„Nationalist Cosmopolitanism“: Anthroposophen und der Erste Weltkrieg – ein Interview mit Peter Staudenmaier

24. April 2014 at 12:25 am 10 Kommentare

Im Sommer 1914 jährt sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Dieses Datum wie seine entsetzlichen und verheerenden Folgen haben sich auch tief in die Entwicklung und das Antlitz der Anthroposophie und ihres Gründers Rudolf Steiner (1861-1925) eingegraben. Dazu befragte ich Peter Staudenmaier (Juniorprofessor für Neuere deutsche Geschichte an der Marquette University – Milwaukee, Wisconsin), der kürzlich die erste umfangreiche kritische Geschichte der Anthroposophie im Nationalsozialismus publiziert hat.

staudenmaierPeter Staudenmaier (Foto: Privat)

Ansgar Martins: Die Anthroposophie entstand aus der deutschen Landessektion der Theosophischen Gesellschaft Adyar. Im Einklang mit der multinationalen theosophischen Agenda unter Annie Besant entwickelte Steiner eine Esoterik, die explizit an das „christliche Abendland“ und die „deutsche Tradition“ anknüpfte. Diese Tendenzen verselbstständigten sich immer mehr. Sie waren dann auch wichtige Motive bei der Trennung von Theosophie und Anthroposophie 1912/3. Welchen Einfluss hatte der keine zwei Jahre später ausgebrochene Erste Weltkrieg auf die Entwicklung dieser jungen esoterischen Bewegung?

Peter Staudenmaier: Der Weltkrieg hatte einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung der Anthroposophie als Weltanschauung und als Bewegung. Das war kein mitteleuropäischer Sonderfall; der Krieg stellte eine grosse Herausforderung für theosophische Strömungen in der ganzen Welt dar. Besants eigene Äusserungen zum Krieg lassen sich durchaus mit Steiners Vorstellungen vergleichen. Beide haben landläufige Klischees übernommen und ihren vermeintlich internationalen Lehren eine dezidiert nationale Färbung gegeben, selbstverständlich in entgegengesetzter Richtung. Für Steiner wie für seine Anhänger – von wenigen, meist französischen, Ausnahmen abgesehen – rief der Weltkrieg eine deutliche Verstärkung der schon vormals auffallend deutschbetonten Elementen im anthroposophischen Weltbild hervor. So wurden Sendungsbewußtsein und Einkreisungsängste verknüpft und gesteigert. Dabei war Steiners Sichtweise stets wechselhaft. Seine Erkenntnis der Kriegslage sowie seine Deutung der behaupteten „geistigen Hintergründe“ des Kriegsgeschehens änderten sich von 1914 bis 1918 und darüber hinaus. Diese Wandlungen werden unter heutigen Anthroposophen oft nicht wahrgenommen. Für ein historisches Verständnis von Steiners Werdegang spielen sie aber eine wesentliche Rolle.

AM Steiner interpretierte den Krieg und Deutschlands Rolle weniger politisch als spirituell: Vor dem Hintergrund der ehernen kosmischen Evolution, in der die Missionen verschiedener Rassen und Nationen eine zentrale Rolle spielten. Was waren die Kernpunkte von Steiners Kriegsdeutung?

PS Der Grundgedanke kann treffend mit dem Begriff „nationalist cosmopolitanism“ erklärt werden. Für Steiner bestand die deutsche Mission gerade darin, das Eng-Nationale zu überwinden und das Allgemein-Menschliche zu verkörpern. Dies bedeutete eine deutsche Vorreiterrolle in der Weltentwicklung. Anthroposophen begrüßten den Krieg als eine „Zeitenwende, die Deutschland und dem germanischen Volkstum die Führerschaft im Gesamtbereiche der menschlichen Geisteskultur bringen wird.“ (Das Reich April 1916, S. 1) Steiner zufolge war der Krieg „im Karma der Völker begründet.“ Es musste geschehen „zum Heile der Menschheit.“ (Steiner, Die geistigen Hintergründe des Ersten Weltkrieges, S. 19, 25) Als solche Standpunkte ab 1917 zunehmend unhaltbar wurden, kamen andere Töne zum Vorschein, und Steiner stellte die Mittelmächte als unschuldige Opfer eines lange vorbereiteten Planes vor, der Mitteleuropa zerstören und seine weltgeschichtlich entscheidende Aufgabe verhindern sollte. England, Frankreich, und Rußland wollten den Krieg und haben ihn geistig wie auch militärisch ausgelöst. Deutschland und Österreich wurde also ein Verteidigungskrieg aufgezwungen.

AM Auf welchen Quellen basierte – sieht man vom pro-bellizistischen und deutschnationalen Klima jener Jahre ab – Steiners Urteilsbildung zum Kriegsgeschehen?

PS Das ist immer noch schwer zu sagen, trotz neuer Veröffentlichungen wie z.B. die Neuedition der späteren Kriegsvorträge (Steiner, Zeitgeschichtliche Betrachtungen, 2011); in dieser und anderer Hinsicht fehlen bisher die notwendigen Vorarbeiten – selbst die Textgrundlage der Steiner zugeschriebenen Aussagen bleibt in vielen Fällen merkwürdig ungeklärt. Offensichtlich aber hat er viel Kriegsliteratur gelesen und eine geistig überhöhte Unschuldthese daraus entwickelt. Bei aller esoterischen Einzigartigkeit stand Steiner damit keinesfalls allein; solche Auffassungen waren unter deutschen Intellektuellen weit verbreitet. In unzähligen Druckschriften dieser Jahre wurde der Krieg zum geistigen Wettstreit und Kampf gegen den Materialismus verklärt.

AM 1914 hat Steiner auch die von der Theosophie geerbte „Esoterische Schule“ geschlossen – denn geheime irgendwie „freimaurerische“ Organisationen waren als verschworene „Kriegshetzer“ verdächtig, er selbst teilte diese Ressentiments über „okkulte Logen“. Spielten diese Verschwörungstheorien schon vor 1914 eine Rolle in seinem Werk? Wie kamen sie im Kontext des Ersten Weltkriegs auf?

PS Derartige Thesen in Steiners Schriften und Vorträgen vor 1914 sind mir unbekannt. Nach Kriegsbeginn sind sie aber recht schnell ins Blickfeld geraten; schon Ende September 1914 stand für Steiner fest, „daß dieser Krieg eine Verschwörung ist gegen deutsches Geistesleben.“ (Steiner, Die geistigen Hintergründe des Ersten Weltkrieges, S. 27) 1916 war dann die Rede von „westeuropäischen Geheimgesellschaften“ und „okkulten Orden,“ die den Krieg jahrzehntelang vorbereitet hätten (Steiner, Mitteleuropa zwischen Ost und West, S. 109-10); auch Freimaurer treiben dabei ihr unheilvolles Wesen. Im letzten Kriegsjahr und erst recht nach der deutschen Niederlage wurde dieses Thema zu einem Leitmotiv anthroposophischen Denkens; siehe beispielsweise die Vorträge vom Dezember 1918 in Steiner, Die soziale Grundforderung unserer Zeit, S. 64-68, 255, 320, usw. Das wohl bekannteste Beispiel dieses anthroposophischen Verschwörungsmythos – von Steiner inspiriert, unterstützt, und gefördert – ist das Buch von Karl Heise, Entente-Freimaurerei und Weltkrieg (Basel 1919). Dieses Werk leistete einen bedeutenden Beitrag zur Verbreitung von antisemitischen undantifreimaurerischen Feindbilder in der Weimarer Zeit. Andere Anthroposophen bemühten die gleichen unseligen Märchen. So wetterte Wilhelm von Heydebrand gegen englische Okkultisten, Freimaurer, Juden, und Sozialisten, die den Weltkrieg entfesselten, um die „Vernichtung Deutschlands“ zu erreichen (Wilhelm von Heydebrand, „Ausführungen über gewisse Grundlagen der Politik“ Das Reich April 1919, S. 112-16). Düster deutete von Heydebrand an, daß „die Freimaurer-Logen der Anglo-Amerikaner und ihre romanischen Anhängsel stark von einem intellektuell hochentwickelten Judentum durchsetzt sind.“ (Wilhelm von Heydebrand, „Die schwarz-rot-gelbe Internationale und ihr Gegensatz“ Dreigliederung des sozialen Organismus Nr. 9, 1919) In anthroposophischen Darstellungen des Weltkrieges kehren okkulte Verschwörungen immer wieder, eine Tradition, die sich vom Kriegsende bis heute hartnäckig erhalten hat, von Ludwig Polzer-Hoditz über Renate Riemeck bis Thomas Meyer usw.

AM Als der Erste Weltkrieg ausbrach, beschwor Rudolf Steiner anfänglich seine versammelten Anhänger, die gerade in Dornach den sog. „Johannesbau“, das „Erste Goetheanum“ als Tempel des Steinerschen Geistes bauten, der Krieg sei ein tragisches Ereignis. Man müsse gegen die militärische Auseinandersetzung „einen Keim von Menschen mit brüderlicher Gesinnung über alle Nationen hinaus in uns selbst“ heranbilden. Ausführungen in diese Richtungen kehren in Steiners Vorträgen routiniert wieder. Wie vereinte er diesen theosophischen Kosmopolitismus mit seinem Enthusiasmus für den deutschen Geist?

PS Aus Steiners Sicht gab es da keinen Widerspruch; der deutsche Geist war eben der auserkorene Träger dieses spirituellen Kosmopolitismus, der Inbegriff des Allgemein-Menschlichen. In der historischen Perspektive sind solche Glaubenssätze nicht besonders verwunderlich. Steiners Dornacher Kriegsrhetorik war sowieso der außergewöhnlichen internationalen Zusammensetzung des sich dort aufhaltenden Personals geschuldet. Das der ‚Johannesbau’ überhaupt in der (neutralen) Schweiz entstand, und nicht in Deutschland, war eigentlich Zufall; er sollte ja in München gebaut werden. Der Münchener Bauplan wurde von den bayrischen Behörden erst Ende 1913 endgültig abgelehnt (wobei die Grundsteinlegung in Dornach schon im späten September 1913 erfolgte). Eine Vortäuschung war diese Beschwörung des internationalen Zusammenlebens allerdings nicht. In Steiners Augen gehörten die „Friedenssehnsucht“ und der „Friedenswille“ ganz einfach zur deutschen Strategie, das war fester Bestandteil seines Kriegsverständnisses. Deswegen begrüßte er z.B. das Friedensangebot der Mittelmächte vom Dezember 1916 als aufrichtigen Versöhnungsversuch und echte Chance für einen fairen und gerechten Verständigungsfrieden, unter völliger Verkennung der tatsächlichen Lage. (Siehe etwa den Vortrag in Basel vom 21. Dezember 1916, in der Erstausgabe der Zeitgeschichtlichen Betrachtungen (1966 bzw. 1983), S. 240-41 – ein Vortrag, der übrigens bezeichnenderweise in die Neuedition von 2011 nicht übernommen wurde.) Diese geschichtswissenschaftlich gesehen hoffnungslos naive Position wird erstaunlicherweise von heutigen Anthroposophen immer noch aufrechterhalten.

AM Steiner hat 1915 eine aggressiv nationalistische Schrift zur Apologie der deutschen Rolle verfasst, in der es hieß „Deutschlands Feinde“, hätten diesen Krieg seiner Nation „aufgezwungen“. Nach dem Krieg erschien keine Neuauflage, manche Quellen deuten an, er habe sich dezidiert dagegen ausgesprochen. Wie würden Sie diesen Vorgang interpretieren?

PS Nach der deutschen Niederlage im November 1918 hat Steiner seine Schrift Gedanken während der Zeit des Krieges von 1915 zwar bereut, offenbar aus Verlegenheit (Steiner, Entwicklungsgeschichtliche Unterlagen zur Bildung eines sozialen Urteils, S. 46), aber inhaltlich ausdrücklich bestätigt (z.B. Steiner, Wie wirkt man für den Impuls der Dreigliederung des sozialen Organismus, S. 228-29; vgl. Steiner, Die Geschichte und die Bedingungen der anthroposophischen Bewegung, S. 136). 1915 rechnete er schließlich nicht mit einer Niederlage der Mittelmächte. In der Zwischenkriegszeit wurde die Schrift nicht verleugnet, sondern vielmehr in den Kanon der grundlegenden Werke Steiners aufgenommen, so etwa bei Karl Heyer, Wie man gegen Rudolf Steiner kämpft (Stuttgart 1932); der Text wurde im Sammelband Rudolf Steiner während des Weltkrieges (Hg. Roman Boos, Dornach 1933) vollständig wiedergegeben. Außerdem waren Steiners Ideen ein Bezugspunkt für andere Schriftsteller aus dem esoterischen Umfeld, die sich ähnlicher Deutungsmuster bedienten. Einige Beispiele: Karl Heinz, Der Krieg im Lichte der okkulten Lehren: Ein Wort an die weiße Rasse (Breslau 1915); Friedrich Lienhard, Deutschlands europäische Sendung (Stuttgart 1915); Friedrich Rittelmeyer, Christ und Krieg (München 1916); Karl Heise, „Kriegs-Visionen“ Zentralblatt für Okkultismus, August 1917, 72-76. Noch auffälliger ist das Nachleben dieser Art von aggressiv-nationaler Apologie in anthroposophischen Zusammenhängen ab 1918. Hier eine kleine Stichprobe:

Fritz Kipp, „Zum Gedenktag für die Opfer des Weltkrieges“ Anthroposophie 4. September 1924; Jürgen von Grone, „Zum Tage von Versailles“ Anthroposophie 7. Juli 1929; Ernst Moll, „Der Krieg in Ost und West“ Die Christengemeinschaft März 1931; Jürgen von Grone, „Zum Kriegsausbruch 1914“ Die Drei Januar 1964; Jürgen von Grone, „Rudolf Steiners Handeln im Dienste Mitteleuropas“ Die Drei April 1969; Karl Buchleitner, Das Schicksal der anthroposophischen Bewegung und die Katastrophe Mitteleuropas (Schaffhausen 1997); Thomas Meyer, „Moltke, Steiner – und welche deutsche ‚Schuld’?“ Der Europäer Mai 2001; Andreas Bracher, Hg., Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges (Basel 2005).

AM Wie zentral war Steiners Beschäftigung mit dem Krieg für seine intellektuelle Biographie dieser Jahre? Er hat ja in diesen Jahren beispielsweise auch viel Zeit in die Überarbeitung und Aktualisierung seiner älteren Schriften investiert, die „Philosophie der Freiheit“ etwa oder „Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert“.

PS Es war eher Steiners normale Arbeitsweise, sich gleichzeitig mit mehreren Projekten verschiedenster Art zu beschäftigen; das war keine Besonderheit der Kriegsjahre. Die Stelle des Weltkrieges in seinem Denken während dieser Zeit ist nicht zuletzt deshalb schwer einzuschätzen, weil viele seiner Vorträge vor allem aus dem ersten Kriegsjahr noch nicht veröffentlicht sind (siehe die redaktionellen Notizen zu der Neuausgabe von Steiner, Zeitgeschichtliche Betrachtungen (2011), Bd. I, S. 449). Das unerwartete Ergebnis des Krieges führte anscheinend zu einem Umdenken und letzten Endes zu der Hinwendung zum Praktischen – Waldorfpädagogik, biologisch-dynamischer Landbau, anthroposophische Medizin, usw. – in den Nachkriegsjahren.

AM Welche Bedeutung hatte Steiners Metaphysik des Weltkrieges für die weitere Entwicklung der Anthroposophie 1918?

PS Eine wesentliche, aber keine eindeutige. Steiners Deutung der Ereignisse änderte sich im Laufe des Krieges, zunehmend gegen Ende der Kampfhandlungen. Das kommt vor allem an der Entstehung der „sozialen Dreigliederung“ zum Ausdruck. Die beiden Memoranden, die Steiner im Sommer 1917 schrieb, welche die Grundlage der Dreigliederungsidee bilden, spiegelten in gewissem Sinne seine letzten Hoffnungen wider, die letzten Vorstellungen einer möglichen positiven Auswirkung des Krieges im Zeichen „Mitteleuropas.“ Diese Memoranden waren aber gleichzeitig der Auftakt zu einer lang anhaltenden Polemik gegen „Wilsonismus“ und „westliche Demokratie“ und „Anglo-Amerikanertum“ usw. — Themen, die den anthroposophischen Diskurs bis weit in die Weimarer Zeit hinein prägten.

AM Im anthroposophischen Gedächtnis ist es u.a. dieses oben erwähnte Bild, das immer wieder pathetisch ausgemalt wird: Während man in Dornach die Kanonen von der Kriegsfront hört, bauen dort Anthroposophen und Steiner-Fans aus unterschiedlichen europäischen Nationen vereint am „Ersten Goetheanum“. Nun gibt es zwei unterschiedliche Interpretationen dieses Umstands. Einige Anthroposophen, wie Roman Boos, sahen darin einen Beweis dafür, dass Anthroposophen aus allen Ländern dank Steiner zum deutschen Geist fanden. Andere, wie Elisabeth Vreede, sahen in der faktischen Multinationalität der Goetheanum-Crew ein Exempel für die Erhabenheit der Anthroposophie über jeden Nationalismus. Was kann man aus der ambivalenten Deutung dieses Topos lernen?

PS Diese Ambivalenz ist in der Tat eine bemerkenswerte Folge der Frühgeschichte der anthroposophischen Bewegung. Letztendlich ist sie in der widersprüchlichen Einstellung zum Universalismus und zum Partikularismus begründet, welche Steiners Denken seit seiner Jugend im Habsburgerreich bezeichnete. Mit der Anthroposophie strebte Steiner eine grenzübergreifende Bewegung an, und er verstand seine Botschaft als eine universalistische. Dabei ist er in einem entscheidenden Punkt über seinen eigenen deutsch-österreichischen Hintergrund nie hinausgekommen: eine internationale bzw. multinationale Gemeinschaft stellte er sich als eine Art Völkervielfalt unter deutscher Hegemonie vor – einer geistigen Hegemonie, natürlich. Steiner dünkte sich über jeden Partikularismus, über jeden Nationalismus erhaben, blieb aber in einer nicht hinterfragten partikularen und nationalen Denkweise befangen, die er mit Universalismus verwechselte.

AM Immer wieder wird auch auf Steiners Beziehung zu Generalstabschef Helmut von Moltke verwiesen. Wie kann man sich beider Kontakt vorstellen und wie kam er zustande?

PS Moltkes Frau war eine engagierte Theosophin und Anthroposophin, und Moltke selber hegte ein ernsthaftes Interesse an esoterischen Themen. Steiner fungierte gelegentlich als sein spiritueller Berater. Der Chef des Generalstabes wiederum bot für Steiner eine Verbindung zu führenden Kreisen des Kaiserreichs. Moltkes Tod im Sommer 1916 kann man sogar as ersten erheblichen Wendepunkt in Steiners Kriegswahrnehmung sehen. Vor dem Kriegsausbruch war Moltke der maßgebliche Befürworter eines Präventivkrieges, nach dem Motto je früher desto besser. Nach der Marneschlacht wurde er, teilweise zu Unrecht, für die deutsche Niederlage verantwortlich gemacht. Steiner hat eine Mitschuld Moltkes am Kriegsausbruch unerschütterlich absgestritten, im vollkommenen Gegensatz zu den Tatsachen. Die Verbundenheit mit Moltke hat dann auch die weitere anthroposophische Beurteilung des Krieges beeinflusst, was die etwas willkürlichen Schuldzuweisungen nach November 1918 erklärt; Anthroposophen haben wahlweise Bethmann oder Jagow oder Falkenhayn verurteilt – nur nicht Moltke. Was aus nichtanthroposophischer Sicht bedeutsamer erscheint, ist das Auftauchen von esoterischen Komponenten in Moltkes Überlegungen zum Krieg. So schrieb er November 1914 – nach seiner Entlassung – in seinen „Betrachtungen und Erinnerungen“: „Dieser Krieg, den wir jetzt führen, war eine Notwendigkeit, die in der Weltentwickelung begründet ist.“ (Helmuth von Moltke, Erinnerungen, Briefe, Dokumente 1877–1916, Stuttgart 1922, S. 13)

Der Krieg folge „höheren Gesetzen“ und gehöre zu einem „Weltentwickelungsplan,“ durch welchen „die Kulturepochen sich in fortschreitender Folge ablösen, wie jedes Volk seine bestimmte Aufgabe in der Weltentwickelung zu erfüllen hat und wie diese Entwickelung sich in aufsteigender Linie vollzieht. So hat auch Deutschland seine Kulturaufgabe zu erfüllen. Die Erfüllung solcher Aufgaben vollzieht sich aber nicht ohne Reibungen, da immer Widerstände zu überwinden sind; sie können nur durch Krieg zur Entfaltung kommen.“ (ebd. S. 13) Sollte Deutschland „vernichtet“ werden, „so wäre damit das deutsche Geistesleben, das für die spirituelle Weiterentwickelung der Menschheit notwendig ist, und die deutsche Kultur ausgeschaltet; die Menschheit würde in ihrer Gesamtentwickelung in unheilvollster Weise zurückgeworfen werden.“ (S. 13-14) „Eine geistige Weiterentwickelung der Menschheit ist nur durch Deutschland möglich. Deshalb wird auch Deutschland in diesem Kriege nicht unterliegen, es ist das einzige Volk, das zur Zeit die Führung der Menschheit zu höheren Zielen übernehmen kann.“ (S. 14)

Ein Jahr später, November 1915, hielt Moltke fest, „daß dieser Krieg einen der großen Wendepunkte der Weltgeschichte bedeutet, daß sein Ausgang entscheidend sein wird für die Richtung, die der Menschheitsentwicklung, der Menschheitskultur auf Jahrhunderte hinaus gegeben werden wird.“ (S. 444) „Es handelt sich um etwas Höheres, darum, der gesamten Welt das führende deutsche Geistesleben zu erhalten. Deshalb ist es ein heiliger Krieg, den wir führen . . . “ (S. 391) Was Moltke betrifft, scheint ausnahmsweise ein ziemlich breiter anthroposophischer Konsens zu herrschen, von Willy Lochmann bis Jens Heisterkamp. Das ist kein gutes Zeichen für die anthroposophische Geschichtsaufarbeitung.

AM Gab es auch andere hochrangige Militärs mit anthroposophischen Interessen?

PS Ja. Die Biographin von Werner von Blomberg zum Beispiel schreibt über dessen „Vorliebe für die Anthroposophie und Theosophie“: Kirstin Schäfer, Werner von Blomberg: Hitlers erster Feldmarschall (Paderborn: Schöningh, 2006), S. 46, 127. Man findet Ähnliches in anderen Zusammenhängen auch; der englische General J.F.C. Fuller war zeitweise ein Anhänger Aleister Crowleys.

AM Gegner der Anthroposophie bis in die Nazizeit hinein haben immer wieder behauptet, Steiner habe Moltke „okkult“ manipuliert und dem deutschen Volk dadurch schaden wollen, ja er habe aktiv an der deutschen Niederlage mitgewirkt. Wieso war dies ein so beliebter Angriffspunkt?

PS Diese Anschuldigungen waren u.a. eine esoterisch verbrämte Variante der Dolchstoßlegende. Nach der deutschen Niederlage 1918 diente der inzwischen gestorbene Moltke leicht als Sündenbock, und man wollte unbedingt ein militärisches Versagen in irgendwas anderes verwandeln, um den Ruf der militärischen Führung zu wahren. Steiners vermeintlicher Einfluss bot eine geeignete Gelegenheit zur Denunziation. In Krisenzeiten sind „okkulte“ Erklärungen ohnehin gefragt.

AM Welche Rolle spielte der Topos „Steiner während des Weltkriegs“ umgekehrt: für Anthroposophen 1933-1945? Etwa für das Vorgehen gegen Nazigegner oder die Einschätzung des Zweiten Weltkriegs?

PS Das war ein beliebtes Thema nach 1933 bei führenden Anthroposophen wie Friedrich Rittelmeyer oder Erhard Bartsch, die Steiner zum heldenhaften Verfechter der deutschen Mission gegen die „okkulten Mächten des Westens“ hochstilisierten (Erhard Bartsch, „Rudolf Steiner während des Weltkrieges,“ Juli 1940, Bundesarchiv Berlin, NS 15 / 302: 57691; vgl. Friedrich Rittelmeyer an Erhard Bartsch, November 1934, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 90 P Nr. 33 / 3: 311, sowie Franz Krause, „Rudolf Steiner während des Weltkrieges“ Das Goetheanum 26. November 1933). Der herausragende Vertreter dieser Argumentation war Jürgen von Grone, der wiederholt überschwengliche Texte über Steiners heroische Haltung im Ersten Weltkrieg veröffentlichte und an verschiedene Nazi-Größen sandte (z.B. Jürgen von Grone, „Rudolf Steiner und das Deutschtum“ Korrespondenz der Anthroposophischen Arbeitsgemeinschaft April 1933; Jürgen von Grone, „Nachwort zu Versailles“ Korrespondenz der Anthroposophischen Arbeitsgemeinschaft August 1933; Jürgen von Grone, „Generaloberst von Moltke im Kriegsausbruch“ Korrespondenz der Anthroposophischen Arbeitsgemeinschaft Juli 1934; Jürgen von Grone, Denkschrift für Hermann Göring, Januar 1936, Bundesarchiv Berlin, R 58 / 6195: 382; Jürgen von Grone, „Vom Wirken Rudolf Steiners für das Deutschtum,“ Februar 1936, Bundesarchiv Berlin, NS 15 / 303: 58270).

Sogar der Zweite Weltkrieg wurde nach dem gleichen Muster gerechtfertigt. Im Juli 1940 geißelte Grone die „englischen Logenkreisen“ und „Geheimgesellschaften,“ die den Krieg von 1914 durch „okkulte Methoden“ angestiftet hätten um Deutschland auszurotten. Genau die gleichen Kräfte, schrieb Grone, seien an dem neuen Krieg schuld: die englischen „Freimaurerlogen“ mit ihrem „angelsächsischen Rassenegoismus,“ die „Hocharistokratie und Plutokratie,“ „die Oberschicht der Lords und Gentlemen,“ „die führenden Kreise der Hochfinanz“ usw. Um die deutsche „Sendung“ zu durchkreuzen habe England dem friedlichen Deutschland abermals einen Krieg aufgezwungen, „trotz weitestgehender Vorschläge und Bemühungen von seiten des Führers.“ (Jürgen von Grone, „In Memoriam Juli 1914“ Wir und die Welt Juli 1940, S. 282-89; vgl. Jürgen von Grone, „Herrschaftsziele des Empire: Vom Weltkrieg bis zum deutsch-englischen Krieg der Gegenwart“ Wir und die Welt September 1940, S. 377-79, und Jürgen von Grone, „Krise und Umschwung: Ein Blick hinter die Kulissen“ Wir und die Welt November 1942, S. 414-18)

AM Wie gehen englischsprachige Anthroposophen heute mit den deutschnationalen Tiraden Steiners und vieler seiner Anhänger um?

PS Diese Seite von Steiners Denken und Tun ist unter seinen englischsprachigen Anhängern weitgehend unbekannt, mit Ausnahme der anthroposophischen Verschwörungstheoretiker und Holocaustleugner, die mit solchen Thesen ausgeprochen gern weiterfaseln und ihre eigenen Geschichtsentstellungen begründen. Aber okkulte Verschwörungsfantasien im allgemeinen finden immerhin eine rege Anhängerschaft unter englischsprachigen Anthroposophen, und selbst Steiners Kriegsvorträge werden neuerdings stärker rezipiert, wenn auch in etwas mangelhafter Übersetzung. Eine bedenkliche Editionspolitik ist dabei im Spiel. Die gegenwärtige englische Ausgabe von Steiners Zeitgeschichtlichen Betrachtungen wurde vom Londoner Rudolf Steiner Press 2005 neuverlegt, d.h. vor Erscheinen der neuen deutschen Fassung; die englische Neuauflage beruht also auf einer wenige Jahre später für ungültig erklärten Grundlage. Ausserdem wurden die englischen Bände ausgerechnet von Terry Boardman herausgegeben, einem anthroposophischen Verschwörungstheoretiker reinsten Wassers, der alberne Vorstellungen zu Allerlei verbreitet, nicht nur zum Weltkrieg. Man stelle sich vor, der Rudolf Steiner Verlag würde die Herausgeberverantwortung für eine Steiner-Vortragsreihe Dieter Rüggeberg anvertrauen. Das ist ungefähr das Niveau von Boardman. Noch extremer sind die Überzeugungen von englischen und amerikanischen Anthroposophen wie Robert Mason oder Nicholas Kollerstrom, die Aufsätze wie „The Auschwitz ‘Gas Chamber’ Illusion“ propagieren.

Nun gibt es natürlich Ausnahmen, zum Beispiel Christoph Lindenberg, dessen Steiner-Biographie 2012 in englischer Übersetzung erschien (aber bisher anscheinend wenig gelesen wurde). Man möchte sagen können, für jeden Peter Selg und jeden Lorenzo Ravagli gebe es einen Christoph Lindenberg, aber soweit ich das überblicken kann, ist dies leider nicht der Fall. Und für jeden Haverbeck oder jeden Bondarew? Die altbekannte anthroposophische Schwierigkeit im Umgang mit der Geschichte, zumal der eigenen, kommt hier auf unerfreuliche Weise zum Tragen.

AM In der aktuellen Ausgabe der rechts-anthroposophischen Zeitschrift „Der Europäer“ (Basel) erscheint ein Artikel mit dem Titel „Zum Begräbnis der deutschen Alleinschuld-These“. In Anthroposophistan nimmt man seit neuestem auch gern auf Christopher Clarks „The Sleepwalkers“ (2012) bezug, das offensichtlich auch nicht davon ausgeht, Deutschland „allein“ sei am Krieg Schuld gewesen. Aber: Ist das wirklich eine neue historische Position? Und: Kann man wirklich sagen, dass die wissenschaftliche Debatte neuerdings anthroposophische Bewertungen des Ersten Weltkriegs teilt?

PS Das ist keineswegs eine neue historische Position. Von einer Alleinschuld Deutschlands ist so gut wie kein Historiker je ausgegangen, solche Behauptungen wurden fachintern nie ernst genommen. Clarks Buch Die Schlafwandler gibt eine altbewährte historische These wieder. Daß dies von Steiners Anhängern derart missverstanden wird, zeigt die Realitätsferne anthroposophischer Diskussionen (das gleiche gilt freilich für so manch andere öffentliche Diskussion heutzutage, ob in Deutschland oder in den USA). Die Meinungen zum Ersten Weltkrieg, die von vielen Anthroposophen geteilt werden, bestehen zum großen Teil nicht einmal aus falschen Bewertungen, sondern einfach aus Legenden, die einer auch nur oberflächlichen geschichtlichen Analyse nicht standhalten. In diesem Sinne gehen anthroposophische Stellungnahmen an der wissenschaftlichen Debatte schlicht vorbei.

AM Welche Antworten zur „Kriegsschuldfrage“ werden in der historischen Forschung zum Ersten Weltkrieg in der letzten Zeit geteilt und debattiert?

PS Die ganze Thematik ist nach wie vor Gegenstand einer lebhaften historischen Diskussion. Neue Forschungsergebnisse werden besprochen, neue Interpretationen erwogen, ältere Ansätze weiterentwickelt. Die „Kriegsschuldfrage“ als solche ist mittlerweile eher eine Frage nach den Kriegsursachen geworden, nach der Entstehung und Entwicklung der unmittelbaren Gründe für den Kriegsausbruch. Sowohl Deutschland als auch Österreich-Ungarn nehmen da einen Hauptplatz ein, neben England, Frankreich, Rußland, und Serbien. Geschichtswissenschaftlich gesehen sind die gängigen anthroposophischen Weltkriegsmythen nichts als Ausflüchte, ein Kapitulieren vor der Komplexität der Geschichte. Verschwörungstheorien sind überhaupt ein Sammelsurium aller möglichen Vermutungen, Gerüchten, und Verzerrungen ohne logischen Zusammenhang, und es wäre wohl verfehlt, hier ein stimmiges Argument zu erwarten. Dennoch könnte eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der vielfältigen historischen Forschung zum Ersten Weltkrieg für Steiners Anhänger ein Anlass zum Nachdenken, zur Besinnung, Selbstreflexion und Neuorientierung sein.

AM Vielen Dank für dieses Interview!

Peter Staudenmaier ist Juniorprofessor für Neuere deutsche Geschichte an der Marquette University (Milwaukee, Wisconsin). 2010 promovierte er an der Cornell University zum Thema “Between Occultism and Fascism: Anthroposophy and the Politics of Race and Nation in Germany and Italy, 1900-1945.”


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Hallo allerseits,
Ich bin Ansgar Martins, geb. 1991 und war bis Juni 2010 Schüler an der FWS Mainz. Inzwischen studiere ich Religionsphilosophie, Soziologie und Geschichte in Frankfurt a. M. Dieser Blog ( dessen "Leitbild" ganz oben rechts ) ist mein persönliches Projekt, um die oft einseitigen und selbstgerechten Pro- und Contra-Positionen in der Debatte um die Waldorfpädagogik und Anthroposophie kritisch zu kommentieren. Ich hoffe, das gelingt, und freue mich über Rückmeldungen jeder Art!

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Da ich dieses Risiko gerade bei den bekannten Verstiegenheiten anthroposophischer Websites nicht eingehen will, distanziere ich, Ansgar Martins, mich hiermit vorsorglich von ausnahmslos allen Gestaltungen und Inhalten sämtlicher fremder Internetseiten, auch wenn von meiner Seite ein Link auf besagte Internetseite(n) gesetzt wurde.

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