Archive for Mai, 2011

„Licht, mehr Licht!“ – zu Jana Husmann…

… und ihrem Buch „Schwarz-Weiß-Symbolik: Dualistische Denktraditionen und die Imagination von ‚Rasse'“

Die meisten Bücher, die zum Thema Anthroposophie und Waldorfpädagogik erscheinen, veranlassen mich emotional zu einem relativ schlichten „Ja“ oder einem ebenso schlichten „Nein“, sie sind entweder gut oder schlecht, leicht abzulehnen oder eben nützlich. Das vorliegende Buch erweckt in mir das Bedürfnis nach einem langen, langen „JA – aber…“, und was wäre besser, um eine weitere Riesenrezension zu starten? Zuerst gebe ich in den Abschnitten I – III eine Übersicht über die in dem Buch diskutierte These, soweit ich sie erfasst habe, gehe anschließend (IV.) auf Jana Husmanns Aktivitäten als Anthroposophiekritikerin und (V.) ihre Darstellung der anthroposophischen Rassenlehre ein. Dann erlaube ich mir, an vier Stellen verschwenderisch pedantische Ergänzungen zu dem Buch vorzunehmen: VI. Antike Philosophie, VII. Geschichte des esoterischen Rassismus, VIII. Ahriman und Luzifer: Steiners okkulte Typologie „des Bösen“, IX. Husmanns Bedenken gegenüber der Möglichkeit einer „ent-rassistierten“ Anthroposophie. Die Abschnitte sechs bis neun sollten auch einzeln lesbar sein.

I. Das Gespenst

„Ein Gespenst geht um in der westlichen Wissenschaft…“ beginnt der slowenische Philosoph Slavoj Žižek sein Buch „Die Tücke des Subjekts“ (dt. Frankfurt a.M, 2001, S. 7) und fährt fort:

„…das Gespenst des cartesianischen Subjekts. Um es auszutreiben, haben sich alle wissenschaftlich-akademischen Mächte zu einer heiligen Allianz zusammengschlossen: der Obskurantist des New Age … der postmoderne Dekonstruktivist … der habermasianische Kommunikationstheoretiker … der Kognitionswissenschaftler … der Fundamentalökologe … der kritische (Post-)Marxist … und die Feministin (die betont, dass das angeblich geschlechtslose Cogito in Wirklichkeit eine männlich-patriarchale Bildung ist). … Obgleich alle diese Parteien offiziell in erbitterte Kämpfe verwickelt sind (die Habermasianer gegen die Dekonstruktivisten, die Kognitionswissenschaftler gegen die Dunkelmänner des New Ade…), sind sie sich doch alle in der Ablehnung des cartesianischen Subjekts einig.“

Žižeks brilliant formuliertes – und natürlich an Marx angelehntes – Projekt, das autonome Subjekt vor den Auflösungs- bzw. Verleugnungsversuchen besagter Parteien zu retten, kommt aber gleichzeitig einer nicht minder beliebten Stimmung entgegen, die Postmodernismus, große Teile feministischer Theorie, Ökologie usw. zusammen mit dem New Age einer prämodernen Gesinnung bezichtigt, oder sie, mit Adornos Worten, theatralisch verdächtigt, nicht weniger als “das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie” (Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, 556) zu sein.

Dabei wird gern übersehen (um beim gewählten Gespensterbeispiel zu bleiben), dass etwa das cartesianische Subjekt, die res cogito, traditionell keineswegs Žižeks psychoanalytische Vorstellung vom „exzessiven, nicht anerkannten Kern des Cogito“ (Žižek, a.a.O.) stützt. Es sollte ursprünglich tatsächlich „männliche“ Attribute tragen und dualistisch von der Natur abgespalten sein – mit der Kritik an diesen Programmpunkten hat eine postmoderne Philosophie also durchaus auch viele richtige Punkte angepeilt. In diesem Sinne möchte ich die vorliegende Dissertationsschrift von Jana Husmann, „Schwarz-Weiß-Symbolik“ verstehen und würdigen, die sich eines klassischen Gegenstandes postmodern-poststrukturalistischer Kritik annimmt, ihn historisch bearbeitet und dabei tatsächlich auf eine neue Ebene hebt: Sie untersucht die Entstehung eines Selbstbildes des „vernünftigen“, „logozentrischen“ „Abendländlers“, der sich mit ehemals göttlichen Attributen versieht und meint, sich ontologisch über „die Natur“, den außereuropäischen „Anderen“ und – natürlich – „die Frau“ zu erheben. Claudia von Werlhof hat diese ideelle Grundlegung und Gemeinsamkeit von Sexismus und Rassismus in den frühen Achtzigern pathetisch-plakativ „Hausfrauisierung“ genannt, Husmann spricht von „Säkularisierung, Naturalisierung und Respiritualisierung“ schwarz-weiß-symbolischer Mythen. Ihr Buch diskutiert die „abendländische“ Philosophiegeschichte chronologisch durch, legt aber einen klaren Schwerpunkt auf eine Figur, die auf diesem Blog Dauergast ist: den Okkultisten, Philosophen und Lebensreformer Rudolf Steiner (1861-1925). Dessen Deutung der Weltgeschichte als Spielplatz geistig-geistlicher Mächte, die sich zur festen Erde verdichteten und in ferner Zukunft wieder vergeistigen werden, passt schließlich idealtypisch in ihr Untersuchungsfeld. Auch Steiners esoterisch überbaute Rassentheoreme passen zu der These, dass neuzeitlicher Rassismus letztlich eine verweltlichte, biologisierte Form religiös-geschichtstheologischer Vorstellungen darstellt.

Um eines vorwegzunehmen: Das Buch lohnt Lektüre und Anschaffung, sowohl für anthroposophi(ekriti)sch als auch für historisch Intererssierte, allerdings stehen auch große Teile online zur Verfügung, so eine Leseprobe und die Möglichkeit, das Buch nach Stichwörtern zu durchsuchen.

II. Ursprung im „Reich des Wortes“

Husmann untersucht also die Geschichte abendländischer Dualismen, ausgehend von der griechischen Antike über christliche und gnostische Diskursfelder bis in die Neuzeit. Ein Schwerpunkt liegt auf Farbmetaphern von Schwarz und Weiß in diesen verschiedenen Konzepten. Genuin mythisch-mythologische Licht-/Finsternissymbolik habe sich in der Neuzeit ungebrochen in philosophische und Wissenschaftskonzepte übertragen, namentlich in der Konstruktion von schwarzen und weißen „Rassen“ Gestalt angenommen.

Nach Horkheimer/Adornos „Dialektik der Aufklärung“ schlägt die Illusion einer rationalen Verfügbarkeit der Welt erneut in Mythologie um („Je weiter aber die magische Illusion entschwindet, um so unerbittlicher hält Wiederholung unter dem Titel der Gesetzlichkeit den Menschen in jenem Kreislauf fest, durch dessen Vergegenständlichung im Naturgesetz er sich als freies Subjekt gesichert wähnt.“ Dialektik der Aufklärung (1944), Frankfurt a.M. 1988, S. 18). Die verwandte These, dass das Erbe eines „christlich-abendländischen Dualismus“ auch den Rationalismus der Aufklärung negativ geprägt habe, dass schließlich aus beider Drang, zu ordnen und zu kategorisieren, auch die ersten Rassenspekulationen hervorgegangen seien, ist verbreitet, aber selten ausführlich ausgeführt.

Husmann zitiert zunächst aus relativ aktuellen Symbollexika, die den symbolischen Bedeutungen der Farben Schwarz-Weiß erstaunlich oft noch heute „rassische“ Assoziationen zuordnen. Ein Lexikon der Traumsymbole von 2005 führt etwa noch das Stichwort „Neger“  mit der Erklärung „Widerstreit des Hellen gegen das Dunkle, meist negatives Innenleben.“ (Husmann-Kastein, 61). Sie diskutiert des Weiteren im Kapitel „Angst vor der schwarzen Republik“ die Erkennungsfarben verschiedener politischer Parteien durch, die etwa im Sommer 2009 in eine rassistische Wahlwerbungder Grünen mündeten.

Es stellt sich bald die Frage, wie das dualistische Denken, dessen Dominanz sich in den alten Gegenüberstellungen Gott-Welt, Mensch-Tier, Kultur-Natur, Geist-Materie, Mann-Frau etc etc ausdrückt, geistesgeschichtlich entstanden ist. Hier widmet sich Husmann unter Ausklammerung der iranisch-zoroastrischen Ideenwelt der griechischen Antike. Sie postuliert unter Berufung auf Gerburg Treusch-Dieter und lustigerweise in Übereinstimmung mit Jaspers oft kritisierter These von der „Achsenzeit“ einen geistesgeschichtlichen Umschlag um 800/600 vor Christus (S. 64). Das vorherige mythische Weltbild (Ernst Cassirer und Jean Gebser würden sich freuen) sei mit der „Vorstellung vom ‚Heiligen Paar‘ verbunden“, matriarchalisch geprägt und „vom zyklischen Kult der Wiedergeburt“ bestimmt (ebd.) gewesen. Das ab 800 v. Chr. einsickernde Weltbild sei dagegen das dualistisch-anti-zyklische Postulat eines „geistigen, symbolisch männlichen Schöpfungsprinzip“ gewesen (spaßigerweise setzte Rudolf Steiner, was Husmann leider nicht analysiert, exakt an diesem Punkt den Wechsel von der „Kulturepoche der Empfindungsseele“ zu der der „Verstandesseele“ an). Husmann enthält sich trotz ihrer offenbar kritischen Sicht auf die Entwicklung von der Polarität zur Dualität glücklicherweise der politischen Forderung eines Harald Strohm nach „mythischer Rücktransformation“ in vor-antiken Mythos.

Anders aber als Strohm schildert sie, diesmal unter Berufung auf Jan Assmann und Christina von Braun, allerdings, wie diese geistesgeschichtliche Revolution zustandegekommen sein könnte. Die Entwicklung der griechisch-phonetischen Schrift habe erstmals zu einer „atomisierten“ Darstellungsmöglichkeit für Vokale und Konsonanten geführt und es, so Assmann, damit zuerst ermöglicht, „mündliche Rede unverkürzt, vollständig und fließend wiederzugeben“ (zit. auf S. 63). Auf Grundlage dieses Schriftsystems habe sich ein „körperunabhängiges, abstraktes Reich des Wortes“ entwickelt – und der logische Schluss: Die konzeptionelle Trennung von Körper und Intellekt. Nach dieser Trennung, die die antike Philosophie prägte, sei es, so Husmann unter Berufung auf C.v. Braun, zur Identifikation des „Geistigen“ mit Männlichkeit und des „Körperlichen“ mit Weiblichkeit gekommen. Punkt. Die Leser_innen (zumindest solche, die, wie bedauerlicherweise ich, nur oberflächlich Ahnung von Geschlechterforschung haben) bleiben im Unklaren darüber, woher diese Verbindung stammen könnte. Zwar weiß auch ich seit Judith Butler, dass die Trennung von gender und sex, also: „kulturell konstruiertem“ und biologischem Geschlecht, hinfällig ist (weil auch die Wahrnehmung von sex niemals authentisch, sondern auf Grundlage kultureller Eigenschaftszueschreibungen stattfindet), aber: wie kommt es zur Assoziation von „Geist“ und Männlichkeit bzw. „Körper“ und Weiblichkeit?

Wie auch immer. Nach Diagnose der dualistischen Symboliken eilt Husmann hurtig die verschiedenen antiken Philosophien durch. Dabei lässt sie Kyniker, Skeptiker und Epikureer unerwähnt, führt aber als Beispiel für Vertreter dualistischer Weltbilder Platons Konzept von ewigen „Ideen“ und schattenhafter Materie sowie die Stoiker an. Natürlich ist auch Aristoteles unvermeidlich bzw. sein Hylomorphismus, der die Platonischen Urtypen verwirft und den Fokus auf das konkret existente Ding („ousia“) als Hybriden seiner spezifischen geistigen „Form“ (morphe) und von dieser gestalteter materieller Grundlage (hyle) legt. Aristoteles‘ berühmte Stereotypisierung, dass der Mann vornehmlich den geistigen Part, die Frau dagegen den Materiellen verkörpere, hat Geschichte gemacht.

III. „Weißwerden“

Karriere des Dualismus in Kirche, Gnosis und Aufklärung

Diese dualistischen Geist-Materie-Spekulationen prägten auch die christliche Weltsicht, etwa die „Logostheologie“ (S. 91), in der der jungfräulich-reine Körper Marias nicht von der Sünde „befleckt“, sondern vom göttlichen Wort buchstäblich beschrieben wird (hier fällt wieder die These des Zusammenhangs zwischen Dualismus und griechischer Schrift ein). Husmann diskutiert die Beschreibung Christi als „weißes“ Lamm, überhaupt Schwarzweißssymbolik im Neuen Testament und natürlich die Darstellung Christi als des Ehegatten seiner weltlichen „Gemeinde“: Hier werde die mythisch-zyklische Symbolik des Heiligen Paares einer dualistischen Wertung unterworfen.

Und schließlich wird, als Vollendung altertümlichen Schwarz-Weiß-, Licht- und Finsternisdenkens, die spätantike synkretistische Religiosität Gnosis behandelt. Die Gnostiker der verschiedenen Schulen hatten eines gemeinsam: Den Glauben an einen unendlich lichten Himmel und an eine davon nach allen Regeln der Kunst hermetisch abgeschottete Hölle. Unglücklicherweise, so glaubten die Gnostiker, sei diese Hölle nichts anderes als unsere Erde mitsamt der menschlichen Nöte und Leiden. Die Schöpfung sei entsprechend ein großer kosmischer Unfall und der Sturz des Menschen aus dem Licht in Finsternis, Sünde und Materie gewesen. In einem komplizierten Weg der Askese und der Frömmigkeit müsse jeder Mensch seinen demütigen Rückweg ins Lichtreich antreten. Auf diesem Weg wurden des Öfteren drei Gruppen von Menschen, gewissermaßen drei Tauglichkeitsgrade unterschieden: Die Pneumatiker, geistig und dem lichten geistigen Dasein schon am nächsten, die Psychiker, noch der irdischen Seele verhaftet, und die gänzlich trostlosen Hyliker, der irdisch-dämonischen Materie verfallen. Auch und gerade hier finden sich die Zuordnungen von schwarz und weiß – zu den beiden antagonistischen Daseinsebenen, aber auch zu „weißen“ Erleuchteten und „Lichtgewändern“ bzw. „schwarzen“ Erdverhaftungen. Besonders ungünstig kommen bei Husmann die Manichäer weg, deren verästelte Kosmogonie und Heilsgeschichte sie (offenbar inspiriert von Harald Strohms irritierend gnadenloser Antimanichäismus-Polemik) zusammenfasst. Am Ende bringt sie allerdings auch einen Fall positiv konnotierter gnostischer „Schwärze“ („Das erste schwarze Wort Gottes“): In der Kabbalah.

„Demiurgischer Humanismus“?

Das Mittelalter und die höfische Dichtung umschifft Husmann elegant und lässt so leider (wenn ich es nicht überlesen habe) auch nicht durchblicken, was sie von dem als „Höllenmohr“ bezeichneten Teufel bei Walther von der Vogelweide oder von der Schwarz-Weißsymbolik in Wolframs „Parzival“ (vom Elsterngleichnis bis zur Hautfärbung des Feirefiz) hält. Stattdessen erklärt sie, die Übertragung der schwarzweißsymbolischen Codierung von „Licht“ und „Geist“ bzw. „Finsternis“ und niedriger Materie auf ethnische Gruppen („Rassen“) habe erst in der Neuzeit stattgefunden. Das knapp 60 Seiten umfassende Kapitel „Weißwerden: Historische Vorläufer und Anfänge rassentheoretischer Farbgebung“ stellt dann auch das  Herzstück der Untersuchung und deren mit Abstand fesselndsten Teil dar. Husmann dokumentiert den „demiurgischen Humanismus“ (Sloterdijk) der Rennaissance und Aufklärung, bei dem sich der Mensch (bzw.: primär „der Mann“) den vormals Gott zugedachten Part des lichten und v.a. schöpferischen Prinzips zuordnete. Erst allmählich und in kleinen Schritten (Husmann analysiert v.a. die Stellung der galenischen Viersäfte- und Temperamentenlehre) wurde allerdings das Konzept verschiedener Hautfarben, „Rassen“ und schließlich Charakterunterschiede dieser „Rassen“ ausgebrütet. Husmann kann zeigen, dass Hautfarben als Unterscheidungskriterium überhaupt erst durch die unterschiedlich attributierten Farbsymboliken von lichtem Weiß und niederem Schwarz relevant wurden. Das hat auch Auswirkungen auf den Rassismusbegriff: Schon historisch lässt sich so nachweisen, dass bereits der „Rassenbegriff“ fiktiv aus protorassistischen symbolischen Wertungen hervorgegangen ist. Nicht zuletzt sind in diesem Kapitel die Rassentheorien Immanuel Kants und Carl Linnés übersichtlich dargestellt. Ein eigenes Kapitel widmet Husmann dem romantischen Esoteriker Carus und seiner Rassenlehre, in der die Menschheit in Tag-, Nacht- und Dämmerungsvölker eingeteilt wird.

Aber nun endlich zu dem Grund, der mir das Vergnügen verschafft, das Buch hier vorzustellen.

IV. (K)eine Liebesgeschichte: Husmann und die Anthroposophie

Die Autorin hat sich nämlich bereits mehrfach zur Anthroposophie bzw. zu „Schwarz-Weiß-Konstruktionen im Rassebild Rudolf Steiners“ zu Wort gemeldet und war in einen der jüngeren anthroposophischen Eklats verwickelt:

Am 21.06.2006 stellte das Bundesfamilienministerium einen Antrag an die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, zwei Bücher Rudolf Steiners nach § 18 des Jugendschutzgesetzes auf den Index zu setzen. Es handelte sich um die Bände 107 und 121 seiner Gesamtausgabe, Mitschriften von zwei Vortragsreihen Steiners, die bereits mehrfach in der Kritik waren, weil er darin seine evolutionär hierarchisierte Rassentheorie ausbreitet (ich komme unten noch inhaltlich auf sie sprechen).

Im dadurch eingeleiteten Verfahren nahmen die Steiner-Nachlassverwaltung sowie der „Bund der Freien Waldorfschulen“ Stellung, es gab ein gewaltiges Medienecho und an den nach Steiners Pädagogikvorstellungen arbeitenden Waldorfschulen einiges aufgeregtes Getuschel in den Gängen und hinter verschlossenen Türen, bevor die BPjM am 06.09.2007 erklärte, die Bände seien tatsächlich in der Lage, Jugendliche zu „Rassenhass“ anzuheizen. Da der Steiner-Verlag aber zugesichert hatte, kritisch kommentierte Neuauflagen auf den Weg zu bringen, entschied die Bundesbehörde, es handle sich um einen Fall „von geringer Bedeutung“ und sah von einer Indizierung ab. Noch im letzten Sommer erlebte der Vorfall ein Nachbeben, als eine rechtsanthroposophische Zeitschrift kreativ beschloss, da die zwei Bücher inzwischen immernoch nicht wieder aufgelegt würden, müsse eine skandalöse Verschwörung vorliegen.

„Die bei uns eingegangenen Reaktionen gehen von ‘geistigem Verrat’ über ‘Skandal’ bis zur ‘Katastrophe’ etc.“ (Marcel Frei: Rudolf Steiner am Dornacher Pranger, in: Der Europäer, September 2010, S. 9, vgl. Bilder und Sachen, Absatz „Grabenkämpfe“).

Und wie zuverlässig jedes Mal, wenn Anthroposoph_innen Verschwörungstheorien aus dem Hut zaubern, glauben diverse Kritiker_innen der Anthroposophie schon lange dieselbe Geschichte: Natürlich sind die aber überzeugt, dass das Ausbleiben der Neuauflage nicht aus anti-, sondern proanthroposophischen Motiven geschehe. Das ganze entbehrt, wie Ralf Sonnenberg resümmierte, einer gewissen Komik nicht:

„Die Annahme …, theosophische Insider-Literatur aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gehöre zu den bevorzugten Freizeitlektüren heutiger Teenager, zielt, sofern sie überhaupt ernst gemeint ist, an der Lebensrealität von Jugendlichen vorbei.“ (Hagalil)

Natürlich hatte das Familienministerium den Antrag auf Indiziderung der beiden Bände auch nicht gestellt, weil dort jemand spontan Lust bekam, Steiners Nachlass-Verwaltung zu mobben. Zwei Anthroposophiekritiker_innen hatten ein diesbezügliches Empfehlungsschreiben sowie entsprechende Gutachten eingereicht, als „ultima ratio, doch noch eine wirkliche Diskussion zur Anthroposophie und damit zur Waldorfpädagogik in Gang zu setzen“ (Stern): Eines von dem Berliner Grafik-Designer Andreas Lichte, der 2001 in einer Fortbildung zum Waldorf-Werklehrer die aktuelle Präsenz anthroposophischer Kulturchauvinismen festgestellt hatte. Das andere stammte von Jana Husmann (damals noch mit dem Doppelnamen Husmann-Kastein) und enthielt in vielen Punkten ihre auch online zu findenden sowie gleich noch einmal zusammengefassten Darlegungen über Steiners Rassenlehre.

Jana Husmann hatte Kulturwissenschaften und Gender Studies an der Universität Bremen und der Humboldt-Universität Berlin studiert. Nachdem sie 2003 ihre Magisterarbeit mit dem Titel „Schwarz-Weiß-Konstruktionen im Kontext des Rassismus – Zur Bedeutung von Farbsymbolik in den historischen Anfängen der Rassentheorie und sozio-politischer Identität“ vorgelegt hatte, veröffentlichte sie einige Aufsätze im Themengebiet „Kritische Weißseinsforschung“, soweit ich behaupten darf, sie zu überblicken, mit einem Schwerpunkt auf Geschlechterkonstruktion in den jeweiligen Rassen- bzw. Hautfarbekonzepten. 2007 erschien etwa ein zum Thema Anthroposophie relevanter Aufsatz mit dem Titel „Rassisierte Lichtgestalten – dunkle Krisen: Christus, Karma und Erlösung bei Rudolf Steiner“. Nachdem sie 2003-2006 Promotionsstipendiatin der Rosa-Luxemburg-Stiftung gewesen war, legte sie 2008 die nun überarbeitet in Buchform erschienene Dissertation vor. 

V. Dualistische Rassentheorie bei Steiner

Husmann grenzt Steiners esoterische Anthroposophie zunächst deutlich vom völkischen Okkultismus seiner Zeit ab…

„Gegenüber dem eugenisch inspirierten Rassenmystizismus eines Lanz von Liebenfels und den zeitgenössisch empiristischen Rassen- und Entartungstheorien ist die Anthroposophie des Okkultisten und selbst erklärten Hellsehers Rudolf Steiner ihren formulierten Grundsätzen nach durch eine Rhetorik der Egalität und Ganzheitlichkeit geprägt. So proklamiert Rudolf Steiner 1906: Das ‚anthroposophische Christentum‘ verheiße einen ‚Bürger des Geistes‘ – ‚ohne Unterschied von Rasse und Geschlecht.'“ (S. 232f.)

…um anschließend klarzustellen, dass dieser egalitäre Anspruch keineswegs erfüllt werde. Strukturell parallel zu Steiners Kosmologie und Wissenschaftsanspruch ist mit geringem Aufwand eine sehr explizite Rassentheorie (wenn auch nicht von „ariosophischen“ Ausmaßen) zu finden. Husmann betont zunächst, dass Steiner damit kein Einzelgänger war, sondern die von ihr so ausführlich beschriebene Verweltlichung und Verwissenschaftlichung von Schwarz-Weiß-Symboliken fortschrieb:

„Versteht Zander die Anthroposophie gegenüber der ‚hegemonialen Wissenskultur‘ des institutionalisierten Christentums und der institutionalisierten Wissenschaft als ‚minoritäre Kultur‘, so werde ich im Folgenden herausstellen, dass jedoch bereits die anthroposophische Erkenntniskonzeption … substantiell … als Bestandteil der zeitgenössischen hegemonialen Weißen Wissenskultur zu begreifen ist.“ (S. 251)

Die Ausführungen zu diesem Punkt sind interessant, aber anders als Helmut Zander in seiner Geschichte der Anthroposophie in Deutschland übergeht Husmann – trotz sehr gewissenhafter Darstellung – weitestgehend Steiners okkultistischen Kontext. Der Mesmerismus, der aus ihm erwachsene Spiritismus und die aus diesem entstandene Theosophie verbanden religiöse Sehnsucht angesichts einer scheinbaren wissenschaftlichen Sinnentleeung mit dem Projekt, nun Religiöses wissenschaftlich zu erforschen. Parallel dazu ging Steiner, auch wenn er spiritistische Methoden polemisch als Quacksalberei zurückwies.

„Mehr Licht!“ – die Esoteriker_innen des 19. Jahrhunderts fühlten sich in einer finsteren, sinnentleerten Welt des Materialismus, der sie durch wissenschaftlich-moderne Methoden das Licht der Gotteserkenntnis wiedergeben wollten*

Allerdings folgt auch in Husmanns Buch eine Darstellung der anthroposophischen Kritik an der „materialistischen“, „ahrimanischen“ Wissenschaft der Neuzeit sowie Steiners Versuch, eine „christliche Wissenschaft“ vorzulegen. Darauf werde ich unten im Absatz VIII zu „Ahriman und Luzifer“ noch eingehen. Indem sie diese beiden Typen von (guter und böser) Wissenschaft aus dem Steinerschen Oeuvre herausdestilliert, gelangt Husmann zu einem sehr klaren Dualismus in der anthroposophischen Weltsicht. Analog dazu sei Steiners Rassentheorie konzipiert. Hier wiederholt Husmann teils nahezu wörtlich Formulierungen und Thesen aus ihren früheren Kritiken an Steiners Rassentheorie, weshalb ich der Einfachheit halber eine Zusammenfassung aus einer dieser Schriften heranziehe:

„Erstens versteht Steiner ‘Rasse’ als eine der heutigen Menschheit übergeordnete Kategorie, ‘Rasse’ erscheint hier als Bezeichnung für verschiedene Zeitalter und ‘Menschheitsstadien’. Dafür steht das sogenannte ‘Wurzelrassensystem‘, das Steiner weitgehend von der Theosophin und Okkultistin Helena P. Blavatsky übernimmt. In diesem (neognostischen) Evolutionsmodell entwickelt sich der Mensch nach Steiner überhaupt erst zu seiner heutigen physischen und seelischen Gestalt. Es beinhaltet einen Prozess vom Geistkörper zum gegenwärtig physisch festen Körper, zum sog. „Knochenleib“, in der fernen Zukunft komme es zu einer erneuten Vergeistigung.

Neben dem, der heutigen Menschheit übergeordneten Evolutionsmodell der „Wurzelrassen“ versteht Steiner ‘Rasse’ zweitens jedoch zugleich als eine Strukturkategorie der gegenwärtigen Menschheit. Hierbei entwickelt er drei bis fünfgliedrige Modelle … Außereuropäer werden durch die dunkle Materie, durch ‚Verhärtung’, Verknöcherung’ und den Begriff der Degeneration gekennzeichnet, die als weiß beschriebenen Europäer stehen für geistige Potenz und die Entwicklung hin zu einer zukünftigen lichten Vergeistigung. In diesem Sinne lässt sich auch Steiners viel zitierte Aussage verstehen: „Die weiße Rasse ist die zukünftige, ist die am Geiste schaffende Rasse.“ Vor dem Hintergrund der abendländisch geistesgeschichtlichen Tradition der Codierung des Geistes als männlich und der irdischen Materie als weiblich lassen sich diese Verknüpfungen der ‘weißen Rasse‘ mit Geist und der nicht-weißen ‘Rassen‘ mit der verhärteten Materie immer auch als symbolisch geschlechtlich codiert begreifen.“ (Schwarz-Weiß-Konstruktionen…)

Während sich die früheren Publikationen weitestgehend auf eine Darstellung von Steiners Rassenmodellen beschränkten, geht Husmann in ihrer Dissertation nun auch ausführlicher auf Steiners theosophisches Frauenbild ein (S. 259-256), das letztlich wenig originelle Polaritäten passiv-phantasievoller Weiblichkeit und aktiv-zielgerichteter Männlichkeit mit esoterischen Theorien ummantelt. Interessant ist, dass Steiner diese simplen Zuordnungen teilweise erkannte und kritisierte, ohne aber selbst davon loszukommen.  Bedauerlicherweise unterlässt es Husmann vollständig, auf die aufschlussreiche Geschichte Steiners persönlicher Frauenbeziehungen einzugehen.

Ein mit „Egalität?“ übertiteltes Unterkapitel stellt die Frage, wie der anthroposophische „Grundsatz, den Kern einer allgemeinen Brüderschaft zu begründen ohne Rücksieht auf Rasse, Farbe, Stand und so weiter“ (Steiner, GA 54, 1966, 153f.), mit dieser evolutionär hierarchisierten Rassentheorie in Einklang steht. Hier verweist Husmann auf den Reinkarnationsglauben: Das geistige „Ich“ des Menschen verkörpere sich in verschiedenen Leben in verschiedenen „Rassen“:

„So können wir also gewiß sein, wenn wir auf diesen Kern unseres Wesens schauen, daß wir mit ihm teilnehmen werden nicht nur an den Sonnen- oder vielleicht auch Schattenseiten aller Rassen, aller Volkstümer, sondern wir können gewiß sein, daß wir in unserem innersten Wesen aufnehmen Beitrag auf Beitrag der Segnungen aller Rassen und Volkstümer, indem wir einmal da, einmal dort inkarniert werden.“ (Steiner, GA 121, 1982, S. 86)

Allerdings: Die negative Wertung „außereuropäischer“ „Rassen“ in Steiners Weltbild wird so eben nicht aufgehoben, sondern durch die Behauptung, immerhin auf „geistiger“ Ebene herrsche Egalität, im Gegenteil noch zementiert. Ein eigenes Kapitel widmet sich schließlich heutigen anthroposophischen Versuchen, mit Steiners Rassentheorie umzugehen. Dabei streift Husmann länger die unglücklichen Versuche eines Lorenzo Ravagli, Steiners Rassentheorien u.a. unter Bezugnahme auf die vorgeschaltete Reinkarnationslehre als „humanistisch“ zu reinterpretieren (vgl. Ravagli, die Rassen und die Rechten, Leitmotiv Zertrümmerung, Rudolf Steiners Rassenlehre). Aber auch das „Frankfurter Memorandum“ der dialogoffenen anthroposophischen Zeitschrift „info3“, das immerhin einzelne rassistische Stellen thematisiert, wird zitiert und zurecht als „Minimalkritik“ (S. 328) kritisiert. Es wird an einem Beispiel gezeigt, dass der eurozentrische Blick anthroposophischer Rassentheorien auch noch in aktuellen Waldorfschulbüchern auftaucht. Dass das entsprechende Buch heute noch als Unterrichtsgrundlage aufgelegt wird, ist umso erstaunlicher, als sogar ein überschwenglich positiver anthroposophischer Rezensent die darin Kulturchauvinismen zumindest am Rande feststellte:

„Die meisten Kapitel erschienen schon in früheren Jahren (zwischen 1954 und 1997 in den Zeitschriften ‘Erziehungskunst’ und ‘Die Drei’), vier von insgesamt vierzehn Beiträgen sind Originale und damit Erstveröffentlichungen. Beim Lesen bemerkt man durchaus den zeitbedingten Sprachhorizont, der manche Wendung heute auch kritischer bewerten läßt als zur Zeit der Erstveröffentlichung … Wenn Suchantke von Tieren kategorisierend spricht, kann man gut folgen. Unangenehm berührt jedoch kann man von dieser Sprache werden, wenn sie sich auf Menschengruppen und -rassen bezieht (‘der Indio, der Weiße, der Schwarze’ (S. 38)).“ (Creyaufmüller, Rezension)

Husmanns Darstellung ist natürlich ungleich detaillierter und kritischer. Behandelt wird von ihr natürlich auch das oben erwähnte BPjM-Verfahren. Als relativ krasser Schnitzer ist hier festzuhalten, dass sie allerdings nicht beschreibt, dass und wie sie in dieses Verfahren involviert war. Weder auf ihr Gutachten (das wird nur in einer Fußnote „der Vollständigkeit halber“ erwähnt, S. 321) noch auf ihre Motivation oder irgendeine persönliche Position geht sie ein, sondern erhält die hier fiktive Position der neutralen Außenperspektive aufrecht. Auf Husmanns Fazit für dieses Kapitel, eine um diese Rassentheorien bereinigte Anthroposophie sei kaum vorstellbar, werde ich unten (unter 4.) noch behandeln.

Was fehlt

Im Folgenden will ich an vier Punkten aufzeigen, wo die Untersuchung einseitig ist bzw. welche Themenbereiche eine Analyse farbsymbolischer Dualismen besonders mit Blick auf die neuzeitliche Esoterik noch beachten könnte. Diese Exkurse ändern nichts an der Qualität von Jana Husmanns Untersuchungen, denen großenteils schlicht zuzustimmen ist, sie stellen einzig meine eigenen Gedanken und Anmerkungen zum Thema dar und sind vielleicht für die einen oder anderen interssant.

Husmann beruft sich in ihrem Buch oft und gern auf das Buch „Die Gnosis und der Nationalsozialismus“ (Harald Strohm), das der Religionswissenschaftler Holger Nielen in einer durchaus positiven Rezension als „Kaperfahrt durch die Philosophiegeschichte“ bezeichnete. Diese Beschreibung mag auch auf ihr Buch in Teilen zutreffen. Zwar ist Strohms Buch durch weitläufige Exkurse und einen assoziativen Stil ganz anders als Husmanns nüchtern-wissenschaftliche Untersuchung, aber beide durchschreiten die abendländische Geschichte mit einem etwas mehr als nur thematisch bedingten Tunnelblick. Vom Beginn des dualistischen Denkens im alten Griechenland bis zum rassen- und geschlechtertheoretischen Schwarzweißdenken in aktuellen Symbollexika scheint sich eine kontinuierliche, ungebrochene und – in sich – logische Beziehung aufzubauen. Die beurteilt Husmann durchweg kritisch. Aber statt zu zeigen, wo und an welcher Stelle Irrtümer diese Konstrukte aufbauten und verstärkten, präsentiert sie scheinbar nur lauter Plausibilitäten: Vom Anfang eines abstrakten, körperunabhängigen „Reich des Wortes“ durch die Erfindung der „atomisierten“ Konsonanten- und Vokalschrift im Alten Griechenland bis zu Steiners befremdlicher Vorstellung, der vergeistigte Mensch zukünftiger kosmischer Perioden werde Nachkommen ebenfalls körperlos aus den Sprechorganen (er)zeugen – nach der Lektüre des Buches scheint zwischen alledem eine zwar unendlich bedrückende, aber existenziell mit abendländischer Philosophie, aufklärerischem Humanismus und neuzeitlicher Wissenschaftsgeschichte verflochtene Traditionskette zu stehen.

VI. Antike Philosophie

Dem ist aber keineswegs so – schon zu Beginn von Husmanns Darlegung ließen sich auch zahlreiche Gegenentwürfe finden: In der griechischen Philosophie. Sie führt Platon und dessen Zwei-Welten-Theorie an – zweifellos dualistisch, doch ging es Platon in seiner Ideenlehre auch um die erkenntnistheoretische Überwindung der „Kluft“ zwischen abstrakten, ewigen, unentstandenen „Ideen“ und konkreter, in ständiger Veränderung begriffener Materie: Im „Liniengleichnis“ (Politeia VI, 509-510) führt Platon aus, dass nicht nur durch abstrakte Schau begnadeter Philosophen die „Ideenwelt“ zu erreichen sei, sondern auch empirisch durch analoge Bildungen der Natur. Auch hat Platon in seinem Dialog „Theätet“ immerhin einmal den Vorschlag gemacht, Ideen nicht als ontologisch höhere Strukturen von Wirklichkeit, sondern als mentale Strukturen zu erfassen. Und Husmann vergisst drittens zu erwähnen, dass Platon, anders als sein Schüler Aristoteles, von einer gleichen mentalen Befähigung bei Männern und Frauen (zumindest in seinem utopischen „Philosophenstaat“) ausging. Und wenn auch Aristoteles Urheber oder zumindest erfolgreicher Propagandist jenes leidigen Philosophems von den erkenntnisfähigen, „geistigen“ Männern und irgendwie unschöpferischen, da rein materiell-irdisch dominierten Frauen war, so war er doch auch der wahrscheinlich erste, der die  Bedeutungslosigkeit unterschiedlicher Hautpigmentierungen aussprach:

„…zum Beispiel befußt und beflügelt bringt Artverschiedenheit hervor, weiße und schwarze Farbe dagegen nicht. Vielleicht liegt der Grund darin, dass jenes eigentümliche Affektionen der Gattung sind, dieses aber weniger. Und indem nun etwas teils Begriff [logos] ist, teils Stoff [hyle], so bringen die den Begriff treffenden Gegensätze Artunterschiedenheit  [diaphorà eídei] hervor, die mit dem Stoff zusammengefassten dagegen nicht. Daher bringt weiße und schwarze Farbe keine Artverschiedenheit hevor, und der weiße Mensch steht zu dem schwarzen nicht in einer Unterschiedenheit der Art nach, auch dann nicht, wenn man für jeden einen Namen setzt. Denn der Mensch ist hier nur als Stoff genommen, der Stoff aber bewirkt keinen Unterschied; deshalb sind ja auch die einzelnen Menschen nicht Arten des Menschen … also ist der Mensch nur in akzidentellem Sinne weiß. … zwischen dem weißen Menschen und dem schwarzen Pferd besteht eine Verschiedenheit, und zwar eine Artverschiedenheit, aber nicht insofern, als der eine weiß, das andere schwarz ist; denn sie würden ebensogut der Art nach verschieden sein, wenn beide weiß wären.“ (Aristoteles: Metaphysik,  Buch 10, IX, 1058a ca.35 – 1058b ca.22; Übersetzung von Hermann Bonitz)

Aristoteles – nicht gerade Antisexist, aber auch Urheber der „ersten antirassistischen Sätze in der Geschichte“ (Christian Delacampagne)

Auch die an einer Stelle (S. 70) erwähnten Stoiker waren nicht die Propheten einer körperlosen, „samenhaltige[n] Weltvernunft“ [Hans Leisegang], sondern fassten die Welt in einem materialistischen Monismus als geschlossenen Mechanismus auf, in dem die „Weltvernunft“ mit einem periodisch wiederkehrenden „Weltenbrand“, einer Art „Urfeuer“, aus dem alles besteht und in das sich auch alles allenthalben aulöst, in Eins gesetzt wird. Auch das ist alles andere als eine dualistische Konstruktion, wenngleich das Feuer auch als „logos“, „Zeus“ oder „Seele“ bezeichnet wird. Gänzlich unerwähnt bleibt bei Husmann auch der Atomismus Epikurs.

Husmanns Diagnose ist insgesamt völlig richtig, doch weder die antike Philosophie noch Gnosis oder frühes Christentum sind derart kontinuierlich und bruchlos dualistisch und von Schwarzweiß-Motiven durchtränkt, wie es ihre Untersuchung suggeriert. Andererseits: Hätte Husmann jeden Pfad der Geistesgeschichte auch auf ihrer These widersprechende Gedankengebäude abgeweidet, wäre eine mehrbändige Geschichte der Philosophie entstanden und eben nur partiell eine Analyse der nunmal präsenten Schwarz-Weiß-Symboliken. Und an einigen Stellen nennt Husmann auch Farbsymboliken, die einer durchweg negativen Wertung der Farbe Schwarz widersprechen, wie die Schöpfungsvision der Kabbala oder den Kult der „Schwarzen Madonna“. Dass Husmann im Zusammenhang mit dem Letzteren schreibt, „die Templer und Katharer verbanden die schwarzen Madonnen schließlich mit dem Gralskult“ (S. 92), womit sie selbst esoterischen Traditionskonstrukten des 19. Jahrhunderts auf den Leim geht, ist eine ungewollt komische Pointe.

VII. Kontexte

Esoterischer Rassismus

Nach ihrer Darstellung von verschiedenen Explikationen der Steinerschen Rassenmodelle folgert Husmann:

„Steiner war – verglichen mit selbst erklärten ‚politischen‘ Antisemiten und Rassisten seiner Zeit – kein antisemitischer und rassistischer ‚Scharfmacher‘ [Zitat Helmut Zander – AM], seine problematischen Thesen zum Judentum und zu ‚Menschenrassen‘ werden aber nicht durch den historischen Zeitgeist erklärt, sondern lediglich ansatzweise erklärbar. Eine historische Auseinandersetzung mit Steiners Rassentheorie/n verdeutlicht dabei einerseits die Spezifik spiritualistisch-biologistischer Rassismen, zeigt andererseits aber auch, dass eine absolute Trennung zwischen Rationalität und Irrationalität, zwischen Wissenschaft und Religion, die historische Genese des ’naturwissenschaftlichen‘ Rassenkonzepts verkennt.“ (S. 354 – Hervorhebung AM)

Der letzte Satz gehört sicher zu den „spannenderen“ des gesamten Buches, die vorangehende Bemerkung aber, Steiners „spiritualistisch-biologistischer“ Rassismus werde in seiner spezifischen Form historisch allenfalls ansatzweise erklärbar, verdient, finde ich jedenfalls, eine längere Ausschweifung meinerseits. Übrigens steht Helmut Zander, auf den Husmann sich hier beruft, auf einem anderen Standpunkt:

„Steiner ist ein Kind seiner Zeit, nicht nur hinsichtlich der Evolutionstheorie. Was und wie er dachte, ist dem Horizont der Jahrzehnte um 1900 verhaftet, seine Rassenlehre ist dafür nur ein Beispiel. Aber die Konsequenzen sind, potentiell dramatisch, partiell durchaus entlastend: Steiners Rassenvorstellungen sind kein Sondergut der Anthroposophie, sondern fluidaler Zeitgeist, den Steiner mit vielen teilte. Und schaut man genau hin, realisiert man, daß er nicht zu den Scharfmachern seiner Zeit gehört. In Rassenfragen gibt es um 1900 weit Übleres. Wenn man also anthroposophischerseits anerkennen würde, daß Steiner seiner Zeit verhaftet war, könnte man seine Vorstellungen historisieren, dadurch relativieren und hätte sie entschärft – und hätte einen schweren Stein von der Anthroposophie genommen. Seine Rede von den ‚degenerierten‘ und ‚zukünftigen‘ Rassen könnte man als Positionen lesen, die um 1900 plausibel waren und sogar ,progressive‘ Dimensionen beinhalteten, etwa in der Kritik an den deterministischen Vererbungslehren. Aber das aktuelle Werturteil müßte anders lauten: Steiner hat Positionen vertreten, die wir heute für nicht mehr akzeptabel halten – Steiner hat insoweit geirrt.(Zander: Rudolf Steiners Rassenlehre, in: Uwe Puschner/ G. Ulrich Großmann (Hg.): Völkisch und National – Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 151)

Von den Quellen, aus denen Steiner seine Rassentheorien bezog, hat Husmann den Mediziner Carl Gustav Carus neu ins Spiel gebracht, der religionstypologisch übrigens selbst als Esoteriker und Propagandist einer romantischen, „stark spekulative[n] und weniger prophetische[n] Theosophie“ des 18. Jhdts einzuordnen wäre (vgl. Kocku von Stuckrad: Was ist Esoterik? Eine kurze Geschichte des geheimen Wissens, München 2004, S. 156, 168, 178f.). Sie erwähnt im Anschluss an Quellenbelege Zanders außerdem William Scott-Elliot, dem Steiner seine Details über Rassen auf „Atlantis“ verdankt (The Story of Atlantis) sowie das „Wurzelrassenmodell“, das Steiner von der Okkultistin Helena Blavatsky übernommen, „jedoch um einigen Detailreichtum ergänzt“ habe (S. 267 – eigentlich hat Steiner es erheblich verkürzt und systematisiert). Außerdem wird mehrfach auf „zeitgenössische Deszendenztheorien“, den Darwinisten Ernst Haeckel etc. verwiesen. Aus diesen Quellen ist, wie sie schreibt, das deutlich dualistische Muster tatsächlich nur zum Teil erklärbar: Degenerierende „Rassen“ gibt es auch bei Haeckel, aussterbende Indianer und die Trias von „Weißen, Gelben, Schwarzen“, auch bei Blavatsky. Die Vorbilder Steiners bei der Zuordnung von Christus zum „Weiß-Sein“ und dämonischer Mächte zu dunklen Hautfarben findet Husmann bei beiden aber trivialerweise deshalb nicht, weil Steiner sie weder von Blavatsky noch von Haeckel hat. Eine Vortragsreihe Steiners, die Husmann in diesem Zusammenhang zitiert, ohne aber ihrem Entstehungsumfeld nachzugehen, weist die Spur: GA 113: „Der Orient im Lichte des Okzidents – Die Kinder des Luzifer und die Brüder Christi“.

In dieser Vortragsreihe weiß Steiner von zwei Auswanderungsströmen zu berichten, die von dem untergegangenen mythischen Kontinent „Atlantis“ nach Indien führten: Ein „nördlicher Völkerstrom“ ging durch Europa, ein „südlicher“ durch Afrika. Der Nördliche wird von Steiner mit Christus assoziiert, der Südliche – wer ahnt es schon? – mit der Widersachermacht „Luzifer“, die auch ihr Scherflein zur Evolution beizutragen habe (und deren Rolle der nächste Abschnitt gewidmet ist). Steiner hielt diesen Vortragszyklus im schicken Prinzensaal des Café Luitpold in München. Zuvor war unter großem Brimborium das „Mysteriendrama“ „Die Kinder des Luzifer“ aufgeführt worden, auf das Steiner im Titel seines Vortragsreihe anspielte. Das Stück hatte der französische Esoteriker Edouard Schuré (1841-1929) geschrieben, der Steiners Leben und Werk auf mehrfache Weise beeinflusste. „Schurés Schrift über die Großen Eingeweihten aus dem Jahr 1889 hatte für Steiners Denken eine ebenso große Bedeutung wie dessen spirituelle Dramen für seine künstlerische Tätigkeit.“ (Heiner Ullrich: Rudolf Steiner, S. 62f.)

Schuré hatte nicht nur Steiners zweite Frau Marie von Sivers zur Theosophie gebracht, er sollte auch Werke Steiners ins Französische Übersetzen, während umgekehrt Marie Sivers diejenigen Schurés ins Deutsche übertrug. Für Schurés „Die Großen Eingeweihten“ schrieb Steiner selbst mehrermals Vorwörter, bevor sich Schuré im Ersten Weltkrieg wegen Steiners deutschnationaler Positionen von ihm abkoppelte. In den „Großen Eingeweihten“ fand Steiner einen „Masterplan der esoterischen Religionsgeschichte“ (Helmut Zander: Rudolf Steiner, S 155) vor, der „Eingeweihte“ und sich historisch ablösende kulturschöpferisch „Rassen“ enthielt. Aktuell war selbstverständlich die „weiße Rasse“ bedeutsam, die die Weltherrschaft „den Schwarzen“ abgerungen hatte. Schuré stellt nicht nur eine Schlüsselfigur für Steiners Werk dar, sondern schließt auch einen, neben der Theosophie Blavatskys, zweiten und Jahrzehnte vor Blavatskys Lehren zurückreichenden Traditionsstrang esoterischer Rassentheorien auf. Anders als Steiner, der seine Quellen wo möglich vertuschte – worüber sich schon Theosoph_innen zu seinen Lebzeiten beschwerten (Norbert Klatt: Theosophie und Anthroposophie, Göttingen 1993, S. 82ff.) – führte Schuré in Fußnoten mit Quellenangaben Bücher des Okkultisten und Martinisten Antoine Fabre d’Olivet an.

Fabre d'Olivet (1767-1825)

Fabre d’Olivet (1767-1825)

Der Linguist und Fälscher Fabre hatte 1822, 66 Jahre vor Blavatskys Secret Doctrine, sein Buch „De L’etat social d’homme“ veröffentlicht. Als das sich schlecht verkaufte, legte er es unter dem Titel „Histoire Philosophique du genre humain“ neu auf – und landete einen gewaltigen Erfolg. In dem zweibändigen Werk wird beschrieben, dass die Kulturgeschichte von sich nacheinander verdängenden „Menschenrassen“ dominiert werde. Das von Linné erfundene Schema der vier Hautfarben (Husmann, S. 154ff.) transponierte er in ein evolutionäres Muster. Begonnen habe alles mit der „Roten Rasse“, die mit dem Untergang der mythischen Insel Atlantis vernichtet wurde. Anschließend herrschte die „schwarze Rasse“, während am Nordpol die lichte „weiße Rasse“ aus dem Kosmos herabstieg. Auf wenigen Seiten schreibt sich Fabre die Kulturgeschichte und die abendländischen Mythologien so zurecht, als habe er Husmanns Theorien darüber präzise als Konstruktionsvorlage genommen: Kulturelle Menschwerdung Gottes in der „weißen“, Verkörperung des Schlechten, Niederen in der „schwarzen Rasse“.

„La race noir a pris certainement naissance dans le voisinage de la ligne équatoriale, et s’est répandue de là sur le continent africain d’ou elle a étendu ensuite son empire sur la terre entière et sur la Race blanche elle- même, avant que celle-ci eût la force de le lui disputer. Il est possible qu’à une époque très reculée, la Race noire se soit appelée sudéenne ou suthéenne, comme la Race blance s’est nommée borénne, ghiboréenne ou hyperboréenne [die Hyperboräische Wurzelrasse der Theosophen deutet sich an – AM]; et que delà soit venue l’horreur qui s’est généralement attachée au nom de Suthéen, parmi les nations d’origine blanche. On sait que ces nations ont toujours placé au sud le domicile de l’Esprit infernal, appelé par cette raison Suth ou Soth par les Egyptiens, Sath par les Phéniciens et Sathan ou Satan par les Arabes et les Hébreux.“ (Fabre d‘ Olivet: Histoire philosophique du genre humain ou L’homme Considéré sous ses rapports religieux et politiques dans l’État social, à toutes les époques et chez les différens peuples de la terre, Paris 1824, Tome II, S. 70f.)

Und für alle, die Französisch noch weniger verstehen, als ich (wobei ich die pseudolinguistischen Verballungen von sud und nord in der Originalformen lasse):

„Die schwarze Rasse wurde sicherlich in der Nähe der Äquatorlinie geboren und verbreitete sich von dort über den afrikanischen Kontinent, von dem aus sie anschließend ihre Macht über die ganze Welt ausbreitete, ja sogar über die weiße Rasse selbst, bevor diese die Kraft hatte, sie ihr streitig zu machen. Es ist möglich, dass die schwarze Rasse in einer sehr weit zurückliegenden Epoche sudéenne oder sutéenne hieß, so wie die wie die weiße Rasse sich boréenne, ghiboréenne oder hyperboréenne nannte; und dass daher das Grauen kommt, das dem Namen des Suthéen unter den Nationen weißen Ursprungs anhaftet. Man weiß, dass diese Nationen im Süden immer die Wohnstätte des höllischen Geistes darstellten, weshalb sie von den Ägyptern Suth oder South genannt wurden, von den Phöniziern Sath und Sathan oder Satan von den Arabern und Hebräern.“

Sogar der nicht eben steinerkritische anthroposophische Journalist Lorenzo Ravagli erwähnte Fabre d’Olivets Schinken negativ, allerdings behauptete er fälschlich, dass dieser „den Ariermythos in Form eines ewigen Kampfes der weißen gegen die schwarze und gelbe Rasse erzählt“ (Ravagli: Unter Hammer und Hakenkreuz, Stuttgart 2004, S. 376) und übersah damit offenbar die evolutionäre Dimension dieses Unterfangens in Fabres Schriften.

Fabres Zuordnung des Teufels zur schwarzen „Rasse“ und die umgekehrte Vergottung der „Weißen“ findet sich en detail, wenn auch in abgeschwächter Form und ihrer pseudo-etymologischen Herleitung entkleidet, bei Schuré wieder:

„In prähistorischer Zeit eroberten die Schwarzen den Süden Europas und wurden durch die Weißen von dort vertrieben. In den Volksüberlieferungen erinnert nichts mehr an sie. Dennoch haben sie zwei Spuren hinterlassen: Den Schrecken vor dem Drachen, dem Attribut ihrer Könige, und die Vorstellung, dass der Teufel schwarz ist. Sie erwiderten diese Schmähung, indem sie den Teufel weiß machten…. Trotz seiner körperlichen Widerstandskraft  und … Bindungsfähigkeit bedeutete Religion für dieses Volk die Herrschaft der Macht durch Furcht.“ (Edouard Schuré: Die Großen Eingeweihten (1889), Grafing 2010, S. 28, Übersetzung von Dr. Edith Zorn)

Und wiederum abgeschwächt findet sich Schurés Vorstellung in Steiners erwähntem Vortragszyklus. Schon in dessen von Schurés Theaterstück angeregten Untertitel – „Die Kinder Luzifers und die Brüder Christi“ – schwingt die rassische Schwarz-Weiß-Polarität deutlich mit, auch in Steiners auch bei Husmann (auf S. 282) zitierten Zeilen:

„So war Luzifer sozusagen eingezogen in der südlichen Völkerströmung in die Menschheit, so war Christus eingezogen in der nördlichen Völkerströmung, beide in Gemäßheit [sic] des Charakters dieser Völkerströmungen. Und wir leben in der Zeit, in der sich diese beiden Völkerströmungen miteinander verbinden müssen, wie die männlichen und weiblichen Befruchtungssubstanzen…“ (GA 113, 1982, S. 107 – vgl. Steiners drastischere Formulierungen in GA 174b, 1. Vortrag. Anzumerken ist, dass Steiner Luzifer allerdings nicht durch schwarz, sondern durch Licht bzw. allenfalls eine rote Farbe symbolisiert sah. Der dualistische Ursprung dieser Luzifer – Christus-Polarität wird also verwischt.)

spirituell überbaute Völkerwanderungskonzepte: die Anthroposophie steht hier in der Tradition des französischen Martinismus

Nicht nur Schuré und Steiner übernahmen Fabres Thesen, auch Helena Blavatsky, auf die die Deutung der Weltgeschichte als Staffellauf diverser schöpferischer (Wurzel-)“Rassen“ heute meist fälschlicherweise zurückgeführt wird, kannte seine Bücher nachweislich, lobte ihn bei mancher Gelegenheit (vgl. Blavatsky: The Kabalah and the Kabalists) und hat sich offenbar daraus bedient: Auch bei Blavatsky sind „die Roten“ Überbleibsel der Atlantier und sterben aus, auch bei ihr sind „Gelbe, Schwarze, Weiße“ die Rassentypen unserer Tage – und unter ihnen „die Weißen“ entwicklungstechnische Avantgarde.

Von Blavatsky und Fabre gleichermaßen bediente sich Joseph-Alexandre Yves d’Alveydre, ebenfalls Martinist, vergessener Erfinder der von Steiner propagierten „Sozialen Dreigliederung“ und ebenfalls zuhauf in den Fußnoten von Schurés Großen Eingeweihten zu finden. Dieser arbeitete neben der evolutionären Rassentheorie den bis heute in völkischen Kreisen attraktiven Mythos des tibetischen Unterweltreichs „Agartha“ aus (Nicholas Goodrick-Clarke: Im Schatten der Schwarzen Sonne (2005), Wiesbaden 2009, S. 231f.). Ein Schüler D’Alveydres wiederum, Steiners Zeitgenosse und zeitweiliger Leiter der Französischen Theosophischen Gesellschaft, Papus (i.e. Gerard Encausse), von dem Steiner Schriften in seiner Bibliothek hatte, widmete sich dem Studium der Kabbalah und wird in diesem Zusammenhang in Husmanns Buch zitiert. Eine erstaunliche und erfreuliche Wahl, da die Martinistische Tradition in der Esoterikforschung scheinbar bisher fast konsequent übersehen wurde. Husmann zitiert aus Papus‘ Version der Kabbala und zeigt auf, wie er diesem im gnostisch-esoterischen Diskursfeld ungewöhnlichen Text nachträglich idealistische und geschlechtssymbolische Züge verstärkt einschrieb (S. 116ff.). Irritierenderweise übergeht Husmann allerdings, dass Papus in der von ihr zitierten Einführung in die Kabbala ebenfalls die Rassentheorie Fabres wieder aufwärmt, was für ihre Arbeit auch deshalb relevant gewesen wäre, weil er sie in Beziehung zu Kabbalah setzt. Zwei Kostproben:

„Als die Katastrophe, die Atlantis verschlang, sich vorbereitete, eine Katastrophe, die in allen Religionen als allgemeine Sintflut bekannt ist, ging raschen Schrittes die Zivilisation auf die schwarze Rasse über, der auch die Überlebenden der roten Rasse ihre Geheimlehre [die der Kabbala – AM] übermittelten. Als endlich die Schwarzen die höchste Stufe ihrer Zivilisation erreicht hatten, entstand ein neuer Kontinent (Eurasien) und mit ihm die weiße Rasse, die ihrerseits die Suprematie über den Planeten erwerben sollte.“ (Die Kabbala von Papus, übersetzt von Julius Nestler, Wiesbaden 2004[Husmann zitiert eine Ausgabe von 1994 – AM], S. 169)

„Aber mehr noch – gewisse heute noch dunkle Probleme der Entwicklungstheorie unter ihnen die Farbenverschiedenheit der Menschenrassen, können hier wertvolle Aufklärungen  finden, die heute noch der offiziellen Wissenschaft unbekannt sind.“ (ebd., S. 170 – kursiv bei Papus)

Papus stellt hier das in der jüdischen Kabbala gesammelte „Wissen“ als von „Rasse“ zu „Rasse“ überliefertes und jeweils aktualisiertes Erbe dar, ähnlich wie die „Meister“ Blavatskys und die „Eingeweihten“ Schurés und Steiners.

Wie weit Steiner die martinistischen Theoreme verinnerlichte, ist noch unklar, er hatte allerdings mehrere einschlägige Schriften in seiner Bibliothek (Das Mysterium des Bluthügels). Außerdem ließ er  Schriften des Namensgebers der martinistischen Freimaurerei, Louis-Claude de Saint-Martin (1743-1803), den er mehrfach positiv erwähnte, 1921/22 im anthroposophischen Verlag „Der Kommende Tag“ neu auflegen (Gerhard Wehr: Jakob Böhme: Ursprung, Wirkung, Textauswahl, Wiesbaden 2010, S. 186f. – der Esoterikforscher und lutheranische Theologe Wehr, den Zander, S. 476, den „Vater der kritischen Steinerforschung“ nannte, ist in der Quellenarbeit mit erstaunlicher Zuverlässigkeit auch hier immer eine Spur voraus).

Hervorgehoben sei, dass Edouard Schurés Buch Die großen Eingweihten sich nicht nur auf Literaturlisten für Waldorflehrer_innenseminare befand (vgl. dazu kritisch Die Atlantis-Debatte), sondern in einem bis heute von der Pädagogischen Sektion am Goetheanum und der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen in einer Publikation „Zur Unterrichtsgestaltung im 1. bis 8. Schuljahr an Waldorf-/Rudolf Steiner Schulen“ (Dornach 1996) an einer Stelle als Unterrichtsgrundlage empfohlen wird. Und zwar für den Geschichtsunterricht in der 5. Klasse, in der „durch das Erzählen von Krishnas Leben … etwas von der Stimmung“ des vedischen Indien vermittelt werden soll (S. 138). Und dafür wird auf Schurés Charakterisierung Krishnas in den „Großen Eingeweihten“ verwiesen. Dort wird Krishna als „erste[r] Messias, der älteste der Söhne Gottes“ (Schuré, a.a.O., S. 63) gefeiert, der das „arische“ Erleuchtungslicht in Indien entzündete, wohin es der Held „Rama“ (aus dem hinduistischen „Ramayana“) aus Atlantis gebracht und gegen eine schwarzhäutige Urbevölkerung von Halbaffen verteidigt habe.

http://vamg.ch/shop/index.php/padagogik/grundlagen/zur-unterrichtsgestaltung-im-1-bis-8-schuljahr-an-waldorf-rudolf-steiner-schulen.htm

Relevant wäre im Kontext theosophischer Neognosis auch das 1902 erschienene Buch „Die Gnosis“ von Blavatskys engem Mitarbeiter George R.S. Mead, der er sich freilich auch nicht nehmen ließ, die theosophische Rassenlehre in aller Deutlichkeit in seinem Werk anzuführen und zur Herleitung der historischen spätantiken Gnosis zu nutzen. Auch Steiners Schüler und Plagiator Max Heindel (i.e. Carl-Louis Grasshoff) sowie dessen Schüler Jan v. Rijckenborg (i.e. Jan Leene), der die theosophische Kosmogonie dezidiert gnostisch-weltfeindlich umschrieb, wären ergiebige Forschungsgegestände. Schließlich ließe sich auch in den symbolisch-kosmischen Personifizierungen der frühneuzeitlichen „Rosencreutzer-Manifeste“ so einiges an einschlägigen Motiven finden: Etwa die Rolle des mordenden „Mohren“ in der Chymischen Hochzeit Christiani Rosencreutz

Die Geschichte des Esoterischen Rassismus ist noch ungeschrieben. Es stünden allenfalls die Schlusskapitel, betreffend Blavatsky und die Prominenten unter ihren Nachfolger_innen (zu denen ich hier auch Steiner zähle), sowie die aggressiven „ariosophischen“ Rassist_innen des späten 19. und des 20. Jahrhunderts (vgl. die Arbeiten von Nicholas Goodrick-Clarke) und die Wirkungen in lebensreformerischen und New Age-Kreisen in eben diesem Zeitraum. Husmann hat mit ihrer Untersuchung von Carus und ihrer Thematisierung v.a. geschlechtssymbolischer Wertungen in Steiners Rassentheorie wichtige Details kartiert, aber leider andere der deswegen hier erwähnten Diskursfelder nicht einmal angeschnitten, obwohl sie die betreffenden Personen (z.B. Papus) durchaus erwähnt. Andererseits: Wäre, wie oben schon gesagt,  jeder verzweigte Nebenpfad, der zu dichotomen, mythologisch aufgeladenen Rassebildern führte, von ihr kartiert worden, hätte die Druckfassung der Dissertation wahrscheinlich mehrere Bände umfasst. Vielleicht dürfen wir uns aber irgendwann auch über eine ergänzende Habilitationsschrift freuen.

VIII.Ahriman und Luzifer:

Zu Steiners „Typologie des Bösen“

Husmann beschreibt die anthroposophische Evolutionslehre als eine „neognostische“ und entsprechend selbst als dualistisch. Der böse Dämon „Ahriman“ stehe als finsterer Pol, als „Herz des Materialismus“ Christus, dem lichten Geist der Weisheit und durchgeistigten Wissenschaft entgegen. Die Tendenz deutet sich an, aber de facto präsentierte Steiner den Dämonen Ahirman erst 1909, nachdem er schon neun Jahre Theosophie mit dem Anspruch auf spirituelle Wissenschaftlichkeit getrieben hatte.

Vorher trieb „nur“ ein böser Geist in Steiners Kosmologie sein Unwesen, und der hieß Luzifer. Steiner hatte ihn, tatsächlich in der Tradition neognostischer Betrachtungen, ursprünglich nur als „Lichtbringer“ (und nicht als finstere Gestalt) eingeplant. Er gab in seinen frühen theosophischen Jahren sogar eine Zeitschrift heraus, die Luzifer hieß, erst später erklärte Steiner diesen zum bösen Geist: „So weit war damals der Inhalt der Anthroposophie noch nicht ausgebildet“ (Steiner, GA 28, Dornach 2000, S. 315). Und nicht als vollständiger Bösewicht, sondern als „notwendiges Gegenprinzip“ zu Christus erschien auch der zum Dämon degradierte Luzifer anfangs. Steiner fabulierte über ihn als denjenigen, der die Menschen in der Bewusstseinsgeschichte vom Göttlichen abgelenkt und damit die evolutionäre Grundlage von „Freiheit“ geschaffen habe. Erst allmählich deutete sich in Steiners Denken die Rolle an, die später dem von Husmann so zentral gestellten Ahriman zufiel: 1905 erschien Jehova, den Steiner mit deutlich antijüdischer Konnotation als Herrscher eines „Vor-ich-haften“, „alttestamentarischen“, aber evolutionär notwendigen „Gruppenbewusstseins“ beschrieb, welches erst durch den liebenden, „ich-haften“ Christus abgelöst worden sei. Vor dem Kommen Christi seien allerdings Jehova und Luzifer Antagonisten und „in einem fortwährenden Kampfe“ gewesen: Ohne das korrigierende „Luziferprinzip“ wäre die Menschheit mit Jehova „der Erde verfallen“ und letztere zu „einem versteinerten Planeten“ geworden (GA 93a, Dornach 1987, S. 188f.).

1908 tauchte ein neuer böser Geist aus der babylonischen Mythologie, „Sorat“, diesmal als ernstzunehmender Widerpart Christi auf (GA 104), verschwand aber schnell wieder von der Bildfläche. 1909 dann installierte Steiner plötzlich den zoroastrischen „Erzverpester“ Ahriman und präsentierte ihn als Gegenspieler zu dem luftigen, somnambulen Lichtdämonen Luzifer – die beiden stünden sich gegenüber wie Tag und Nacht, Fühlen und Denken, „Philistertum“ und Schwärmerei, Geist und Materie, erklärte Steiner religiös verzückt. Christus, fleischgewordenes Wort und geistgewordener Leib, sei quasi die dialektische Aufhebung und Ergänzung der beiden. Steiner präsentierte jedenfalls „den“ Christus als den Überwinder des Dualismus:

„Der Mensch hat fortwährend die Gleichgewichtslage zwischen diesen beiden Mächten anzustreben, zwischen demjenigen, das ihn hinausführen möchte über sich selbst, und demjenigen, das ihn herabziehen möchte unter sich selbst. … Dieser Dualismus, der in Wirklichkeit ein Dualismus ist zwischen Luzifer und Ahriman, dieser Dualismus spukt im Bewußtsein der modernen Menschheit als der Gegensatz zwischen Gott und dem Teufel. Und das ‚Verlorene Paradies‘ müßte eigentlich aufgefaßt sein als eine Schilderung des verlorenen luziferischen Reiches, es ist nur umgetauft.“ (GA 194, Die Sendung Michaels – die Offenbarung der eigentlichen Geheimnisse des Menschenwesens (1919), Dornach 1994,  S. 164f.)

„Der Mensch muß den Weg finden zwischen dem Lichte und der Schwere, zwischen Luzifer und Ahriman, und deshalb müssen wir die Möglichkeit haben, nicht in irgendeinem Dualismus zu denken, sondern in der Trinität zu denken. Wir müssen die Möglichkeit haben zu sagen: Die persische Dualität Ormuzd und Ahriman ist heute Luzifer und Ahriman, und der Christus steht in der Mitte drinnen, der Christus ist derjenige, der das Gleichgewicht bewirkt. – Nun hat alle religiöse Entwickelung bisher, insbesondere die theologische, eine sehr verderbliche Gleichung aufgestellt, sie hat die Christus-Figur so nahe als möglich an die Luzifers herangebracht. Es ist fast ein Wiederauferstehen des altpersischen Ormuzd, wenn man erlebt, wie heute von Christus gesprochen wird. Man denkt nur immer die Dualität, also das Böse im Gegensatz zum Guten.“ (GA 342, Vorträge und Kurse über religiöses Wirken (1921), Dornach 1993, S. 160f.)

Für Husmanns Darstellung der nichtsdestominder vorhandenen Dualismen bei Steiner, wäre es durchaus zumutbar gewesen, auch diese komplexere Mythologie zu berücksichtigen. Luzifer taucht zwar an drei oder vier Stellen in ihrem Buch auf, u.a. wird Ahriman in einer Fußnote als „Ausdifferenzierung des luziferischen Prinzips“ beschrieben (S. 249), was auch immer das heißen soll, aber es wird an keiner Stelle gerechtfertigt, warum Husmann diesen Komplex aus ihrer Analyse vollständig ausklammert. Sie zitiert in ihrem Kapitel „Ahriman: Geist der materialistischen Wissenschaft“ zwar lediglich Quellen ab 1909, also nach Steiners Etablierung von Ahriman in seiner Theosophie, behauptet aber fälschlich, Steiner habe „bereits 1907“ von ahrimanischen Geistern gesprochen (S. 250), die Quellenangabe dazu nennt einen Vortrag Steiners „vom 09.10.1907“ – tatsächlich stammen die Zitate aber aus einem Vortrag vom 09.10.1918 (GA 182, S. 151), als Steiner das Paar Luzifer-Ahriman schon länger in Gebrauch hatte.

Aquarell Rudolf Steiners mit dem Titel „Licht und Finsternis (Luzifer und Ahriman)“

Warum diese Umdisposition zu einer trinitarischen Vorstellung für Husmanns Untersuchung relevant gewesen wäre, zeigt sich bei einer der Lektüre von Steiners rassentheoretischen Ausführungen um das Jahr 1909. Denn diese durchlaufen denselben konzeptionellen Transformationsprozess. In das Zeitfenster 1909/10 fallen just die beiden Steiner-Bücher, die im erwähnten BPjM-Verfahren relevant waren. Beide werden von Husmann ausführlich analysiert und interpretiert, ich empfehle dazu deshalb ihren Text und begnüge mich damit, die Parallele zur erläuterten Trias Ahriman-Christus-Luzifer aufzuzeigen:

–  In einem Vortrag am 03.05.1909 plauderte Steiner über den Untergang von Atlantis und die Menschen-„Rassen“, die diese Katastrophe überlebten. Dabei gab es seiner Vorstellung nach grob drei Gruppen: Erstens solche mit zu starkem Ich-Gefühl, die so egoistisch waren, dass das im Blut wirkende Ich sich rot auf ihrer Haut ausgeprägt habe – sie waren daher entwicklungsunfähig und degenerieren seitdem als „rote Rasse“ der „Indianer“. Umgekehrt seien nach Osten Menschen mit zu schwachem Ich-Gefühl ausgewandert. Sie hatten ihren Umwelteinflüssen nichts entgegenzusetzen, waren ganz an die „äußere“ physische Umgebung hingegeben und absorbierten so viel Sonne, dass sie schwarz wurden: Die „Neger“. Zwischen beiden Extremen, den Dualismus ausgleichend, standen die weißen Europäer: „Nur diejenigen, welche im­stande waren, die Balance zu halten in bezug auf ihr Ich, das waren die, welche sich in die Zukunft hinein entwickeln konnten.“ (Steiner: Geisteswissenschaftliche Menschenkunde, GA 107, 1973, S. 292)

–   In einem Vortrag vom Juni 1910, Steiner befand sich gerade in einem Konkurrenzkampf mit der Theosophin Annie Besant (Beide schlugen sich in halbmonatigem Abstand komplexere okkulte Theoreme, v.a. Christus betreffend, um die Ohren) verkomplizierte Steiner strategisch auch seine Rassenlehre. Er erweiterte sie um in seinem Buch „Geheimwissenschaft im Umriss“ eingeführte Planetenspekulationen und seitenweise Übernahmen aus dem „Geheimbuddhismus“ (1883) des Theosophen A.P. Sinnet. Der hatte behauptet,

„es giebt Ähnlichkeiten zwischen dem Leben eines Volkes und dem des Einzelnen“. Der einzelne durchlaufe Kindheit, Jugend, Erwachsenen- und Greisenalter und „Das Gleiche gilt für die Völker … Es giebt eine Geometrie, welche auf die Völker die Gleichung ihrer Entwicklungskurve anwendet. Daran kann kein Sterblicher rütteln.“ (Sinnet: Esoterische Lehre oder Geheimbuddhismus, dt. Leipzig 1884, S. 76).

Steiner grenzte sich zwar im Vortrag vom 10.06.1910 von Sinnet ab, reproduzierte aber im selben Vortrag genau dessen „Völkergeometrie“: Von Afrika durch Asien und Europa nach Amerika ziehe sich eine „Linie“, an der die Altersstufen sortiert seien, mit Afrika am Kindheits-, Amerika am Vergreisungspol. Sprich: Schwarze und Asiaten sind kindlich-jugendlich und „Indianer“ gingen zugrunde, weil sie an dem Ende der geographischen Linie sitzen, die den Todespol darstellt. Europa liege in der Mitte und sei folglich im Kräfteausgleich – „auffrischende“ Jugendkräfte und leibliche „Bildsamkeit“ im Osten sowie ersterbende „Rassenkräfte“, aber dafür hohe mentale Leistungen im Westen (vgl. GA 121, S. 83).

Auch in diesen Schilderungen zeigt sich die triadische Struktur: „Falsche“ Dichotomien in Ost und West würden untergehen, wenn sie nicht in der Mitte zu dem Maß haltenden „Europäern“ zusammenfließen würden Diese stehen nicht an oberster Stelle einer rassischen Stufenordnung (wie in Steiners frühtheosophischem Werk), sondern sind als Ausgleich auf „mittlerer“ Stufe gedacht. Bei Husmann lautet das Fazit (zuletzt kam sie auf die vergreisenden „Indianer“ zu sprechen):

„Über die spezifische Konstruktion des ‚Indianers‘ hinaus verweist die anthroposophische Formulierung einer physiologischen ‚Verknöcherung‘ auf eine übergeordnete Grundstruktur, die Steiners Rassenmodelle dem Konstruktionsmodus nach als Schwarz-Weiß-Struktur durchzieht. Diese Grundstruktur beschreibt eine Polarisierung von ‚weiß‘ versus ’nicht weiß‘ als neognostische Polarisierung Geist/Licht versus finstere, ‚verhärtete‘ Materie.“ (Husmann, S. 290)

Das stimmt zwar im Prinzip, wäre aber, um das konkrete Rassenmodell Steiners wiederzugeben, wie dargestellt durchaus zu ergänzen. Dadurch nämlich, dass „die Europäer“ das Gleichgewicht zwischen verknöchernden „Indianern“ und kindlich-weichen, nicht fertig verkörperten AsiatInnen und AfrikanerInnen darstellen sollen. Nicht zuletzt geht Husmann mit der Annahme, es gebe ein heterogenes Weltanschauungsgebäude Steiners sowie mit ihrem Anspruch „Wiederholungen und widersprüchliche Aussagen“ desselben zusammenfassend „zu glätten“ (S. 239), der 90jährigen anthroposophischen Dogmenausbildung und dem Versuch, Steiner widerspruchsfrei auslegen zu können, auf den Leim. Allerdings – und das muss ebenfalls gesagt werden – hat Steiner sehr wohl dualistische Zuordnungen in seiner Rassentheorie getroffen, etwa die oben länger behandelte in GA 113, als er Luzifer den afrikanischen Völkern und Christus Europa zuwies, und zwar in direkter historischer Abhängigkeit von Quellen, in denen ein dualistisches Konstruktionsmuster von Rassentheorien vorlag. Es dürfte schwer sein, dieses Dilemma aufzulösen. „Steiners Œuvre ist letztlich von einer nicht systematisierten oder hermeneutisch integrierten Ambivalenz gekennzeichnet, in der Unvereinbares und Widersprechendes stehengeblieben ist.“ (Zander: Sozialdarwinistische Rassentheorien) Husmanns Analyse ist demnach vielleicht um den Themenkomplex Ahriman-Luzifer und deren Relevanz für die Untersuchung von Steinerschen Dualismen zu ergänzen, aber das ändert nichts an der Richtigkeit ihrer sonstigen Darstellungen.

IX. Steiner umschreiben?

Bleibt nurnoch ein vierter Punkt. Eine Forderung Husmanns, die sie am Ende ihrer Kapitel, die die Anthroposophie betreffen, expliziert:

„Hierin liegt das grundlegende Dilemma Anthroposophie-interner Rassismus-, Eurozentrismus- und Nationalismus-Kritik, das sich letztlich nur durch erhebliche Umschreibung der Steinerschen ‘Geistesschau’ kosmologisch-geschichtlicher Abfolgen enthierarchisieren ließe…“ (Husmann, S. 355f. – Hervorhebung AM)

Ja, Steiners Kosmogonie hierarchisiert, und ab dem Punkt, wo in ihr „Rassen“ ins Spiel kommen, teilen auch diese sich flugs in entwicklungstechnisch „fortgeschrittene“ und „zurückgebliebene“ (wenn auch, wie gerade erläutert, mit Einschränkungen 😉 ). Aber wäre es sinnvoll, wenn Anthroposoph_innen sich auf eine überarbeitete Neuversion dieser kosmischen Geschichte einigten? Problem scheint mir auf anthroposophischer Seite vielmehr der Unwille zu sein, überhaupt Fehler im Steinerschen Theoriegebäude zuzugestehen und vor allem: auszuhalten. Eine Umschreibung seiner Schriften würde den einen universellen Offenbarungsapparat nur durch einen anderen, „netter“ zu Lesenden ersetzen, ohne den religiösen Dogmatismus aufzuweichen. Sofern das Festhalten an Steiners Rassismus das Festhalten aus Angst ist, weil das Gegenteil „den Einstieg in die Kritik von Steiners ‚höherer Einsicht‘ bedeuten würde.“ (Zander: Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, Bd. I, S. 637), würde am Grunddilemma durch diese „Umschreibung“ nicht gerüttelt. Authentischer sind Zeugnisse von Anthroposoph_innen, die in der Lage sind, trotz ihrer Wertschätzung Steiners (oder deswegen) seine rassistischen Theoreme ehrlich erschüttert zurückzuweisen.

Der Anthroposoph Ralf Sonnenberg, den auch Husmann des Öfteren in den Fußnoten führt, hat in Abgrenzung zu apologetischen Unternehmungen in einem Aufsatz (der erstmals 2003 in der anthroposophisch-tombergianischen Zeitschrift „Novalis“ erschien) ziemlich ungeniert das evolutionäre Dilemma zugestanden:

„Die Tatsache, dass Steiner bisweilen auch anerkennende Worte über den Animismus der Indianer, die »Naturgeistigkeit« der Afrikaner oder die »Tao-Religion« der Chinesen verlor, wie die Autoren Bader und Ravagli nicht müde werden zu betonen, markiert eine entscheidene Schwachstelle der sich geschichtsevolutionären Denkmustern verpflichtet fühlenden Anthroposophie: Folgt deren historisches Verständnis doch einer zutiefst eurozentrischen Binnenlogik, derzufolge außereuropäische Kulturen, selbst wenn sie über spirituelle Ressourcen beträchtlichen Umfangs verfügen, fast grundsätzlich »atavistisch« seien und sogar noch unter der materialistisch geprägten Zivilisation des modernen Europa rangierten, die immerhin eine Vorbereitungs- und Durchgangsstufe zur Entwicklung der »Bewusstseinsseele« darstelle. Die »arische« oder europäische hielt Steiner, der hieraus allerdings keine imperialen oder kolonialistischen Zielsetzungen ableitete, denn auch für die »zukünftige, da am Geiste schaffende Rasse«. Sie repräsentiert innerhalb seines Weltanschauungskosmos die »fünfte nachatlantische Kulturepoche«, deren Anfang er auf den Beginn der frühen Neuzeit datierte.“ (Sonnenberg: Vergangenheit, die nicht vergehen will)

Und auch ein Steiner-Herausgeber und Mitarbeiter des Rudolf Steiner-Verlags und -Archivs kann heute ausrufen:

„Ich begreife es nicht … Ich begreife ebenso wenig den Siebenundzwanzigjährigen, der dem ‚Judentum als solchem‘, dem ‚Geist des Judentums‘, der ‚jüdischen Denkweise‘, die Berechtigung ‚innerhalb des modernen Völkerlebens‘ abspricht, wie den Dreiundsechzigjährigen, der vor Arbeitern am zweiten Goetheanum daherplappert: ‚Derjenige, der ein Kenner ist, weiß in einem Satze, den ein Jude spricht: Da ist eine jüdische Stilisierung drinnen […].‘ In solchen Äußerungen fällt Steiner weit hinter sich selbst zurück und reiht sich in die graue Schar vorurteilsbehafteter Biedermänner, die maßgeblich dazu beitrugen, dass Theodor Herzl nach allen ‚Assimilierungsversuchen‘ entnervt feststellen musste: ‚Der Fluch haftet. Wir kommen nicht aus dem Getto heraus‘ und mit seiner Schrift Der Judenstaat den Grund zum Staat Israel legte.“ (Taja Gut: Wie hast du’s mit der Anthroposophie?, Dornach 2010, S. 127f., Auslassung und Kursivierung im Original)

Eine Steiner-Rezeption müsste her, die die eurozentristische Konstruktionslogik und deren rassistische Konkretionen in dieser Weise realisiert, zu benennen und zurückzuweisen weiß. Dass die möglich ist, haben jüdische Rezpient_innen der Anthroposophie, die in der zionistischen Bewegung, v.a. im Prager Zionismus um Martin Buber und die Ideen von Achad Haam engagiert waren, bereits vor Jahrzehnten gezeigt. Schmuel Hugo Bergman etwa, der sich in seinen religionsphilosophischen Überlegungen auf Steiner bezog, einige von dessen Schriften ins Hebräische übersetzte und eine Veranstaltung zu Steiners 100. Geburtstag an der Hebrew University Jerusalem organisierte (kritisch dazu Wolfgang Treher: Hitler, Steiner, Schreber – Gäste aus einer anderen Welt. Die seelischen Strukturen des schizophrenen Prophetenwahns (1966), Emmendingen, 1990, S. 40). In einem Tagebucheintrag vom vom 24. 5. 1965 – er hatte gerade die Zeilen gelesen, auf die der Autor des letzten Zitats, Taja Gut, bezugtnimmt  -„regelrecht verstört“ vermerkte:

„Nur freilich bleibt immer die Frage, wieso sich Steiner später als Seher gar nicht mit der Judenfrage befasste und bei der assimilatorischen Schablone der Wiener Durchschnittsjuden stehen geblieben ist. Muss uns das nicht skeptisch machen, gegen alles, was er sagt? Wo endet der Seher und wo beginnt der wirkliche Mensch Steiner mit seinen Vorurteilen?“ (zit. n. Ralf Sonnenberg: „…ein Fehler der Weltgeschichte“?)

Das war das richtige Wort der richtigen Person zur richtigen Zeit.

Möge diese Beunruhigung um sich greifen und die Zahl der Anthroposoph_innen wachsen, die eine Kontextualisierung und auch grundsätzlichen Hinterfragung Steiners nicht als „Verrat“, sondern als Chance begreifen (vgl. Robin Schmidt: Rudolf Steiner – Skizze seines Lebens, Dornach 2011, S. 111, 117f.). Bis dahin ist Husmann in ihrem Fazit unumwunden zuzustimmen:

„Fasst man Rassismus nicht nur als eine ‚Idee‘, die schnell ad acta gelegt werden kann, sondern als nach wie vor sozio-kulturelles Phänomen, so müsste die Rassismuskritik ihren Ausgangspunkt in einer dekonstruktivistischen Perspektive nehmen, welche kulturell und individuell verinnerlichte schwarz-weiß-symbolische Struktur von Weißsein hinterfragt … Allein die Frage, ob, wann und wie eine kritische Historisierung Steiners von offizieller anthroposophischer Seite möglich sei, muss vor diesem Hintergrund wohl derzeit offen bleiben.“ (Husmann, S. 356)

Zusammenfassend würde ich sagen: Husmanns Buch ist wahrscheinlich keines für einen Einstieg in Rassismus- oder Anthroposophiekritik, Thesen und Sprache sind sehr „akademisch“. Mit Gewinn wird es allerdings jede_r lesen, der oder die sich mit den geistesgeschichtlichen, mythischen und philosophischen Motiven auseinandersetzen will, die zu den großen rassistischen und sexistischen Vorstellungen auch unserer Tage beitrugen.

Jana Husmann: Schwarz-Weiß-Symbolik. Dualistische Denktraditionen und die Imagination von „Rasse“. Religion – Wissenschaft – Anthroposophie, transcript-Verlag, Bielefeld 2010.

19. Mai 2011 at 10:30 am 14 Kommentare

„Übersinnliche Wellness pur.“

(von Andreas Laudert)

aus Ders: Abschied von der Gemeinde, Futurum-Verlag, Dornach 2011.

 

Vorwort von Ansgar Martins — Nach Sebastian Gronbach („Missionen“, 2008) und Taja Gut („Wie hast du’s mit der Anthroposophie?“, 2010), nimmt nun ein weiterer anthroposophischer Autor eine offene Abrechnung mit der anthroposophischen Szene vor. Dabei handelt es sich um Andreas Laudert, Schriftsteller und Pfarrer der anthroposophienahen „Christengemeinschaft“, der bisher nicht eben „szene“-kritisch aufgetreten ist und dem ich so ziemlich jede Aussage zugetraut hätte – bis auf diese. Über vieles ließe sich natürlich nach allen Regeln der Zunft streiten, insgesamt ist dem Autor aber inhaltlich (und nicht zuletzt: stilistisch!) ein guter Wurf gelungen. Das Buch liest sich durchaus nicht als „Aussteigerbericht“ eines „Christengemeinschafts“-Pfarrers, sondern als ein Bekenntnis zur Anthroposophie, aber es plädiert auch für kulturelle Öffnung ihrer Propagandist_innen, für das Ablegen peinlicher Narzissmen, die Demokratisierung eines elitären, vermeintlichen „Geheimwissens“, für den „Abschied von der Gemeinde“. Auch aus anthroposophiekritischer Perspektive ist das Buch ein interessantes Dokument für die aktuelle Selbstwahrnehmung in der anthroposophischen Szene. Dem „Futurum-Verlag“ danke ich für die „Abdruck-Genehmigung“ zu den im Folgenden zu lesenden Ausschnitte.

S. 32ff.

Ein Rudolf-Steiner-Haus. Filmpremiere von Zwischen Himmel und Erde des Schweizer Regisseurs Christian Labhart – das angenehm offene Ergebnis der indirekten Selbstbefragung eines Künstlers und Waldorfvaters: Portraits verschiedener mit Anthroposophie in Berührung gekommener Menschen. Im Saal das typische Hauspublikum einschließlich der obligatorischen Gäste „von außen“, zu denen die Frau an der Kasse mich auch zu zählen schien, da sie mir unbefragt Auskunft erteilt. Was ist es, das einen nach wenigen Minuten mit Unbehagen erfüllt – jenem Unbehagen, das mich bei diesen Gruppen des Einverständnisses immer wieder befällt? Man begrüßt sich mit Namen, man nickt sich zu und lächelt eilfertig, man schüttelt Hände, man scherzt. Alles normal, alles menschlich. Aber dann – die ersten humorigen Bemerkungen: „In der Pause gibt’s Langnese!“ – „Aber erst nach der Werbung!“.

Warum (warum noch immer?) fühlt man sich gedrängt, auf diese verkrampfte Weise die Tatsache herauszustellen, dass in einem Steiner-Haus ein Kinofilm gezeigt wird? Fühlt man sich unbewusst gebauchpinselt, weil es um einen selber, um die Anthroposophen geht? Muss man es immer noch vor sich selbst rechtfertigen, das es sich hier mal nicht um einen erhebenden Vortrag über Chartres oder die Externsteine handelt? Muss man sich beieinander vergewissern, dass man unter sich ist?

Dann, nachdem der Film schon eine Weile läuft: Zart ansteigendes Gekicher, weil zwei der Portraitierten breites Schwytzerdütsch sprechen. Die Veranstalter unterbrechen und stellen die Untertitel ein. Großes „Aaah!“ und „Ooh!“ im Saal.

Szenenwechsel. Ein anthroposophischer Kongress mit eingebauten Happenings. Ich soll aus eigenen Texten lesen, sage ein paar einleitende, auflockernde Worte und lese dann aus einem deftigen work in progress, das mir für das Thema der Veranstaltung passend scheint. Hinterher das Folgende, wie schon hundertfach vorher erlebt, seit Jahren, nur in abgewandelter Form: In dem Fall anthroposophische VIPs, die einen bis dahin nicht weiter beachtet hatten, obwohl sie einen, wenn nicht kannten, so doch irgendwie einordnen konnten, auf die man teilweise auch selber zugegangen war, um zum Beispiel eine positive Rückmeldung zu geben auf einen ihrer Artikel, den man kürzlich gelesen hatte – dieselben (ich weiß nicht: entweder scheuen oder eitlen) Gockel, nachdem sie mitbekommen haben, dass das junge, unabhängige Publikum sich über das Vortragende sehr gefreut hatte, schleichen danach um einen herum, fragen, wo man denn die Bücher herbekäme. Mehrere erkundigen sich aber auch – ich verstehe die Frage zunächst gar nicht, denke, es handle sich um einen Witz -, von wem der Text gewesen sei, den man gelesen habe. Wiederum andere halten die Ironie des Gelesenen sofort für fehlenden Mysterienernst, vielleicht sind ihnen auch literarische Töne als solche unvertraut, wenn sie nicht gerade von Adalbert Stifter oder Nelly Sachs kommen, jedenfalls schweigen sie beredt wie Kafkas Sirenen.

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S. 65f.

Kurz zu einem Tick von Typen wie mir: wollen immer versöhnen und vernetzen. Ist einfach so. Wollen immer Menschen zusammenbringen. (Absurd: Dabei können wir die größten Aggressoren sein!) Unsereins will verbinden das Unverbindbare, will vereinen! (Und hasst Vereine.) Liebet einander! (Deshalb war Johannes mit Johannes verbunden.) Gleiche Augenhöhe für alle! Gleiche Augenhöhe sogar mit „dem“ Christus.

Warum lassen wir Potenziale brachliegen, warum lassen wir Synergien nicht zu? Ist doch längst egal, was andere über uns denken, und was die Maschinen erfassen. Die große Blase der Daten und der Spekulationen über Profile wird zerplatzen auf den Gipfeln des Geists. Wohl dem, der Nutzer seiner selbst ist und Seiten besucht, die es gar nicht gibt. Jeder profiliert sich gegen den anderen. Geläster und doppelbödige Spitzfindigkeiten, Weckrufe und Warnungen, Unterstellungen und Zitatschlachten. Hochgezogene Augenbrauen allüberall. Gut, man kann nichts erzwingen, ich weiß. Platoniker, Aristoteliker … große Geister bloggen manchmal nur neben-, nicht miteinander … Gott, das Karma eben! Fuck Karma. Ausreden. Deshalb rufe ich mir und meinen Doppelgängern zu: Ändert euren Sinn.Ändert die Blickrichtung. Bereitet dem Ich des anderen den Weg. Und zwar genau den Weg, in welchem er euch steht. Es muss ja nicht gleich so laufen wie in einer Buchbesprechung in Gegenwart 2/2010:

„In der Gestalt des Lazarus-Johannes haben sich die Kain- und die Abelströmung mit ihren jeweils bestausgebildeten Wesensgliedern zu einer Wesenheit gewissermaßen über Kreuz so wiedervereinigt, wie sich der nathanische Jesus der Hirtenströmung … und der salomonische Jesus der Königsströmung … zur Gestalt des Jesus-Jesus wiedervereinigten. Allerdings mit dem Unterschied, dass die zugehörigen Marien kurz darauf auch ihre Wesensglieder zu einer Wesenheit der Maria-Maria vereinigten und schließlich der Jesus-Jesus und die Maria-Maria ihre Wesensgliedersubstanz vor der Jordan-Taufe so austauschten, dass sie das für die Inkarnation Christi geeignete Wesensgliedergefäß bereitstellen konnten.“

Karma als Bauanleitung

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S. 108

Am schlimmsten war der Staubsaugervertreterton, den man ja überall in Vereinen – es liegt in der Natur der Sache (wieder: die „Sache“) – an den Tag legen muss, wenn man über potenzielle Mitglieder spricht. Oft fragte ich mich: Ob diese Leute, die der Gemeinde ihre Adresse und Telefonnummer zur Verfügung gestellt haben  und somit „im Verteiler“ sind, wissen, wie über sie spekuliert wird?

Beispielsweise bei einem Pfarrerwechsel: Der scheidende Kollege geht mit dem neuen die Mitgliederliste durch. Jedes Mitglied bekommt einen Werbetrailer, eine kleine Erkennungsmelodie. Das Leitmotiv dabei scheint nicht wirklich der Mensch als Mensch, das Kriterium der Kommentare ist notgedrungen nur seine Nähe oder Ferne zur Gemeinde. Da heißt es dann zwischen Priesterkollegen: Da könne man mal „dranbleiben“, mal anrufen, das „lohnt sich vielleicht“, der und der sei zuletzt wieder „öfters gekommen“, die „kriegen wir vielleicht übers Ministrieren“, den anderen „über die Waldorfschule“.

Eine Sprache wird gepflegt, die beharrlich mit einem Innen und Außen operiert. Aber schützt die Wahrheit, was immer sie ist, nicht sich selbst? Sie ist zwischen innen und Außen. Sie drückt als Kraft gegen die Wände.

Immerzu ist die Rede von einem „Hineinkommen“ oder „Hineinfinden“. Der Berufsanfänger muss hineinkommen in das Amt und das Mitglied in die Gemeinde; es gibt regelrechte Karrieren. Hinein, hinein! Aber was kommt dabei heraus? Was ist in all den Jahrzehnten daraus erwachsen? Letztlich eine Auffassung vom Zeitgenossen als Kind. Neugeweihte werden intern launig als „Babies“ bezeichnet; erwartet wird allen Ernstes, in den ersten drei Jahren mehr oder weniger den Mund zu halten. (Wenn man schon dieses Bild benutzt: Dabei sind Neugeborene nahe am Himmel. Vielleicht hätten sie Überraschendes zu berichten.)

Dass das Subjekt heutzutage in so viele biografische und gesellschaftliche Prozesse verwoben ist, die es mit hineinnehmen muss in jeden neuen Lebensabschnitt, um ihn glaubwürdig und erfüllt tun zu können – diese Lebenstatsache kommt nur alibimäßig zu ihrem Recht. Aus Prinzip partnerlose Priester und Priesterinnen bitten die nicht selten verblüfft-belustigten Weihekandidaten-Ehemänner und -Ehefrauen, die dem geplanten Berufswechsel ihres Lebenspartners loyal wie neutral gegenüberstehen, zum Extragespräch und geben „aus Erfahrung“ Empfehlungen. Man fragt sich, welche.

Szenenwechsel. Ein Elternabend mit den Eltern einer gerade Konfirmierten. Eine Mutter, betroffen von erwachendem Zweifel, erzählt, dass sich bisher all ihre Kinder nach der Konfirmation vollkommen von der Kirche abgewandt hätten. Sie seien einfach nur froh gewesen, nicht mehr in die Sonntagshandlung zu müssen. (Was im Übrigen die Regel ist.) Die Pfarrerin antwortet in beruhigendem Ton, ja, das dürfe durchaus sein. Ein Vater, der bis dahin eigentlich nur dagehockt und sich gefragt hat, wann der Abend wohl endlich vorbei sei, wird schlagartig wache:

Moment fragt er, wieso dürfe das sein? Wird das bloß erlaubt? Was soll dieses Gönnerische, sprechen daraus nicht auch schon bestimmte Bewertungen?

Lieber wird der objektiv zunehmende Legitimationsdruck beim Unterrichten von Religion, über den die Öffentlichkeit im Gegensatz zur Christengemeinschaft leidenschaftlich und ergebnisoffen diskutiert, beharrlich bagatellisiert – auch die geringe Anziehungskraft und die für manche bedrückende Gestalt des eigenen Gottesdienstes für Kinder.

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S. 112 ff.

Das Suggestive, Pädagogische, nicht Offene und Spielerische im Umgang mit mündigen Menschen – wie bei jenem beispielhaften Elternabend – steht in auffälligem Kontrast dazu, dass man stets beflissen und (wieder:) beruhigend betont, es habe ja immer auch Freigeister und „richtige Künstler“ in den Reihen der Priesterschaft gegeben.

Bezeichnend, ja, peinlich ist nur, dass einem dabei immer und immer wieder, wirklich von allen Seiten (und keiner merkt es, jeder meint, er gäbe da einen ganz exklusiven Tipp) lediglich ein Name genannt wird!

Ein einziges echt künstlerisches Naturell innerhalb der Priesterschaft muss als Feigenblatt herhalten, der ewige Johannes Rath, so wie für die anthroposophische Bewegung meinetwegen der ewige Michael Ende, der ewige Christian Morgenstern (auf den ich nichts kommen lasse). Künstler gelten nichts für sich, sondern weil sie mit der Anthroposophie „verbunden“ gewesen seien. Jemand wie Kafka hat es da schon schwerer. Aber das wäre ein eigenes Kapitel.

:Schlägst du es auf?

:Augen zu und durch. Was dazu zu sagen wäre, steht schon geschrieben. […] Kafka überzeichnet . Die Überzeichnung ist das Vorrecht der Literatur. Kafka steht für nichts, er steht nur für sich und zu sich, als Gezeichneter – von sich selbst. Kafka aktualisiert sich durch Zeitlosigkeit. Er entzieht isch, je mehr er herbeizitiert wird. Als die Sektion für Schöne Wissenschaften am Goetheanum vor einigen Jahren Dornachs erste Kafka-Tagung veranstalten wollte, fiel sie mangels Teilnehmern aus. Während „Christus“fortwährend als „anwesend“ zelebriert wird, bevorzugt als Licht-Gestalt, glänzt Kafka durch Abwesenheit. In der Finsternis leuchtet sein Stern. Als Lichtgestalt taugt er nicht.

: Der ewige Jude?

: Der ewige Sohn. So der Titel einer neueren Biografie. Nicht tauglich als Übervater.

Szenenwechsel. Haubesuch des Pfarrers. Bei Kaffee und kuchen bekommt er vom Gastgeber stolz und arglos Fotos gezeigt, auf denen dieser dem Betrachter fröhlich in SS-Uniform entgegenlacht. Kein Wort dazu, auch nicht von der beschwingt weitere Anekdoten beisteuernden Ehefrau. Was ist das? Ein Einzelfall? (Mitnichten.) Nur ein Generationenproblem? Oder doch Symptomatisches: Varianten jenes seltsamen Hierarchieverständnisses, das sich in der trocken-triumphalen Bemerkung einer intern zu Recht hochverehrten Persönlichkeit verbarg, nachdem dieser Priester einen Studenten, der ihm im Kurs widersprochen hatte, rausgeschmissen hatte: „Es kann nur einer König sein“?

Man sollte nicht so naiv sein, zu glauben, dreißig Jahre Anthroposophie oder Menschenweihehandlung würden gegen Gedankenlosigkeit und Ressentiment imprägnieren. Sie haben diese nur verfeinert.  Hybris den „zurückgebliebenen“ Naturreligionen gegenüber. Hybris gegenüber dem zu „weichen“ Buddhismus. Es mal besorgt denken zu dürfen, will man schon. Mal von oben herab und selbstgerecht, mal ungeschminkt-giftig, niederste Instinkte. Vereinzelte, mag sein. Trotzdem nimmt es nicht wunder, wenn man dann von außen unrechterweise in Sippenhaft genommen wird. Das Widerwärtigste ist das gut versteckte Ressentiment gegen Lebensläufe.

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S. 158

…Ich will mich in diese Debatten [um Sebastian Gronbach und Taja Gut – AM]  inhaltlich nicht einmischen. Es geht halt mal wieder um Höherentwicklung.

: Darf ich fragen, was ausgerechnet du gegen Höherentwicklung einzuwenden hast?

: Im Prinzip nichts.

: Hat’s bislang persönlich noch nicht so geklappt?

: Ach danke. Mach dir keine Sorgen. Der Weg der Höherentwicklung birgt genügend Fallgruben.

: Da wäre ich jetzt ohne dich gar nicht drauf gekommen.

: Eben. Das ist, wie gesagt, auch gar nicht der Punkt. Ich fühle mich nur einer anderen inneren Lebensgeste näher, und ich nenne diese Lebensgeste die Vertiefung. Nicht gleich: seinen Meister haben oder Meister werden wollen. Sondern sich vertiefen in das Scheitern jedes Mitmenschen. In seine Fehler. In die eigenen. Das Unvollkommene lieben, aushalten, zutiefst bejahen. Nicht als Ziel. Aber zunächst. Erst einmal. Und es kann sogar auch bis zum Tode dabei bleiben: dass der Sinn eines Lebens nicht in einer Entwicklung besteht, sondern in einem Aushalten und Durchleben. Das ist der Entwicklungssprung. Eine Spannung, etwas Unauflösbares (und daher Spannendes) biografisch verkörpert zu haben.

Dieses „erst einmal“ ist chronologisch wichtig. Wir meinen als beflissene Kenner der GA [Gesamtausgabe von Steiners Werken] zu wissen, das nach dem Tod das und das kommt. Das Nachtodliche eben. Die verschiedenen Stufen, Erlebnisse und Wesen. Der Tunnel, das Licht, die Liebe – offenbar ein einziges Sphären- und Sonnenbad, übersinnliche Welness pur. Aber erst einmal kommt im Tod der Tod, oder? Wirklich ein Nichts. Tiefe Trauer: Ich bin nicht mehr. Die Verwirrung. Die Einsamkeit. Und ich glaube, es ist von Bedeutung, dass da nicht jemand an mich herantrit, der diese Abgründe leugnet oder mit einem Trick aus der Bibel zuschüttet. Sondern der sie kennt. Der sie auch durchlebt hat. Der mich fühlen kann, tief von innen. Nicht der Meister, sondern der Bruder. Christi Auferstehung ist die Auferstehung des Menschen – der Sieg über den Tod eines Menschen, nicht eines Gottes.  Wenn Gott den Tod meistert, ist das keine Kunst. Von einem Gott würde ich das erwarten. Mich aber interessiert es, wenn etwas eine Kunst ist, eine große Überraschung, Menschenwerk. Die Auferstehung ereignete sich geradezu nebenbei. Bitte nicht falsch verstehen! Natürlich gab es ein Erdbeben! Der Tempelvorhang zerriss … und dennoch: Wie war das denn? Eine stille Morgenfrühe, ein Tag in einem Garten, eine Frau, ein Mensch, der sie mit dem Vornamen ansprach. Dann Tränen, Erkennen: Ein auferstandener Freund? Oder: dass Jesus spazieren ging mit den beiden Wanderern auf dem Weg nach Emmaus. Sie befragte über sich selbst. Eine Selbstbefragung auf dem Wege. So herrlich nebenbei. Wie er sich liebevoll unwissend stellte. Welch feiner Humor, welch göttliche Ironie liegt in dieser Szene!

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S. 174

Szenenwechsel. Die Informationsveranstaltung eines Initiativkreises. Ich trete in den schwach besetzten Raum und frage, ob ich hier richtig sei. Bei ihnen sei ich immer richtig, antwortet der Gesprächsleiter. Er strahlte die Souveränität eines Mannes aus, der genau weiß, wo der Hund begraben wird, und in den nächsten sechzig Minuten würde er ihn ausbuddeln und vorzeigen. Es handelte sich nämlich in Wahrheit um ein Krisengespräch. Ein anderer, sehr blasser und schmächtiger junger Mann, der den Abend offenbar maßgeblich organisiert hat und schon von der äußerlichen Konstitution her die fragliche Krise gleichsam zu verkörpern schien, ergriff das Wort und schien vor allem besorgt um die Finanzen. Man sei sich ja einig über die schwierige Situation. In jedem zweiten Satz benutzte er das Wort praktisch. Es sei praktisch so, dass man nicht mehr rekonstruieren könne, wohin das Geld überwiesen worden sei. Es sei praktisch so, dass man jetzt gemeinsam eine Lösung finden müsse. Sein Vortrag erschöpfte ihn bald, denn nachdem er fertig war, nahm er zehn Globuli und sagte zunächst keinen Ton mehr. Dafür ergriff jetzt der fröhliche Gesprächsleiter das Wort. Dieses war: ganz konkret. Man müsse jetzt ganz konkret prüfen … Man sollte auch bei diesem öffentlichen Treffen ganz konkret darüber reden … Das Lustige war, dass er im Weiteren keine Anstalten machte, dem als Rundgespräch gedachten Palaver eine Form zu geben, weshalb sich das Konkrete ziemlich bald in Luft auflöste. Vornehmlich lag das an einer Frau, die sich in der Vorstellungsrunde als metaphysische Beraterin präsentiert hatte. Am Ende der völlig ergebnislosen knapp einstündigen „Tagung“ sagte der Gesprächsleiter noch, dass er es gute fände, dass man jetzt nicht mit einem Ergebnis nach Hause ginge. Dann wünschte er allen ein schönes Wochenende und wies auf eine für zehn Euro zu erstehende Studie von ihm hin, die er zu Beginn in die Tischmitte gelegt hatte.

Andreas Laudert (* 1969, Bingen/Rhein), studierte szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin und Theologie in Hamburg und Stuttgart. Tätigkeit als Deutschlehrer und in der Heilpädagogik sowie Autor von Lyrik und Theaterstücken, erhielt 2001 der Georg-K.-Glaser-Förderpreis des Landes Rheinland-Pfalz.

 

9. Mai 2011 at 8:08 pm 4 Kommentare


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Ich bin Ansgar Martins, geb. 1991 und war bis Juni 2010 Schüler an der FWS Mainz. Inzwischen studiere ich Religionsphilosophie, Soziologie und Geschichte in Frankfurt a. M. Dieser Blog ( dessen "Leitbild" ganz oben rechts ) ist mein persönliches Projekt, um die oft einseitigen und selbstgerechten Pro- und Contra-Positionen in der Debatte um die Waldorfpädagogik und Anthroposophie kritisch zu kommentieren. Ich hoffe, das gelingt, und freue mich über Rückmeldungen jeder Art!

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