vorschulische Bildungseinrichtungen mit verbindlichen Lehr- und Lernplänen ausgestattet werden, so die Forderungen der Bildungsplaner. Personelle Veränderungen mit akademisch ausgebildeten Fachkräften fürs fachliche Lernen (Fremdsprachenlernen ist ebenfalls angedacht) werden neben herkömmliche Fachleuten für allgemeine Erziehung treten.
    Da müssen Waldorfs sich wohl anstrengen, wenn nun der Focus auf diese Bildungsphase gerichtet wird.

    Antworten
    • 8. Andreas Lichte  |  21. Juli 2011 um 2:46 pm

      @ Gertrud Kiefer-Volkert

      „Papierfalten“? Hier geht es um die Nähe der Anthroposophie zum Nationalsozialismus. Darum:

      http://blog.esowatch.com/?p=2973

      “Der urspüngliche politische Kontext der Waldorf-Bewegung

      (…) Die Führer der Waldorf-Bewegung waren häufig gegenüber der demokratischen Weimarer Republik feindlich eingestellt, die ein Gegner des Nazismus war, während dieselben Waldorf-Führer dem Nazi-Regime in seinen frühen Jahren oft bemerkenswerte Sympathien entgegen brachten. (…)

      Hingabe an die Volksgemeinschaft und Feindschaft gegenüber der Weimarer Demokratie beschränkte sich nicht auf die offiziellen Aussagen der Führung der Vereinigung der Waldorfschulen. Ein Essay von 1934, geschrieben vom prominenten Anthroposophen Richard Karutz im Auftrag der Eltern der Stuttgarter Waldorfschule, bietet ein eindringliches Beispiel dafür, was die Waldorf-Anhänger von der neuen politischen Situation in Deutschland hielten. Er bezeichnet die Machtübernahme der Nazis von 1933 als „völkische Erhebung“ und verkündet auf der ersten Seite:

      “Die Waldorfschule in Stuttgart wurde im Jahre 1919 in der Zeit des grössten politischen und kulturellen Tiefstandes unseres Volkes als Bollwerk gegen die zersetzenden Mächte des Intellektualismus und Materialismus gegründet. […] Schon in jener Zeit vorherrschender internationaler Strömungen und trotz starker Anfeindungen hat die Schule nicht nur stets deutsches Geistesleben gepflegt, sondern geradezu die ganze Erziehung der Kinder darauf aufgebaut. Die Erfahrungen von 18 Jahren haben bewiesen, dass unsere Kinder durch die Waldorfschule zu tüchtigen, an Leib und Seele gesunden, vollwertigen Mitgliedern der Volksgemeinschaft herangebildet werden. Wir sind daher der Überzeugung, dass die erzieherische Arbeit der Waldorfschule im Rahmen des national-sozialistischen Staates mit Erfolg für den kulturellen Aufbau unseres Volkes fruchtbar gemacht werden kann.” (Eingabe der Elternschaft der Stuttgarter Waldorfschule, 14. März 1938, BArch R4901/2521: 9)

      Der Text fährt damit fort zu betonen, dass alle Waldorf-Lehrer der Stuttgarter Schule die gleichen „nationalen Überzeugungen“ teilen würden, eine vereinheitlichte Weltanschauung um die geistig-kulturelle Mission des deutschen Volkes. Als Folge dieses Bekenntnisses und dessen, was Karutz die „autoritären“ Methoden der Waldorfpädagogik nennt, traten viele Waldorf-Absolventen enthusiastisch der Nationalsozialistischen Bewegung bei. Karutz unterstrich die Hingabe der Schule an die Volksgemeinschaft, prahlte mit dem militärischen Hintergrund der Waldorf-Lehrer und zitierte wiederholt Hitler, um die Nähe der Waldorf-Ziele zu den Prämissen des Nationalsozialismus zu belegen. Die Führung der Stuttgarter Waldorfschule unterstützte Karutz Text und verteilte ihn im März 1934 unter ihren Mitgliedern.

      Es gibt viele weitere solcher Beispiele. Fast achtzig Jahre später hat die Waldorf-Bewegung diesen Aspekt ihrer Geschichte immer noch nicht bewältigt. Wir warten auf den Tag, an dem sich das ändert.”

      von Peter Staudenmaier, bei waldorfcritics auf Englisch erstveröffentlicht. Verwendung mit freundlicher Genehmigung des Autors. Übersetzung durch EsoWatch.

      Anmerkung AM

      In diesem Fall: Danke für diese Kommentierung.

  • […] kritisch mit dieser “anthropologischen Disposition” beschäftigen müssten. (vgl. Vielleicht besonders empfänglich) Die beginnenden, oft noch marginalen Versuche unter Anthroposophen, völkische Umtriebe ihrer […]

    Antworten
  • 10. Die unendliche Geschichte | Waldorfblog  |  9. November 2014 um 3:06 pm

    […] Bierl (s.o.) geschmähte Bodo von Plato hat sich bereits im letzten Jahr mit der mutigen Äußerung hervorgetan, dass das “apodiktische Verhältnis zur Wahrheit” in der Anthroposophie zu einer […]

    Antworten

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Hallo allerseits,
Ich bin Ansgar Martins, geb. 1991 und war bis Juni 2010 Schüler an der FWS Mainz. Inzwischen studiere ich Religionsphilosophie, Soziologie und Geschichte in Frankfurt a. M. Dieser Blog ( dessen "Leitbild" ganz oben rechts ) ist mein persönliches Projekt, um die oft einseitigen und selbstgerechten Pro- und Contra-Positionen in der Debatte um die Waldorfpädagogik und Anthroposophie kritisch zu kommentieren. Ich hoffe, das gelingt, und freue mich über Rückmeldungen jeder Art!

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Da ich dieses Risiko gerade bei den bekannten Verstiegenheiten anthroposophischer Websites nicht eingehen will, distanziere ich, Ansgar Martins, mich hiermit vorsorglich von ausnahmslos allen Gestaltungen und Inhalten sämtlicher fremder Internetseiten, auch wenn von meiner Seite ein Link auf besagte Internetseite(n) gesetzt wurde.

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